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Full text of "Die Umschau. Wochenschrift Über Die Fortschritte In Wissenschaft Und Technik. Band 1.1897"

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Die Umschau 































































































































































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Oie tiMscHAU 

I. JAHRGANG 


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DIE UMSCHAU 

Übersicht über die 

Fortschritte und Bewegungen auf dem Gesamtgebiet 
der Wissenschaft, Technik, Litteratur und Kunst 


HERAUSGEGEBEN VON 

Dr. J. H. BECHHOLD 


I. JAHRGANG 
18 9 7 


FRANKFURT a. M. 

e. 

H. Bechhold Verlagsbuchhandlung 


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is-si. 
I Se u 


SACHVERZEICHNIS 

brarbeitei von Dr. Kl.vt/e, Assistenzarzt im Drd|;oner-Regi. Graf We<M, StallupOnen. 


Seite 

Allgemeines. 

Du Bois-Reymond, Emil, t* v. 

Dr. P. Jensen.35 

Melanchthon als Mathematiker 
V. Schenkling*Pr6vöt. . . . 159 
Rabelais, v. Dr. Heinrich Schnee¬ 
gans . • .. 3^4 

Weltkon^esse,Wissenschaftliche 18 

Zeitschriltenschau.929 

Ägyptologie. 

Ägypten. Die neuesten Entdeck¬ 
ungen in, und die älteste Ge- 
scluchte des Landes v. Prof. 

Dr. A. Wiedemann . . 561, 590 
Behnasseh, Die Schuttfelder von 928 
Birmanen, Ägyptern, Chinesen 
und Indern, Zusammenhang 

zwischen, v. Ach.451 

Chemische Untersuchung von 
Fettstoffen und anderen organi¬ 
schen Substanzen aus ägyp¬ 
tischen Gräbern.578 

i esu. Die Sprüche.6ia 

.enz, Der, in Ägypten v. Paul 

Pasig.147 

Mahdismus, Die Bedeutung der 
vom, unterjochten Länder v. 

Rudolf Prietze.633 

Pharaonen, Ein Reformator auf 
demThrone der.Amenophis IV. 
und seine Zeit v. Prof. Dr. 

A. Wiedemann ... 80, 98 

Tättowierens, Methode des, zu 
Heilzwecken bei d.Aegyptern 632a 
Volkslied, Das moderne ^ypti- 
sche, v. Paul Pasig .... 822 
Anatomie. 

Bart, Der menschliche, v. Reh . 290 
Biogenetische Grundgesetz, Das, 

V. Dr. L. Michaelis . . . .818 

Entartungs- und Verbrecherzei¬ 
chen von Geh. Med. Rat Prof. 

Dr. C. Pelman .913 

Entwickelungsmechanik v. Reh 593 

Hundemenscnen, Ueber die sog. 

V. Reh.289 

Menschengeschlechts, Eine neue 
Stammiorm des, v. Dr. L. 

Reh.39 

Naturwissenschaft, Die, vor 500 

Jahren.432 

Personenfeststellung, Das Bertil- 
lon’sche System zur, Beiträge 
zur Einführung desselben v. 
Friedrich Paul .... 716, 737 
Rabelais, v. Dr. Heinrich Schnee¬ 
gans .314 

Röntgend Die Bedeutung der 

Entdeckung.541 

Rbntgenstramen, Die, als Hilfs¬ 
mittel der anatomischen Forsch- 

tmg V. A. B.594 

Sp iLzoh r, Das. Darwinsche, v. 

Reh.648 


Seite 

Vorfahren, Die, des Menschen 

V. Dr. L. Reh.237 

Anthropologie. 

Alk, Frühere Verbreitung des . 651 
Aphidna, Ausgrabungen in, in 
Nordattika ........ 342 

Asien und Amerika, Über die 
ethnographischen Beziehungen 

zwischen.759 

Bart, Der menschliche, v. Reh 290 
Eiszeit, Anwesenheit des Men¬ 
schen in Amerika zur . . . 470 
Entartungs- und Verbrecherzei¬ 
chen V. Geh. Med. Rat Prof. 

Dr. C. Pelman.913 

Girgenti, Ausgrabungen in . . 812 
Hundemenschen, Über die sog., 

V. Reh.289 

Intergjacialzeit, Existenz des Men¬ 
schen zur, in der Gegend des 

heutigen Berlin.487 

Krankheit, Einfluss von, und ho¬ 
hem Alter auf Knochen und 
Zähne hei Säugetieren. Nach 
H. Allen v. Dr. L. Reh . . 231 
Kimfers, Das Alter des, von 
Chaldäa ... . . ... . . . 741 
Menschengeschlechts, Über das 

Alter des.685 

Orang-Utan, Die Art, wie der, 

schlaft.830 

Personenfeststellung, Das Bertil- 
lon’sche System zur, Beiträge 
zur Einführung desselben v. 
Friedrich Paul .... 716, 737 
Spitzohr, Das Darwinsche v. 

Reh.648 

Stammform, Eine neue, des Men¬ 
schengeschlechts V. Dr. L. 

Reh.39 

Steinzeit, Uber das Alter der 
älteren und jüngeren, v. Rk. . 577 
Sumero-Akkader, Die Herkunft 

der, v. Ach.433 

Tropenkrankheiten, Die Erforsch¬ 
ung und Bekämpfung der, v. 

Dr. E. Below.149 

Vorfahren, Die, des Menschen 

V. Dr. L. Reh.237 

Weberstuhls, Alter des . . . 864 
Zwerghafter Volksstamm in Pa¬ 
mir .651 

Zwergstämme in Afrika v. Ach. 143 
Archäologie. 

Ägypten, Die neuesten Entdeck¬ 
ungen in, und die älteste Ge- 
scmchte des Landes v. Prof. 

Dr. A. Wiedemann . . 561, 590 
Akropolis, Eine neu entde^te 
Inschrift am Nordrande der . 74a 
Altmarikaniache und babyloni¬ 
sche Pyraraideirtörme v. Dr. 
Below.575 


Seite 

Aphidna, Ausgrabungq;^,...4Rf in 

Nordattika.34a 

Arcbäologenkongres^ Internatio¬ 
naler, zu Athen v. Q. . . . 307 
Babylonischen Kultur, Die Ent¬ 
deckung der ältesten, (7000 bis 
6000 vor unserer Zeitrechnung) 551 


Bacchylides-Fragmente v. Paul 

Ankel.175 

Baureste und Inschriften des 
ehemals römischen Afnka, Die 
Erforschung der, v. W. . . 683 
Begleithflgel, Die Erforschung der 
sogenannten, an der Limes¬ 
strecke .557 

Behnasseh, Die Schuttfelder von 908 
Boscoreale, DerSilberschatz vtm, 

V. Dr. Quilling. 86 

Buddha und die Stätte seiner 
Geburt v. Dr. Th. AcbeUs . 53 
Erdmametismus zur Zeit der 
Etrusker, Der, v. B. ... 67 
Girgenti, Äus^abungen in . . 812 
Grabfund bei >Vorms .... 504 
Gräberfeld,Römisches, beiWorms 

v. Q. 200 

Grenzwall, Vom römischen, v. 

Prof. K. Schumacher . . . 299 
Griechenland in der vorgeschicht¬ 
lichen imykenischen) Kultur¬ 


epoche V. Dr. Sylvius Bruck 229^ 241 


Griechenlandreisen von Nicht- 

achäoiogen.32.‘> 

IndischeForschui^ergebnisse des 
Jahres 1896 v. Dr. Kurt Klemm 318 
Iesu. Die Sprüche i, . . . . 612 
ktmfers. Das Alter des, von 

Chaldäa.741 

Marmorchronik, Ein neues Bruch¬ 
stück derparischen .... 522 

Mommsen als Historiker und ^i- 
graphiker. Zu seinem 80. Ge¬ 
burtstage V. Karl Lory . . 661 
Mosaiken in Sparta , . . . . 668 
Mykenier, Die Schrift der, v. H. 
Kluge (S. B.) ...... 360 

Osterburken, Neue Funde aus 
dem Römerkastell, v. Prof. 

Schumacher.487 

Pagan, Die Glasuren von, v. R. 795 
Pagan, Tempeltrümmer von . 143 
Tättowierens, Methode des, zu 


Heilzwecken bei den Ägyptern 632a 
Tiara des Köni^ Saitaphames, 

Der heutige Stand der Frage 
Ober die, v. Q. ... 430, 470 
Vii^l, Eine antike Darstellung 
des, V. Q. . . . ... .307 
Wassedeitung. Hochdruck, der 
Burg Pergamon . . . 847, 896 
Weinig der Römer . . . 632b 


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VI 


Seite 

Astronomie. 

Aitmexikanische und babyloni* 
sehe Pyramidentürme v. Dr. 

Below.575 

Astronomie, Die, im vergangenen 
Jahre v. Dr. Ambronn 785, 835,857 
Astronomische Nachrichten, Her¬ 
ausgeber der, V. A.379 

Doppelstem „^4 Bootis“ . . . 596 
Erde, Die relative Bewegung der, 

zum Aether.721 

Fernrohr. Photographisches, zu 

Potsdam v. Dr. Pr.253 

Franz, Prof. J., v. Dr. A. ... 91 
Gyld6n, Hugo, f v. Dr. A. . . 90 
Himmelskörper, Die Physik der, 
und ihre Methoden v. William 

Huggins.. . 3 

lupiter V. Dr. A. . . . 289, (326) 
Laienthätigkeit in der Astrono¬ 
mie V. Ä.380 

Marmorchronik, Ein neues Bruch¬ 
stück der parischen, . . . 522 
Mars, Planet, v. Dr. A. ... 91 
Melanchthon als Mathematiker 
V. Schenkling-Prövöt . . . 159 
Mondansichtenf Eine neue Me¬ 
thode fllrProjektionsbilder von, 541 

Mond-Atlas.613 

Mond- und Erdkunde in ihren 
gegenseitigen Beziehungen v. 
Prof Dr. S. Günther . . . 294 
Optik, Ein Meister der, v. Dr. A. 595 
Procyon, Der Begleiter des, v.A. 18 

Refraktor, Ein neuer photogra¬ 
phischer, .668 

Ritsen-Meteorit, Ein.879 

Sonnenatmosf^äre, Calcium in 

der,.652 

Sonnenfinstenusam22. Jan. 1898 8ia 
Sonnenflecke v. Dr. A. Schwass- 

mann. . , . . 126 

Sonnehflecken-Perioden v. Dr. A. 

Schwassmann.91 

Stahlcarbid v. Pr.434 

Stern, Neuer veränderlicher, im 
„Haar der' Berenice“ . . . 651 

Tisseraud, Fran9ois Felix, f v. A. 19 

Venus, Planet, v. Dr. A. . . . 270 

Bakteriologie. Mikroorganismen. 
Abwässer, Die bakteriologische 
Klärung der, v. H. M. . . . 807 
Agrikulturchemie, Die Fort¬ 
schritte, der in den letzten 25 
Jahren. Nach Maercker v. Bech- 

hold .265 

Agrikulturchemie etc. auf der Ver¬ 
sammlung der Naturforscher 
und Ärzte in Braunschweig v. 

Dr. Bechhold.755 

Alkoholfreie Obst- und Trauben¬ 
weine V. N.56 

Alkoholische Gährung ohne Hefe¬ 
zellen V. Dr. G. Sch. . 144, 451 
Argon, in den Pflanzen v. B. D. 361 
Bakterien, im Darm und in den 

Eileitern.776 

Baumwolle,EineBakterien-Krank- 

heit der,.742 

Bubonenpest, Die Serumbehand¬ 
lung der, V. Dr. Mehler . .128 

Chemischen Desinfektionsmitteln, 

Das Verhalten der Bakterien 
zu, V. Dr. Bechhold .... 52 

Chlors, Der Einfluss des, auf Mi¬ 
kroben .182 

Erfrieren, Untersuchungen Ober 
das, der Pflanzen v.^. ... 703 


Seite 

Fibrin, Die Zersetzung von, durch 
Streptococcen v. S. . . . . 775 
Gährungserscheinungen, Zur 
Kenntnis,der, v, S. u. B. . . 895 
Hefe, Über die Verbreitung der 

durch Insekten .8ri 

Insekten, Die, als Verbreiter an¬ 
steckender Krankheiten v. 
Sigm. Schenkte ..... 250 
Kitasato’s, Prof; Institut Rlr In- 
fektion^rankheiten in Tokio. 
Nach A. Nakagawa v. B. . 686 
Lepra, Die, in Columbien v.Dr. 

H. Polakowsky.270 

Lepra-Konferenz, Die internatio¬ 
nale in Berlin v. M.793 

Medizin und Hygiene auf der 
Versammlung der Naturfor¬ 
scher und Ärzte in Braun¬ 
schweig v. Dr. med. L. Mehler 775 
Mikroorganismus, Ein, in 74gra- 

digem Spiritus .542 

Ozon, Phosphoreszieren des Was¬ 
sers nach Schütteln mit, . . 434 
Peronospora, Kupfervitriol gegen 742 
Pestbazillus, Über den, . . . 560 
Pest, Die, v. Dr. med. L. Mehler 73 
Rinderpest, Das Contagium der 848 
Die, der Erde 895 


Seidenerzeugung, 
Seidenleim ab Nl 


Stickstoff, Der, und die Pflanzen 

v. Dr. A. Nestler.226 

Trinkwassers, Ein neues Ver¬ 
fahren zur Herstellung keim¬ 
freien, . „.... 235 

Tuberkulin-Präparate,Über neue, 
nach Robert Koch .... 285 
Tuberkulin R, Therapeutisehe 
Erfahrungen über das, v. M. 687 
Typhus abdominalb (Unterleibs¬ 
typhus), Die Widal’sche Probe 
zur Erkennung des, v.Dr.Mehler 107 
Wissenschaft und Scheinwissen¬ 
schatt in der Heilkunde nach 
M. Stemberg v. Robert Mehler 302 
Baukunst. 

Akropolb. Eine neu entdeckte 
Inschrift am Nordrande der, . 742 
Babylonischen Kultur, Die Ent¬ 
deckung, der ältesten (7000 bis 
6000 vor unserer Zeitrechnung) 551 
Baureste und Inschriften des ehe¬ 
mals römischen Afrika, Die 
Erforschung der, v. W. . . 683 
Griechenlandreisen von Nicht¬ 
archäologen ...... 325 

Indische Forschungsergebnisse 
des Jahres 1896 v. Dr. Kurt 

Klemm .318 

Pagan, Die Glasuren, von v. R. 795 
Pagan, Tempelbauten von, . . 143 
Pyramidentürme, Babylonische 
u.altmexikanische, V. Dr.Below_ 575 
Berg- und Hüttenwesen. 

Aluminiums, Die Gewinnung des 704 
Auer-Glühstrümpfe, Das Roh¬ 
material der, V. R. M. . . . 
Chemie, Forschritte der. im Jahre 
1897 V. Dr. Bechhold . 901, 
Ebenindustrie, Die Entwickelung 
der, und die heutigen Eisenerz 
Vorräte v. Prof Dr. E. F 

Dürre.123, 

Erzlager der Insel Sardinien 
Geologie etc. auf der Versamm 
lung der Naturforscher und 
Ärzte in Braunschweig v. Dr 
Bechhold ...... 


177 

921 


(146) 

596 


755 


Seit« 

Geologische Karte, Die interna¬ 
tionale, von Europa v. K. M. 92 
Goldbergbau, Der, in Transvaal 
v. O. Kalt-Rculeaux .... 464 
Goldführender erraiischer Block 
am Colombiaflusse .... 164 
Goldfunde, Die, in Alaska . . 630 
Kohle, Auf elektrischem Wege 
aus Torf, hergestellte . . . 342 
Kohlenlager am oberen Schire 362 
Kohlenlager,Die neuen englischen, 

v. B.92 

Kupfersalze, Beschädigung des 
Landbaues in Japan durch . 740 
Naphta-Industrie, Die, der Halb¬ 
insel Apscheron v. Dr. Rud. 

Wischin.789 

Nickebtahl für den Schiffsbau . 613 
Platins, Die Produktion des, . 560 
Quecksilber^ben in Mexiko . 56 
Sablager, Die Bildung der Stass- 

furter, v. B. . . '.649 

SteinkoMenerzeugungJapanSjDie, 793 
Steinsalz, Fbkalische Mutung auf, 164 
Technbehen Versuchsanstalten, 

Die Aufgaben der, v. Dr. D. 

Holde.291 

Tellurgold in Australien v. R. M. 181 
Biologie. 

Anpassung bei pathologischen 
Vorgängen. Nach William H. 
Welch V. Dr. Mehler . . . 609 
Beobachtungen, Zoologische und 
biologische, auf Spaziergängen 
und Reisen v. Dr. L. Reh 597,621 
Biogenetische Grundgesetz, Das 
V. Dr. L. Michaelis .... 818 
Botanik, Die, im Vergangenen 
Jahre v. Dr. A. Nestier . . 438 
Botanik, Eine bedeutun^volle 
Entdeckung auf dem Gebiete 

der, (Bindeglied zwbchen Pha- 
nerogamen und Kryptogamen) 

V. N. ..92 

Chemie, Fortschritte der, imjahre 
1897 V. Dr. Bechhold 921 

Chlor^hyll, Das tierische, v.Prof 

R. Francs.389 

Du Bois-Reymond, Emilj v. Dr. 

P. Jensen .35 

Enlwickelungsmechanik v. Reh 593 
Erfrieren, Untersuchungen über 
das, der Pflanzen v. N. . . 703 
Erregung und Lähmung, Die, der 
lebendigen Substanz v. Dr. 

P. Jensen .129 

Farbstoff des Blutes und der 
Blätter, Beziehungen zwischen 

dem, v. B.83 

Fossilien, DasLand der lebenden, 

V. Prof R. Francs . . . . 117 
Hundemenschen,Über die sogen., 

V. Reh.289 

Kinematographen, Das Prinzip 

des, auf die mikroskopbehe 
Photographie angewendet . 705 

Krankheit, Einfluss von, und 
hohem Alter auf Knochen und 
Zähne bei Säugetieren. Nach 
H. Allen v. Dr. L. Reh . . 231 
Lebensraum, Über den, v. Prof 
Dr. Friedrich Ratzel . . . 363 

Lecithins, Die Bedeutung des, 

für die Pflanzen.200 

Luftsauerstoffe, Über den Ur¬ 
sprung des, V. Dr. Schmidt . 234 
Neugeborenen, Beobachtungen 
an, V. Dr., E. Below . . . .61.4 




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VII 


Organischen Lebens, Alter des, 
auf der Erde v. Dr. E. W. . 233 
Plankton, Das, der norddeutschen 
Binnenseen v. Dr. Otto Za¬ 
charias . 696 

Selbstbefruchtung und Kreuzung. 

V. N. 164 

Stammform, Eine neu^des Men¬ 
schengeschlechts V. Dr. L. Reh 39 
Synthetische Prozesse im Tier- 
köiper V. Dr. Karl Oppen¬ 
heimer .719 

7 'odes, Die physiologische Not¬ 
wendigkeit des, v.Dr. P. Jensen 435 
Vorfahrem Die, des Menschen v. 

Dr. L. Reh.237 

Botanik. 

Äther- und Choroformnarkose, 

Neue Wirkung der, v. N. . . 433 
Agrikulturchemie, Die Fort¬ 
schritte der, in den letzten 25 
Jahren. Nach M. Maercker v. 

Bechhold.265 

Agrikulturchemie etc. auf der Ver¬ 
sammlung der Naturforscher 
und Aerzte in Eraunschweig v. 

Dr. Bechhold.755 

Argon in den Pflanzen, v. B. D. 361 
Asphaltdämpfe,DieBeschädigung 
der Pflanzen durch, . . . 632a 

Atmen, Das, verwundeter Pflan¬ 
zen V. N.361 

Bambus als Baustoff.929 

BaumwoUe,EineBakterien-Krank- 

heit der,.742 

Baumwolle, Samen der, ... 56 
Bloten, Wärmebildung bei der 
Entfaltung von, v. N. ... 74 
Botanik,Die,im vergangenenjahre 

V. Dr. A. Nestler.438 

Botanik, Lehrbücher der. v. N. 794 
Botanischer Gärten, Die Anlage, 522 
Gaffeln, Die Konstitution des, 
und damit zusammenhängende 

Fragen v. B.289 

Cellulose, Einlagerung von, in 

Cellulose v. A.74 

Chemie, Fortschritte der, imjahre 
1897 v. Dr. Bechhold . 901, 921 
Chlorophyll, Das tierische, v. 

Professor R. Francö .... 389 
ChlorophyllgrOn, künstliches, . 895 
Diastase, Ueber die chemische 
Beschaffenheit der, v. S. . . 810 
Entdeckung,Eine bedeutungsvolle, 
auf dem Gebiete der Botanik 
(Bindeglied zwischen Phanero- 
gamen und Kryptogamen) v. N. 92 
Entwickelungsmechanik v. Reh 593 
Erfrieren, Untersuchungen über | 
das, der Pfl^izen v. N. . . 703 
Farbstoff der Blätter, Die Bezieh¬ 
ungen zwischen dem, und des 

Blutes V. B.83 

Gartenbau, Neuerungen im, v. 

Curt Grottewitz.615 

Gartenkunst, Die heutige, v. Curt 

Grottewitz. 407 

Goldafrers, Raupen des . . . 506 
Hortensien, Wie kultiviert man 

blaue,? v. N.271 

Kampfer, Die neueren chem¬ 
ischen Untersuchungen Ober, 

v. Dr. Schmidt.8a6 

Kampferindustrie, Die, in Japan 
und China v. G. Arends . . ^4 
Kartoffelstärke, Die Herstellung 
der,.36s 


Kautschuk, der.488 

Kautschukbaum, Der .... 560 
Kolonien Diedeutschen,I.Deutsch- 
ostafrika v. Dr. Neubaur 367, 385 
Kupfersalze, Beschädigung des j 
Landbaues in Japan durch, . 740! 
Lebensraum, Über den, v. Prof. I 
Dr. Friedrich Ratzel .... 363 i 
Lecithins, Die Bedeutung des, j 

j für die Pflanzen.200 1 

Lenz, Der, in Aegypten v. Paul ; 

Pasig . . . ..147 

Luftsauerstoffs, Über den Ur¬ 
sprung des, v. Dr. Schmidt . 234 
Mahdismus. Die Bedeutung der 
vom, unterjochten Länder v. 

Rudolf Prietze.633 

Oleanders, Die giftigen Eigen¬ 
schaften des, v. Dr. A. Nestler 338 
Peronospora,Kupfervitriol gegen, 742 
Pflanzenphysiologie u. Pflanzen¬ 
schutz, Institut für. ... . 596 
Pflanzenphysiologische Beobach¬ 
tungen auf Spaziergängen und 
Reisen v. Dr. A. Nestler . . 587 
Pflanzenwachstums, Eine elek¬ 
trische Anlage zur Liprobung 
der BefÜrderut^ des, . . . 452 
Pfrophybriden, Giebt es? v. N. 758 
Plankton, Das, der norddeutschen 
Binnenseenv.Dr.OttoZacharias 696 
Reformprojekt, Ein, v. Dr. A. 

Nestler.305 

Riechstoffe, Künstliche, v. Dr. 

Felix Hoffmann.804 

Röntgenstrahlen, Die, und die 

Pflanzen v. N..107 

Röntgen-Strahlen, Ein Versuch 
zur praktischen Verwendung 
der, in der chemisch-analyfr 
sehen Praxis v. Dr. Thilo . 530 

Rosenemte, Zur,in Bulgarien v.A. 488 

Rosenöl, Ueber, v. A.322 

Robenmelasse, Die, und ihre Ver¬ 
wertung V. Dr. G. Pulvermacher 403 
Samenbildung an abgeschnittenen 

Blütenständen v. N.218 

Selbstbefruchtung und Kreuzung 

V. N.164 

Sesamöl, Das, v. A.541 

Stickstoff, Der, und die Pflanzen 

y. Dr. A. Nestler.226 

Stickstoffes, Absorption des, 

durch Benzol.542 

Synthetische Prozesse im Tier¬ 
körper v.Dr.Karl Oppenheimer 719 
Theobromins, Synthese des, v.S. 775 
Todes, Die physiologische Not¬ 
wendigkeit des, v. Dr. P. Jensen 435 
Veilchenwurzel, Die Kultur der 

V. A. . ..737 

Weinbau der Römer . . . 6^0 

Zuckergruppe,Eine neueSynthese 
in . der, v. S.51^9 

Bfleberkunde. 

Bibliographi^he Konferenz,Zwei- 

te internationale,.434 

Bibliotheken, Deutsche Privat-, 451 
Neue Erscheinungen des Bücher¬ 
marktes . 

Chemie, Chemische Technologie. 
Abwässer, Die bakteriologische 
Klärung der, v. H. M. . . . 807 

Acetylen.20 

Acetylenbeleuchtung 127, 650, 668 
Acetylen, Gelöstes, v. B. D. . 539 
Agrikulturchemie, Die Fortschrit¬ 


te der, in den letzten 25 
Jahren, Nach M. Maerker 

V. Bechhold.265 

ACTikuIturchemie etc. auf der 
Versammlung: der Naturfor¬ 
scher und Ärzte in Braun- 
schweig V. Dr. Bechhold . . 755 
Ägyptischen Gräbern, Chemische 
Untersuchung von Fettstoffen 
und anderen organbeheh Sub¬ 
stanzen au^ .578 

Alkoholfreie Obst- und Trauben¬ 
weine V. N.56 

Alkoholische Gährung ohne Hefe¬ 
zellen V. Dr. G. Sch. . . . 144 

V. B.451 

Aluminiumblech _.236 

Aluminium, Das Überziehen von, 
mit Edelmetallen v. B. . . . 896 
Aluminiums, Die Gewinnung des, 704 
Anilin-Farben-Fabrikation, Die 

europäische, .651 

Argon in den Pflanzen v. B. D. 361 
Argon und Helium durchdringen 
nicht glühende Bleche . . . 559 
Arsenhaltiger Tapeten,Giftigkeit, 144 
Artillerietechnik und Bamstik, 
Neuerungen in der, v. Haupt¬ 
mann X.656 

Auer-Glühstrümpfe, Das Roh¬ 
material der, v. R. M. . . . 177 
Bakterien, Verhalten der, zu 
chemischen Desinfektionsmit¬ 
teln V. Dr. Bechhold .... 52 
Bieres, Schaumbildung des, . 128 
Bleioxydpulver, Bindemittel aus 

V. B.578 

Blutes, Aenderung der Beschaffen¬ 
heit des, in bedeutenden Höhen 740 
Blut- und Gallenfarbstoffen, Über 
den Zusammenhang von, . 776 
Gaffeln, Die Constitution des, 
und damit zusammenhängende 

Fragen v. B.289 

Calcium in derSonnenatmosphäre 652 
Casse, Zur, des Weins . . . 8^ 

Chemie etc. auf der Versammlung 
der Naturforscher und Arzte 
inBraunschweigv.Dr.Bechhold 755 
Chemie, Fortschritte der im 
Jahre 1897 y-Bechhold 901, 921 
Chemie, Physikalische, v.Dr.Bech- 

hold.37 

Chemiker, Der Verein deut¬ 
scher, .416, 488 

Chemikers, Die unzulängliche 
Vorbildung des deuschen, v. ' 

Bechhold.521 

Chlorate, alkalischer Erden, Dar¬ 
stellung, der durch Elektrolyse 56 

ChlorophyllgrOn, Künstliches . 895 

Chlors, Der Einfluss des, auf 

die Lunge v. H. W.181 

Chrommetall, Metalllegierungen 

mit, .56 

Coupons- und Urkundenfälschung 
Zur Erkennung von, . . 880 

Diamanten, Neues Verfahren 
künstliche zu erzeugen . . . 741 
Diamanten, Über die Erzeugtmg 
künstliche^ auf elektris^em 

Wege V. Dr. PIv.179 

Diastase, Über die chemische Be¬ 
schaffenheit der, V. S. . . . 810 
Diastase, Zerstörung der, durch 
das Tageslicht . . . . . . 542 
Edelsteinen,KOnstlicheErzeugung 
von V. B. D.272 


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vin 


Seite 

Eisencarbid, Die Darsteilung von, 
durch direkte Vereinigung des 
Metalls mit Kohlenstoff v. S. 895 
Eisenindustrie, Die Entwicklung 

der, und die heutigen Eisen* 

erzvorräte v. Prof. Dr. E. F. 
Dörre.123, (146) 

Eiweiss, Neue Untersuchungen 
über, und einige Verbind¬ 
ungen desselben v. Bechhold 776 
Elektrischen Stromes, Einfluss 

des, auf geschmolzenes Me¬ 
tall .38 

Elemente, Die Entdeckung neuer, 
und damit zusammenhängende 
Fr^en nach Clemens Winkler 

V. E. Revmond . . . 121 

Elemente, Neue v. B. . . 451, 578 
Entladungsstrahlen v. Dr. Pr. . 179 
Erdöls, Zur Frage der Entstehung 

des V. S.810 

Farbstoff dw Blutes und der 
Blätter, Die Beziehungen zwi¬ 
schen dem, V. B.83 

Färbung von Salzen durch Katho¬ 
denstrahlen V. Dr. Pr. . . . 398 
Fibrin, Die Zersetzung von, 
durch Streptococcen . . . 775 
Fluor, Verflüssigung von v. B. 488 
Farbenphotographie,Chassagne’s 686 
Fischkonservierungs-Methode im 
nördlichen Schweden . . . 722 
Fleisch, Ein neues Verfahren, 
zu konservieren v. Sch. . . 308 
Gährungserscheinungen, Zur 
Kenntnis der, v. S. u. B. . 895 
Gähru^s-Kohlensäure .... 793 
Gas, ßn unentdecktes, Nach 
Prof. v. Ramsay v. Bechhold 666 
Gasglfihlicht, Die Verbesserungen 

am.178 

Gefahren für Arbeiter in chemi¬ 
schen Fabriken, Über, v. Dr. 
Konrad W. Jurisch . . 57 

Gewerblicher Betriebe, Über 
Schädigungen, durch verun¬ 
reinigte Luft V. Dr. Konrad 

W. Jurisch.489 

Glas und Hom, Chemische Zu¬ 
sammensetzung von, V. B. . 596 

Glühlampe, Neue elektrische . 505 
Glycerin v. G. Arends . . . .140 
Coldbergbau, Der, in Transvaal 
V. O. Kalt-Reuleaux .... 464 
Hager, Dr. Hermann, v. B. t • no 
Heteroxanthins u. Paraxanthins, 

Synthese des v. S.912 

Honigbiene, Das Gift unserer . 542 
Hortensien, Wie kultiviert man 

blaue,? V. S.271 

Indigo, Künstliche Darstellung 
von, V. Bechhold .... 829 
Jodoforms, Zersetzung des am 

Licht.742 

Kampfer,Die neueren chemischen 
Untersuchungen über, v. Dr. 

Schmidt.826 

Kampferindustrie, Die in Japan 
und China v. G. Arends . . 824 
Kartoffelstärke, Die Herstellung 

der.362 

Kohlenoxydgas, Heilmittel hei 
Vergiftungen durch .... 578 
Kohlensäure, Die Verwendung 
von flüssiger, bei Seeunfällen 34a 
Kohle, Übergang von, in Gra¬ 
phit V. B.200 

Kraftmasclune, Eine neue epoche¬ 
machende .415 


Seite 

Krystallen, Uber künstliche Fär¬ 
bung, von v. Dr. Schmidt . 179 
Kupfersalze, Beschädigung des 
Landbaues in Japan durch . 740 
Kimfers, Das Alter des, von 

Chaldäa.741 

Lecithins, Die Bedeutung des, 

für die Pflanze.aqp 

Licht, schwarzes, v. B. D. . . 531 

Lucium, Das neue Element . . 144 

Luft, Der Kohlensäuregehalt der, 

V. Dr. Schmidt .... 234, 560 
Luft, Der Ozongehalt der, v. S. 433 
Luft, Lindes Apparat zur Her- 
stellune flüssiger, v. B. . . 108 
Luft, Merkwürdige Versuche 

mit flüssiger . ..687 

Luftsauerstoffs, Über den Ur¬ 
sprung des, V. Dr. Schmidt . 234 
Luft, Zusammensetzung der, 
in grossen Höhen, v. B. D. . 343 
Margarine, Färbemittel für, v. A. 235 
Margarins, Erkennung des, v. B. 912 
Metmlcarbide, Die, v. B. D. . 341 

Metalllack.632 

Meyer, Victor, f v. B.613 

Mineralien und Edelsteine, Färb¬ 
ungen der.542 

Morphins, Die Konstitution d., v.S. 880 
Napnta-Feuerung v. Dr. S. Aisin- 

man.87 

Naphta-Industrie, Die, der Halb¬ 
insel Apscheron, v. Dr. Rud. 

Wischin.789 

Naturwissenschaft, Die, vor 500 

Jahren . 439 

Neugeborenen,Der Entwicklungs¬ 
gang des, und seine Ab¬ 
hängigkeit von der Lebens¬ 
weise und Körperkonstitution 
der Eltern v. Dr. Oskar 

Schaeffer.335, 350 

Oleanders, Die giftigen Eigen¬ 
schaften des, V. Dr. A. Nestler 338 
Oxykampfer, Ueber v. S. . . 5)9 
Ozon, Phosphoreszieren des 
Wassers nach Schütteln mit 434 
Peronospora, Kupfervitriol gegen 742 
Photographie in natürlichen Far¬ 
ben v. E. V.235 

Photographie in natürlichen Far¬ 
ben, Der heutige Stand der, 

V. E. Valenta .... 187, 211 
Positivverfahren, Neue photo- 
graphisches, v. B. .... 398 
Pyrazmen, Ober das Vorkommen 
von, im Fuselöl und in den 
Reaktionsprodukten aus Trau¬ 
benzucker und Ammoniak v. 

Dr. Schmidt.179 

Quecksilbergruben von Mexiko 56 
Riechstoffe, Künstliche, v. Dr. 

Felix Hoffmann.804 

Röntgenstrahlen, Einfluss der, 
auf chemische Vorgänge v. B. 169 
Röntgen-Strahlen, Ein Versuch 
zur praktischen Verwendung 
der, in der chemisch-analy¬ 
tischen Praxis v. Dr. Thilo . 530 

Rosenöl, Über, v. A.322 

Rubine, Die Herstellung künst¬ 
licher .721 

Rübenmelasse, Die, und ihre 
Verwertung v. Dr. G. Pulver¬ 
macher .403 

Salzlager, Die Bildung der Stass- 
furter,_ v. B.649 


S«ite 

669 

524 

596 

541 
434 

226 

542 
758 

517 

217 


719 

291 

506 

235 

651 

144 

20 

74 

559 


Saure und basische Eigenschaf¬ 
ten bei demselben Körper 
Schnapsbrennerei der Neger 
Seidenleim als Nährboden v. S. 
Seifenindustrie, Die chinesische 
Selbstentzündung von Putzlappen 
Sesamöl, Das, v. A. . . 
Stahlcarbid v. Pr. ... 

Stickstoff, Der, und die Pflan 
zen v. Dr. A. Nestler . . 
Stickstoffes, Absorption des, 

durch Benzol. 

Strahlen, Neue,? v. Dr. Pr. 
Stromsammler oder AkkumuU' 
toren v. Dr. Joh. Russner 
.Sulfit-Cellulose, Die, vor Ge 

rieht. 

Synthetische Prozesse im Tier 
körper v. Dr. Karl Oppen 

heimer. 

Technischen Versuchsanstalten, 
DieAufgaben der v.Dr.D.Holde 
Thebain, Untersuchungen Ober 

v. Bechhold. 

Theobromins, Synthese dra v. S. 
Thermochemie in der Industrie 
Trinkwassers, Ein neues Ver¬ 
fahren zur Herstellung keim¬ 
freien . 

Wäschereien, Brände in chem¬ 
ischen . 

Weines, Gehalt des, an Essig¬ 
säure .. 

Weines, Verfälschung des v. B. 
Zinks, Wirkung des, auf die 
Photograph. Platte v. Dr. A. G. 
Zuckei^ruppe, Eine neue Sym 
these in aer, v, S. 

Elektrizität, Elektrotechnik. 

Abfuhrstoffe, Verbrennung der 651 
Aethecs, Ueber die elektrische 

Leitfähigkeit des.758 

Akkumulatoren, Trockenfüllung 

der.651 

Aluminium, Das Ueberziehen von, 
mit Edelmetallen v. B. . . . 896 
Aluminiums, Die Gewinnung des 704 
Artillerietechnik und BaSistik 
Neuerungen in der, v. Haupt¬ 
mann X.656 

Bahnen, Elektrische, in Deutsch¬ 
land .109 

Beleuchtungssystem, Das neue, 
von Mc. Farlan Moore . . . 849 
Blitzableiter, Ueber, v. Dr. Joh. 

Russner.662 

Bohrmaschine, Fahrbare elektri¬ 
sche, V. R..650 

Chemie, Fortschritte der, im 
Jahre 1897 v. Dr. Bechhold 901 921 
Diamanten, Neues Verfahren 
künstliche, zu erzeugen . . 741 
Diamanten, Ueber die Erzeu^ng 
künstlicher, auf elektrischem 

Wege V. Dr. Plv.179 

Droschken, Elektrische. . . . 452 
Du Bois-Reymond. Emil, t v. Dr. 

P. lensen.35 

Eisenbahnen, Der zukünftige 
elektrische Betrieb der . . . 445 
Eisenbahnwesen, Neue Ver¬ 
wendung derElektrizitätim, v.R. 520 
Elektrische Lampe, Edisons 

neueste, v. Dr. Pr.236 

Elektrizität, Die, des Luftmeers 
v. Dr. E. Wölfling .... 219 
Elektrizität en grps und en detail 55 


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IX 


Seite 

Elektrizität. Wie leitet der Drakt 

die,?.8 IO 

Elektrolyse, Darstellung derChlo* 
rate alkäischer Erden durch 56 
Elektrotechnik, Die, im Jahre 

1896 V. J. Sachs.171 

Entladungsstrahlen v. Dr. Pr. . 179 

Färbung von Salzen durch Ka¬ 
thodenstrahlen V. Dr. Pr. . . 398 
Fernsprecher und elektrische 
Strassenbahnen v. Martens '. 89 
Ferraris, Galileo, t v. S. . . ai8 
Fleisch, Neues Verfahren, zu 

konservieren v. Sch.308 

Funkentelegraphie.848 

Gesprächszähler in Stadt Fern- 
sprech-Einrichtungen v. M. . 414 
GlOnlampen, Die Herstellung von, 
für elektrisches Licht . . . 339 
Glühlampen,Leuchten elektrischer, 
zu einer bestimmten Stunde 864 
Glühlampe, Neue elektrische . . 505 
Glühlampen,Wärme der . . . 848 
Haaren und Federn, Über die 
elektrischen Eigenschaften von, 

V. F. Römer.649 

Hebemagnete.741 

Heerwesen, Die technischen 
Fortschritte im, v. L. . . . 813 
Hör-Telephon, Ein, für Taub¬ 
stumme V. B. D. . . 520, 63a 

Kautschuk, Der.488 

Körper, Der menschliche, und der 
elektrische Strom v, Dr. A. G. 73 
Kohle, Auf elektrischem Wege 
aus Torf hergestellte . . . 342 
Kraftübertragung, Die elektrische 34.I 
Kritikstrahlen v. Dr. Pr. . . . 2^ 
Krystallen, Über künstliche Fär¬ 
bung von, V, Dr. Schmidt . 179 
Landwirtschaftlichen Be tri eb, 

Eine elektrische Anlage für . 523 
Lich^ Schwarzes, v. B. D. . 521 
Medizin und Hygiene auf der 
Versammlung derNaturforscher 
und Ärzte in ^aunschwefg v. 

Dr. med. L. Mehler .... 775 
Metall. Einwirkung des elektri- 
schenStromes auf geschmolzenes 38 
Metallpartikelchen, Die Schnellig- 
keitder,imelektrischenFunken 759 
Metallspi^eln, Herstellung von, 
aufelektrischemWegev.Gockel 144 
Mikrophone, Neue, v. M. . . 176 

Mikri^honograph.632 

Nebel. Fort mit dem), v. B. D. 397 
Niagara-Falles, Die Kraft des . 524 
Nilkatarakte, I^e Ausnutzung der 416 
Pflanzenwachstums, Eine elektri- 
scheAnh^e zur Erprobung der 

Beförderung des.45a 

Phonograph als Depeschenem- 

pfünger.721 

Platins, Die Produktion des . . 560 
Polieren,MolekulareVorgänge beim, 

spröder Köroer.8ii 

Röntgens, Die Bedeutung der Ent¬ 
deckung .541 

Röntgenstrahlen, Die, als Hilfs¬ 
mittel der anatomischen For¬ 
schung V. A. B.594 

Röntgenstrahlen, DieSichtbarkeit 

der, V. Dr. Pr.253 

Röntgenstrählen, Die, und die 

Pflanzen v. N. .107 

ROntgenstrahlen, Einfluss der, auf 
chemische Vorgänge v. B. . 109 
Röntgen-Strahlen, Em Versuch 
zur praktischen Verwendung 


Seite 

der, in derchemisch-analytischen 
Praxis v. Dr. Thilo .... 530 

Röntgenstrahlen, Erzeugungder, 
durchlnfluenzmaschinenv^Dr.Pt. 236 
Röntgenröhren. Neue Einrich¬ 
tungen an, v. Dr. Joh. Russner 323 
Röntgenstrahlen, Wassind?, v Dr. 

Bernhard Dessau.93 

Rubine, Die Herstellung künst¬ 
licher .721 

Schnell-Telegraphie.504 

Stickstoffes, Absorption des,durch 

Benzol.542 

Strahlen. Eine neue Art, v.- S. . 163 
Stromes, Entstehung eines elek¬ 
trischen, durch Beleuchtung der 

einen Elektrode.776 

Stromsammler oder Akkumula¬ 
toren V. Dr. Joh. Russner . . 517 
Telegry)hieren, Die Vorstellung 
der (Chinesen vom .... 895 
Telegraphie ohne Draht v. Dr. 

Bernhard Dessau.579 

Telegraphieohne Draht, Marconis 74a 
Telegraphie ohne Drähte, Die 449 
Telegraphie ohne Drähte, Die 
bei Gewittern, ...... 578 

Telephon, Ein neues, v. B. D. . 5^ 
Temperaturen, Über Messung 
honer und niedriger, V. Dr.Joh. 

Russner.267 

Tuberkulose und Röntgenstrahlen 

V. Dr. Pr..253 

Untergrundbahn, Die elektrische, 
in Budapest v. Graf Eduard 

Wilczek.604 

Vollbahnen, Die vorteilhafte Ver¬ 
wendung des elektrischen Be¬ 
triebes auf.487 

Wäschereien, Brände in chem¬ 
ischen .651 

Wasserkräfte,DieNutzbarmachung 
der natürlichen, und die elek¬ 
trische Kraftübertragung v. 

Prof. Dr. Voller ..... 371 
Wellen, Elektrische, v. Dr. Pr. 3M 
Wissenschaft und Scheinwissen¬ 
schaft in der Heilkunde. Nach 
M. Sternberg v. R. Mehler . 302 
X-Strahlen Lorgnette, Söguys, v. 

Prof. Jacques Boyer.... 553 
X-Strahlen.weitereBeobachtungen 
Oberdie Eigenschaften der, v.f 469 

Ethik. 

Geschichtsphilosophische Sys¬ 
teme der Gegenwart v. Karl 

Lory.75 t 

Kleidung und Schamgefühl v. 

.. Th. Achelis. . 88 

Übermenschen, Eine Geschichte 

des, V. Moritz Necker . . . 777 
Geographie. 

Aconcagua in Südamerika, Be¬ 
steigung des, V. Dr. H. rola- 

.. kowsky.38, 252 

Ägypten, Der Lenz in, v. Paul 

Pasig.147 

Alaska, Die Goldfunde in . . 630 

Amerika, Deutsche Auswande¬ 
rung nach dem spanischen, v. 

Dr. H. Polakowsky .... 69; 
Araxes, Der, nicht mehr Neben- 1 

flu^ des Kura .308 ^ 

Australien, Tellurgold in, v. R. M. 181 ■ 

Australiens, Der Ausgang der , 
Calvertschen Forschunwreise 
im Innern 1896I97 v. Dr. A. ; 
Vollmer.646 * 


Ballon-Ezpeditidnen, Die Aus¬ 
rüstung wissenschaftlicher, v. 

W. BerdroW. 

Barths, Heinrich, Nachlass v. E. 
Chile. Forschungsreisen im süd¬ 
lichen^ V. H. r. 

Colombia, Prof.Regels Reisen in, 

V. Dr. E. 

Columbien, Die Lepra in, v. Dr. 

H. Polakowsky. 

Deutsch-Ncu-Guinea, Neue Zoolo¬ 
gische Forschungen in, v. R. F. 
Eisenbahn, Die neue kaukasische 
Erdmagnetismus v. A. ... 
Erdmagnetismus^ Der, zur Zeit 
der Etrusker v. B. . . . , 
Erdmagnetismus« Die ersten Be¬ 
obachtungen, über den . . . 
Europa und Amerika, Waren, 
vordem durch ein Festland 
verbunden? v. R. K. . . . 
Faguibine, DerSee.bei Timbuktu 

V. Dr. E. 

Geographentag, XII. deutscher, 
zu Jena 20.-25. April . . . 
Geographie, Die, in den letzten 
Jahren . (abgeschlossen März 
1897) V. Dr.P. Eifert I.Amerika, 
II. Polargebiete (abgeschlossen 
im April 1897) .... 
Geologie etc. auf der Versamm 
lung der Naturforscher und 
Arzte in Braunschweig v. Dr 

Bechliold. 

Gletscher, Die, der arktischen 

Rennen .. 

Griecnenlandreisen von Nicht 
archäologen .... 
Hawaii, Der StreitfaO zwischen 
Japan und . . « . . 
Hawaii und Japan und die ja 
panische Auswanderung v 

v. Brandt . 

Japanisch-Chine^cher Krieg 
Japan, Die Entwicklung der Eisen 

bahnen in . 

Kaokogebiete, Dr. Hartmanns 

Reise im . 

Kilima-Ndjaro und detn Meru 
berge. Zwei neue Seen zwi 
sehen dem, v. Dr. E. . . 
Kolonie, Die neueste „deutsche* 
v. Dr. H. Polakowsky . 
Kolonien, Die deutschen, v. Prof. 

Karl Freih. von Stengel . . 
Kolonien, I^dentschen,!. Deutsch 
ostafrika v. Dr. Neubaur. 367, 
Kongo, Die Dampferfiotte auf 

dem oberen . 

Korallen-Inseln, Zur Erforschung 

der. 

Kunene, Dr. Essers Reise nach 

dem . 

Kunenemündung, Die,im deutsch- 
sOdwestafrikanischen Schutz¬ 
gebiete V. Dr. E. 

I-andweg, Der, zwischen Europa 
und Amerika v. Th. Poesene 
Lebensraum, Uber den, v. Prof 
Dr. Friedrich Ratzel .... 
Mahdismus, Die Bedeutung der 
vom, unterjochten Länder v. 

Rudolf Prietze. 

Markesas-Inseln, Prof Dr. Carl 
von den Steinen’s Reise nach 

den, v.-r. 

Masse und Gewichte, Das inter¬ 
nationale Komitee für . . . 


Mt« 

64 

8ia 

128 

128 

270 

897 

65t 

344 

67 

74a 

37 

iio 

236 

282 

426 


755 

759 

325 

467 

471 

65* 

534 

163 

74 

304 

III 

385 

505 

793 

162 

91 

846 

363 

633 

272 

336 


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X 


Seite 

Mayonvulkane, Ausbruch der, auf 

Manila.542 

Mexiko, Quecksilbergruben in . 56 
Mond* und. Erdkunde in ihren 

f egenseitigen- Beziehungen v. 
rof. Dr. S. Günther . . . 294 
Niagara-Falles, Die Kraft des . 524 
Nicaragua*Kanal, Der, v. Dr. H. 

Polakowsky . . ■.189 

Niger, Erforschung des ... 19 
Nordamerikas, Die Entdeckung 519 
Nordpol, Ballonfahrt nach, dem, 

. V. M.. . . . i8o 

Pamir-Expedition, Die dänische 448 
Pamir, Über die russisch-indischen 
Grenzverhältnisse am . . . 702 
Panama, Arbeiten am Kanal von 669 
Peam-Riffes an der Ostküste 
Australiens, Lage des, . . 38 
Pik von Onzäba (Citlalfopeü), 

Der.742 

Polar-Expeditionen ..... 556 
Polarexpedition, Diejacksonsche 
PoIareMcdition, Karte deMack- 
son-Harmsworth, nach Franz- 
Joselsländ, während der Jahre 
1894196 V. Dr. E. . . . . • . 109 
Reise um die Erde nacn- Vollen¬ 
dung der transsibirischen Bahn 830 
Riesenkanal, Der russische . . 326 
RotenMeeres,Durchforschungdes 38 
Sardinien, Erzlager der Insel . 596 
Schire, Kohlenlager am oberen 362 
Seen, Was wissen wir von der 
Gestalt der europäischen, v. 

Dr. Halbfass .417 

St. Elias Berg, Der .... 742 
Submarine Veränderungen . . 705 

Südpolarforschiöig, Die deusche, 

V. Kahle.'. . 861 

Togo-Abkom'men, Das . . . 864 

Transsibirische Eisenbahn, Die, 
v. Dr. F. Larrtpe .... 746 
Transvaal, Der Goldbergbau in, 
v. O. Ka't-Reulaux .... 464 
Transvaal, Der Handelsverkehr 
in, v. O. Kalt-Rfeulaux . . 169 

Ungarns, DieSeen, v. Dr. Halbfass 287 
Urga in der Mongolei ... 19 
Vorderasiatische, Die, Gesellschaft 

V. F. E. P.143 1 

Zuidersees, Die Trockenlegung 
des, V. Sch. ...... 452 

Geologie. 

Alk, Frühere Verbreitung des . 651 
Chemie, Fortschritte der, im Jahre 
1897 V. Ih-. Bechhold . -901, 921 
Eiszeit, Anwesenheit der Men¬ 
schen in Amerika zur, . . 470 
Erdöls, ZurFrage der Entstehung 

des, V. S.810 

Euro]», Die internationale geolo¬ 
gische Karte von v. R. M. . 92 
Europa und Amerika. Waren, 
vordem durch ein Festland 

verbunden? v. Rk.37 

Geologie etc. auf der Versamm¬ 
lung der Naturforscher und 
Aerzte in Braunschweig v. Dr. 

Bechhold. 755 

Gletscher, Die, der arktischen 

Regionen.759 

Historische Kommission, Die, bei 
der kgl. bayr. Akademie der 
Wissenschaften v. Karl -Lory 759 
Interglacialzeit, Existenz des Men¬ 
schen zur, in der Gegend des 
heutigen Berlin . . .r . . . 487 


Seite 

Jurazeit, Klima während der, v. 

Dr. E. W.143 

Kohlensäuregehalt, Der, der Luft - 

V. Dr. Schmidt .234 

Korallen-Inseln, Zur Erforschung 

der, ... _.793 

Lebensraum, Uber den, v. Prof. 

Dr. Friedrich Ratzel . . . 363 
Luftsauerstoffs, Über den Ur¬ 
sprung des, v. Dr. Schmidt . 234 
Metallcarbide, Die, v. B. D. . . 341 
Mond* und Erdkunde in ihren 
gegenseitigen Beziehungen v. 

Prof. Dr. S. Günther . . . 294 
Salzlager, Die Bildung der Stass- 

furter, v. B. ... 649 

Sodom und Gomorrti^ Der Unter¬ 
gang von, V. R. M. . . . . 180 
Steinzeit, Ueber das Alter der 
älteren und jüngeren, v. Rk. . 577 
Submarine Veränderungen . . 705 
Vulkan-ähnlicher 'Ausbruch in 
Santos V. Dr. L. Reh . . .181 
Wirbeltieres, Fussspur eines, im 
Devon v. Rk.344 

Geschichtswissenschaft. 

Ägypten, Die neuesten Entde¬ 
ckungen in, und die älteste 
Geschichte des Landes v.Prof. 

Dr. A. Wiedemann . . gSi, 590 
Babylonischen Kultur, Die Ent¬ 
deckung der ältesten, (Tpoo 
bis 6 cito. vor unserer Zeit¬ 
rechnung) .. 551 

Baureste und Inschriften des 
ehemals römischen Afrika, 

Die Erforschung der, v. W. . 683 
Begleithügel, Die Erforschung 
der sogenannten, an der 

Limesstrecke.557 

Eieutschtums, Die Zukunft des, 

V. Dr. I. W. Bruinier . 881, 905 
Friedrich der Grosse und der 
Ursprung des siebenjährigen 
Krieges v. Dr. Emst Müsebeck 381 
Friedrich II. von Hohenstaufen 

V. Karl Lo^.246 

Germanen, Die Heimat der, v. 

Dr. I. W. Bruinier . . . . 14 
Germanen, Nochmals die Heimat 
der, V. Dr. Ludwig Wilser . 144 
Germanen, Einige Bemerkungen 
zum Eingesandt des Herrn 
Dr. L. Wüser Ober die Heimat 
der^ V. Dr. S. W. Bruinier . 156 
GeschichtsphilosophischeSysteme 
der Gegenwart v. Karl Loi^ 751 
Geschichtsschreibung, Die, im 
ver 
bis 
beck 

I. Das Altertum.516 

II. Das Mittelalter .... 527 
III. Mittelalter und Neuzeit . 626 

Grenzwall, Vom römischen, v. 

Prof. K. Schumacher . . . 299 
Griechenland in der vorgeschicht¬ 
lichen (mykenischen) Kultur¬ 
epoche v.Dr.Sylvius Bruck 229,241 
Historie^ Politische, und Kultur¬ 
geschichte v. Karl Lory . . 460 
Historische Kommission bei der 
kgl. bayr. Akademie der Wis¬ 
senschaften, Die, v. Karl Lory 759 
IndischeForschungsergebnisse des 
Jahres 1896 v. Dr. Kurt Klemm 318 
Japanisch-chinesischer Krieg . . 651 


vergangenenjahre (Januar 1896 
3is Apnli897) v.Dr. Emst Müse- 


Seitc 

Mahdismus, Die Bedeutung der 
vom, unteijochten Länder v. 
Rudolf Prietze ....... 633 

Maldininkem, Bei den, v. Dr. F. 

Tetzner .547, 569 

Marmorchronik, Ein neues Bmch- 
stOck der parischen . . . : 522 
Mommsen als Historiker und 
Epigraphiker. Zu seinem 80. 
Geburtstage v. Karl Loiw . 861 
Nationalitätenstreit, Der in Öster¬ 
reich-Ungarn V. Dr. E. Müse¬ 
beck .761 

Neunzehnten Jahrhunderts, Neu¬ 
erscheinungen zur Geschichte 
des, V. Karl Lory .... 577 
Orient. Betrachtungen über den, 

I Die orientalische Frage im 
19. Jahrhundert v. Dr. E. 

Müsebeck . -.728 

Panhellenismus, Der, v. Dr. Julius 

Ziehen .198 

P^st-Urkunden bis InnocenzIII. 

Plan einer kritischen Ausgabe 
der, V. Dr. Müsebeck . . . 377 
Pharaonen. Ein Reformator auf 
demThrone der, Amenophis IV. 
und seine Zeit v. Prof. Dr. A. 

Wiederaann .80, 98 

Preussen und die Geschichts¬ 
forschung V. Karl Lory . . 341 

Revolution, Zur Geschichte der, 
und Napoleon I. v. Karl Lory 812 
Schweinichen. Das Merkbuch 
des Ritters Hans von, v.K. Lory 307 
Selbstbiographien, Eine Samm¬ 
lung deutscher, v. Karl Lory 522 
Sodom und Gomorrha,DerUnter- 

gang von, v. R. M.180 

Sozialismus, Geschichte des v. 

Karl Lory.925 

Staatsgründenden Ideen Deutsch¬ 
lands im 19. Jahrhundert, Die, 

V. Dr. E. Müsebeck .... 909 

Steinzeit, Ueber das Alter der 
älteren und jüngeren, v. Rk. 577 
Taine, Studien zur Kritik und 
Geschichte von Hyppolite, v. 

Karl Loi^ ....... 829 

Tiara des Königs Saitaphames, 

Der heutige Stand der Frage ^ 
über die, v. Q. • • 430 » 47® 

Verfassungsgeschichte, Die deut- 
sdie, der Gegenwart v. Karl 

Lory.332 

Victona, Königin, vor 60 Jahren 

V. Dr. B.442 

Vor hundert Jahren. Eine Be¬ 
trachtung zur Centenarfeier 
V. Dr. Emst Müsebeck ^ . . 201 
Weltg^chichte,Darstellungen der,- 

V. Dr. M. . ..452 

Zoroasters, Das Zeitalter, v. K. 

Klemm .128 

Handel. 

Aluminiums, Die Gewinnung des, 704 
Anilin- Farben- Fabrikation, Die 

europäische.651 

Auer-Glühstrümpfe, Das Roh¬ 
material der, V. R. M. . . . 177 
Börsenjahr 18^, Vom, v. S. v. 

Halle.16 

Carborundum-Company . . . 613 

Deutsche Gewerbe, Em französ¬ 
isches Urteil über das . . . 722 
Eisenbahn, Die neue kauka^che 651 
Eisenbahn, Die. transsibirische, 
j V. Dr. F. Lart^ ..... 746 




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XI 


oeiic 

Eisenindustrie, Die Entwicklung 
der, und die heutigen Eisen- 
erzvorräte v. ProfT Dr. E. F. 

Dorre.133, 146 

Fleisch, Ein neues Verfahren, 
zu konserviren v. Sch. . . . 308 
Gartenbau, Neuerungen im, v. 

Curt Grottewitz.615 

GeflO^l, Gefrorenes .... 524 
Geld, Das, v. Dr. Otto Ehlers 244, 258 
Gewerblicher Betriebe, lieber 
Schädigungen, durch verun¬ 
reinige Luft V. Dr. Konrad 

W. Jiirisch.. . 489 

Glycerin v. G. Arends .... 140 
Goldftinde, Die, in Alaska . . 630 
Gold- und Silberpreises, Die Ent¬ 
wicklung des, im I^ufe der 
Geschiente v. O. Kalt-Reuleaux 799 
Handelsbeziehungen, Völker ohne 741 
Indigo, KOnstlicne Darstellung 

von, V. Bechhold.829 

Industrie-Aussichten, Unsere, 
in Russland v. Lyncaeus . . 71 
japanisch-chinesisener Krieg . 651 
Kampferindustrie, Die, in Japan 
und China v. G Arends . . 824 
Kartoffelstärke, Die Herstellung 

der.362 

Kautschuk, Der.488 

Kaviar, Der. v. Sch.343 

Kinder-Spielwaren, Anfertigung 
von, in Deutschland . . . 56 
Kohle, Auf elektrischem Wege 
aus Torf hergestellte ... 343 
Kohlenlager am oberen Schire . 363 
Kohlenlager, Die neuen eng¬ 
lischen, v. B. ...... ^ 

Kolonien, Die deutschen, v. Prof. 

Karl Freiherr von Stengel . in 
Kolonien, Die deutschen, I. 
Deutschostafrika v. Dr. Neu- 

baur.367, 385 

Mahdismus, Die Bedeutung der 
vom, unterjochten . Länder 

V. Rudolf Prietze.633 

Milch, Ein neues Verfahren zur 
Konservirung und zum Trans¬ 
port der.829 

Naphta-Industrie, Die, der Halb¬ 
insel Apscheron v. Dr. Rud. 

Wischin.789 

Nicaragua-Kanal, Der, v. Dr. 

H. Polakowsky.189 

Nichi-Doku-Sitsugio-Kokoku (Ja¬ 
panisch- deutscher Industrie- 

Anzeiger) ..378 

Palolowurm, Uber den essbaren, 
des pacifischen Oceans v. 

F. Römer.538 

Platins, Die Produktion des, . 560 

Produktion, Die, der Industrie 847 

Quecksilber-Gruben von Mexiko 56 

Robbenfang, Der, im Berings- 
Meer v. Reh ....... 846 

Rön^ens, Die Bedeutung der 

Entdeckung.541 

Röntgen-Str^Ien, Ein Versuch 
zur praktischen Verwendung 
der, in der chemisch-analy¬ 
tischen Praxis v. Dr. Thilo . 530 
Rosenemte, Zur, in Bulgarien 

v. A.488 

Rosenöl, Ueber, v. A.322 

Rfibenmelasse, Die, und ihre 
Verwertung v. Dr. G. Pulver¬ 
macher .403 

Schiffsbauwerften, Die Thädgkeit 


der deutschen, im Jahre 

V. Dr. Neubaur . . . 151 
Schiffsgesellschaften, Unsere 
deutschen, v. Lyncaeus . . . 106 
Seidenerzeugung, Die, der 

Erde.895 

Seifenindustrie, Die chinesische, 524 
Steinkohlenerzeugung Japans, 

Die.7Q3 

Technischen Versuchsanstalten, 
DieAufgabeder,v.Dr.D.Holde 391 
Tellurgold in Australien v. R. M. 181 
Thermochemie in der Industrie 488 
Transvaal, Der Goldbergbau in, 

V. O. Kalt-Reuleaux .... 464 
Transvaal, Der Handelsverkehr 
in, v. O. Kalt-Reuleaux . . . 169 
Veilchenwurzel, Die Kultur der, 

V. A.737 

X-Strahlen-Lorgnette, Söguys, v. 

Prof. Jacques Boyer . . . 553 
Zollverein, Der geplante britische, 
und die englischen Kolonien v. 

O. Kalt-Reuleaux.574 

Heerwesen. 

Aenderungen und Fortschritte im 
Militärwesen v. L. 

I. Der Dreibund.165 

II. Die Balkan-Staaten . , . 193 

III. Russland.327 

IV. Grossbritannien.«7 

V. Frankreich.543 

Artillerietechnik und Ballistik, 

Neuerungen in der, v.Haupt- 

mann X.. 656 

Artilleriewesen, Veränderungen 
und Fortschritte im, im Jahre 
1896 V. Hauptmann A. 420. 618, 638 
Drachen, Die wissenschaftliche 
Verwendung des, v. Dr. E. 

Wölfling.624 

Feld-SchnellfeuergeschOtzes, Die 
Einftlhrung des neuen deut¬ 
schen, v. Hauptmann X. . . 378 
Ferngläsern, E^e neue Art von, 

Ihr den Handgebrauch v. Dr. 

Johannes Russner.869 

Fortschritte, Die technischen, im 
Heerwesen v. „L." .... 813 
Infanteriegewehrs,Die Einftlhrung 

eines neuen, v. W.501 

Infanterie, Radfahrende v. L. . 33 
Kaiser-Manöver 1897 v. L. . . 631 
Lehr-InfanteriebatailloninPotsdam, 

Das, V. Major L.140 

Militär-Etat 1897/98, Bemerkens¬ 
wertes aus dem.90 

Militärstrafen zu verschiedenen 
Zeiten v. Karl Lory .... 831 
Schnellfeuergeschütze v. Haupt¬ 
mann X.42 

SchnellfeuergeschützSystemCanet 

V. Hauptmann X.375 

Technischen Versuchsanstalten, 
DieAufgabe der, v. Dr. D. Holde 291 

Hygiene. 

Abfuhrstoffe, Verbrennung der, . 651 
Abwässer, Die, bakteriologische 
Klärung der, v. H. M. . . .807 

Alkoholfreie Obst- und Trauben¬ 
weine V. N.56 

Aluminiums, Die Gewinnung des 704 

Arsenhaltiger Tapeten, Giffigkeit T44 

Augenkrankheit, Die ägyptische, 

V. Dr. D. Ritterband .... 214 
Bädersaison, Zur, v. Dr. med. L. 
Mehler.572 


seiw 

Ballon-Expedihonen, Die Ausrüs¬ 
tung wissenschaftlicher, v. W. 

Berdrow •.64 

Bieres, Schaumbildung des . . 
Gasse, Zur, des Weins .... 864 
Chemischen ^Fabriken, Ober Ge¬ 
fahren Arbeiter in, v. Dr. 
Konrad W. Jurisch .... 57 
Chlors, Dertinfluss des, aüf die 

Lunge V. H. W.181 

Desinfektionsmitteln, Das Verhal- 
tenderBakterien zu chemischen, 

V. Dr. Bechhold.53 

FischkonsenrierungS-Methöde' im 
nördlichen Schweden. . . . 733 

Fleisch, Neues Verfahren, zu kon¬ 
servieren V. Sch. . . . . . 308 
Heerwesen, Die technischen Fort- 

sc^tte im, V. L..813 

Hygiene etc, auf der Versamm¬ 
lung der Naturforscher und 
Aerzte in Braunschweig v. Dr. 

Bechhold '.753 

Insekten, Die, als Verbreiter an¬ 
steckender Krankheiten v. 

Sigm. Schenkung.350 

Kitasato’s, Prof., Institut für 

Infektionsjcrankheiten in Tokio. 
Nach Nakagawa v. B. . . . 686 
Kongress, Vom XII. intematio- 
naTen medizinischen, in Moskau 

v. Dr. L. Mehler.701 

Korsett, Das, als Krankheitsur¬ 
sache v. Geh. Med.-Rat Prof. 

Dr. A. Eulenburg.865 

Lebensdauer und Älkoholgenuss 

V. Dr. P. Jensen.396 

Lepra bei den Altperuanem . 830 
Lebra, Die, in Columbien v. Dr. 

H. Polakowsky.' 270 

Lepra, Die^ in den russischen Ost¬ 
seeprovinzen .939 

Lepra, Die, in Nord-Ost-Sibiiien 651 
Lepra-Konferenz, Die internatio¬ 
nale, in BerUn v. M. ... 793 
London, Die Versorgung von, mit 

Meerwasser.89 

Luft, Ueber Schädigungen ge- 
werbUchw, Betriebe durch ver¬ 
unreinigte, V. Dr. Konrad W. 

Jurisch.489 

Lungenschwindsucht unter den 
nordamerikan. Negern v. Rk. 38 
Margarine, Färbemittel ftlr,v. A. 235 
Margarins, Erkennung des, v. B. 91a 
Medizin und Hygiene auf der 
Versammlung der Naturfor¬ 
scher und Ärzte in Braun¬ 
schweig v. Dr. med. L. Mehler 775 
Milch, Ein neues Verfahren zur 
Konservierung und zum Trans¬ 
port der.829 

Neugeborenen,Der Entwicklungs¬ 
gang des, und seine Abhängig¬ 
keit von der Lebensweise und 
Körperkonstitution der Eltern 
v. Dr. Oskar Schaeffer . 335, 350 
Peronospora,Kupfervitriol g^en, 742 
Pest, Die, v. Dr. L. Mehler . . 73 
Pyrazinen, Uber das Vorkommen 
von, im Fuselöl und in den 
Reaktionsprodukten aus Trau¬ 
benzucker und Ammoniak v. 

Dr. Schmidt.179 

Radfahren, Die Wirkungen kör- 
. perlicher Ueberanstrengungen 
beim, v. Dr. D. Ritterbwd. . 249 
Röntgen-Strahlen, Ein Versuch 


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XII 


Seite 

zur praktischen Verwendung 
der, in der chemisch-analyti¬ 
schen Praxis v. Dr. Thilo . . 530 
Schulmedizin und Naturheilme¬ 
thode V. Dr. med. Paul Müller 457, 
483, 498 

Sesamöl, Das, v. A.541 

Technischen Versuchsanstalten, 
DieAufgabederjV.Dr.D. Holde 391 
Trinkwassers, Ein neues Ver¬ 
fahren, zur Herstellung keim¬ 
freien .335 

Tropenkrankheiten, DieErforsch- 
ung und Bekämpfung der, v. 

Dr. E. Below ..149 

Weines, Gehalt des, an Essigsäure 144 
Weines, Verfälschung des, v. B. ao 
Wissenschaft und Sclieinwissen- 
Schaft in der Heilkunde. Nach 
M. Slernberg v. Robert Mehler 303 
Wohlbefinden in feuchter und 
trockenerLuftbei verschiedener 
Temperatur ....... 72a 

Kolonisation. 

Auslralien,Tellurgold in, v. R. M. 181 
Auswanderung, Deutsche, nach 
dem spanischen Amerika v. 

Dr. H. Polakowsky .... 69 
Barths, Heinrich, Nachlass v. £. 813 
Botanischer Gärten, Die Anlage 52a 
„Deutsche" Kolonie, Die neueste, 

V. Dr. H. Polakowsky . . . 304 
Deutsch-Neu-Guinea, Neue zoolo¬ 
gische Forschungen in,v. R. F. 897 
Deutsch • südwestafrikanischen 
Schutzgebiet^Die KunenemOn- 

dung im, v. Dr. E.91 

Hawaii und Japan und die ja- 
panischeAuswanderungv.Wirkl. 
Geh. Rat, vorm. Ksi. Deutsch. 
Gesandten v. Brandt .... 471 

Kautschuk, Der.408 

Kolonien, Die deutschen v. Prof. 

Freih. Karl v. Stengel . . . iii 
Kolonien, Die deutschen, I. 
Deuischostafrika v. Dr. Neu- 
baur 367. 385 

Kongo, Die Dampferflotte auf 

dem oberen.505 

Mahdismus, Die Bedeutung der 
vom, unterjochten Länder v. 

Rudolf Prietze .633 

Sardfloh, Der.523 

Schwarzwasserfieber, Das . . 558 

Togo-Abkommen, Das . . . 864 

Tropenkrankheiten, Die Erforsch¬ 
ung und Bekämpfung der, v. 

Dr. E. Below.J49 

Zollverein,Der geplante britische, 
und die englischen Kolonien 
V. O. Kalt-Reuleaux . . . 571 

Kulturgeschichte. 

Äpypten, Der Lenz in, v. Paul 

.. Pasig.147 

Ägypten, Die neuesten Entdek- 
kungen in, und die älteste Ge¬ 
schichte des Landes v. Prof. 

Dr. A. Wiedemann . . 561, 590 
Alphabets, Die Entstehung des, 

V. Dr. F; E. Peiser .... 255 
Altmexikanischeund babylonische 
PyramidentOrme v. Dr. Below 575 
Aphidna, Ausgrabungen in, in 

Nordatüka.342 

Babylonischen Kultur, Die Ent¬ 
deckung der ältesten, (7000 bis 
6000 vor unserer Zeitrechnung) 551 


Seite 

Baureste und Inschriften des 
ehemals römischen Afrika, 

Die Erforschung der, v. W. 683 
Begleithügel, Die Erforschung 
der sogenannten, an der Limes¬ 
strecke .. • • • 557 

Bildung, Zur Geschichte der 
deutschen, im Altertum v. Dr. 

F. Tetzner.525 

Birmanen, Aygplern, Chinesen 
und Indern, Zusammenhang 

zwischen, v. Ach.461 

Briefes, Zur Geschichte des 

deutschen v. Dr. D.iio 

Buddha und die Stätte seiner 
Geburt v. Dr. Th. Achelis. . 63 
Buddhismus, Der, in Urga v. Ach. 19 
Deutschtums, Die Zukunft des, 
v. Dr. J. W. Bruinier . 881, 90B 

Friedrich II. von Hohenstaufen, 

v. Karl Lory.246 

Geld, Das, v. Dr. Otto Ehlers 244, 258 
Germanischen Nationa'museums, 
Neue Erwerbungen des, v.Dr.D. 199 
Geschichtsphilosophische Systeme 
der Gegenwart v. Karl I^ry 751 
Grabftmd bei Wopms .... 504 
Gräberfeld,Römisches, bei Worms 

V. Q. . 200 

Griechenland in der vorgeschicht¬ 
lichen (nukenischen) Kultur¬ 
epoche V. Dr. Sylvius Bruck 229,241 
Historie^ Politische, und Kultur¬ 
geschichte V. Karl Lory . . 460 
Indische Forschungsei^ebnisse 
des Jahres 1896 v. Dr. Kurt 

Klemm .318 

Kleidung und Schamgefilhl v. 

Th. Achelis.88 

Maldtninkern, Bei den, v. Dr. F. 

Tetzner. 547 » 5^9 

Matihäusevangelium, Lateinischer 
Kommentar zum, v. Dr. D. . 306 
Menschengeschlechts, Uber das 

Alter des.685 

Militärstrafen zu verschiedenen 
Zeiten v. Karl Lory . . . .831 
Missionen, Die christlichen, in 
China v. Wirkl. Geh.-Rat v. 
Brandt, Kaiseri. Ges. a. D. . 842 
Mittelalter, Reisen im, v. Prof. 

Dr. Alwin Schultz .... 47 
Negergräber in Südamerika . 524 
Neunzehnten Jahrhunderts, Neu¬ 
erscheinungen zur Geschichte 
des, V. Karl Lory .... 577 
Osterburken, Neue Funde aus 
dem Römerkastell, v. Prof. 

Schumacher.487 

Pagan, Tempelbauten von . . 143 
Pharaonen, Ein Reformator auf 
dem Throne der, Ameno- 
phis IV. und seine Zeit v. Prof. 

Dr. A. Wiedemann . . . 80, 98 
Revolution. Zur Geschichte der 
und Napoleon I. von Karl 

Lory.812 

Riehl, Wilhelm Heinrich von, t 

v. Karl Lory.863 

Sardinien, Erzlager der Insel 596 
Schweinichen, Das Merkbuch des 
Ritters Hans von, v. K. Lory 307 
Schweiz, Die Pflege der Volks¬ 
kunde in der, v. E. A. StOckel- 

berg .19 

Selbsroiographien, Eine Samm¬ 
lung deutscher, v. Karl Lory 522 
Sklavenhandel an der Sodsee v. 

Ach.143 


Seite 

Skropheln, Ein eigentümliches 
Mittel zur, Heilung der, v. Kart 

Lory •.533 

Steinzeit, Uber das Altef der 
älteren und jüngeren, v. Rk. 577 
Sumero-Akkader, Die Herkunft 

der, v. Ach.433 

Tierfabel, Die Entstehung und 
Entwicklung der, v. T. A. . 524 
Tierkultus, Über, v. Dr. Theodor 

Achelis .30 

Vorderasiatische Gesellschaft, Die, 

v. F. E. P.143 

Wasserkräfte, Die Nutzbarmach¬ 
ung der natürlichen, und die 
elektrische Kraftübertragung 
V. Prof. Dr. Voller . . . .37 t 
Weberstuhls, Alter des . . . 864 
Zoroasters, Das Zeitalter, v. K. 
Klemm.128 

Kunstgeschichte, Bildende Kunst. 
Aphidna, Ausgrabungen in, in 

Nordattika.342 

Babylonischen Kultur, Die Ent¬ 
deckung der ältestem (7000 
bis 6000 vor unserer Zeitrech¬ 
nung) . 551 

Baureste und Inschriften des 
ehemals römischen Afrika, Die 
Erforschung der, v. W. . . 683 
Böcklin, Arnold, Zu seinem 70. 
Geburtstage v. Dr. Edmund 

Wilhelm Braun.743 

Boscoreale, Der Silberschatz von, 

V. Dr. QuiUing . 86 

Chantilly, Die Kunstschätze des 

Schlosses .199 

Chodowiecki, Daniel, v. Wolf¬ 
gang von Oettingen . . . 223 
Dilettanten. Die Psychologie des, 

V. Leo Berg .478 

Farbenholzschnitte.794 

Gvrmaräschen Nationalmuseums, 
Neue Erwerbungendes, v. Dr.D. 199 
„GothischerStil“ falsche Bezeich¬ 
nung . .451 

Griechenland in der vorgeschicht¬ 
lichen (mykenischen) Kulture¬ 
poche v.f)r. Sylvius Bruck 229, 241 
Griechenlandrcisen von Nicht¬ 
archäologen .325 

Indische Forschungsergebnisse 
des Jahres 1896 v. l 5 r. Kurt 

Klemm .318 

Karrikaturen von Caran d’Ache 614 

Kind, Das, als Künstler v. Bech- 

hold .653 

Kunst, Die, auf der Strasse v. 

Hermann Popp.345 

Kunstdruck, Verfahren zur Her¬ 
stellung von Druckflächen fOr, 

v. B.848 

Kunst, Hausschatz moderner . 6^ 
Kunstzeitschriften, Zwei neue, 

V. O. A. W . 774 

Malerei, Die deutsche, auf der VII. 
internationalen Kunstausstel¬ 
lung in München v. Hermann 

Popp.564. 583 

Mosaiken in Sparta .... 668 
Pagan, Die Glasuren von, v. R. 795 
Pagan, Tempelbauten von . . 143 
Photographie und bildende Kunst 

V O. Ä. W . 340 

Poesie im märkischen Sande v. 

Dr. Jurisch.308 

Porträt, Das, Eän Stück Völker¬ 
kunde V. Prof. Dr. Max Büchner 689 




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XIII 


Seite 

Pyrami dcntOrme, Babylonische 
und altmexikanische, v. Dr. 

Below.575 

Raffaels, Aulbau der Madonnen¬ 
bilder .... ... 505 

Sattler, Joseph, v. Dr. Philipp 
M. Halm .... 712, 732 

Selbstbiographien, Eine Samm¬ 
lung deutscher, v Karl Lory 522 
Thoma, Hans und seine Kunst 
V. Dr. Edmund WUh. Braun 916 
Tiara des Kbnin Saitaphames, 

Der heutige Stand der Frage 
Ober die, v. Q, ... 430, 470 
Umschwung, Endlich ein, v H. 

E. von Berlepsch .... 780 
Virgil, Eine antike Darstellung 

des V. Q .307 

Zeichnen nach Gyps . . . 668 

Ktinatgewerbe. 

Boscoreale, Der Silberschatz von, 

V. Dr. Quilling.86 

Chantilly, Die Kunstschätze des 

Schlosses.199 

Gartenkunst, Die heutige, v. Curt 

Grottewitz.. 407 

Germanischen Nationalmuseums, 
Neue Erwerbungen des, v. 

Dr. D.199 

■ Griechenland in der vorgeschicht¬ 
lichen (nwkenischen) Kultur- 
epoche v. Dr. Sylvius Bruck 229,241 
Indische Forscmmgsergebnisse 
des Jahres 1896 v. Dr. Kurt 

Klemm.318 

Kunstgewerbe, Stillstehen und 
Fortschreiten im . . ; . . 450 

Kunstglaser v. Dr. B.893 

Liebhaberkunst, Neue .... 669 

Sattler, Joseph, v. Dr. Philipp 

M. H^i.712, 732 

Tiara des Königs Saitaphames, 

Der heutige Stand der Frage 
Ober die, v. Q. ... 430, 470 
Umschwung, Endlich ein, v. H. 

E. von Berlepsch.780 

Landwirtschaft, Gartenbau. 

Äther- und Cloroformnarkose, 
Neue Wirkung der, v. N. . 433 
Agrikulturchemie,DieFortschritte 
der, in den letzten 25 Jahren, 
Nach M. Maercker von Bech- 

hdd.265 

Agrikulturchemie etc auf der 
Versammlung der Naturfor¬ 
scher und Arzte in Braun¬ 
schweig V. Dr. Bechhold . . 755 
Baumwolle, Eine Bakterienkrank; 

heit der.742 

Baumwolle, Samen der, als 

Viehfutter.56 

Elektrische Anlage, Eine, ftlr 
landwirtschaflUchen Betrieb . 523 
Fleisch, Ein neues Verfahren, 
zu konservieren v. Sch. . . 308 
Gartenbau, Neuerungen im, 

V. Curt Grottewitz .... 615 
Gartenkunst, Die heutige, v. 

Curt Grottewitz.407 

Goldaiters, Raupen des . . 506 
Hortensien, Wie kultuvirt man 

blaue? v. N.271 

KraAobertragung, Die elektrische 341 

Krankheit, Einfluss von, und 
hohem Alter auf Knochen und 
Zähne bei Säugetieren. Näch 
H. Allen v. Qr. U JUn . • 


Seite 

Kupfersalze, Beschädigung des 
Landbaues in Japan durch . 740 
Mahdismus, Die Bedeutung der 
vom, unterjochten Länder 

v Rudolf Prietze.633 

Margarins, Erkennung des, v. B. 91a 
Milch, ein neues Verfahren zur 
Konserviemng und zum Trans¬ 
port der. 829 

Osterburken, Nene Funde aus 
dem Römerkastell, v. Prof 

Schumacher.487 

Peronospora, Kupfervitriol gegen 742 
Pferdes, Verdauung des . . . 524 
Pflanzenwachstums, Eine elek¬ 
trische Anlage zur Erprobung 
der Beförderung des . . . 452 
Rinderpest, Das Contagium der 848 
Rosenemte, Zur, in Bulgarien 

V. A.488 

Rübenmelasse, Die, und ihre 
Verwertung v. Dr. G. Pulver¬ 
macher 403 

Schädigungen gewerblicher Be¬ 
triebe durch verunreinigte Luft, 
Über, v.Dr Konrad W. Jurisch 489 
Sperlinge, Die Schädlichkeit der, 

V. Fr.523 

Tickplage in Australien . . . 596 
Tiere, Prämien-Ausschreibung 
für die Vertilgung schädlicher, , 

V Reh ... 648 

Veilchenwurzel, Die Kultur der, 

V A.. 757 

Weinbau der Römer . . . 632b 

Litteratur u. Litteraturgeschichte. 
Ägyptische Volkslied, Das mo¬ 
derne, v‘. Paul Pasig . . . 822 
Bacchylides-Fragmente v. Paul 

Ankel.175 

Bayreuth 1897 v. Erich Kloss . 5M 
Bcnnasseh, Die Schuttfelder von 928 
Briefes, Zur Geschichte des deut¬ 
schen, V. Dr. D.HO 

Dilettanten, Die Psychologie des, 

V. Leo Berg.478 

Epik und Lyrik im vergangenen 
Jahre v Prof. Dr. Richard 
Maria Werner . . 676, 768, 853 
Fuldas, Ludwig, „Jugendfreunde“ 

V. Josef Etüinger.820 

Goethes Gedichte, Prachtausgabe 896 
Guslarenlieder v. Dr Achelis . 8^ 
Halbes, Max »MutterErde" v.Leo 

Berg.725 

Heine, Heinrich v. Leo Berg . 885 
Hirschfelds, Geom, „Agnes Jor¬ 
dan“ V Josef Ettlinger . . . 772 
Komödie, Die moderne deutsche, 

V Josef Ettlinger.183 

Kritik v. Leo Berg.10 

Lehrgedichts, Zur Geschichte des, 

V. Julius Ziehen ..... 647 
Liliencron, Detlev von .... 379 
Litteraturgeschichte, Deutsche, 
des X9. Jahrhunderts. Die Er* 
scheinui^en des Jahres 1896 
V. Leo Berg . . 102, 113, 130 
Maldininkem, Bei den, v. Dr. F. 

Tetzner.547, 569 

Marmorchronik, Ein neues Bruch¬ 
stück der parischen . . . 522 
Matthäusevangelium,Lateinischer 
Kommentar zum, v Dr. D. . 306 
Maupassauts, Deutsche Gesamt- 
ai^abedorWeiiceGOTde, v.E. 705 
Poesie im mAricMdbeo Sande v. 


Seite 

Rabelais, v. Dr. Heinrich Schnee¬ 
gans .314 

Riehl, Wilhelm Heinrich von, t 

V. Karl Lory.863 

Rindfleisch, GeorgHeinrich,Feld¬ 
briefe 1870 u. 71 .... 896 

Roman, Der deutsche, im ver¬ 

gangenen Jahre v. Josef Ett¬ 
linger ..153, 600 

Roman, Der deutsche, Im Jahre 
1897 V. Gustav Zieler . 874, 889 
Theater, Das, im Winter 1896(97 

V. Leo Berg.ji6o 

Tierfabel, Die Emtstehupg und 

Entwicklung der, v. T. A. . 524 
Übermenschen, Eine Geschichte 
des, V. Moritz Necker . . . 777 
Virgil, Eine antike Dirstellung 
des, V. Q..307 

Luftschiffahrt. 

Ballon-Expeditionen, Die Aus¬ 
rüstung wissenschaftlicher, v. 

W. Berdrow ...... 64 

Ballonfahrt nach dem Nordpol v. 

M. 180 

Drachen, Die wissenschaftliche 
Verwendung des, v. Dr. E. 

Wölffing.624 

Flugmaschine, Eine neue, v. Ga- 

wey .180 

Flugtechnik, Neues aus der, v. 

Dr. Johannes Russner . . . 359 
Heerwesen, Die technischen Fort¬ 
schritte im_, v. L.813 

Kaiser-Manöver 1897 v. L. . . 631 
Polar-Expeditionen.556 

Mathematik. 

Dimension, Die vierte, v. Dr. E. 

Wölfling.309 

Dreiecksgeometrie,Die moderne, 

V. Dr. E. Wölfling .... 801 
Mathematikerkongress,Der inter¬ 
nationale, V. Dr. E. Wölfling 559 
Melanchthon als Mathematiker 
V. Schenkling-Prevöt.... 159 
Weierstrass, Karl, t v. Dr.E W. 199 

Medizin, 

Alkoholfreie Obst- und Trauben- 

weine v. N.66 

Anpassung bei pathologischen 
Vorgängen. Nach WÜbam H. 
Welch V. Dr. Mehler . . . 609 
Augenkrankheit, Die ägyptische, 

V. Dr, D. Ritterband . . .214 
Badersaison, Zur, Dr. med. L. 

Mehler .57a 

Bakterien, Das Verhalten der, zu 
chemischen Desinfeedonsmit- 
tebi V Dr. Bechhold ... 52 
Bubonenpest, Die Serumbehand¬ 
lung der, V. Dr. Mehler . .128 
Chlors, Der Einfluss des, auf die 
Lunge V. H. W. ..... t8i 
Diphterieheilserums,DieWiikung 

des, V. M.722 

Eiweiss, Neue Untersuchungen 
Ober, und einige Verbindungen 
desselben v. Bechhold . . . 776 
Entziehungs- und Mastkuren v. 

Geh. Med.-Rat Prof. Dr. Wil¬ 
helm Ebstein.273 

Fibrin, Die Zersetzung von, durch 
Streptococcen v. S. _ . . . 775 
FortscnrittederMedizin,ÜberbUck 
Ober die, im Jahre 1896 v. Dr. 
med. L. ffehier.78 


Dr. Juriäch 


9p8 

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XIV 


Seite 

Gefahren fX\r Arbeiter in chemi¬ 
schen Fabriken, Lieber, v. Dr. 

Kohrad W. Jurisch.57 

Heerwesen, Die technischen Fort¬ 
schritte, im V. L.813 

Hör-Telephon, Ein, Ihr Taub¬ 
stumme V. ß. D. . . 530, 632 
Honigbiene, Das Gift unserer, . 543 
Insekten, Die, als Verbreiter an- 
steckenderKrankheitenv.Sigm. 

Schenkling.250 

Insektenstiche, Was thut man 

gegen,? v. M.434 

Kitasato’s, Prof., Institut Ihr In¬ 
fektionskrankheiten in Tokio. 

Nach Nakagawa v. B. . . 686 
Körper, Der menschliche, und 
derelektrischeStroni, v.Dr.A.G. 73 
Körperlicher Ueberahstrengun- 

? :en, DieWirkun^n, beim Rad- 
ähren v. Dr. D. Ritterband 249 
Kohlenoxydgas, Heilmittel bei . 

Vergiftungen durch, . . . 578 
Kongress, Vom XII. internatio¬ 
nalen medizinischen, in Mos¬ 
kau V Dr. L. Mehler . 701 

Korsett, Das, als Krankheitsur¬ 
sache V. Geh -Med.-Rat Prof. 

Dr A Eulenburg . 865 

Krankheit, Einfluss von, und 
hohem Alter auf Knochen und 
Zähne bei Säugetieren. Nach 
H. Allen v. Dr. L. Reh . . 231 
Kritikstrablen v. Dr. Pr. . . . 234 
Lebensdauer und Alkoholgenuss 

V. Dr. P. Jensen.396 | 

Lepra bei den Altperuanem . 830 
Lepra, Die, in Columbien v. Dr. 

H Polakowsky .270 

Lepra, Die in den russischen Ost¬ 
seeprovinzen .929 

Lepra, Die^ in Nord-Ost-Sibirien 651 
Lepra-Konferenz, Die internatio¬ 
nale, in Berlin v. M. . . . 798 
Luft, UeberSchädigungen gewerb¬ 
licher Betriebe durch verun¬ 
reinigte, V. Dr Konrad W. 

Jurisch .489 

Lungenschwindsucht unter den 
nordamerikan. Negern v. Rk, 38 
Medizin und Hygiene auf der 
Vcrsammlung_ der Naturfor¬ 
scher und Ärzte in Braun¬ 
schweig V. Dr. med. L. 

Mehler ..775 

Melanchthon alsMathematiker v. 

Schenkling-Prevöt .... 159 
Mikrophonograph . . . . . 632 
Milbe, Eine gefährliche, v. R. . 613 
Morphiums, Lokalisirung des, bei 
Morphinisten ... 542 

Narkotisierungs-Statistik v Dr. 

med. L Mehler.792 

Nervenschwäche (Neurasthenie). 

Zur Behandlung der, v. Prof. 

Dr. A Eulenburg . . . 21, 49 
Neugeborenen, DerEntwicklungs- 
gang des, und seine Abhängig¬ 
keit von der Lebensweise und 
Körperkonstitution der Eltern 
V. Dr. Oskar-Schaeffer 335, 350 
Oleanders, Die giftigen Eigen¬ 
schaften des, V. Dr. A Nestler 338 
Oxykampher, Lieber, v. S. . 559 

Pest, Die, v. Dr. L. Mehler . . 73 
Photographie, Die, auf der Ver¬ 
sammlung der Naturforscher 
und Ärzte in Braunschwdg 
V. Privatdozent Dr. Precht . 754 


Seite 

Prophezeihung bayrischer Arzte 
ijrn Jahre 103.5 über die Eisen¬ 
bahn V. Hb . 398 

Röntgens, Die Bedeutung der 

Entdeckung, .541 

Röntgenstramen, Die Verwertbar¬ 
keit, der in der Medizin v. Dr. 

med L. Mehler.197 

Rückenmarkschwindsucht . . 863 

Sandfloh, Der, .523 

Schlangenbisses, Behandlung des, 705 
Schulmedizin und Naturheilme¬ 
thode von Dr. med. Paul 
Müller .... 457, 483, 498 
Schwarzwasserfieber, Das . . 558 
Spencer Wells, Thomas, t v. Dr. 

Eiermann .142 

Spulwurms, Die Entwickelung des 
menschlichen, v. Rk. . . . 379 
Tättowierens, Methode des, zu 
Heilzwecken im Altertum . 632a 
Thebain, Untersuchungen über, 

v. Bechhold .506 

Tropenkrankheiten, Die Erforsch¬ 
ung und Bekämpfung der, v. 

Dr. E. Below.149 

Tuberkulin R, Therapeutische 
Erfahrungen über das, v. B. . 687 
TuberkulinT*räparate,Uber neue, 
nach Robert Koch .... 28.5 
Tuberkulose undRöntgenstrahlen 

V. Dr. Pr. . ..2-53 

Typhus abdominalis (Unterleibs-, 
typhus), Die Widalsche Probe 
zur Erkennung des, v. Dr. 

Mehler .107 

Unterricht, medizinischer und 
ärztliche Praxis v. Geheim Rat 
Prof. Dr. J. Orth ... 707 
Wissenschaft und Scheinwissen¬ 
schaft in der Heilkunde. Nach 
M- Stemberg v. Robert Mehler 302 
Würmer, Ueb^er den Giftgehalt 
parasitischer, v. H. Reeker . 304 
X-Strahlen-Loi^ette, Seguys, v. 


Prof. Jacques B^er . . . bbS 
Zahntechnik, Das Gold in der, . 52 t 

Meteorologie. 

Ägypten, Der Lenz in, v Paul 

rasig.147 

Afrika, Niederschlagreichstes Ge¬ 
biet in, V Dr. P. Eifert . . 19 
Ballon-Expeditionen, Die Aus¬ 
rüstung wissenschaftlicher v. 


Blitzableiter, Ueber. v. Dr. Joh. 

Russner.662 

Blutes, Aenderung der Beschaf¬ 
fenheit des, in bedeutenden 

Höhen. . . 740 

Drachen, Die wissenschaftliche 
Verwendung des, v. Dr. L. 

Wölfling.624 

Elektrizität, Die, des Luftmeers 
V. Dr. E. Wölfling .... 219 
Erdmagnetismus, Der, zur Zeit 

der Etrusker v. B.67 

Geologie etc auf der Versamm¬ 
lung der Naturforscher und 
Ärzte in Braunschweig v. Dr. 

Bechhold.755 

Luft, Der Kohlensäuregehalt der, 

V. Dr. Schmidt . . . 234, 660 
Luft, Der Ozongehalt der, v. S. 433 


Luftsauerstoffes, Ueber den Ur¬ 
sprung des, v. Dr. Schmidt-. 234 
Luft, Zusammensetzung der,- in 
gj-pssen Höhen v. B. D. . . 343 


Seit«, 

Meereswogen, Die Geschwindig¬ 
keit der .... ... 506 

Meteorologischen Instituts, 5 ojähr. 
iges Bestehen des Königlich 

Preussischen,.793 

Mistpuffer.523 

Nebel, Fort mit dem —I v. B.D. 397 
Papierdrachen im Dienste der 

Meteorologie.89-'? 

Periodische Wiederkehr kalter 
und warmer Jahre . . . 632a 

Post-undTelegraphenverwaltung 
DieWirksamkeit der deutschen, 
im Dienste der öffentlichen 
Wohlfahrt v. F. Vogt . . . 320 
Stürme, Vorhersage der, . . . 769 
Telegraphie ohneDraht,Marcoras, 742 
Telegraphie ohne Drähte, Die, 

bei Gewittern.578 

Temperaturunterschied in der 
Ebene und auf Hügeln . . . 895 
Tropenkrankheiten, Die Erforsch¬ 
ung und Bekämpfung der, v 

.. Dr. E. Below.149 

Überflutungen in Deutschland 
1897, Zur Erklärung der . . 8^9 
Wetters,Beeinflussung des, durch 
die Menschenhand V. Dr.Wilh- 

Trabert,..366 

Windes, Über die GeschwinÄg- 

keit des,.811 

Wolken, Die photographische 
Beobachtung der, v. Dr. Pr, 416 

Mineralogie. 

AIuminiums,‘Die Gewinnung des, 704 
Auer-Glühstrümpfe, Das Roh- 
. material der, v. R. M. . . . 177 
Chemie, Fortschritte der, im 
Jahre 1897 Bechhold 901,921 
Diamanten, Neues Verfahren 
künstliche, ..zu erzeugen . .741 
Diamanten, Über die &zeugung 
künstlichem auf elektris^em 

Wege V. Dr. PIv.179 

Edelsteinen, Künstliche Erzeug¬ 
ung von, V. B. D.272 

Eisenindustrie, Die Entwicklung 
der, und die heutigen Eisen¬ 
erzvorräte V. Prob Dr. E. F. 

Dürre.123, 146 

Element, Ein neues, v. B. . . 451 

Erdöls, Zur Frage der Entsteh¬ 
ung des, V. S.810 

Erzlager der Insel Sardinien . 596 

Geologie etc. auf der Versamm¬ 
lung der Naturforscher und 
Aerzte in Braunschweig v. Dr. 

Bechhold.755 

Goldbergbau, Der, in Transvaal 
V. O. ICalt-ReuIeaux .... 464 
Gold, Das, in der Zahntechnik 524 
Goldführender erratischer Block 
am Colombiaflusse .... 164 
Goldfunde, Die, in Alaska . . 630 
Gold- und Silberpreises, Die Ent¬ 
wicklung des, im Laufe der 
Geschichte v. Kalt-Reuleaux . 799 
Kohlenlager, Die neuen engli¬ 
schen v. B.92 

Kohlensäuregehalt, Der, der 
Luft V. Dr. Schmidt .... 234 
Krystallen, Ueber künstliche Färb¬ 
ung von, V. Dr. Schmidt . . 179 
Kupfers, Das Alter des, von 

Chaldäa.741 

Mineralien und Edelsteine, Färb¬ 
ungen der,.542 

QueusUbergmbdn in Mexiko . 56 


■V 


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- XV — 


Seite 

Röntgen-Strahlen, Ein Versuch 
zur praktischen Verwendung 
der, in der chemisch-analy¬ 
tischen Praxis V. Dr. Thilo . 530 
Rubine, Die Herstellung künst¬ 
licher, .721 

Salzlt^er, Die Bildung der Stass- 

furter, v. B.649 

Steinsalz, Fiskalische Mutung auf, 164 
Technischen Versuchsanstalten, 

Die Aufgabe der, v. Dr. D. 

Holde.291 

Tellurgold in Australien v. R. M. 181 

Musik. 

Ägyptische Volkslied. Das mo¬ 
derne, V. Paul Pasig . . . 822 
Bayreuth 1897 v. Erich Kloss . 607 
Br^ms, Johannes, t v. B. . . 286 
Dilettanten, Die Psychologie des, 

V. Leo Berg.478 

Gustarenlieder v. Dr. Achelis . 828 
Musik, Die, im Winter 1896I97 v. 

Dr. Hugo Riemann .... 278 
Musik, Die, seit Wagners Heim¬ 
gang V. Dr. Hugo Riemann 6 

Naturwissenschaft (Allgemeines). 

Beobachtungen aufSpaziergfingen 
und Reisen, Anregungen zu, 

687 , ^ 7 , 6ai 

DuBois-Reymond, Emil, fv. Dr. 

P. Jensen.■ 3 ^ 

Entwickelungsmechanik v. Reh 5 ^ 
Melanchthon als Mathematiker 
V. Schenkling-Pr6vöt. . . .169 

Naturwissenschaft, Die, vor 5 oo 
Jahren.432 

Nekrologe. 

Brahms, Johannes, t v. B. . . 286 
Du Bois-Reymond, Emil/fv-Dr. 

_ P. Jensen .35 

Ferraris, Galileo, t v. S. . . . 218 
CWld^n, Hugo, t V. Dr. A. . . 90 
Hager, Dr Hermann, f v. D. .110 
Meyer, Victor, t v. B. ... 613 
Riehl, Wilhelm Heinrich von, t 

V. Karl Lo^.863 

Sanders, Daniel, f v. Dr. D. . 236 
Spencer Wells, Thomas f, v 

Dr. Eiermann.142 

Stephan, Heinrich, von t v. V. 
Tisseraud, Fran<?oisFclix, t v.A. 19 

Weierstrass, Karl, t v. Dr. E. W. 199 

Paläontologie. 

Erdöls, 2 ur Frage der Entsteh¬ 
ung des, v. S.810 

Historische Kommission, Die, bei 
der kgl. bayr. Akademie der 
Wissenschaften v. Karl Lory 759 
Menschengeschlechts, Eine neue 
Stammmrm des, v. Dr. L. Reh 39 

Menschengeschlechts, lieber das 

Alter des,.685 

Vorfahren, Die, des Menschen v. 

Dr. L. Reh.237 

Wirbeltieres, Fussspur eines, im 
Devon v. Rk.344 

Pharmazie. 

Eiweiss, Neue Untersuchungen 
Ober, und einige Verbindungen 
desselben v. Bechhold . , . 776 
Hage;*, Dr. Hermann, t v. D. . iio 
Insektenstiche, Was thut man 
«egen,?.434 


Seite I 

Kon^ess, Vom XII. intematio- [ 
naien medizinischen, in Moskau 

V. Dr. L. Mehler.701 

Morphins, Die Konstitution des, 

V. S. • - .. 880! 

Oxykampher, Über, v. S. . . 069 
Peronospora, Kupfervitriolgegen, 742 
Schwarzwasserfieber, Das . . 558 
Thebain, Untersuchungen Ober, 

V. Bechhold.s'oö 

Philosophie. 

Dimension, Die vierte, v. Dr. E. 

WöIfBng . . .... 309 

Du Bois-Reymond, Emil, f v. Dr. 
ft P. Jensen ... • • • 35 

Entwickelungsmechanik v. Reh 593 
Geschichtsphilosophische Syste¬ 
me der Gegenwart v. Karl 

-Lory.. . . 751 

Übermenschen, Eine Geschichte 
des, V. Moritz Necker . . . 777 
Photographie. 

Artillerietechnik und Ballistik, 
Neuerungen in der, v. Haupt¬ 
mann X.656 

Drachen, Die wissenschaftliche 
Verwendung des, v. Dr. E. 

Wölffing.624 

Farbenphotographie,Chassagnes, 686 
Fernrohr, photographisches, zu 

Potsdam v. Dr. Pr.253 

Heerwesen, Die technischen Fort¬ 
schritte im, V. L.813 

Kinematographen, Das Prinzip 
des, au 7 die mikroskopische 
Photographie angewendef . 705 
Licht, Schwarzes, v. B. D. . . 521 
Photographie bei Nacht v. P. . 5177 
Photographie, Die, auf der Ver- 
sanimlung der Naturforscher 
und Aerzte in Braunschweig 
V. Privatdocent Dr. Precht . 754 
Photographie, Die, in ihrer Be¬ 
ziehung zur Lehre vom Gehen 
und Stehen v. Dr. du Bois- 

Reymond .69a 

Photographie in natOriiehen Far¬ 
ben V. E. V.235 

Photographie in natOriiehen Färb- 
ben. Der heutige Stand der, v. 

E. Valenta.187, 211 

Photographie und bildende Kunst 

V. O. A. W.340 

Positivverfahren, Neue photo¬ 
graphische^ V. B.398 

Refraktor, Ein neuer photogra¬ 
phischer, .668 

Strahlen, Neue,? v. Dr. Pr. . . 758 

Wolken, Die photographische 
Beobachtung der, v. Dr. Pr. 416 
Zinks, Wirkung des, auf die pho: 
tograph. Platte v. Dr. A. G. 74 

Physik. 

Adhäsion u. Luftdruck, v. Dr. P. 164 
AetherSjUeberdie elektrische Leit¬ 
fähigkeit des,.758 

Akkumulatoren, TrockenfOllung 

der,.651 

Artillerietechnik und Ballistik, 
Neuerungen in der, v. Haupt¬ 
mann X. .656 

Beleucntungsystem, Das neue, v. 

Mc. Farlan Moore .... 849 
Blitzableiter, Ueber v. Dr. Joh. 

Russner . ... . ■ . . . 66a 

Chemie, Fortschritte der, imjahre 
1897 V. Dr. Bechhold . 901, 921 


Seite 

Diamanten, Neues Verfahren 
künstliche, zu erzeugen . . 741 
Diamanten, Ueber die Erzeugung 
künstlichen auf elektriscnem 
Wege V. Ur. Plv. .... 179 
Dimension. Die vierte, v. Dr. E. 

Wölffing ■., 309 

Du Bois-Reymond, Emil t v. Dr'. 

P. jensen .35 

Elektrischen Stromes, Entstehung 
eines, durch Beleuchtung der 

einen Elektrode.776 

Elektrizität, Die, des Luftmeers 
V. Dr. E. Wölffing .... 219 
Elektrizität, Wie leitet der Draht 

die? .810 

Eleklrotecknik, Die im Jahre 1896 

V. J. Sachs.171 

Entladungsstrahlen v. Dr. Pr. . 179 
Erde, Die relative Bewegung der, 

zum Aether.721 

Erdmagnetismus, Der, v. A. . 344 
Erdmagnetismus, Der, zur Zeit- 
der Etrusker v. B. .... 67 

Erdmagnetismus, Die ersten Be¬ 
obachtungen Ober den, . . . 74a 
Erfrieren, Untersuchungen Ol^r 
das, der Pflanzen v. N. . . 703 
Farbenkontraste, Verfahren auf 
optischem Wege, zwischen 
einem Objekt und dessenUnter- 
grund. hervorzurufen v. Theo¬ 
dor Mehlir ....... 911 

Farbenphotögraphie,Chassagnes, 686 
Färbung von Salzen durch Ka¬ 
thodenstrahlen V. Dr. Pr. . 398 
Ferngläsern, Eine neue Art von, 
für den Handgebrauch v. Dr. 
Johannes Russner .... 869 

Ferraris, GaUlc^ f v. S. . . . 218 

Funkentelegraphie.848 

Glühlampen, Wärme der, . . 848 
Haaren und Federn, Uebpr die 
elektrischen Eigenschaften von, 

V. F. Römer ....;. 649 

Hebemagnete.741 

Hör-Telephon, Ein, für Taub¬ 
stumme V. B. D. . . 520, 632 
Tohanniskäferlicht v. B. D. . . 289 
Körper, Der menschliche, und 
der elektr. Strom, v. Dr. A. G. 73 
Kohle, Übergang von, in Graphit 

V. B.^. . . . 200 

Kritikstrahlen v. Dr. Pr. . . . 234 
Licht aufzuspeichem, Eine neue 

Art, .361 

Licht, Schwarzes, v. B. D. . . 521 
Lichtwellenlängen, Berechnung 

von, V. Dr. Pr.236 

Luft, Linde’s Apparat zur Her¬ 
stellung flüssiger, V. B. . . . 108 
Luft, Merkwürdige Versuche mit 

flüssiger,.687 

Luft, Zusammensetzung der, in 
grossen Höhen v. B. ü. . . 343 
Masse und Gewichte, Internatio¬ 
nales Komitee für, .... 326 
Materie, Die Eigenschaften der, 

V. Prof. F. Auerbach . . . 399 
Melanchthon als Mathematiker, 

V. Schenkling-Pr6vöt . . . 159 
Metall, Einwirkung des elektr. 

Stromes auf geschmolzenes . 36 
MetalllegirungenmitChrommetall 56 
Metallpartikefchen, Die Schnellig- 
keitder,imelektrischenFunken 759 
Mikrophone, Neue, v. M. . . 176 
Mikrophonograpb ..... 6^ 


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XVI 


Seite 

Pflanzenwachsturns, Eine elek¬ 
trische Anlage zur Erprobung 
der Beförderui^ des . . . 453 
Photographie bei Nacht v, P. . 577 
Photographie, Die, auf der Ver¬ 
sammlung der Naturforscher 
und z^rzte in Braunschweig v. 
Privatdozent Dr. Precht . . 754 
Photographie in natürlichen Far¬ 
ben, Der heutige Stand der, v. 

E. Valenta.1Ö7, aii 

Physik etc. auf der Versammlung 
der Naturforscher und Aerzte 
in Braunschweig v. Dr. Bech* 

hold . 755 

Polieren, Molekulare Vorgänge 
beim, sprOder Körper . . .811 
Röntgenröhren, Neue Einricht¬ 
ungen an V. Dr. Joh. Russner 323 
Rön^ens. Die Dedeutung der 

Entdeckung ..541 

Röntgenstrahien,Die Sichtbarkeit 

der, V. Dr. Pr.353 

Röntgenstrahlen, Die, und die 

Pflanzen v. N..107 

Röntgenstrahlen,Einfluss der. auf 
chemische Vorg^ge v. o. . 109 
Rönteenstrahlen, Erzeugung der, 
d. Influenzmaschinen v. Dr. Pr. 236 
Röntgenstrahlen, Was sind,? v. 

Dr. Bernhard Dessau ■ ■ ■ 93 
Rubine, Die Herstellung künst¬ 
licher .721 

Schnell-Telegraphie .... 504 
Strahlen, Eine neue Art v. S. . 163 
Strahlen, Neue,? v. Dr. Pr. . 758 
Stromsammler oder Akkumula¬ 
toren V. Dr. Joh. Russner . 517 
Technischen Versuchsanstalten, 

Die Aufgabe der, v. Dr. D. 

Holde . '.291 

' Telegraphie ohne Draht v. Dr. 

Bernhard Dessau.579 

Telegraphie ohne Draht,Marconis 742 
Telegraphie ohne Drähte, Die 449 
Telegraphie <Ane Drähte, Die 

bei Gewittern.578 

l'elegraphieren. Die Vorstellung 
der Chinesen vom .... 895 
Telephon, Ein neues, von B. D. 539 
Teiimeraturen, Ueber Messung 
hoher urtd niedriger, v. Dr. Joh. 
Russner ... i ... . 267 
Wa^erkräfl«, Die Nutzbarmach¬ 
ung der natürlicheh, und die 
elektrische Kraflübertragung 
V. Prof. Dr. Voller .... 371 
Wasserleitung Die Hochdruck, 
der Burg Pergamon . ^7, 896 
Wellen, Elektrische, v. Dr. I^. 362 
X-Strahlen-Lorgnette, Seguys, v. 

Prof. Jacques Boyer . . . 553 
X-Strahlen, Weiterd Beobach¬ 
tungen Über die Eigenschaften 
der v. X.469 

Physiölc^e. 

Anpassung bei pathologischen 
Vorgängen. Nach William H. 
Welch v. Dr. Mehler . . . 609 
Bakterien im Darm und in den 
Eileitern ......... 776 

Biogenetische Grundgesetz, Das, 

V. Dr. 1 ^. Michaelis .... 818 

Blutes,Aenderung der Beschaffen¬ 
heit des, in bedeutenden Höhen 740 
' Blutes, Die Beziehung zwischen 
dem Farbstoff des, und der 
Blätter.. 8^ 


Seite 

Blut- und Gallenfarbstoff, Ueber 
den Zusammenhang von . . 776 
Cafleln, Die Konstitution des, und 
damit zusammenhängende 

Fragen v. B.289 

Chemie, Fortschritte der, im 
Jahrei897 V. Dr. Bechhold 901, 921 
Du Bois-Reymond Emil, t v. Dr. 

P. Jensen .35 

Eiweissverdauender Speichel bei 
Insektenlarven v. Rk. . . . 343 
Entartungs- und Verbrecherzei¬ 
chen V. Geh.-Med.-Rat Prof. 

Dr. C. Pelman .913 

Entwickelungsmechanik v. Reh 503 
Erfrieren der Pflanzen, Unter- ■ 
Buchungen Ober das, v. D. . 703 
Erregung, Die, und Lähmtmg der 
lebendigen Substanz v. 1 >. P. 

Jensen .129 

Farbenerscheinungen, Subjektive, 

v. Dr. Pr. 434 

Farbenkontraste, Verfahren auf 
optischem Wege zwischen 
einem Objekt und dessen Unter- 

B d, hervorzurufen v.Theodor 

er .911 

Fibrin, Die Zersetzung von, durch 

Streptococcen v. S.775 

GrammatilE Ein Wort über, v. 

Dr. 1 , W. Bniinier .... 391 
Heteroxanthinsund Paraxanthins, 

Synthese des v. S.912 

Hör-Telephon für Taubstumme, 

Ein, V. B. D.520, 632 

Körper, Der menschliche, und der 
elektrische Strom v. Dr. A. G. 73 

tiebensdauer und Alkoholgenuss 
V. Dr. P. Jensen . . . . ; 396 
Lebensraiun, Über den, v. Prof. 

Dr. Friedrich Ratzel . . . 363 

Mikrophonograph.632 

MuskeX Erscnlamer u. ermüdeter 74 

Naturwissenschaft, Die, vor 500 

Jahren .. . 432 

Neugeborenen, Beobachtungen an, 

V. Dr. E. Below.644 

Neugeborenen,Der Entwicklungs¬ 
gang des, und seine Abhängig¬ 
keit von der Lebensweise und 
Köiperkonstitution der Eltern 
V. Dr. Oskar SchaefTer 335, 350 
Orang-Utan, Die Art, wie der, 

schuft.830 

Photographie, Die, auf der Ver¬ 
sammlung der Naturforscher 
und Aerzte in Braunschweig v. 
Privatdozent Dr. Precht . . 754 
Photographie, Die, in ihrer Bezieh¬ 
ung zur Lehre vom Gehen 
und Stehen v. Dr. du Bois- 

Reymond .692 

Rückenmarks, DieBedeutung des, 
für das Leben des Organismus 

V. Dr. P. Jensen.62 

Schmerzempfindung niederer 

Tiere.632b 

Synthetische Prozesse im Tier¬ 
körper V. Dr. Karl Oppen¬ 
heimer .719 

Todes, Die physioli^ische Not¬ 
wendigkeit des, V. Dr. P. Jensen 435 
Wohlbefinden in feuchter und 
trockener Luft bei verschiede¬ 
ner Temperatur.722 

X-Sirahlen, Weitere Beobacht¬ 
ungen über die Eigeaschäften 
' 4 ^, 4 ^ 


Seite 

PoUtik. 

Berings-Meer, Der Robbenfang 

im, V. Reh.846 

Deutschtums, Die Zukunft des, 

V. Dr. J. W. Bruinier . 881, 905 

Dreyfuss, Fall .878 

Hawaii und Japan und die japa¬ 
nische Auswanderungv. Wirkl. 
Geh.-Rat, vorm. Ksl. Deutschem 
Gesandten von Brandt . . 471 
Indisch-afghanischen Grenzgebie¬ 
ten, Der Aufstand in den, . 667 
Japan und Hawaii, DerStreitfall 

zwischen .467 

Mahdismus, Die Bedeutung der 
vom, unterjochten Länder v. 

Rudolf Prietze .633 

Neunzelmten Jahrhunderts, Neu¬ 
erscheinungen zur Geschichte 
des, v. Karl Lory .... 577 
Österreich-Ungarn, Der Nationa¬ 
litätenstreit in, V. Dr. E. Müse- 

beck .761 

Orientalische Frage, Französische 
Urteile über die, v. Dr. Müse- 

beck -.486 

Orient, Betrachtungen über den, 

I. Die orientalische Frage im 
19. Jahrhundert v. Dr. E. 

Müsebeck .728 

Pamir, Ueber die russisch • ind¬ 
ischen Grenzverhältnisse am . 702 
Panhellenismus, Der, v. Dr.Julius 

Ziehen .198 

Togo-Abkommen, Das, . . . 8^ 

Psychologie. 

Dimension, Die vierte, v. Dr. E. 

Wölfling.309 

Entartungs- und Verbrecherzei¬ 
chen v. Geh. Med.-Rat Prof. 

Dr. C. Pelman .913 

Entwickelungsmechanik v. Reh 593 

Graphologie, Ueber Theorie und 
Praxis der, v Hans H. Busse 671 
Kind. Das, Künsder v. Bech- 
hoW . - . . . . - . .653 

Naturwissenschaft, Die, vor 500 

Jahren .432 

Neugeborenen,Beobachtungen an, 

v. Dr. E. Below.644 

Neugeborenen, DerEntwicklungs- 
gang des, und seine Abhängig¬ 
keit von der Lebensweise und 
Körperkonstitution der Eltern 
V. Dr. Oskar Schaeffer 335, 350 

Rechtswissenschaft. 

Coupons- und Urkundenfälsch¬ 
ungen, Zur Erkennung von. . 880 
Eigentum, Geistiges und moderne 
Rechtsordnung v. Priv.-Doz. 

Dr. jur. Otto Opet .... 75 
Entartungs- und Verbrecher¬ 
zeichen v. Geh. Med.-Rat Prof. 

Dr. C. Pelman.913 

Exterritorialität, Recht der, der 

Gesandten.878 

Militärstrafen zu verschiedenen 
Zeiten v. Karl Lory . . . 831 
Papst-Urkunden bis Innocenz III. 
rlan einer kritischen Ausgabe 
der, V. Dr. Müsebeck . . . 377 
Personenfeststellung, Das Bertil- 
lon’sche System zur, Beiträge 
zur Einfügung desselben v. 

Friedrich Paul . . . 716, 737 

Preussen und die Geschicnts- 
forschung v. Karl Lorj' . . 341 


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XVII 


S«{te 

RechlMirtivf^ung, Die,inijahre 

i8g6 .208 

Rechtsverschiedenheit inDeutsch- 

V. Kart Lory .... 741 
Schädigungen gewerblicher Be¬ 
triebe duich verunreinigte Luft 
Über, V. Dr. Konrad W. Jurisch 489 
StaatsgiUndenden Ideen. Deutsch¬ 
lands, Die. im 19. la^hundert 
V. Dr. E. Mosebeck .... 909 
Sulfit-Cellulose, Die, vor Gericht 217 
Verfassungs^chichte, Die deut¬ 
sche, der Gegenwart v. Karl 
Lory.332 

Rdigions Wissenschaft. 

Aegypten, Die neuesten Ent¬ 
deckungen in, und die älteste 
-Geschioite des Landes v. Prof. 

Dr. A. Wiedemann . 561, 590 
Altmexikanische u. ba^lonische 
Pyramidentflrme v. Dr. Below 575 
Bal^lonischen Kultur, Die Ent¬ 
deckung der ältesten, {7000— 

6000 vor unserer Zeitrechnung) 551 
Baureste und Inschriften des ehe¬ 
mals römischen Afrika, Die 
Erforschung der, v. W. . . 683 
Buddha und die Stätte seiner 
Geburt v. Dr. Th. Achelis . . 53 
Buddhismus, Der, in Urga v. Ach. 19 
Grabfund bei Worms .... 504 
Indische Forschungse^ebnisse 
des Jahres 1896 v. D-. Kurt 
Klemm . ..31,8 

i esu, Die Sprüche,.612 

laldininkem, Bei den, v. Dr. F. 

Tetzner. 547 . 569 

Matthäusevangelium,Lateinischer 
Kommentar zum, v. Dr. D. . 306 
Melanchihon als Mathematiker 
V. Schenkling-Pr6v6t . . . 159 
Missionen,Die christlichen,inChina 
V. Wirkl. Geh.:Rat von Brandt, 

Kaiser). Ges. a. D.842 

Pagan, Die Glasuren von, v. R. 795 
Papst-Urkunden bis Innocenz III., 

Plan einer kritischen Ausgabe 
der, v. Dr. Müsebeck . . . 377 
Reformator. Ein, auf dem Throne 
der Pharaonen. Ament^islV. 
und seine Zeit v. Prof. Dr. A. 

Wiedemann.98 

Sodom und Gomorrha,DerUnter- 

gang von, v. R. M.180 

Tierfabel. Die Entstehung und 
Entwicklung der, v. T. A. . 524 
Tierkultus, Ueber, v. Dr. Theodor 

Achelis. \ 3 ‘^ 

Zoroasters, Das Zeitalter, v. K. 

Klemm .128 

Seewesen, Marine. 

Drachen, Die wissenschaftliche 
Verwendung des, v. E>r. E. 

Wölfling.624 

Kohlensäure, Die Verwendung 
flüssiger, bei Seeunfhilen . . 342 

Mistpuffer.C23 

Nickelstahl für den Schifisbau . 613 

Panzerkreuzer „Ersatz Leipzig" 

V. G. B.682 

Post- und TeleCTaphenverwal- 
tung, De Wirksamkeit der 
deutschen, im Denste der 
öffentlichen Wohlfahrt v. F 

Vogt.320 

RoUenschif!^ Das Bazinsche . . 896 

Schiffe, Die Bew^^gswerk 
W. Freycr . 


zeuge der, v. W. Freycr 


763 


Seite 

Schiffsbauwerften. Die Thätigkeit 
der deutschen, im Jahre 1896 

V. Dr. Neubaur.151 

Schiffsfähre, Eine, die gleich¬ 
zeitig als Eisbrecher dient . 668 
Schiffsgesellschaftcn, Unsere 
deutschen, v. Lyncäus . . . 106 
Schwimm- und Trockendocks 
V. G. Betcke .... 474, 495 

Seeschiessen, Das.912 

Technischen Versuchsanstalten. 

De Aufgabe der, v. Dr. 1 ). 

Holde.-291 

TelegraphieohneDraht,Marconis 742 
Torpedonetze, Abschaffung der 560 
Wellenbrecher, Schwimmende, 362 

Sozialismus. 

Geschichtsphilosophische, Syste¬ 
me der Gegenwart, v. Karl 

Lory.751 

Post- und Teleeraphen-Verwalt- 
ung. Die Wirksamkeit der 
deutschen, im Dienste der 
öffentlichen Wohlfahrt von F. 

Vogt.320 

Sozialismus, Geschichte des, v. 

Karl Lory.925 

Sprachwissenschaft. 

Alphabets, Die Entstehung des, 
v. Dr. F. E. Peiser .... 255 
Babylonischen Kultur, Die Ent¬ 
deckung der ältesten, (7000 
bis 6000 vor unserer Zeit¬ 
rechnung) .551 

Bacchylides-Fragmente v. Paul 

Ankel.175 

Raureste, und Inschriften des 
ehemals römischen Afrika, De 

' Erforschung der, v. W. . . 683 

Bildung, Zur Geschichte der 

deutschen, ini Altertum v. Dr. 

F. Tetzner.525 

Briefes, Zur Geschichte des 

deutschen, v. Dr. D. . . . 110 
Elsässisches Dialektwörterbuch 

v. Dr. D.109 

Germanen, Die Heimat der, v. 

Dr. J. W. Bruinier .... 14 
Germanen, Nochmals die Heimat 
der, V. Dr. Ludwig Wilser . 144 
Germanen, Einige Bemerkungen 
zum Eingesandt des Herrn Dr. 

L. Wilser Ober die Heimat der, 

V. J. W. Bruinier .... 156 
Gothisches, Neues, Sprachdenk¬ 
mal in Spanien, v. Dr. Dfisel 142 
Grammatik, Ein Wort über, v. Dr. 

J. W. Bruinier.391 

Indische Forschungsergebnisse 
des Jahres 1896, v. Dr. Kurt 

Klemm .318 

^2 
501 

J 59 
360 


Jesu, Die Sprüche .... 

Massai, De ...... 

Melanchthon als Mathematiker v 
Schenkling Prövöt . . . 
Mykenier, Die Schrift der, v. H 

Kluge (S. B.). 

Nichi-Doku-Sitsugio-Kokoku (Ja 
panisch • Deutscher Industrie 

Anzeiger) . 

nock (keltisches Wort) . . 
Reichenauer Glossenhandschrift 
v. Dr. Düsel .... 
RomanischerPhilolügie,Kritischer 
Jahresbericht über die Fort 

schritte . 

Sanders, Daniel, f v. Dr. D. 


378 

896 

14a 


449 

236 


Seite 

Sprachliche Fragen v. Dr. F. 
Tetzner 52, 72, 88, iio, 141, 146, 

^.233. 352. 376 

Sprachunterrichts, Die neuen 
Methoden des,v.Dr. Max Banner 411 
Tierfabel, Die Entstehung und Ent¬ 
wicklung der, V. T. Ä. . . 524 
Wörterbuch,Encyklopädi3ches,der 
englischen und deutschen Spra¬ 
che V. Prof. Dr. Ed. Muret 
und Prof. Daniel Sanders v. 

O. A. W.894 

Technik. 

Abwässer, Die bakteriologische 
Klärung der, v. H. M. . . 807 
Acetylenbeleuchtung v.B. 1^,650,668 
Acetylengasmotor, Ein, für Fahr¬ 
räder .20 

Acetylen, Gelöstes, v. B. D. . 539 

Aluminiumblech .236 

Aluminium, Das Überziehen von, 
mit Edelmetallen v. B. . . . 696 
Aluminiums, Die Gewinnnung des 704 
Artiilerietechhik und Ballistik, 
Neuerungen in der, v. Haupt¬ 
mann X.656 

Ardlleriewesen, Veränderungen 
und Fortschritte im, im Jahre 

1896 V. Hauptmann X. 420, 618,638 
Auer-Glühstrümpfe, Das Roh¬ 
material der, V. R. M. . . 177 

Bambus als Baustofl .... 929 
Baureste und Inschriften des ehe¬ 
mals römischen Afrika, Die 
Erforschung der, v. W. . . 683 
Beleuchtungssystem, Das neue 
von Mc. Farlau, Moore . . . 849 
Bindemittel aus Bleioxydpulver 

v. ß.578 

Blitzableiter, Ueber, v. Dr. Joh. 

Russner.662 

Bohrmaschine, Fahrbare elektri¬ 
sche, v. R.650 

Carborundum.613 

Chemie, Fortschritte der, im Jahre 

1897 V. Dr. Bechhold . 901, 921 
Dächer, Neue v. Gawey . . . 180 
Dampfturbine, Leistungsfähigkeit 

einer.55 

Diamanten, Neues Verfahren 
künstliche, zu erzeugen . . 741 
Diamanten, Ueber die Erzeugung 
künstlicher, auf elektrischem 

Wege V. Dr. Plv.179 

Drachen, Die wissenschaftliche 
Verwendung des, v. Dr. E. 

Wölfling.624 

Droschken, Eüektrische . . . 452 
Ebbe- und Flutmaschine . . . 595 
Edelsteinen, Künstliche Erzeig* 

ung von, V. B. D.272 

Eios^ienenbahnen ..... 844 
Eisenbafmbrücke, Die grösste,des 

Kontinents.540 

Eisenbahn, Die Indianer und die 6^ 
Eisenbahn, Die neue kauknsiche 661 
Eisenbahn Die transsibirische, v. 

Dr. F. Lampe ...... 746 

Eisenbahnen, Der zukünftige 
elektrische Betrieb der . . 445 
Eisenbahn- Waggons, Über die 
Schwingungen der .... 880 

Eisenbahnwesen, Forsebritte im 20 
Eisenbahnwesen, Neue Verwend-' 
ung der Elektrizität im, v. R. 520 
Eisenbrücke, Aufstellung einer 
grossen, in einer Nacht . . 669 


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XVIII 


* Seite 

Eisenindustrie, Die Entwickelung 
der, und die heuti^n Eisen- 
erzvorrate v. Prof. Ur. E. F. 

Dürre.123, 146 

Elektrische Lampe, Edisonsncu- 

estCj V. Dr. Pr.236 

Elektrizität en ^os und en ddtail 55 
Elektrotechnik, Die, im Jahre 1896 

V. J. Sachs.171 

Farbenkontraste, Verfahren auf 
optischem Wege, zwischen ei¬ 
nem Objekt und dessen Unter¬ 
grund hervorzurufen v. Theo¬ 
dor Mehler.911 

Farbenphotographie, Chassagne’s 686 
Feld-Sc^ell^uei^eschfitzes, Oie 
Einfbhnms des neuen deut¬ 
schen, V. Hauptmann X . . 378 
Fensterglas, Geripptes • • • 55 
Ferngläsern, Eine neue Art von, 
fhr den Handgebrauch v. Dr. 
Johannes Russner .... 869 
Fernrohr, Photographisches zu 

Potsdam v. Dr. rr.253 

Fernsprecher und elektrische 
Strassenbahnen v. Martens 89 
Fernsprecher, Verbesserungen 

am, V. S.109 

Flugmaschine, Eine neue, v. 

Gawey ’.180 

Flugtechnik, Neues aus der, v. 

Dr. Johannes Russner . . 359 

Funkentelegraphie.848 

Gährungs-Rohlebsäure . . . 793 
Gasbime^ Die WolfFsche . . 8^ 
GasglQhucht, Die Verbesserungen 

am.178 

Gesprächszähler in Stadt-Fern- 
sprech-Einrichtungen v. M. . 414 
Gewerblicher Betriebe, Ueber 
Schädigungen, durch verunrei¬ 
nigte Luft V. Dr. Konrad W. 

Jurisch 489 

Glas, Das elastische der Chinesen 176 
Glühlampen, Die Herstellung von, 

(Ür elektrisches Licht . . . 339 
Glühlampe, Neue elektrische . 505 
Glühlampen, Leuchten elektri¬ 
scher, zu einer bestimmten 

Stunde .864 

Glycerin, v. G. Arends . . . 140 

Hebemagnete.741 

Heerwesen, Die technischen Fort¬ 
schritte im, V. L.813 

Hör-Telephon ftir Taubstumme, 

Ein, V. B. D.520, 

Hol?, Feuersicheres.5&3 

Indigo, Künstliche Darstellung von, 

V. Bechhold .829 

Infanteriegewehrs, Die Einftihr- 
ung eines neuen, v. W. . . 501 
Kertoffelstärke,DieHerstelIungder,362 

Kautschuk, Der.488 

Kochtopf-Einsatz „Heureka“ . 759 
Kohle, Auf elektrischem Wege 
aus Torf hergestellte . . . 342 
Kraftmaschine, Eine neue epoche¬ 
machende .415 

Kraftü^rtragung,^Die elektrische 341 
Krystallen, Uber künstliche Färb¬ 
ung von, V. Dr. Schmidt, . . 179 
Kunstdruck, Verfahren zur Her¬ 
stellung von Druckflächen für, 

V. B. 848 

Landwirtschaftlichen Betrieb, 

Eine elektrische Anl^e ftkr, . 523 
Licht aufzuspeichem. Eine neue 
Art, .361 


Seite 

Lokomotiven, Dleschwersten,der 

Welt V. Fr. . ..20 

London, Die Versorgung von,mit 
Meerwasser ...... 89 

Luft, Lindes Apparat zur Her¬ 
stellung flüssiger, V. B. . . 108 
Masse und Gewichte, Das inter¬ 
nationale Komitee für, . . . 326 
Messung winzigerBruchteile einer 
Sekunde,. Instrument zur . . 577 
Metallcarbide, Die, v. B. D. . . 341 
Metall, Einwirkung des elektr. 
Stromes auf geschmolzenes . 38 

Metalllack.^ 

MetalUegirungenmitChrommetall 56 

Metallspiegeln. Herstellung von, 
aufelektriscnemWegev.Gockel 144 
Mikrophone Neue, v. M. . . 176 
Mikrophonograph ..... 63a 
Naphta-Feuerung v. Dr. S. Aisin- 

man .. 87 

Nebel, Fort mit dem,! v. B. D. 397 
Niagara-Falles, Die Kraft des, . 524 
Nicaragua-Kanal, Der, v. Dr. H. 

Polakowsky . 

Nickebtahl für den Schiffsbau . 613 
Nilkatarakte. DieAusnutzung der, 416 
Optik, Ein Meister der, v. Dr. A. 595 
Panama, Die Arbeiten am Kanal 

von, .669 

Petroleum-Glühlicht-Lampe . . 164 
Phonograph als Depeschenemp¬ 
fänger .721 

Photographie bei Nacht v. P. . 577 
Photographie in natürlichen Far¬ 
ben v. E. V.235 

Photographie in natürlichen Far¬ 
ben, Der heutige Stand der, v. 

E. Valenta.187, 211 

Polieren, Molekulare Vorgänge 
beim, spröder Körper . . . 811 
Riechstoffe, Künstliche v. Dr. Felix 

Hoflmann .804 

Riesenkanal, Der russische . . 326 
Rön^enröhren, Neue Einricht¬ 
ungen an, V. Dr. Joh. Russner 323 
Rön^ens, Die Bedeutung der 

Entdeckung . 

Rollenschiff, Das Bazinsche 
Rubine, Die Herstellung künst 

lieber,.721 

Rübenmelasse, Die, und ihre Ver¬ 
wertung v.Dr.G.ftilvermacher 403 
Schilfe,Die Bewegungswerkzeuge 
der V. W. Freyer .... 763 
Schiflsbauwerften,^ Die Thätigkeit 
der deutschen im Jahre 1896 

V. Dr. Neubaur.151 

Schiffsfähre, Eine, die gleichzeitig 
als Eisbrecher dient .... 668 
Schnellfeuergeschütz System Ca- 
net V. Hauptmann X . . . 375 
Schnell-Telegraphie .... 504 
Schwimm- und Trockendocks v. 

G. Betcke .474, 495 

Sesamöl, Das v. A.541 

Stromsammler oder Akkumula¬ 
toren V. Dr. Joh. Russner . 517 
Sulfit-Cellulose, Die, vor Gericht 217 

Suram-Tunnel, Der.397 

Technischen Versuchsanstalten, 

Die Aufgabe der, v.Dr.D. Holde 291 
Telegraphie ohne Draht v. Dr. 

Bernhard Dessau.579 

Telegraphie ohne Draht, M arconis 742 
Telegraphie ohne Drähte, Di^ . 449 
Telegraphie ohne Drähte, Die 
bei Gewittern.578 


Seite 

Telegraphieren, Die Vorstellung 
der Chinesen vom .... 8^ 
Telephon, Ein neues, v. B. D. . 539 
Temperaturen, Ueber Messung 
hoher und niedriger, v. Dr. 

Joh. Russner.2^ 

Thermochemie in der Industrie 480 
Tunnel unter der Themse v. 

Freyer.558 

Umdrehungsdampfmaschine . . 182 
UnterCTundbahn, Oie elektrische, 
in Budapest v. Graf Eduard 

Wilczek.604 

Vollbahnen, Die vorteilhafte Ver¬ 
wendung des elektrischen Be¬ 
triebes auf.487 

Wäschereien, Brände in . . . 651 
Wasserkräfte, Die Nutzbarmach¬ 
ung der natürlichen, und die 
elektrische Kraftübertragung 
V. Prof Dr. Voller . .1 371, 595 
Wasserleitung, Hochdrupk, der 
Burg Pergamon . . 847, 896 
Wellenbrecher, Schwimmende . 362 
X-Strahlen-Lorgnette, Seguys, v. 

Prof Jacques Boyer .... 553 
Zuidersees, Die Trockenlegung 

des, V. Sch., 452 

Theater. 

Bayreuth 1897 v. Erich Kloss . 507 
Fuldas, Ludwig, Jugendfreunde 

V. Josef Ettlinger.820 

Halbes, Max, Mutter Erde v. 

Leo Berg ........ 725 

Hirschfeld’s, Georg, „Agnes Jor¬ 
dan* V. Josef Ettlinger . . . 772 
Komödie, Die moderne deutsche, 

V. Josef Ettlinger.183 

Theater, Das, im Winter 1896J97 

V. Leo Berg .260 

Tierheilkunde. 

Baumwolle, Der Samen der, als 

Viehfutter .g6 

Kranldieit, Einfluss von, und 
hohem Alter auf Knochen' und 
Zahne bei Säugetieren. Nach 
H. Allen v. Dr. L. Reh . . 231 
Rinderpest, Das Kontagium der 848 
Tickplage m Australien . . . 5^ 
Unterrichtawesea. 

Bildung, Zur Geschichte der 
deutschen, im Altertum v. Dr. 

F. Tetzner.525 

Chemikers, Die unzulängliche 
Vorbildung des deutschen, v. 

Bechhold.521 

Medizinischer Unterricht und ärzt¬ 
liche Praxis V. Geh.-Rat. Prof 

Dr. J. Orth.707 

Sprachunterrichts, Die neuen 
Methoden des, v. Dr. Max 

Banner . 41t 

V erkehrs wesen. 

AcetylcMasmotor Ihr Fahrräder 20 
Chemie, Fortschritte der. im Jahre 
1897 V. Dr. BechhoW . 901 921 
Dampferflotte, Die, auf dem 

oberen Kongo.505 

Droschken, Elektrische .... 452 

Einschienenbahnen.844 

Eisenbahnbrocke, Die grösste, des 
Kontinents ....... 540 

Eisenbahn, Die Indianer und die 669 
Eisenbahn, Die neue kaukasische 651 
Eisenbahn, Die transsibirische, v. 

Dr. F. Lampe.746 

Eisenbahnen, Der zukünftige 
elektrische Betrieb der . . . 445 


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XIX 


Seite 

Eisenbahnen in Japan, Die Ent¬ 
wicklung der ...... 524 

Eisenbahn, Prophezeihung bay¬ 
rischer Aerzte im Jahre 1835 

über die v. Hb.398 

Eisenbahnunfälle, Lieber, und die 
Mittel zu deren Verhütung v. 
Graf Eduard Wilczek . . . 532 
Eisenbahnverkehrswesen, Eine 
der wichtigsten Aufgaben im, 649 
Eisenbahn-Waggons, Üeber die 
Schwingungen der .... 880 
Eisenbahnwesen, Fortschritte im, 20 
Eisenbahnwesen, Neue Verwen¬ 
dung der Elektrizität im, v. R. 520 
Eisenindustrie, Die Entwicklung 
der, und die heuti^n Eisen¬ 
erzvorräte V. Prof. Dr. E. F. 

Dürre.123, 146 

Elektr. Bahnen in Deutschland . 109 
Fernsprecher, Verbesserung am 109 
Fiugtechnik, Neues aus der, v. 

Dr. Johannes Russner . . . 359 

Funkentelegraphie.848 

Gesprächszähler in Stadt-Fern- 
sprech-Einrichtungen v. M. . 414 
Heerwesen, Die technischen 
Fortschritte im, v. „L.“ . . 8:3 

Hör-Telephon, Ein, für Taub¬ 
stumme v. B. D. . . . 520 632 
Japanisch-chinesischer Krieg . 651 
Landweg, Der, zwischen Europa 
■ undAmerikav.TheodorPoesche846 
Lokomotiven, Die schwersten, 

der Welt v. Fr.- 20 

Mikrophone, Neue, v. M. . . . 176 

Mikrophonograph.632 

Nicaragua-Kanal, Der, v. Dr. H. 

Polakowsky.189 

Panama, Die Arbeiter am Kanal 

von.669 

Phonograph als Depeschenem¬ 
pfänger .721 

Post- und Telcgraphenverwal- 
tung, Die Wirksamkeit der 
deutschen,imDienste der öffent¬ 
lichen Wohlfahrt v. F. Vogt 320 
Reisen im Mittelalter v. Prof. 

Dr. Alwin Schultz .... 47 
Reise um die Erde nach Vol¬ 
lendung der transsibirischen 

Bahn.830 

Riesenkanal, Der russische . . ^6 
Rollenschiff, Das Bazinsche . . 896 
Schiffe.DieBewegungswerkzeuge 
der^ V. W. Freyer .... 763 
Schiffebauwerften, Die Thätigkeit 
der deutschen, im Jahre 1896 

V. Ür. Neubaur.151 

Schiffsgesellschaften, Unsere deut¬ 
schen, V. Lyncäus .... 106 

Schlittenhunde.560 

Schnell-Telegraphie.504 

Stephan, Heinrich von, t v. V. a88 

Suram-Tunnel, Der.397 

Technischen Versuchsanstalten, 

Die Aufgabe der, v. Dr. D. Holde 291 
Telegraphie ohne Draht v. Dr. 

Bernhard Dessau.579 

Telegraphie ohne Draht,Marconis 742 
Telegraphie ohne Drähte, Die 449 
Telep'aphie ohne Drähte, Die 

bei Gewittern.578 

Telegraphieren, Die Vorstellung 
der Chinesen vom .... 895 
Telephon, Ein neues, v. B. D. . 539 
Transvaal, Der Handelsverkehr 
in, v. O. Kalt-Reuleaux . . 169 


Seit« 

TunnelunterderThemsev.Freyer 558 
Untergrundbahn, Die elektrische, 
in Budapest v. Graf Eduard 

Wilczek.604 

Vollbahnen, Die vorteilhafte Ver¬ 
wendung des elektrischen Be¬ 
triebes auf..487 

Weltpostkongress, Der,i. Mai 1897 
V. Vogt.308 


VolksWirtschaft sichre. 

Geld, Das, V. Dr. Otto Ehlers 244, 258 
Volkswirtschaftslehre, Die Ent¬ 
wickelung der, V. Dr. Otto 
Ehlers.26 


Völkerkunde. 

Aegypten, Der Lenz in, v. Paul 


Pas»g.147 

Aegyptische Volkslied, Das mo¬ 
derne, V. Paul Pasig . . _ . . 822 
Afrikanischen Eingeborenen,Cber 
die Behandlung der .... 828 
Altperuanem, Lepra bei den . 830 
Asien und Amerika, Leber die i 

ethnographischen Beziehungen 

zwischen.. . 759 

Australiens, Der Ausgang der 
Calvertschen Forschungsreise 
im Innern, 189697 v. Dr. A. 

Vollmer.646 

Australische Erzählungen und 
Legenden von Dr. Th. Achelis 669 
Birmanen, Aegyptern, Chinesen [ 

und Indern, Zusammenhang 

zwischen, v. Ach.451 

Buddha und die Stätte seiner 
Geburt v. Dr. Th. Achelis 53 
Buddhismus in Urga, Der v. Ach. 19 
Buschmänner, Malerei der . . 56 
Chinesen, Die Vorstellung der, 
vom Telegraphieren .... 895 
Colombia, Prof. Regels Reise in, 

V. Dr. E.ia8 

Deutsch-Neu-Guinea, Neue zoolo¬ 
gische Forschungen in, v. R. F. 897 
Germanen. Die Heimat der, y. 

Dr. J. W. Bruinier . . 14 

Germanen, Nochmals die Heimat 
der, V. Dr. Ludwig Dilser . 144 
Germanen, Einige Bemerkun^n 
zum Eingesandt des Herrn Dr. 

L. Wilser über die Heimat 
der, V. Dr. J. D. Bruinier . 156 
Geschichtsphilosophische Svste- j 


me der Gegenwart V. Karl Lory 751 
Guslarenlieder v. Dr. Achelis . 
Handelsbeziehungen,Völkerohne 741 
Hawaii, Der Streitfall zwischen 


Japan und,.467 

Hawaii und Japan und die japa¬ 
nische Auswanderung v. wirkl. 
Geh. Rat, vorm. Ksl. Deutsch. 
Gesandten von Brandt . . . 471 
Indianer, Die, und die Eisen¬ 
bahn .669 

Indische Forschungsergebnisse 
des Jahres 1896 v. Dr. Kurt 

Klemm .318 

Japanisch-chinesischer Krieg . 651 

Japan, Land ohne Haustiere . 651 

Kannibalenbund in Sierra Leone 74 

Kaokogebiet, Dr. Hartmanns 

Reise im.163 

Kleidung und Schamgefühl v. 

Th. Achelis.88 

Kolonien, Die deutschen, I. 
Deutschostafrika v. Dr. Neu¬ 
baur .367, 385 


Seit« 

Kunene, Dr. Essers Reise nach 

dem, . . _.162 

Lebensraum, Über den, v. Prof. 

Dr. Friedrich Ratzel .... 363 
Mahdismus, Die Bedeutung der 
vom, unterjochten Länder v. 

Rudolf Prietze.633 

Markesas-lnseln, Prof Dr. Carl 
von den Steinen’s Reise nach 

den, v. Dr.272 

Massai, Die 501 

Menschengeschlechts, Über das 

Alter des, .685 

Negergräber in Südamerika . . 524 
Neger, Schnapbrennerei der . 506 
Pagan, Die Glasuren von, v. R. 795 
Pagan, Tempelbauten von . . 143 
Palolowurm, Über den essbaren, 
des pacif. Oceans v. F. Römer 538 
Pamir-Expedition, Die dänische 448 
Pamir, Zwerghaft.Volksstamm in 051 
Photographie, Die, auf der Ver¬ 
sammlung der Naturforscher 
und Aerzte in Braunschweig 
V. Privatdozent Dr. Precht . 754 
Porträt, Das, Ein Stück Völker¬ 
kunde V. Prof. Dr. Max Büchner 689 
Sklavenhandela. d. Südsee v.Ach. 143 
Sumero-Akkader, Die Herkunft 


der V. Ach.433 

Tierfabel, Die Entstehung und 
Entwicklung der, v. T. A. . 524 
Tierkultus^ Ueber, v. Dr,Theodor 

Achelis .30 

Tropenkrankheiten, Die Erforsch¬ 
ung und Bekämpfung der, v. 

Dr. E. Below.149 

Völkerkunde v. Dr. Max Büchner i 
Vorderasiatische Gesellschaft, Die 

V. F E. P.143 

Zwergstämme in Afrika v.Ach. 143 

Zoologie. 

Aales^ Die Fortpflanzungsge¬ 
schichte des, v. ^.416 

Alk, Frühere Verbreitung des . 651 
Bakterien im Darm und in den 
Eileitern.776 


Beobachtungen, Zoologische und 
biolo^che, auf Spaziergängen 
und Reisen v. Dr. L. Rehw, 621 
Bienen, Zum Instinkt der, v. Rk. 397 
Biogenetische Grundgesetz, Das, 
v. Dr. L. Michaelis . . , . 818 

Bison, Der.560 

Blutes, Aendemng der Beschaf¬ 
fenheit des, in bedeutenden 

Höhen.740 

Chlorophyll, Das tierische, v. Prof. 

R. Francs.389 

Deutsch-Neu-Guinea, Neue zoo¬ 
logische Forschungen in, v.R.F. 897 
Du Bois-Reymond, ^mil, v. Dr. 

P. Jensen .35 

Eintagsfliege, Eine lebendig ge¬ 
bärende, v. Rk.344 

Enten, Flug der, v. Pr. ... 272 
Entwickelungsmechanik v. Reh. 593 
Erdöls, Zur Frage der Ent¬ 
stehung des, V. S.810 

Fauna des Tanganyika-Sees v. R. 613 
Fossilien, Das Land der leben¬ 
den, V. PYof. R. Francs . .117 
Goldafters, Raupen des, . . . 506 
Haaren und Federn, Lieber die 
elektrischen Eigenschaften von, 

V. F. Römer.649 

Haustiere, Land ohne .... 651 


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XX 


Heerwesen, Die technischen Fort¬ 
schritte im, V. ,L.“ .... 
Hefe, lieber die Verbreitung der, 

durch Insekten . 

Honigbiene, Das Gift unserer . 
Insekten, Die, als Verbreiter an¬ 
steckender Krankheiten v. 

Sigm. SchenkÜM. 

Insektenlarven, Eiweissverdau- 
ender Speichel bei, v. Rk. 
Insektenstiche, Was thut man 

gegen, ? v. M. 

Insektenwelt, Lästige Gäste aus 
der, V. Dr. L. .... 

Tohanniskäferlicht v. B. D. . . 

Kaviar, Der, v. Sch. 

Köhlers, ..nützliche“ und -schäd¬ 
liche Vogel arten“ v. F. R. . . 
Korallen-Inseln, Zur Erforschung 

der, . 

Krankheit, Einfluss von, und 
hohem Alter auf Knochen und 
Zähne bei Säugetieren. Nach 
H. Allen von Dr. L. Reh . . 


Lebensraum, Lieber den, v. Prof. 

ZDr. Friedrich Ratzei .... 363 
Milbe, Eine gefährliche, v. R. . 613 
Neugeborenen, Beobachtungen an, 

v. Dr. E. Below.644 

Niedere Tiere, Schmerzempfin¬ 
dung, .633b 

Orang-Utan, Die Art, wie der, 

schläft.830 

Palolowurm, lieber den essbaren, 
des padf.Oceans v. F. Römer 538 
Pferdes, Verdauung des, . . 524 ] 
Plankton, Das, der norddeutschen 
Biimenseen.v. Dr. O. Zacharias 696 
Riechstoffe, künstliche, v. Dr. 

Felix Hoffmann.804 

Robbenfang, Der, im Berings- 

Meer v. Reh.846 

Sandfloh, Der .523 

Schlangenbisses, Behandlung des 705 

Schlittenhunde.560 

Schutzfarbe der Tiere .... 879: 
Seeschiessen, Das ..... 912 j 
Sperlinge, Schädlichkeit d., v. Fr. 523 | 

Mitarbeiter-V erzeichnis 


Spitzohr, Das Darwinsche, v. Reh 6^ 
Spulwurmes, Die Entwickelung 
des menschlichen v. Rk. . . 379 
Steinzeit, lieber das Alter der 
älteren und jüngeren, v. Rk. 577 
Stisswasser-Schnecken und Mu¬ 
scheln, Die Ueberwinterung 

unserer . 830 

Tickpla^ in Australien . . . 596 
Tiere, Prämien • Ausschreibung 
für d. Vertilgung schädl., v. Reh 648 
Tierwelt, Die, der Höhlen v. Prof. 

Dr. Otto Hamann.24 

Todes, Die physiologische Not¬ 
wendigkeit des, v.Dr.P.Jensen 435 
Vorfahren, Die, des Menschen v. 

Dr. L. Reh.237 

Wirbeltieres, Fusspur eines, iin 

Devon v. Rk.344 

Würmer, Ueber den Giftgehalt 
parasitischer, v. H. Reeker . 204 
Zoologie, Die, im Jahre 1896 v. 

Prof. Dr. Otto Hamann . . 133 
Zwerghafte Haustiere in Pamir 651 


Auf den verzeichneten Seiten finden sich die 

Achelis, Thomas Dr. 30 » 53 Müll 

Aisinman, S. Dr.87 Müs 

Atnbronn, L., Dr.785, 835, 857 Necl 

Ankel, Paul.175 Nesl 

Arends, G.140, 824 Neul 

Auerbach, F., Prof..399 von 

Banner, Max, Dr.411 Opp 

Bechhol^ Dr. . . 5a, 265, 653, 666, 755, 901, 921 Ope 

Betcke, G.474, 495 Ortl 

Below, E., Dr. 149, 644 Pasi 

Berdrow, W.64 Peis 

Berg, Leo . 10, 102, 113, 130, 260, 478, 725, 885 Pein 

von Berlepsch, H. E.780 Poe: 

du Bois-Reymon^ Dr.69a Pola 

Boyer, Jacques, Prof. .553 Pop 

von Brandt, vorm. Kaiser!. Gesandter . 471, 842 Pre< 

Braun, Edmund Wilhelm, Dr.743, 916 Prie 

Bruck, Sylvius, Dr. .229, 241 Pulv 

Bruinier, I. W., Dr. . . . 14, 156, 391, 881, 905 Quil 

Büchner, Max, Prof. Dr.1, 689 Rab 

Busse, Hans H.671 Ree 

Dessau, Bernhard, Dr.93, 579 Reh 

Dürre. K. F., Prof. Dr. .123 Rey 

Ebstein, Wilhelm, Geh. Med.-Rat Prof. Dr. . 273 Rier 

Ehlers, Otto, Dr.26, 244, 258 Ritt« 

Eifert, P-, Efr.282, 426 Rön 

Ettlinper, Josef .... 183, 453, 600, 772, 820 Rusf 

Eulenburg, A., Geh. Med.-Rat ProftDr. 21, 49,865 Sacl 

France, K-, Prof..117, 389, 897 Sch? 

Frey er, W.763 Sch< 

Grottewitz, Curt.407, 615 Sch< 

Günther, S, Prof. Dr.294 Sehr 

Halbfass, Dr.287, 417 Sehr 

V. Halle, S.16 Schi 

Halm, Philipp M., Dr.712, 732 Schi 

Hamann, Otto, Prof. Dr.24, J33 ! Sch\ 

Hamjtmann, X. . . . 4?, 375, 420, 618, 638,, 656 i von 

Hoffmann, Felix, Dr.8^ Tetz 

Holde, D., Dr.291 Thil< 

Huggins, William.3 Trat 

Jensen, P., Dr.35, 62, 129, 435 Vale 

Jurisch, Konrad W., Dr.58, 489 Vog 

Kahle, P. 861 Voll« 

Kalt-Reuleaux, 0 .169, 464, 574, 799 Volli 

Klemm, Kurt, Dr.318 Wer 

Kloss, Erich .507 Wie 

Lampe, F., Dr. 746 Wilc 

Lory, Karl . . 246, 332, 460, 751, 831, 861, 925 Wis 

Lyneäus. 7 i, 106 Wöl 

Mehler, L., Dr.med.73, 1 ^, i 91 . 572 ,609,701,775,792,892 ZacI 

Mehler, Robert.302 Zieh 

Michaelis, L., Dr.818 Ziel« 


g^rAsscren Beiträge der genannten Autoren. 

Müller, Paul, Dr. med.457, 483, 498 

Müsebeck, Emst,Dr.20i, 381,516,527,626,7^, 761,909 

Necker, Moritz.777 

Nestler, A., Dr. 226, 305, 333, 488, 587 

Neubaur, Dr.i-ii, 367, 385 

von Oettingen, Wolfgang. 223 

Oppenheimer, Karl, Dr. 719 

Opet, Otto, Dr. jur. . .. 75 

Orth, J., Geheim.-Rat, Prof. Dr.707 

Pasig, Paul .148, 812 

Peiser, F E., Dr. 255 

Pelman, C. Geh.-Med.-Rat Prof. Dr. . . . 913 

Poesche, Theodor .846 

Polakowsky, H., Dr. ... 69, 189, 270, 304 

Popp, Hermann . 345, 564, 583 

Precht, Privatdozent Dr.754. 

Prietze, Rudolf.633 

Pulvermacher, G., Dr. .403 

Quilling, Dr.86 

^tzel, Friedrich, Prof Dr. .363 

Reeker, H. 204 

Reh, L. Dr.39« 231, 237, 511, 597, 62: 

Reymond, E.j2i 

Riemann, Hugo Dr.6, 278 

Ritterband, D., Dr.214, 249 

Römer, F.538 

Russner, Job, Dr. . 267, 313, 359, 527, 662, Ö69 

Sachs, J.171 

Schaeffer, Oskar, Dr.335, 350 

Schenkling-Prevöt. .159 

Schenkling, Sigm.250 

Schmidt, Dr.826 

Schneegans, Heinrich, Prof Dr.314 

Schultz, Alwin, Prof Dr.47 

Schumacher, K., Prof. .299 

Schwassmann, A. Dr.. . . . 126 

von Stengel, Freiherr Karl, Prof./ii 

Tetzner,R,Dr. 52,72,88,141,233,252,376,525,547,529 

Thilo, Dr.530 

Trabert, Wilh., Dr..355 

Valenta, E.187, 211 

Vogt, F.320 

Voller, Prof Dr. ..371 

Vollmer, A., Dr. . 646 

Werner, Richard Maria, Prof Dr. . 676, 768, 853 

Wiedemann, A., Prof Dr. . . . 80, 561, 590 

Wilczek, Graf tduard.532, 604 

Wischin, Rudolf, Dr.789 

Wölffing, U., Dr. 219, 309, 624, 801 

Zacharias, Otto, Dr.696 

Ziehen, Julius, Dr.198, 647 

Zieler, Gustav.874, 889 


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DIE UMSCHAU 

ÜBERSICHT ÜBER DIE FORTSCHRITTE UND BEWEGUNGEN AUF 
DEM GESAMTGEBIET DER WISSENSCHAFT, TECHNIK, 
LITTERATUR UND KUNST 

herauagefeben von 

DR. J. H. BECHHOLD 


Wöchentlich eine Nummer. 

Zu beziehen durch 
alle Buchhandlungen und 
Postanatalten. 

Poatzeitungspreiaiiate Na 79011. 

Verlag von: 

H. Bechhold Verleg, Frankfurt a. BL 


Neue KrOme ig^i. 


Preis vierteljahrUdi 
M. a.5a 

Jahres-Abonnement 
Preis M. 10.—. 

Im Ansland nach Conre. 
Verantwortlicher Redakteur: 

Otto Adolf Wolters, Frankfurt a. IL 


I. I. Jahrg. 


Nachdruck aus drtu Inhalt der Zritschri/t ohne Erlaubnis 
der Redaktion i>erboten. 


1897. 2. Januar. 


Völkerkunde. 

Von Dr. Max Büchner. 

Völkerkunde ist jene Summe von Er¬ 
kenntnissen, welche das Leben der Mensch¬ 
heit in seiner Sonderung nach Nationen und 
Stämmen beleuchtet. In ihrem unfertigen 
Zustand, der des Systems harrt, ist sie mehr 
ein Programm, als eine Errungenschaft. 

Sie entspringt aus der Erfahrung, dass 
die Leute im Nachbarland schon verschieden 
von uns sind und dass diese Verschiedenheit 
wächst, je weiter wir uns entfernen. Dabei 
interessiert mehr die Masse und nicht der 
einzelne Mann. Der einzelne Mann ist Gegen¬ 
stand anderer Erkenntniszweige, zunächst der 
Anthropologie, die ihn im Sinne der Zoologie 
beansprucht, dann der Anatomie, der Physio¬ 
logie und der Einzelpsychologie. Erst wo 
diese zur Rassenlehre und zur Massenpsy¬ 
chologie sich konzentrieren, mischt auch die 
Völkerkunde sich ein. 

Die Völkerkunde zerfallt in einen be¬ 
schreibenden und einen spekulierenden Teil, 
in die Ethnographie und die Ethnologie. 
Die erstere ist die Thatsachenmenge, die letz¬ 
tere die Theorie. Die Ethnographie ist be¬ 
müht, das für die Völker bezeichnende, wirk- 
lichVorhandene in Sammlungen zu registrieren. 
Die Ethnologie übernimmt es, darin zu sichten 
und bereitet so Schlösse vor, oder auch 
wagt sie schon, einerseits auf das Gemein¬ 
same, immer wieder zu findende allgemein 
Menschliche und andererseits auf das Tren¬ 
nende in seinen Stufungen bis zur Verwandt¬ 
schaft, auf Wanderung und auf Geschichte, 
so weit diese noch dunkel ist. 

Ihrem Länderbereich nach sind die Gren¬ 
zen der Völkerkunde keine natürlichen, logi¬ 
schen. Von vornherein sind die Bewohner 
Europas und deren Kulturkreise ausgeschlos¬ 
sen, weil schon seit lange in anderen Hän¬ 
den und Gegenstand anderer Wissenschaften. 

Umschau 1897. 


Erst jenseits des Kaukasus und des egyp- 
tischen Deltas beginnt nach Ost und Südost 
das unbestrittene Gebiet. Glücklich, dass 
Indien, China und Japan uns noch gelassen 
sind. Denn schon stellen sich Anzeichen ein, 
dass man auch sie uns noch rauben will. 
Und dann bleiben allein noch die ganz wil¬ 
den Völker. 

Das Sammeln und Registrieren des Stoffes 
ist noch nicht vollendet und schon ragen 
empor die Gerüste der Theoretiker, die mit 
dem Bauen beginnen. wollen. Es gilt, aus 
den Steinen der Ethnographie die Ethnologie 
zu errichten. Dieses verlockende Werk wird 
heute von zweierlei Seiten her angestrebt. 
Auf den Fahnen der einen steht das Rätsel¬ 
wort „Völkergedanke“ geschrieben, auf denen 
der anderen ein lustig hüpfender halber Pen¬ 
tameter „Anthropogeographie". Die betref¬ 
fenden Führer sind Adolf Bastian und 
Friedrich Ratzel. Was wollen die beiden? 

Der Tiefklang „Völkergedanke“ möchte 
die eine, überall wieder zu findende gleiche 
Beseelung der ganzen, in Völker geteilten 
Menschheit bedeuten, und zugleich ist ihm 
das erste Einzelne nicht der einzelne Mensch, 
sondern dessen Gemeinschaft, der Stamm, 
die Heerde, das Volk. Das Suchen nach 
scharfen Trennungen, unter sehnsüchtigem 
Ausblick nach dem Übergangstier, hatte keinen 
Erfolg. Die Menschen im Grossen sind über¬ 
all so sehr dieselben, dass sie überall wieder 
die gleichen Geräte und Sitten, die gleichen 
Ahnungen und Befürchtungen haben. Und 
ausserdem denken sie massenweise. Der ein¬ 
zelne Mensch ist an sich nichts, ein blosses 
Abstraktum. Erst in der Gesellschaft findet 
er seine Erfüllung. Was wäre das Denken 
ohne die Sprache und was die Sprache ohne 
Gesellschaft! Das wahre Individuum ist die 
Gemeinde oder das arithmetische Mittel der¬ 
selben. Daher auch der Ruf nach einer 
Gedankenstatistik und nach dem schliesslichen 


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2 


Büchner, Völkerkunde. 


arithmetischen Mittel aller Gedanken, dem 
Völkergedanken als Krönung, weil er das 
eigentlich ersteste Erste darstellt. Die den¬ 
noch vorhandenen Unterschiede im Kleinen 
werden aus Einflüssen der geographischen 
Provinz erklärt. 

Dies der Ideengang Bastians, soweit 
es möglich ist, ihm durch das ungemein 
schwierige Wirrsal der sechzig Bände und 
Bändchen, die er geschrieben hat, ganz ge¬ 
duldig zu folgen und in kürzester Kürze da¬ 
von Bericht zu erstatten. Sein himmelstür¬ 
mendes Wollen Obersieht nur Verschiedenes 
und vor allem Eines. 

Unter dem Eindruck der getäuschten Er¬ 
wartung auf grössere Trennungen werden 
die kleineren Unterschiede nicht genügend 
gewürdigt. Auch die menschliche Sprache 
ist von ferne betrachtet eine grosse Einheit, 
die überall wieder den nämlichen grossen 
Regeln gehorcht. Aber ihre Vokabeln und 
kleineren Regeln haben doch so viel Ver¬ 
schiedenheit, dass sie zugleich ein mächtiges 
Hindernis für die Verständigung türmen und 
zugleich wieder Zusammenhänge gruppieren, 
die sich zu Stammbäumen ordnen. Und eben-, 
so weisen die Dinge der Ethnographie in 
ihren eigenen Stylen mit ihrer starken Be¬ 
harrlichkeit noch genug der Merkmale auf, 
.die sich zu Völkerbeziehungen trennend und 
wieder vereinigend auswerten lassen. 

Diesen Haupteinwurf vertritt üerzeugend 
die „Anthropogeographie", die Lehre der Men¬ 
schenverbreitung, von Friedrich Ratzel. 
Könnte man alle Geräte der sämmtlichen 
Völker auf einer riesigen Karte nach ihrem 
Vorkommen hinlegen, so würde sich daraus 
ein Bild ergeben, nicht blos von der ruhigen 
Austeilung dieser verschiedenen Formen, 
sondern auch von ihrer Vorwärtsbewegung 
nach verschiedenen Richtungen, ungefähr so, 
wie das Ausgestrahltwerden und Sichbegegnen 
von Strömungen, und manche Form, die für 
sich betrachtet ganz nichtssagend bleibt, 
würde Beziehungen knüpfen bis zum Zu¬ 
standekommen wirklicher Wanderungsbäume. 
Für jenes geistig wohl zu realisierende Bild 
ist der Völkergedanke, der überall Gleich¬ 
heiten aus sich selber entstehen lässt, gänz¬ 
lich mit Blindheit geschlagen. Nach ihm 
existiert blos eine einzige Weltverwandtschaft 
ohne kleinere Sippen und Familiengruppen. 
Eine solche Anschauung hat viel Bequemlich¬ 
keit, da sie entbindet von dem Bemühen um 
Zusammenhänge. Aber zugleich ist sie un¬ 
fruchtbar. Sie ist ein wissenschaftlicher 
Quietismus, trotz aller Mahnungen zum Zu¬ 
sammentragen. 

Einer der kräftigsten Vorhalte Ratzels 
ist die Betrachtung vom Erfinden und Nicht- 


erfinden. Das Erfinden ist nicht so leicht zu 
nehmen. Auf ihre Erfinder müssen die Völ- 
'ker oft lange warten. In den Jahrhunderten 
zwischen den plötzlichen Aufwärtstrieben durch 
die Erfindungen gilt die Übertragung und 
Entlehnung. Die Übertragungen haben die 
Länge der Zeiten für sich. Sie sind also 
doch noch viel wichtiger. 

Auch auf diesem Weg kommt eine Stelle, 
die Halt gebietet. Der Völkergedanke erhob 
sich geg«n den Missbrauch mit Völkerver¬ 
bindungen, die man auf Grund ganz belie¬ 
biger Ähnlichkeiten behauptete, und denen 
zuliebe man eigene Insein, wie die Atlantis 
immer wieder erschuf. Aus der Bekämpfung 
solcher Phantasmen wird die Leugnung aller 
Zusammenhänge. Dagegen erhebt sich nun 
wieder die Anthropogeographie und kehrt zu¬ 
rück zu den Ähnlichkeiten und deren Ge¬ 
währ von Beziehungen, nur etwas vorsich¬ 
tiger und gewissenhafter. Aber Alles wird 
sie denn doch nicht an sich reissen können. 
Auch die andere Partei wird noch Einiges 
festhalten dürfen. Nur wird dann der Streit 
sich zersplittern. Um jeden einzelnen Ge¬ 
genstand werden die feindlichen Rufe sich 
wiederholen; Hie Selbstheit, hie Übertrag¬ 
ung. Da der letzteren Partei die Last der 
Beweise obliegt, wird sie den grösseren Fleiss 
zu bethätigen haben, und dieser wird auch 
noch anderes fördern, als die Ziele des 
Augenblickes. 

Von den Argumenten der Sprache hat die 
Gelehrtheit der Völkerkunde bisher sich auf¬ 
fällig fern gehalten, fast wie aus Scheu 
vor einem zu hohen Heiligtum. Und das 
sehr mit Unrecht. Denn erstens ist das sprach¬ 
liche Wissen von vorne herein schon an sich 
der Völkerkunde Gediegenstes, da aus ihm 
Stammbäume sprangen, die, wenn auch man¬ 
cher Korrekturen bedürftig und auf die Völker 
nicht immer sogleich übertragbar, doch erste 
brauchbare Linien vorgesteckt haben. Und 
zweitens ist jegliche Sprache bereits ein fertiger 
Katalog, in welchem die sämtlichen Dinge des 
zu ihr gehörigen Volkes verzeichnet und 
erklärt sind. 

Dagegen herrscht auf unserem Gebiet seit 
Kurzem' die Emsigkeit einer ganz neuen Art 
von grammatischer Forschung. Das ist die 
Ornamentik. Die Deduktion der Scholastiker 
hat aus engem Gesichtskreis die aufsteigende 
Schemaordnung: Lineares, pflanzliches, tie¬ 
risches Ornament, in die Welt gesetzt. Die 
Induktionen der Völkerkunde, die den Erdball 
umfassen, sind im Begriff, diese Reihenfolge 
beweiskräftig umzukehren. Das erste, was 
den Wilden zur Nachbildung reizt, ist das 
Körperhafte, und alles Lineare und Geo¬ 
metrische sind nur spätere Abkürzungsbilder 


s. 


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Huggins, Physik der Himmelskörper. 


3 


von Naturgegenständen. Dass die Linie eine 
Abstraktion ist, hätte man übrigens auch schon 
früher und ganz theoretisch sich, konstruiren 
können. Auf diesem und mancherlei anderen 
Wegen drängt sich die Völkerkunde in die 
Kunstgeschichte. 

Wie weit derlei Forschungen führen werden, 
ist noch nicht abzusehen. Aber jedenfalls 
lässt sich die Ornamentik wie eine Sprache 
behandeln, die zwar blos in schweigsamen 
Formen lebt, aber doch auch schon ihre Gram¬ 
matik und grammatische Umbildung hat. -Ja, 
wenn wir das Wort Grammatik mit dem vollen 
Bewusstsein seiner Abkunft sprechen, fällt 
uns sofort auf, dass es zuerst fast dasselbe 
bedeutet, wie das Wort Ornamentik. 

Ein besonderer Reiz umgibt diese neuesten 
Studien, die unberührte Jungfräulichkeit ihrer 
vielen Fragen. Die ausgetretenen Bahnen 
der westlichen Weisheit auf einige Zeit zu 
verlassen, einmal nachzusehen, auf welchen 
Geleisen die östlichen Völker ihr Dasein be¬ 
sorgen und um die Rätsel der Welt sich 
herumbewegen, hinabzutauchen in die ver¬ 
schlungenen Urwaldpfade der naivsten Mensch¬ 
heit, die von der westlichen Weisheit gar 
nichts erhielt, und dort die seelischen Keime 
zu suchen, aus denen der prunkvolle Garten 
Civilisation hervorging, was könnte genuss¬ 
reicher sein! Erst durch Kontraste und Schat¬ 
ten formen sich deutliche Bilder. Erst auf 
dem Grunde der Urzustände hebt sich das 
Spätere in die rechte Beleuchtung. 

Freilich, jegliche Wissenschaft hat auch 
ihre Gefahren. Es ist leicht predigen, immer 
nur rein induktiv zu bleiben und jeden Bau¬ 
stein erst sorgfältig zu prüfen, ehe' man ihn 
hinlegt. So viel edle Verleugnung dauert 
nicht, auch bei dem Prediger selbst nicht. 
Das blosse Forscjien und Zusammenhäufen 
ohne ein wenig gestaltende Kunst ist nicht 
lang zu ertragen. Die Deduktion lockt allzu 
verführerisch. Und dann kommt immer wieder 
der alte Kreislauf. 

Selbst die Philosophie als die höchste ge¬ 
staltende Kunst einer Weltanschauung macht 
ihre Stadien durch. Auf das erste freudige 
Staunen, den Urquell jeglicher Wissenschaft, 
folgt das freudige Forschen, eine Blütezeit 
ehrlicher Arbeit und frischer Erkenntnisse. 
Das ist der rein induktive Anfang. Bald da¬ 
rauf mischt das Deuten und Modellieren sich 
ein und damit das Böse, die Dialektik und 
die Dogmatik, die gemeine Rücksicht auf, 
Rücksichten, deren erste die Eitelkeit ist. Der 
gerechte Ekel daran und der Widerspruch 
führt dann zur Skepsis, zur Unthätigkeit und 
zur Negation, dass es möglich ist, überhaupt 
nur zu wissen. Aus der Trostlosigkeit dieses 
Nihilismus windet sich aber zuletzt immer 


dreister die grünlich schillernde Schlange 
Mystik, die wieder Alles weiss und viele 
Menschen bethört. Dann kehrt man reuig 
wieder an den Anfang zurück. 

Es ist recht bezeichnend, dass die genannten 
vier Stadien auch schon an dem Wachstum 
der Völkerkunde, der so spät erst geborenen, 
zu merken sind. Das hängt mit ihrer vor¬ 
schnellen Jugend in unserer vorschnellen Zeit 
zusammen. Und schadet auch nicht. Es ist 
der natürliche, Kreislauf. Je dreister die 
grünlich schillernde Schlange ihre Bethörungen 
ausübt, desto eher wird sie entrüsteten Wider¬ 
spruch wecken, und dann kommt wieder die 
ehrliche Arbeit zur Geltung. 

Die Physik der Himmelskörper (Astrophysik) 

und ihre Methoden. *) 

VoQ William Huccins. < 

Vor weniger als 50 Jahren würde man 
wohl eine Kenntnis von der Natur der Him¬ 
melskörper durch direkte Beöbachtungsme- 
thoden nicht allein als unerreichbar ange¬ 
sehen haben, sondern geradezu als ausserhalb 
der Grenzen der Erkenntnis liegend, die dem 
Menschen durch seine Sinne und sein Haften 
an der Erde gezogen sind. — Man glaubte, 
dass die physikalische Beschaffenheit der 
Sonne, Sterne und Planeten niemals erkannt 
werden könne, sondern für immer ein Gegen¬ 
stand der Spekulation oder von Analogie¬ 
schlüssen bleiben müsse. 

Comte war sich darüber klar,**) — „quelle 
pourrait ötre la base rationelle de nos con- 
jectures sur la formation des soleils euxmemes? 
Comment confirmer ou infirmer ce sujet, 
d’apr^s les phönoniönes, d’aucune hypoth^se 
cosmogenique, lorsqu’il n’existe vraiment en 
ce genre aucun ph^nomene explorf, ni möme 
Sans doute explorable?“ 

Eine Gewissheit darüber schien ausge¬ 
schlossen, ob die uns vertrauten Stoffe und 
Kräfte der Erde eigentümlich seien, oder 
auch der Menge glänzender Punkte zukämen, 
die am Nachthimmel glitzern. Wie sollten 
wir die Laboratoriumsmethoden auf folche 
Körper ausdehnen, deren Entfernung so gross 
ist, dass kaum die kühnste Phantasie sie sich 
vorstellen kann?! 

Nur die strahlende Energie des Lichtes, 


*) übersetzt von Makie hECtnioLP. 

**) Welches könnte die rationelle Gnindlage für 
unsere Mutmassungen über die Bildung der Ge¬ 
stirne sein? Wie sollte man hier Beweise für oder 
wider beibringen durch die Phaenomene irgend 
einer Weltbildungshypothcse, da es in der That 
kein erforschtes Phaenomen dieser Art gibt und 
auch zweifellos kein erforschbares?“ 


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4 


Huggins, Physik der Himmelskörper. 


die von ihrer Existenz erzählt, durchschreitet 
den ungeheueren Raum von ihnen zu uns. 

Zum Glück ist dieses Licht nicht, wie 
es dem unbewaffneten Auge erscheint, ein¬ 
facher Natur, sondern es besteht aus einem 
sehr komplizierten Bündel verschiedener 
Lichtarten. — Dadurch nun, dass einige 
dieser Lichtarten oder auch Gruppen ausge¬ 
löscht w.erdeh, existiert in der That eine 
Art Telegraphenschlüssel, durch welchen wir 
Kenntnis von der chemischen und physi¬ 
kalischen Natur der auf den Gestirnen vor¬ 
kommenden Gase erlangen, durch deren 
absorbierende Wirkung eben die Aussonder¬ 
ung der einen oder anderen Lichtart hervor¬ 
gebracht wird. 

Newton zeigte, dass wenn ein Sonnen¬ 
strahl schief auf die Oberfläche einer durch¬ 
sichtigen Substanz, etwa Glas, fällt, die ver¬ 
schiedenen Lichtarten ungleich gebrochen 
und so von einander getrennt werden. In¬ 
dem er ein Prisma mit seinen zwei schief¬ 
gegeneinanderlaufenden Oberflächen benutzte, 
erhielt er auf seinem Wandschirm einen 
künstlichen Regenbogen, oder ein Spectrum, 
das von den verschiedenen Lichtarten gebil¬ 
det wird, die sich in der Reihenfolge ihrer 
Schwingungszahl aneinander setzen. — Ob¬ 
gleich Nf wton für sein Experiment einen sehr 
engen Spalt verwandte und unter günst¬ 
igen Bedingungen arbeitete, sah er infolge 
eines seltsamen Umstandes doch nicht die 
schwarzen Linien im Spectrum, welche sozu¬ 
sagen den Telegraphenschlüssel bilden, in 
dessen Chiffren uns die Nachrichten über¬ 
mittelt werden, und in dessen Beobachtung 
und Erklärung die neue Wissenschaft, die 
Astrophysik, besteht. 

Wollaston entdeckte 1802 fünf oder 
sechs dunkle Linien, aber Fraunhofer, unter 
dessen Namen die dunklen Linien jetzt noch 
bekannt sind, war es Vorbehalten (1815), nicht 
nur etwa 300 dunkle Linien aus dem Sonnen- 
spectrum aufzuzeichnen, sondern Auch zu 
entdecken, dass dunkle Linien, wenn auch in 
anderer Folge, auch im Licht verschiedener 
Sterne vorhanden sind. Er beobachtete ferner, 
dass ein paar dunkle Linien an der gleichen 
Stelle und in der gleichen Entfernung von 
einander im Spectrum vorkamen, die mit ein 
paar hellen Linien zu korrespondieren 
schienen, welche fast stets im Licht bekann¬ 
ter Körper vorhanden waren. - Letztere Be¬ 
obachtung enthielt den Schlüssel zur richtigen 
Erklärung der dunklen Linien. — Fraun¬ 
hofer kam nicht darauf, und die Geburt der 
Astrophysik wurde um etwa 44 Jahre ver¬ 
zögert. Trotz einiger prophetischer Ahn¬ 
ungen von Stokes und Lord Kelvin und 
obgleich die Wege durch das Werk Balfour 


Stewarts und durch Angström geebnet 
wurden, waren es erst Kirchhoff und 
Bunsen, denen es im Jahre 1859 durch 
direkten Vergleich des Sonnenspectrums mit 
den Spectren gewisser chemischer Elemente 
gelang, die wahre Bedeutung der dunklen. 
Linien im Sonnenspectrum zu erklären, näm¬ 
lich, dass sie durch die absorbierende Wirkung 
t>on Dämpfen derjenigen Substanzen entstehen, 
welche im glühenden Zustand entsprechende 
helle Linien geben. 

Die neue Astronomie war geboren: . . 
„Matre pulchra filia pulchrior". 

Die Heidelberger Professoren zeigten — 
was in der That nicht anders erwartet wer¬ 
den kann, wenn wir für die verschiedenen 
Glieder des Sonnensystems einen gemein¬ 
samen Ursprung annehmen, — dass sich die 
Sonne aus denselben Bestandteilen zusam¬ 
mensetzt, die auch die Erde bilden. Mehr 
als vierzig unserer chemischen Elemente 
lassen ihr Vorhandensein in der Sonne durch 
die Chiffren erkennen, welche ihre lichtabsor¬ 
bierende Wirkung in Gestalt der dunklen 
Linien in das Bild des Spectrums einschreibt. 
Man hat Gründe dafür, anzunehmen, dass 
einige wenige Elemente, die in der Sonne 
noch nicht entdeckt sind, in Wirklichkeit 
im Sonnenkörper nicht fehlen. — Andererseits 
verraten uns einige noch unerklärte dunkle 
Linien das Vorhandensein von Substanzen, 
die der Scharfsinn des Chemikers noch nicht 
aus ihren verborgenen Plätzen im Gestein 
der Erde herausgezogen hat. Vor kaum 
mehr als einem Jahr wurde von Professor 
Ramsay ein neues Element entdeckt, wel¬ 
ches schon lange durch seine charakterist¬ 
ischen hellen Linien als Sonnenbestandteil 
bekannt war, und welchem deshalb der Name 
„Helium“ gegeben worden war; jetzt wissen 
wir, dass es sowohl auf* der Sonne wie auf 
der Erde vorkommt, ebensogut wie Wasser¬ 
stoff oder Eisen. 

Bei den anderen Himmelskörpern hatten 
wir wenig, sehr wenig Anhaltspunkte für Ana¬ 
logieschlüsse; es war deshalb von höchstem 
Interesse diese wundervolle analytische Me¬ 
thode auf die Himmelskörper auszudehnen, 
welche ausserhalb des Sonnensystems und in 
ungeheuerer Entfernung von demselben sind. 
Ganz kurz nach Kirchhoffs Arbeit über die 
Sonne wurden seine Methoden mit den nötigen 
Abänderungen auf die Sterne ausgedehnt, und 
zwar durch den Schreiber dieses (Huggins) 
in England, Voge 1 in Deutschland, Ruther- 
furd in den Vereinigten Staaten und Donati 
und Secchi in Italien. — So ward uns 
denn die grosse Wahrheit offenbart, dass, 
allgemein ausgedrückt, die Chemie des Son¬ 
nensystems im ganzen sichtbaren Univer- 


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Huggins, Physik der Himmelskörper. 


5 


sura waltet. — Die Spectra der Sterne sind 
ungemein verschieden, aber man kann sie 
so ordnen, dass sie eine grosse Reihe von 
Phasen einer fortschreitenden Entwicklung 
zeigen, in welcher die Sonne etwa in die 
Mitte rangiert. 

Ganz unähnlich irgend einem Teil des 
Sonnensystems sind jene Nebelmassen, in 
denen der ältere Herschel den feurigen Nebel 
oder das leuchtende Fluidum sah, aus denen, 
wie er glaubte, sich Himmel und Erde lang¬ 
sam gebildet hätten. — Spätere Astronomen 
kamen dazu sie nach den Enthüllungen von 
Lord Rosse’s Teleskop als grosse äussere 
Milchstrasse anzusehen, als kosmische Sand-, 
häufen, die zu entfernt seien, um in einzelne 
Sterne aufgelöst zu werden. ~ Im Jahre 1864 
richtete der Schreiber dieses das Spectroskop 
auf sie; die hellen Linien, die das Auge sah, 
zeigten in einer Reihe von Fällen, dass die Licht- 
juellen glühende Gase seien. So stellte er 
diese Himmelskörper wieder an ihren richtigen 
Platz und zeigte, dass sie höchst wahrscheinlich 
nn frühes Entwickelungsstadium im Leben der 
Gestirnedarstellten. Zu demglänzendenWasser- 
stoflF, der nachgewiesen wurde, fügten spätere Be¬ 
obachtungen noch einige andere Stoffe, insbe¬ 
sondere das neue Element Helium. In gleicher 
Weise zeigten die räthselhaften Kometen, die 
seit undenklichen Zeiten so oft die Menschheit 
durch ihr plötzliches Auftauchen und ihre wun¬ 
derbare Form erschreckt hatten, in H u g g i n s 
Observatorium ein Spektrum, wie es der Kohlen¬ 
stoff am unteren Ende einer Kerze giebt. 
Trotz der Enthüllungen durch das Spectroskop 
und der Entdeckung von engen Beziehungen 
zwischen einigen Kometen und entsprechenden 
Meteorschwärmen würde es voreilig sein, 
schon jetzt die Zusammensetzung der Kometen 
und ihr eigentümliches Verhalten genau er¬ 
klären zu wollen. 

Die Methoden der Astrophysik basieren 
auf der Vorbedingung, dass sich das Licht 
der Himmelskörper durch Prismen oder durch 
Gitter zerlegen lässt, so dass seine Bestand¬ 
teile unter gleichen Bedingungen mit dem 
Licht bekannter Stoffe, verglichen werden 
können, die durch Erhitzen oder elektrische 
Entladung zum Leuchten gebracht werden. 
Die Sterne sind sehr lichtschwach und man 
muss deshalb, um das Licht besser auszu¬ 
nutzen, ein möglichst grosses Fernrohr an¬ 
wenden. Da die Sterne zu entfernt sind, um 
eine irgend bemerkbare Grösse zu zeigen, 
so dehnt sich ihr Bild auch bei der Vergrös- 
serung nicht aus und das Lichtsammlungs¬ 
vermögen entspricht direct dem Flächen¬ 
inhalt der Objectiv-Linse oder dem Spiegel 
des Fernrohres. — Nachdem wir so ein 
' helles punktartiges Bild eines Sternes ^er¬ 


halten haben, müssen wir die Methode be¬ 
trachten, vermittels deren man das Licht in 
einem Spectrum zerlegt. — Der einfachste 
Weg, den schon Fraunhofer angab, besteht 
darin, dass man ein grosses Prisma mit kleinem 
Brechungswinkel vor das Objectiv stellt; dann 
giebt am Brennpunkt des Teleskops jede 
Lichtsorte ihr eigenes, charakteristisches Bild, 
und diese Bilder ordnen sich nach ihren 
Wellenlängen von rot nach violet und bilden 
so das Spectrum des Sternes. — Bei dieser An¬ 
ordnung wird wenig Licht verloren, und die 
Spectra sind hell, wenn man eine photograph¬ 
ische Platte verwendet, kann man bei einer 
Exposition ein Feld mit Sternspektren erhalten. 
Pickering benutzte diese Methode mit Er¬ 
folg, um einen Katalog von Sternspektren 
herzustellen. — 

Wenn jedoch sehr genaue Messungen und 
ein direkter Vergleich von Sternlinien mit 
Linien der Spectra von Stoffen, die der Erde 
eigenthümlich sind, erforderlich sind, dann 
muss man das Bild des Sternes auf den Spalt 
eines vollständigen Spectroscops fallen lassen, 
das fest mit dem unteren Ende des Telescops 
verbunden ist. Durch einen geeigneten kleinen 
Spiegel oder ein Reflexionsprisma kann man 
Licht von Flammen oder elektrischen Ent¬ 
ladungen gleichzeitig auf denselben Spalt 
fallen lassen und so die beiden Spectra mit 
dem Auge vergleichen oder auf derselben Platte 
photographieren. 

Ausser den Kenntnissen von der Chemie 
der Himmelskörper, die wir der Astrophysik 
verdanken, öffnen uns ihre Methoden neue 
Wege innerhalb der Grenzen der älteren 
Astronomie. Durch keine direkten astronom¬ 
ischen Methoden konnten die Annäherungs¬ 
oder Entfernungsbewegungen der Sterne 
entdeckt, noch weniger aber gemessen werden. 
Ein Körper, der direkt auf uns zukommt oder 
sich von uns entfernt, scheint still zu stehen; 
auch aus dem Wechsel der Grösse oder 
Helligkeit kann bei den Sternen ein Beobachter 
während seiner relativ kurzen Lebenszeit 
keine Anhaltspunkte erhalten. — 

SclK)n 1840 betonte Doppler, dass das 
gleiche Prinzip, durch welches er gezeigt hatte, 
dass ein Ton höher oder tiefer erscheint, 
wenn die Tonquelle sich dem Ohr nähert oder 
sich von ihm entfernt, auch auf das Licht 
anwendbar ist; doch war seine Ansicht über 
den Farbenwechsel eines Sternes als Ganzes 
nicht richtig. Einem Schwimmer, der von der 
Küste wegschwimmt, erscheint jede Welle 
kürzer und er durchmisst in einer gegebenen 
Zeit eine grössere Zahl der auf ihn zukommen¬ 
den Wellen, als wenn er im Wasser still stände. 
Ebenso geht es einem Beobachter auf der Erde 
mit dem Licht sich nähernder Sterne, da man 




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6 


Riemann, Die Musik seit Wagner. 


das Licht ja auch als eine Form von Wellen¬ 
bewegung ansieht. — Sobald man daher die 
Linien bekannter Stoffe in den Spectra der 
Himmelskörper wiedergefunden hatte, war 
man im Besitz eines zuverlässigen Vergleichs¬ 
bildes, in dem kleine Abweichungen der 
Linien der Himmelskörper, nach blau die 
Annäherung, nach rot die Entfernung des 
Sternes von der Erde bedeuten, die bis auf 
weniger als zwei Kilometer in der Sekunde 
gemessen werden konnte. — Die erste 
Anwendung dieses Prinzips wurde 1868 in 
meinem Observatorium gemacht und 1871 
von Vogel in Deutschland bestätigt. Ver¬ 
mittels der Photographie hat Prof. Vogel 
am astrophysikalischen Observatorium in Pots¬ 
dam in den letzten Jahren die Bewegung von 
circa 50 Sternen mit einer Genauigkeit von 
etwa 2 Kilometer per Sekunde bestimmt. 


Ebene ihrer Bahn nicht senkrecht zur Ge¬ 
sichtslinie steht. — 

Wie der Schreiber dieses an anderer Stelle 
sagte: „giebt es vielleicht keine Wissenschaft, 
in der die nackte Feststellung der erzielten 
Resultate, so mächtig die Einbildungskraft 
wecken und so deutlich die naliezu grenzen¬ 
lose Macht des menschlichen Geistes darthun 
kann. Vermittelst seines Lichtes allein, die 
chemische Zusammensetzung eines weit ent¬ 
fernten Körpers zu analysieren; im Stande zu 
sein, aus seinem jetzigen Zustand auf seine 
Vergangenheit und Zukunft zu schliessen, 
bis auf weniger als zwei Kilometer per Se- 
Ijunde, die sonst unsichtbare Bewegung zu 
messen, die er auf uns zu, oder von uns weg 
macht, noch mehr, selbst das, was für unser 
Auge Dunkelheit ist, vermittels der photo¬ 
graphischen Platte, sichtbar zu machen, und aus 




Verdoppelung der K-Linie im Spektrum des Doppel-Sternes ^-Aurigae. 

1) Zeigt die Linie einfach, 2) zeigt sie doppelt. (Nach einer Aufnahme von Pickering in Cambridge Mass.) 


Durch diese Anwendung des Prismas ver¬ 
mögen wir in einigen Fällen viel eher dicht 
benachbarte Doppelsterne zu trennen, als mit 
irgend einem Fernrohr, das ein Optiker je 
construiren konnte. 

Doppelsterne, die man im Fernrohr 
nicht getrennt sieht, geben ein ein¬ 
ziges zusammengesetztes Spectrum. Wenn 
sich nun die Sterne um ein gemeinsames 
Centrum bewegen, werden sich die ^-inien 
des einen Sterns periodisch gegen die gleichen 
Linien des andern Sterns in dem beiden ge¬ 
meinsamen Spectrum verschieben, und solche 
Linien werden periodisch doppelt erscheinen. 
Selbt wenn einer der Sterne relativ dunkel 
ist, so wie bei Algol und Spica der Fall, 
zeigt die periodische Verschiebung der Linien 
des hellen Sterns gegen die Linie eines 
irdischen Spectrums, dass der Stern eine Kreis¬ 
bewegung hat; denn da das Paar sich um sein 
gemeinsames Centrum dreht, nähert sich der 
helle Stern zu Zeiten der Erde und entfernt 
sich zeitweilig; Voraussetzung ist, dass die 


Schwingungen, die für unser Sehorgan nicht 
wahrnehmbar sind, die Stadien zu enthüllen, 
welche die Sterne in ihrer langsam fort¬ 
schreitenden Enwickelung durchlaufen mussten 
— wahrlich das Zeugnis solcher Grossthat 
ist wert, als das wissenschaftliche Epos unseres 
Jahrhunderts angesehen zu werden“. 


Die Musik seit Wagners Heimgang. 

Ein Totentan* von Dr. Hugo Rierann. 

Fürwahr Kronos „sputet sich“, und weit¬ 
hin hallt sein rasselnderTrott. Zu einer grossen 
Totenschau wird der rückwärts gerichtete Blick 
und es schaudert das Herz ob der reichen 
Ej*nte, die der grosse Sensenmann in der kurzen 
Spanne Zeit von noch nicht drei Lustren ge¬ 
schnitten hat.*) 

•) Von hervorragenden Musikern starben seit 
Wagners Tode {13. Februar 1883): Franz Lis2t(i886), 
i Franz Lachner (1890), Robert Franz (1892), Ferdi- 
1 nand Hiller (1885), Hans von Bülow (1894), Char- 


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Riemann, Die Musik seit Wagner. 


7 




Einer nach dem andern sinken sie da¬ 
hin, die letzten Zeugen einer grossen Zeit und 
unsicher sucht das Auge unter den Lebenden 
nach Ersatz für die Dahingegangenen. „Berg¬ 
ab gleitet der Weg“ — d^cadence — Wer 
wollte es leugnen? wir sind Über einen stolzen 
Gipfel gestiegen und werden vielleicht noch 
lange Zeit das Grosse, dem wir Bewunder¬ 
ung zollen müssen und gern zollen, hinter 
uns zu suchen haben. 

Nicht als ob das musikalische Leben stockte 
— gewiss nicht! Vielleicht ist zu keiner Zeit 
soviel „Musik gemacht worden“, wie heute. 
Die Konzertflut der grossen Städte ist über¬ 
wältigend und Schwärme von Virtuosen, Sänger 
und Sängerinnen, Clavierspieler und Clavier- 
Spielerinnen, Geiger und Geigerinnen fallen 
wie Heuschrecken auch über die kleineren Land¬ 
städte her und grasen das letzte Hälmchen 
ab. Aber wenn wir ehrlich sind, müssen 
wir uns sagen, dass unserem Musikleben die 
heilige Weihe, die innere Wahrheit und Not¬ 
wendigkeit fehlt. Wir produzieren krampfhaft 
und reproduzieren krampfhaft, alles ist über¬ 
hastet, nervös überreizt, ungesund. Die 
keusche Muse der intimen Hausmusik sitzt 
vergessen im Winkel und verhüllt ihr Haupt; 
ihre Altäre stehen verlassen und ihre Priester 
leiden Not. Alles verschlingt das Interesse 
an den grossen Schaubühnen, und allen andern 
voran absorbiert die Oper mit ihren Neben¬ 
sprösslingen Operette und Ballett, was von 
materiellen und geistigen Kräften verfügbar 
ist. Nicht nur die Garten- und Strassenmusiken 
der Militärkapellen nehmen ihr tägliches Brod 
vom Theater, nein, selbst die Programme der 
höchstangesehenen Konzertinstitute werden 
mehr und mehr mit Ouvertüren und Opern¬ 
bruchstücken* durchtränkt, und was der Dilettant 
zu Hause sündigt, ist selten nicht vom Theater! 
Es wird Zeit, sich das einmal ernstlich klar 
zu machen; denn dieses Ueberwuchern der 
Bühnenmusik muss schliesslich für unseren 
Kunstgeschmack verhängnissvoll werden. 

Nur zu oft ist die Empfindung der Bühnen¬ 
gesänge nicht echt, sondern gemacht, wo 
nicht gar karrikiert; sicher ist sie immer in 
gewissem Grade zur Schau gestellt, meist 
aufdringlich, manieriert, mit einem Worte: 


les Gounod (1893), Anton Rubinstein (1894), Am- 
broise Thomas (1896), Peter Tschaikoffsky (1893), 
Anton Bruckner (1896), Victor NessIeriiSro), Franz 
Abt (1885), Imanuel Faisst (1894), Alex. Macfarren 
(1887), Adolf Henselt (1889), Carlo Gomez {1896), 
Jean Becker (1884b Franz Commer (1887), Gustav 
fcngel (1895) Alex. Faminzin (1896) Benjamin Godard 
(18^, W. Langhans (1892), Carlo Pedrotti {1^3), 
W. Kust (1892), dazu die Musikgelehrten Philipp 
Spitta (1894), C. F. Pohl (1887), Edm. Vanderstraaten 
(1895), Rud. Westphal (189a), Hermann Helmholtz 
(18^) etc. etc. Jam satisl 


Pose. Das Dramatische ist daher in gewis¬ 
sem Grade direkt gefährlich für das rein 
Lyrische, Naive, Spontane, und der Rückgang 
des Sinnes für feinere Hausmusik, reine Kam¬ 
mermusik ist ganz entschieden auf das Ueber- 
handnehmen der Opern- und Operettenmusik 
auch im Hause zurOckzuführen. Dass den 
Staat eine Mitschuld an diesem stetigen An¬ 
wachsen des Interesses für die Oper trifft, 
steht ausser Zweifel; man gehe nur einmal nach, 
wie seit lange die Opernkomponisten es sind, 
denen Auszeichnungen und Ehrenstellen zu¬ 
fallen, und wie der Staatssäckel, wenn er für 
Kunstzwecke geöffnet wird, immer zuerst oder 
ausschliesslich die Operntheater bedenkt, an¬ 
statt diejenigen zu fördern, welche das hei¬ 
lige Feuer bewahren. 

Neben dem Opernhaften kommt heute nur 
das Virtuose zur Geltung, dessen Verwand¬ 
schaft mit jenem auf der Hand liegt, da es in 
noch ausgesprochenerem Maasse Schaustellung, 
Pose ist und direkt darauf ausgeht, zu blenden. 
Der Schein ist das eigentliche Element des 
Virtuosenhaften; nicht um einen wertvollen 
Kern ist es zu thun, sondern um eine glänzende 
Schale. Alles Virtuose ist theatralisch. So¬ 
gar das äussere Gebahren des Virtuosen 
spielt für den heutigen Konzertbesucher eine 
Rolle, und schwerlich möchte eine Unsicht¬ 
barmachung des Spielers oder gar der Sängerin 
nach Art des tief gelegten Bajrreuther Or¬ 
chesters Anklang finden. Wieweit sogar den 
Vorzügen der persönlichen Erscheinung der 
Vortragenden Künstler ein Anteil an den 
Erfolgen im . Konzertsaale beizumessen ist, 
wollen wir nicht weiter erörtern; auch hierin 
liegt ein Moment, das mit den höchsten Idealen 
der Kunst herzlich wenig zu schaffen hat. 

Ach, der Tanz um das goldene Kalb ist 
zu verführerisch! Solange nicht das Publikum 
von den beiden Tagesgötzen Theater und 
Virtuosentum abgewendet und für den prunk¬ 
losen Dienst der keuschen Musen wieder ge¬ 
wonnen werden kann, ist es leider nur all- 
zubegreiflich, dass Komponisten wie ausübende 
Künstler mit dem günstigen Winde segeln, 
der sie goldenen Bergen zuftlhrt. Nur ein Opern¬ 
komponist, der Erfolg hat, oder ein Virtuose, 
der durchschlägt, kann heute schnell „zu-et¬ 
was kommen“; aber wer eben einigermassen 
eine Melodie harmonisieren kann, glaubt auch, 
das Zeug zu einem Operhkomponisten zu be¬ 
sitzen und jeder Sänger und Spieler träumt 
eine grosse Carri^re. Die Belehrung kommt 
meist zu spät, und wer einmal den falschen 
Götzen geopfert hat, findet schwer wieder 
den Weg zum Tempel der Wahrheit zurück. 

Dass Wagners glänzende Erscheinung 
diese Entwickelung der Dinge beschleunigt 




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8 


Riemann, Die Musik seit Wagner. 


hat, steht ausser Zweifel; ihm dafür eine 
Schuld zuzuschieben, wäre kindisch. Seine 
ganze Eigenart wies ihn gebieterisch auf die 
Oper hin, und in richtiger Erkenntnis seiner 
speziellen Begabung für das Dramatische be¬ 
schränkte er sich ausschliesslich auf diese 
Sphäre wie kaum ein Komponist vor ihm. 
Der verhängnissvolle Irtrum der Epigonen, 
welche glaubten, es ihm nachthun zu können, 
darf ihm nicht zur Last gelegt werden: die 
Schuld trifft Lehrer, welche es nicht verstan¬ 
den, den Schülern andere Wege zu zeigen, 
welche für sie gangbar sein konnten, ihnen 
klar zu machen, dass Wagner keine Alltags¬ 
erscheinung war, sondern ein exemptes Genie, 
wie ihrer ein Jahrhundert höchstens ein paar 
hervorbringt. Freilich war es nicht Wag¬ 
ners Beispiel allein, was die jüngeren mit 
unwiderstehlicher Gewalt zur Bühne zog; 
neben seinen Triumphen auf dem Gebiete 
der ernsten Kunst, des grossen Stils, lockten 
die leichten Siege der volkstümlich gewor¬ 
denen Karrikatur-Operette, der leichtgeschürz¬ 
ten Muse, die zuerst von Paris aus (Herv6, 
Offenbach, Lecoq) dann aber mit weniger 
Witz und mehr Behagen von Wien aus 
(Gen^e, Strauss, Millöcker) die Welt be¬ 
herrschte. Dem jungen Komponisten, dem der 
Versuch, in Wagners Fusstapfert zu treten, 
fehlschlug, blieb immer noch die Aussicht, 
auf dem bequemeren Trottoir der mit Em¬ 
pfindungen nur spielenden oder kokettieren¬ 
den Operette die herumliegenden Goldstücke 
zusammenzufegen. Mancher hat diesen Schritt 
gethan, ohne den gehofften Erfolg gethan, 
von dem es keine Umkehr gibt, und verstreut 
über ganz Deutschland zürnen Schaaren verun¬ 
glückter Opern- und Operettenkomponisten. 
Am bemitleidenswertesten sind aber diejenigen 
unter ihnen, welche trotz Wagner im alten Ge¬ 
leise der Oper, wie es vor Wagner breit 
ausgefahren war, sich zu halten versuchten 
und natürlich schlecht fuhren! Welche Un¬ 
summe von Arbeit ist in ihren ungezählten 
dickleibigen Partituren nutzlos vergeudet! Wie 
viele bittere Enttäuschungen wären guten, 
tüchtigen Künstlern erspart geblieben, hätten 
sie, anstatt dem Phantom des Bühnenerfolgs 
nachzujagen, ihr ehrliches Streben in den 
Dienst bescheidenen häuslichen Musizierens 
gestellt! Eine Zeit lang schien es fast, als 
wären unter diesen Opern alter Observanz 
einige Glückskinder. Aber auch Nesslers 
„Trompeter“ ist heute schon begraben und 
hat den Komponisten kaum überlebt. Was 
uns sonst die Opernbühne brachte ist über 
ein paar Aufführungen mit sogenannten Acht¬ 
ungserfolgen, d. h. anerkennendem • Applaus 
des mühsam herbeigezogenen Publikums und 
dankender Quittung der Kritik für die jahre¬ 


lange sauere Arbeit des Komponisten nicht 
hinausgekommen. 

Der Mascagni- und Leoncavallo-Enthus¬ 
iasmus, welcher in der Einaktigkeit und bäuer¬ 
lichen Derbheit der Handlung plötzlich ein 
unfehlbares Mittel gegen den Misserfolg ge¬ 
funden zu haben wähnte, ist elend versandet 
und die grossen Kritiker, welche, begeistert 
Tusch geblasen hatten, schämen sich in ihrem 
Kämmerlein, \^enn sie es nicht verstanden 
haben, rechtzeitig elegant zu schwenken und 
ihre Düpierung lächelnd einzugestehen. 

Wagners Kunst herrscht heute vollständig 
und unbestritten und lässt nur für die un- 
verwelklichen, nie gealterten Hauptwerke der 
grossen Klassiker (Mozart, Beethoven, Weber) 
neben sich Raum. Sein Ziel hat Wagner 
vollständig erreicht, er hat die deutsche Kunst 
von fremdländischem Wesen gründlich ge¬ 
reinigt und jedwede Fremdherrschaft mit 
eisernem Besen weggefegt, die der Franzosen 
sogut wie die der Italiener. Kaum dass ein 
par Rossinische und Verdische Opern sich 
noch einigermassen halten, was bezüglich der 
ersteren sogar vielleicht zu bedatiern ist; 
denn der „Barbier“ w'enigstens ist unsterblich. 

Nicht durch Wagners Reform betroffen 
wurde die französische komische Oper, deren 
Edelsteine (Aubers „Postillon“ und Boieldieus 
„Weisse Dame“) in Deutschland nur wenige Sei¬ 
tenstücke gefunden haben — aber niciit nach, 
sondern vor Wagner (Lortzings „Wildschütz" 
und Nicolais „Lustige Weiber“) und daherwohl 
so bald nicht veralten werden. Die Versuche 
neuerer Komponisten, das so lange brach 
liegende Feld neu zu bearbeiten, sind leider 
fehlgeschlagen, da sie ohne es zu wollen, 
sich jedesmal entweder nach der Seite der 
romantisch-lyrischen Oper oder aber der 
Operette verliefen. Die romantische Oper, 
aus welcher Wagner herausgewachsen, konnte 
wegen ihrer urdeutschen Natur nicht in die 
Rumpelkammer wandern; manche ehemaligen 
Prunkstücke sind freilich zu etwas altvaterisch 
dreinschauendem Hausrat geworden (Spohrs 
„Jessonda“, Marschners „Hans Heiling“), 
doch nicht ausser Dienst gestellt. Die Neben¬ 
schösslinge, welche die deutsche Romantik 
im Auslande getrieben, Gounods „Faust“ und 
Thomas’ „Mignon“ gelten noch als bei uns 
heimatsberechtigt. Bizets „Carmen“ darf ich 
wohl als Ausnahme hier anschliessen, ob¬ 
gleich vielleicht der Reiz Carmens zum Teil 
in der Verwandtschaft mit der Operette liegt. 
Sicher verdankt Carmen sogut wie der jüngste 
„Treffer“, Humperdincks „Hänsel und Gretel“ 
seinen Erfolg der Übersättigung mit Wag¬ 
ners schwerer Speise; was sich mit Blitzes¬ 
schnelle in alle deutschen Herzen sang, war 
nicht Humperdincks Erfindung, waren viel- 


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Riemann, Die Musik seit Wagner. 


9 


mehr Perlen des alten deutschen Kinderliedes, 
die er geschickt zu fassen verstanden hat. 
Ich wünsche Hänsel und Grctel langes Leben, 
aber keine Nachfolge. Den Arbeiten der 
kleinen Wagnerianer, welche Wagner zu 
„Oberwagnern“ versuchen, kann man mit 
Interesse und Teilnahme Zusehen; der Geistes¬ 
erbe Wagners mag schon geboren sein, 
aber wir kennen ihn noch nicht! 

Wagners Einfluss ist, wie vorauszusehen 
war, nicht auf die Bühne beschränkt geblie¬ 
ben. Schon bei seinen Lebzeiten wirkte er 
mächtig auf die Entwicklung einer neuen 
Richtung der Instrumentalmusik, die inBer- 
lioz und Liszt ihre ersten Repräsentanten 
fand. Die von Wagner herrührende Idee, 
dass in Beethovens neunter Symphonie die 
absolute Musik sozusagen ihr Testament ge¬ 
macht und ihre Erben eidlich verpflichtet 
habe, auf eine Sonderexistenz zu verzichten 
und für alle Zeiten eine Vergesellschaftung mit 
der Poesie einzugehen, wurde zum Dogma er¬ 
hoben durch die Programmmusiker, welche in 
aller Musik, die nicht einen bestimmten poe¬ 
tischen Vorwurf auszudeuten unternimmt, ein 
leeres Kombinationsspiel erblicken zu müssen 
glauben. Ein trauriger Irrtum, der manche 
Monstruosität zu Tage gefördert hat, da 
übrigens tüchtig veranlagte Musiker in dem 
Drange, modern zu sein und mit der Zeit 
fortzuschreiten, Werke produziert haben, 
welche das vorangestellte Programm zu ver¬ 
fehlten stempelt, während sie vielleicht gutes 
ja vortreffliches hätten leisten können ohne 
diesen selbst gewählten unkünstlerischen 
Zwang, über jede Note begrifflich Rechenschaft 
geben zu sollen. Dieser dem Wesen der 
musikalischen Kunst direkt widersprechende 
Zwang unterbindet einer gesund strömenden 
Phantasie die Adern und hebt die Spon¬ 
taneität des Schaffens geradezu auf. Nur wenige 
Musiker besitzen zudem eine zulängliche ästhe¬ 
tische Bildung, um auch nur die Grösse des 
Missverhältnisses zu begreifen, welches 
zwischen einem die höchsten Probleme an¬ 
rührenden Dichterwort und ihrer dasselbe 
auszudeuten bestimmten Musik besteht. In 
sehr vielen Fällen liegt eine maaslose Über¬ 
hebung darin, dass der Musiker die durch 
Jahrhunderte in mühevollem Ringen- ge¬ 
schaffenen Formen, deren innere Logik und 
universelle Berechtigung ausser Zweifel steht, 
ignorieren zu dürfen- glaubt, nicht um durch 
Vernunftschlüsse oder künstlerischen Instinkt 
analoge neue zu finden, sondern um bewusst 
in der Musik formlos zu sein, wähnend, dass 
die Logik der Programmdichtung von dem 
Ansprüche auf musikalische feste Gestaltung 
dispensiere. 

Aus den Werken mit Programm hat aber 


das dramatische Gebahren der musikalischen 
Diktion in der Gestalt leidenschaftlicher In¬ 
terjektionen, plötzlicher Ausbrüche, jähen 
Verstummens, angstvollen Bebens, der selbt- 
verständlichen, seit Jahrhunderten den Kompo¬ 
nisten geläufigen Mittel der Illustration des 
Dichterworts in der Oper, dem Oratorium, 
der Cantate und dem Liede, aucn in die 
absolute Musik seinen Einzug gehalten, und 
selbst die Kammermusik wird mit Werken 
überflutet, deren theatralischer Zuschnitt nicht 
zu verkennen ist. Die Komponisten schämen 
sich wohl gar, Themen hinzustellen, die wirk¬ 
lich ein Gesicht haben, da die in der Kritik 
si^ immer breiter machenden Vertreter des 
vorgeblichen Fortschritts Klarheit thema¬ 
tischer Gestaltung und folgerichtiger Modulation 
als Plattheit brandmarken. 

Hans V. Bülow, auch einer der grossen 
Toten der letzten 15 Jahre, ehemals einer 
der leidenschaftlichsten Vorkämpfer der Pro¬ 
grammmusik, kam in späteren Jahren immer 
mehr von dieser zurück, führte Liszt’sche 
Werke nur noch mit halbem Widerwillen 
auf und glaubte auch, wenn er einen ge¬ 
waltig dreinschlagenden Slawen oder einen 
prickelnden Franzosen vorführte, einer Art 
Entschuldigung zu bedürfen, wie z. B. „Das 
Werk hat wenigstens Schneid“, oder „Es hat 
doch Esprit.“ Sein offenes Bekenntnis lautete: 
„Je älter ich werde, desto konservativer werde 
ich“. Offenbar kam ihm das innerlich Unwahre, 
Gemachte der ganzen Richtung der Programm¬ 
musik immer mehr zu Bewusstsein. Hatte 
er doch selbst als Komponist von „Nirwana“ 
und „Des Sängers Fluch" Gelegenheit ge¬ 
habt, das Proton pseudos, die grosse Urlüge 
zu verstehen, die darin liegt, wenn ein Kom¬ 
ponist es unternimmt, Vorwürfe, die der 
Dichter nur vag umschreiben kann, detail¬ 
liert auszudeuten. 

Unbarmherzig hat aber der in die neue 
Richtung gedrängte Zeitgeschmack diejenigen 
hinweggespült, welche halb mitzumachen und 
zu vermitteln versuchten. Raff, Rubinstein, 
Bruckner sind daran gescheitert; Raff und 
Rubinstein, indemsieProgrammmusik schrieben 
und doch die alte Form festhielten, Bruckner, 
indem er mit Herübernehmen des neuen in¬ 
strumentalen Kolorits allein auszukommen 
suchte (Verstärkung des Blechkörpers), gegen 
welches gerade Raff sich vielleicht zu seinem 
Schaden abwehrend verhielt. Alle drei hielten 
die alte Form fest, aber was sie in die alten 
Schläuche zu füllen hatten, erwies sich nicht 
als der Wein,^der mit dem Alter besser wird. 
Raff erscheintjuns schon heute blass, matt, 
fadenscheinig,J'Rubinstein unordentlich, ver¬ 
worren, Bruckner grobdrähtig, ungeschlacht; 
alle drei aber stehen auf dem Repertoire der 


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IO 


Berg, Kritik. 


Konzertgesellschaften mehr und mehr zurück 
gegen die ganz offenen Programmkomponisten 
ohne Reserve mit allem Apparat moderner In¬ 
strumentierung, denen man aber darum keines¬ 
wegs ein längeres Leben prophezeihen kann. 
Denn diese sind nur jetzt die Bestreiter des 
Tagesbedarfs des modernen verwöhnten Pub¬ 
likums,dem nichts zu sehr gewürzt, nichts zu 
lärmend, nichts zu bunt ist; sie sind die 
Pleyel und Wanhal des ausgehenden neun¬ 
zehnten Jahrhunderts. Nicht die Häufung 
neuer Erscheinungen allein ist die Ursache 
der Buntscheckigkeit, des steten Wechsels 
unserer Konzertprogramme bezüglich der 
Werke lebender Komponisten, vielmehr ver¬ 
langt das Publikum von dieser Richtung, 
für die es teils durch die Opernmusik präpa¬ 
riert, teils durch eine systematisch arbeitende 
Kritik künstlich erwärmt ist, immer wieder 
andere Werke, an einer Wiederholung der¬ 
selben ist ihm nichts gelegen, da sie sich 
nicht in seinem Herzen festsetzen. Bewaffnet 
mit einem Programmbuch oder „MusikfOhrer“ 
dringen die geduldigen modernen Hörer all¬ 
wöchentlich durch das Gestrüpp einer An¬ 
zahl neuer symphonischen Dichtungen, und 
wenn sie sich glücklich hindurchgearbeitet 
haben, sind sie so reich wie vorher. 

So ist heute die Allerherrschaft des Thea¬ 
tralischen unbestritten und unbestreitbar. 
Selbst die Chorvereine können sich dem Banne 
nicht entziehen und wenden sich unter dem 
Drucke „fortschrittlicher“ Dirigenten mehr 
und mehr solchen Werken zu, die von Kom¬ 
ponisten entschieden moderner Farbe her¬ 
rühren ;Berlioz, Liszt, Bruckner drängen so¬ 
gar Mozart, Bach, Händel zurück, wobei 
immer Beethovens neunte Symphonie als 
Stumibock benutzt wird. Max Bruch, und 
gar Heinrich Hofmann, Georg Vierling, Jo¬ 
seph Brambach werden an die Wand ge¬ 
drückt. 

Das Publikum an die Militärmusik und 
Wagner gewöhnt, findet in den ihm für die 
lieben alten untergeschobenen Werken den 
modernen Blechglanz und ist zufrieden. Frei¬ 
lich wenn man nicht die Hymnen der im 
Strome schwimmenden Kritik, sondern die 
Stimmendes Publikums im einzelnen belauscht, 
so wird man mit Genugthuung inne, dass der 
Sieg der Modernen doch nur ein Scheinsieg, 
dass er eine Seifenblase ist, die eines Tages 
zerspringen muss, wenn sie zu sehr gebläht 
wird oder ein gesunder Lufthauch sie trifft. 
Die Freude an Haydn, Mozart, Beethoven ist 
noch ganz und ungeschwächt die alte, und 
der reine Wein Händelscher und Bachscher 
Musik ist den besseren Elementen ein wahres 
Labsal nach de» berauschenden Mischgeträn¬ 
ken der Modernen. Vielleicht ist die Zeit 


nicht mehr ferne, wo in Städten, die noch 
vor kurzem als hinter der Kultur zurückge¬ 
blieben verschrieen wurden, sich „Vereine 
zur Pflege klassischer Musik“ bilden werden. 

Eine starke Eiche nur wächst unbeirrt 
durch den Sturm, der ihre Zweige schüttelt, 
fest und beharrlich weiter auf sicherem 
Grunde, starke Wurzeln in die Tiefe und 
Breite entsendend, sodass kein Orkan sie zu 
werfen vermag. • Ein Meister lebt,'der weder 
der Irrlehre Glauben schenkte, dass alle 
Musik ohne den Rückhalt eines poetischen 
Geradehalters rückenschwach sei, poch auch 
der anderen neuen Weisheit vertraute, dass 
die Güte einer Partitur von der Anzahl der 
über einander gestellten Systeme abhänge und 
der Wert einer Steigerung von der Wind¬ 
stärke ihres Fortissimo: und dieser Eine gibt 
uns durch die Thatsache, dass auch die al¬ 
lermodernsten Kapellmeister nicht um ihn 
herum können, und dass man seine Werke 
wieder zu hören verlangt, weil man sie 
immer lieber gewinnt, je besser man sie 
kennt, die sichere Gewähr, dass die reine 
Musik, die nichts sein will als Musik, ihre 
Wirkung noch nicht eingebüsst hat und sie 
auch in alle Zukunft behalten wird. Mit 
seiner fast feindseligen Abwehr alles Thea¬ 
tralischen und Virtuosenist Johannes Brahms 
das notwendige Komplement der Wagnerischen 
Kunst und die einzige selbständige und wirk¬ 
lich bedeutende Erscheinung in dem Nebel¬ 
streifen, den der Komet hinter sich her zieht. 


Kritik. 

Von Leo Berg, Berlin. 

Die Kritik sitzt heute eingeklemmt zwischen 
der strengen Wissenschaft und der Repor¬ 
terei und droht bald gänzlich erstickt zu 
werden. 

Gibt es noch eine Kritik? d. h. eine freie, 
schöpferische, in sich selbst beruhende und 
durch sich selbst interessierende Kritik? Ich 
will hier nicht den schlechten Künstlern 
ihr Herz erleichtern, indem ich auf die Kritik 
schimpfe. Geschimpft ist nun genug auf 
diese Institution, aber gerade dimch das 
Schimpfen ist sie noch mehr herunterge¬ 
kommen. Denn indem man auf sie schimpft, 
bestimmt man schon ihre Stellung, macht 
man sie abhängig, drückt man sie herunter. 
Diesen Herrschaften ist der Kritiker über¬ 
haupt nur noch der Geschäftsstörer. Was 
ich hier ausführen will, das ist etwas ganz 
anderes, das ist etwas, das sich die Wis¬ 
senschaft schon lange angemasst, und die 
Kunst jetzt, und gerade mit Hülfe der Kri¬ 
tik, durchzusetzen sich bemüht, nämlich das 
Recht auch der Kritik auf sich selbst. 


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Berg, Kritik. 


II 


Gibt es noch eine Kritik? Gibt es noch 
ausser der Philologie und der Reporterei 
von Lokalblättern eine Untersuchung von 
Werken? Hat ein Werk, das nicht durch 
Alter geheiligt ist oder durch den Beifall des 
vielköpfigen Ungeheuers, Publikum genannt, 
das Recht ernst genommen zu werden ? Oder 
hat noch ein Kritiker das Recht, ein Werk, 
das ihm interessant genug erscheint, gleich¬ 
gültig ob sich die Menge dafür interessiert 
oder die Fachgelehrten ihren Segen dazu 
geben, zu zergliedern, zur Basis ästhetischer, 
psychologischer oder technischer Untersuch¬ 
ungen zu machen? Es ist heute bereits ein 
Thema für Witzblätter, was Shakespeare, 
Göthe oder Schiller für Erfahrungen hätten 
machen können, wenn sie modernen The¬ 
atern ihre Dramen angeboten hätten. Aber 
man kann sagen, ein Lessing, Herder, 
Schlegel oder Tieck hätten heute auch 
nicht ein einziges Organ gefunden, welches 
sich für ihre Kritiken hergegeben hätte. 
Sicherlich hätten sie keine Leser gehabt. 
Denn das theoretische Interesse für die 
Kunst ist selbst bei den Künstlern beinahe 
auf den Gefrierpunkt gesunken. Damit 
sage ich noch etwas anderes: Wir haben 
keine Zeitungen, sondern nur noch Depeschen¬ 
bureaus. Es gibt nicht ein einziges Blatt in 
Deutschland, das, auf welchem Gebiete 
immer, selbständige Kritik übt. Sogar die Litte- 
raturorgane sind Nachrichtenblätter geworden. 
Man kann es auf Schritt und Tritt verfolgen, wie 
die Nachrichterei die Kritik verdrängt hat. 
Zunächst war es die Theaterkritik, die daran 
hat glauben müssen. Ein Kritiker, der sechs¬ 
mal in der Woche nächtlicher Weile sein 
Urteil abgeben muss über neue Dramen und 
die Leistungen der Schauspieler, noch ehe 
er sich des Eindrucks recht bewusst gewor¬ 
den, ist unzweifelhaft zum Reporter herabge¬ 
sunken, er sei, wer immer er sei. Denn wie 
es ein Gesetz der poetischen Ferne gibt, so 
gibt es auch ein Gesetz der kritischen Ent¬ 
fernung. Ein Kritiker, der sich nicht Zeit 
nehmen darf, hat sein vornehmstes Recht 
verloren. 

Der Theaterkritik ist die Buchkritik schnell 
genug nachgefolgt. Unsere Litteraturblätter 
konkurrieren jetzt in der Schnelligkeit. Wenn 
man wissen will, wie eine Zeitung sich zu 
einem neuen Buche stellen wird, hat man 
nur nötig, ein paar Tage das Blatt zu ver¬ 
folgen. Denn erscheint eine Kritik nicht so¬ 
fort, solange das Werk noch frisch, eine 
Neuheit, eine Aktualität ist, so kommt über¬ 
haupt keine mehr. Auch das tüchtigste Werk 
des vornehmsten Schriftstellers ist unwider¬ 
ruflich veraltet, einer Kritik unwert, wenn es 
sie nicht sofort gefunden hat. Und da das 


bei tüchtigen Werken nun einmal nicht mög¬ 
lich ist, so haben sie ihr Recht auf Kritik 
verloren. 

Dem Rechte auf Kritik aber steht ein 
Recht der Kritik gegenüber. Ist es schon 
so mit dem Rechte der Autoren auf Kritik, 
wie wird es erst mit dem der Kritik selber 
gehen, und da hier geradezu alles auf die 
Persönlichkeit der Wirkenden ankommt, also 
mit — dem Rechte der Kritiker. 

Das Recht des Kritikers I Der kann aber 
doch nur Pflichten haben. Das spricht die 
Einfalt der Künstler, die von Kritik nichts 
wissen, Reporterei mit Kritik verwechseln 
und meinen, jemand sei ein Kritiker, weil sie 
ihn allabendlich im Theater zu den Premieren 
sehen und am nächsten Tage unter seiner 
Chiffre ein paar elend stilisierte Worte über 
das Ereignis des Tages lesen. 

Ein Kritiker, der etwas leisten soll, be¬ 
darf genau so der persönlichen FreiheiteiT 
als der Künstler, denn auch die Kritik ist 
eine selbständige Schöpfung, die, wie eine 
Dichtung, wenn sie bestehen soll, ihren 
Wert in sich und nicht in den Gelegenheiten 
haben muss. Zunächst die Freiheit der Zeit, 
worin mir noch die Verständigeren bei¬ 
stimmen werden. Denn dass das Publikum 
nicht nur die Kunst, sondern auch die Kri¬ 
tik durch seine Sensationslüsternheit auf den 
Hund bringen kann, sieht man vielleicht schon 
ein. Aber es gibt noch andere Freiheiten, 
auf die der Kritiker halten muss, wenn e^ 
sich nicht selber preisgeben will. Und nicht 
die geringste und unwichtigste Freiheit ist 
die gegen das Werk, von dem er ausgeht. 
Ich möchte sagen, der Kritiker verhält sich 
zum Werke, wie der Dichter zu seinem Stoffe. 
Ein Dichter, der nicht irgendwie sich über 
seinen Stoff erheben kann, wird nie eine 
selbständige Bedeutung haben, nicht einmal 
eine formale, daran können alle naturalistischen 
Theorieen nichts ändern. Die Natur gesehen 
durch ein Temperament, heisst das Wahrheits¬ 
gesetz bei Zola. Aber ist nur das Tempe¬ 
rament darnach, dann wir-d es schon recht be¬ 
halten, auch gegen die Natur. Die Kunst 
des Dichters ist nicht zuletzt eine Kunst zu 
lügen, denn darnach heisst er. Man kann 
auch bei der Kritik nicht weiter gehen als 
zu sagen: Kritik ist das Kunstwerk noch 
einmal gesehen durch eine Individualität. 
Wo der Kritiker dies Recht auf Individuali¬ 
tät verwirkt hat, da muss er werden, was er 
geworden ist, ein Reporter. 

Mannigfaltig wie die Arten der Kunst, 
sind die Arten der Kritik. Vielleicht, ■ dass 
sich sogar ftir jede eine Analogie finden 
wird. Eher, dass es für den .Kritiker noch 
mehrere gibt, weil sein Objekt ja schon selbst 


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12 


Berg, Kritik. 


mehr Mannigfaltigkeit besitzt. Beim Künstler 
gibt es ein dreifaches Verhältnis: Das zu seinem 
Objekt und zu seiner eigenen Subjectivität 
und das von Objekt und Subjekt untereinan¬ 
der. Der Kritiker bringt eine neue Subjek¬ 
tivität hinzu, hat also ein sechsfaches Ver¬ 
halten. Danach ergeben sich für ihn noch 
einmal so viel Beziehungen als für den Künst¬ 
ler, der ja eben dadurch Künstler wird, dass er 
in eine neue Beziehung zu der Objektivität 
der Welt tritt und sich so von dem einfachen 
Sinnen- und Thatenmenschen unterscheidet. 

Der Kritiker muss also, so er nicht die 
Vorbereitungsschlacht für eine neue Kunst 
mitkämpft und die Waffen schmiedet, also 
nur Gehilfe der Kunst ist, die Stadien des 
Künstlers schon durchlaufen haben, d. h. 
er muss Künstler gewesen sein. Das sollte 
man eigentlich in Deutschland wissen, das 
doch den vornehmsten Dichter und den 
Vornehmsten Kritiker in einer Person hat. 
Zuweilen kann man sogar zweifelhaft werden, 
was Göthe eigentlich mehr war: Dichter 
oder Kritiker. Jedenfalls war der Kritiker in 
ihm stetiger. Und in kleineren Verhältnissen 
wiederholt sich das noch einmal bei Ludwig 
T i e c k, bei dem man noch zweifelhafter sein 
kann, was das ursprünglichere in ihm war. 

Wie es nicht die grossen Ereignisse der 
Weltgeschichte, sondern die kleinen Episoden 
sind, welche die Phantasie der Dichter be¬ 
feuern, nicht die Thaten des grossen Kaisers 
i^arl, sondern die Kämpfe einer kleinen 
Nachhut im Thale von Ronceval, so sind es 
auch nicht notgedrungen die grossen Werke 
der Kunst, sondern irgend welche anderen, 
die die Kritiker zu ihren Untersuchungen und 
Nachforschungen anregen. Und wie es dem 
Künstler gestattet sein muss, seine Stoffe zu 
benützen, wie und zu welchem Zwecke er 
immer will — auf welche Verschiedenheit 
doch eben die einzelnen Kunstrichtungen 
zurückzuführen sind — so muss auch dem 
Kritiker gestattet sein, die Werke zu benutzen, 
wie und zu welchem Zwecke er will. Im 
Kunstwerke sind die Thatsachen doch nur, 
was der Künstler daraus gemacht hat, in der 
Kritik aber ist das Werk nur, was der Kri¬ 
tiker daraus gemacht hat. Ob ein Kritiker 
sich dem Werke oder das Werk sich unter¬ 
ordnet, macht nur zweierlei Arten von Kri¬ 
tik, nicht aber ein Recht und ein Unrecht; 
ganz abgesehen davon, dass er sowohl das 
Werk als sich selbst einem höheren, wenn 
auch nur in der Einbildung höheren Dritten 
unterordnen kann, und das ist, was man ge; 
wöhnlich den Idealismus in der Kritik nennt. 
Dieses höhere Dritte kann die Kunst selber 
sein, der Staat, die Moral, die Kirche, die 
Gesellschaft, irgend eine Idee, wie das Gute, 


das Schöne, das Wahre. Aber es macht dem 
Kunstwerke keinen Unterschied, wem zu 
Liebe es vernichtet wird. Man kann höchs¬ 
tens sagen: je grösser der Moloch, dem es 
geopfert wird, um so tiefer fällt es in den 
Schlund. Vom kritischen Verstände aber kann 
man sagen: er ist es durch die Kunst, welche 
bei- und unterordnet. 

Einige Gattungen von Kritik haben sich 
freilich ihre Daseinsberechtigung schon er¬ 
kämpft, wenn auch nicht beim Publikum, das 
nur das nächtliche Handwerk der Reporter 
begreift. Aber man kennt die nachschaffende 
(rekonstruiernde) Kritik wenigstens an dem 
einen Beispiele der Hamlet-Kritik im „Wil¬ 
helm Meister“. Die Künstler schwärmen für 
die künstlerische Kritik, d. i. die Kritik des 
Verständnisses der künstlerischen Mittel, die 
dialektische Kritik rühmt man an L e s s i n g, 
die historische, d. h. das Begreifen aus den 
historischen Bedingungen, schufen die Ro¬ 
mantiker, den Franzosen verdanken wir die 
psychologische Kritik, Emil Zola ist ein 
Meister der analytischen Kritik, die idealistische 
Kritik schreibt sich von Schiller her, und 
für eine ethische, hygienische und naturwissen¬ 
schaftliche Kritik schwärmt heute alle Art von 
Philistern. Aber sobald irgend eines dieser 
kritischen Verfahren zum Prinzip erhoben wird, 
hat das einzelne Kunstwerk nur noch sekundäre 
Bedeutung. Die Kritik für das Publikum ist 
die Wahrscheinlichkeits-Kritik. Mit einer her¬ 
ausgehobenen Unwahrscheinlichkeit tötet man 
am leichtesten ein Werk, und eben darin 
liegt die Macht der Reporterei. 

Die w'esentliche Verschiedenheit wird durch 
die Stellung bedingt, die der Kritiker zur 
Kunst und der Zeit einnimmt. Ein sehr 
genussfähiger Kritiker wird die Ursachen der 
einzelnen Genüsse zu bestimmen versuchen, 
das wäre die Kritik des Epikuräers in der 
Kunst, gewöhnlich die Kritik des am feinsten 
gebildeten Teils im Publikum. Der Kritiker 
kann seinen Ausgang nehmen von der per¬ 
sönlichen, wie von der allgemeinen Wirkung, 
von der Form, vom Stoff, sogar von den 
praktischen Tendenzen, er kann den Künstler, 
er kann den Zuschauer zum Kriterium machen. 
Aber er kann sich auch skeptisch gegen ein 
einzelnes Werk oder eine ganze Richtung 
verhalten, vielleicht gegen die Kunst über¬ 
haupt, und er wird nach Kriterien allgemeiner 
und spezieller Art suchen; ein wenig wird 
dies immer die Aufgabe der Kritik sein, deren 
Wesen ist, wie ihr Name sagt, Kriterien zu 
schaffen. Es gibt auch eine Kritik der Ab¬ 
wehr, das war der Fall Leasings gegen 
den Wer‘th|er."'Als Mittel empfiehlt sich eine 
Idee. Denn durch eine Idee wird man heraus- 


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Berg, Kritik. 


13 


gehoben, wie aus der Welt der Erschein¬ 
ungen, so auch der Künste. 

Die Kritik als Richteramt ist nur eine 
Möglichkeit mehr; diejenige, welche das 
Publikum will, und durch welche sich die 
Künstler gedemütigt fühlen. Das war die 
Kritik Menzels. Man kann als Richter eine 
schöne Wirksamkeit üben; aber wer sich als 
Richter aufspielt, hat immer die Gerechtig¬ 
keit wider sich, und wenn er ein Fürst ist, 
auch sein Volk. Eine Kritik der Zweckmässig¬ 
keit mit Rücksicht auf ein vorhandenes, nicht 
befriedigtes, sowie auf ein übertriebenes Kunst¬ 
bedürfnis kann sehr vernünftig und wohlthätig 
sein; das war das kritische Motiv des vielge¬ 
scholtenen Gervinus aber auch Wilhelm 
Scherer erkennt es ausdrücklich in seiner 
Poetik an. Als Freiheitstnoiiv entzündet die 
Kritik noch am ehesten die Herzen des Volkes. 
Eine Kritik, die die Geister revolutioniert, ist 
auch immer eine befruchtende Kritik. — Der 
Kritiker kann sich aber auch die Rolle des 
Vermittlers zueignen, er kann seine Aufgabe 
darin finden, dem Publikum die Werke 
zu interpretieren, Ideen zu popularisieren, 
Gegensätze auszugleichen, Völker mit einander 
in Beziehung zu bringen. Das war Heines 
kritisches Verdienst und ist die Kritik 
Georg Brandes. Und wenn Einer, kann 
der Kritiker der rückwärts schreibende Histor¬ 
iker sein, der die Vergangenheit begreift 
und rechtfertigt durch die Gegenwart, z. B. 
inwiefern Przybyzewski vorbereitet wird 
durch Zacharias Werner. Wie um¬ 
gekehrt selbstverständlich die Gegenwart 
als Rechtfertigung der Vergangenheit be¬ 
trachtet werden kann, das ist die Kritik der 
Pietät, die z. B. den Begriff „Göthe-reif" 
als Kriterium hat. 

Der Kritiker, der selbst eine ohnmächtige, 
aber sehnsüchtige Künstler-Natur ist, der Raf¬ 
fael ohne Arme, den man, wenn irgend¬ 
wo, gerade unter den Kritikern zu suchen hat, 
wird die Kritik der Erivartung haben, die 
auch ein 'l'cil des Publikums hat, z. B. viele 
Flauen, die mit dem Gefühle dieser Er¬ 
wartung kritisieren. Aber richtiger ist, dass, 
wenn schon der Künstler, erst recht der Kri¬ 
tiker ein Recht auf das Experiment hat, nur 
dass es die Kunst selber sein wird, mit dem 
experimentiert werden wird. Nietzsche 
machte sich auf seinen Turiner Spaziergängen 
das Vergnügen, sich die Wagnerischen 
Heroen in verjüngten Proportionen vorzustellen 
und ins Bürgerliche zu übersetzen und fand 
80 die Isolde als Madame Bovary wieder. 
Übrigens ist es die Zeit, welche immer mit 
den Kunstwerken experimentiert, und es ist 
ein Kriterium ihrer Kraft, wieviel sie davon 
aushalten. Gegen dreimal, dass wir eine Dicht¬ 


ung lesen, kommen dreihundert, dass sie uns 
in einzelnen Teilen, unter Verballhornungen 
aller Art, in unzählig neuen Zusammensetz¬ 
ungen und in allen erdenklichen Variationen, 
bis herunter zur abgeschmacktesten Parodie, 
wieder begegnen. Unfähige Schriftsteller, die 
zugleich gute Geschäftsleute sind, machen auf 
diese Art ihre Litteratur und verlangen ernst¬ 
haft genommen zu sehen, was nur als kriti¬ 
sches Experiment einen Wert hätte. 

Die Spezies der Dogmatiker unter den 
Kritikern, der eigentlichen Schulkritiker, die 
nach bestimmten Regeln ihr Handwerk be¬ 
treiben, und dabei auf Aristoteles oder 
Boileau schwören, ist heute ziemlich in Ver¬ 
ruf gekommen, doch sie sind noch längst 
nicht die schlimmsten gewesen; wenigstens 
wussten sie, was sie wollten, und ihr Dogma 
stammte noch aus der Aesthetik, während 
heute die höchste Autorität der Faktor der 
Buchdruckerei ist, vom Könige der Heer¬ 
scharen, dem Verleger, gar nicht zu reden. 
Aber selbst wenn der Kritiker moralisch ist, 
was nützt ihm die Moral, wo er es mit der 
Aesthetik zu thun hat. Die Kunst kann doch 
nicht ihr ganzes Wesen verändern, nur weil 
sich manche Leute plötzlich auf die Moral 
besinnen. Aber immer noch besser, der 
Kritiker hat dies der Kunst ganz fremde 
Prinzip, als er ist nur talentlos. 

Der Kritiker als Historiker der Zeit, der 
die Erscheinungen sammelt, bucht und ord¬ 
net, hat ebensowohl sein Recht wie der 
Kritiker als Kämpfer, der die Kritik zum 
Kampfmittel für oder gegen eine Sache macht 
und an der Hand eines Kunstwerks die 
Aristokratie oder Bourgeoisie bekämpft wie 
sein Kollege an der Hand von Parlaments¬ 
verhandlungen. Das weiss jeder, der Partei¬ 
fragen in Kunstwerken berührt, z. B. das 
Duell, die soziale Not und d*rgl. Gewöhnlich 
aber können sich die Dichter nicht beklagen, 
denn sie haben selbst schon ein wenig Par¬ 
teipolitik getrieben. Wie es denn ein Gesetz 
gibt, das zwischen Künstlern und Kritikern 
waltet: Jede Sünde des Künstlers wird ge¬ 
rächt durch eine Sünde des Kritikers 
gleichen Schlages. Das ist der Witz, den 
sich der Weltgeist mit der Kunst und der 
Kritik erlaubt. In der Zeit der witzelnden 
Salonstückc Lindaus florierte die witzelnde 
Salonkritik Blumenthals, und wie DchmeI 
heute dichtet, kritisiert heute Bierbaum. 

Wo ist nun das Kriterium der Kritik? 
Gibt es keines? Ist Willkür das Wesen der 
Kritik? Willkür und Zufall ist alles, solange 
wir das herrschende Gesetz nicht kennen. 
Wir können viel leichter sehen, wie und warum 
sich Nikolai blamiert hat, als wie und wo 
sich ein moderner Nikolaite blamiert. Ge- 


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14 


Bruinier, Heimat der Germanen. 


wöhnlich gibt es nur eine Blame der Person 
gegen die Person, hier des Kritikers gegen 
den Dichter, in anderen Fällen des Dichters 
gegen den Kritiker. Hat der Kritiker ein 
künstlerisches Gesetz, eine Idee, eine Ten¬ 
denz zum Prinzip, so wird er an ihm gemes¬ 
sen und zu kurz befunden. Bei der freien 
Stellung aber, die er sich zwischen Kunst 
und Volk, über Kunst und Volk, anmasst, 
muss er das Recht aus sich selber finden 
und sich durch sich selbst rechtfertigen. Kri¬ 
tiker, die sich durch einzelne Urteile bla¬ 
mieren, brauchten sich gar nicht erst zu bla¬ 
mieren. Ein Kritiker ohne Fesseln kann sich 
nur durch sich selbst, seine ganze Persön¬ 
lichkeit kompromittieren; er kann in jedem 
einzelnen Falle Unrecht und im Ganzen Recht 
haben, und ebenso umgekehrt. Nikolai 
z. B. wird gewöhnlich sehr schief beurteilt, 
er war gar nicht der Öde Kopf, als den 
Schiller ihn hinstellt; in der Kunstkritik 
hat er z. B. das nicht kleine Verdienst, zu¬ 
erst Schlüter gewürdigt zu haben. Aber 
im Kampfe mit Göthe und den Roman¬ 
tikern konnte er sich nur blamieren. Die 
Kritiker vergessen immer, dass ein rechter 
Kerl von Künstler sie jederzeit auf ihrem -' 
eigenen Felde schlagen kann. Das allerbeste 
Teil von Kritik resümiert sich in neuen 
Kunstwerken. 

Das verdiente einmal zum Gegenstände 
einer eigenen Untersuchung gemacht zu 
werden: wie viel Kunst in Kritiken und wie 
viel Kritik in Kunstwerken niedergelegt wird. 
Vielleicht ist die Kluft gar nicht so tief als 
man denkt. Je tiefer beide stehen, je breiter 
klafft sie. In der Höhe berühren sie sich 
mehr und mehr, bis sie sich in Göthe ver¬ 
schmelzen. Schaffen ist Zerstören und Zer¬ 
stören Schaffen, je nach dem Gesichtspunkte, 
von dem man ^as Eine oder Andere ansieht. 
Kunst wird Kritik in einem skeptischen Geiste 
oder in den skeptischen Augenblicken eines 
Geistes; Kritik wird Kunst in einem 
schöpferischen Geiste oder in den schöp¬ 
ferischen Stimmungen eines Geistes. 

Haben sich jetzt die Künstler auf sich 
selbst besonnen, und revolutionieren sie 
gegen alle ihnen von fremden Mächten auf- 
gedrängten Gesetze, dann wird es wohl an 
der Zeit sein, dass sich die Kritiker darauf 
besinnen, dass sie sozusagen auch Menschen 
sind, nicht geboren zu Knechtsdiensten der 
Moral, des Zeitungsgeschäftes oder des Kunst¬ 
handels, sondern zu eigener Lust, und dass sie 
zu allem das Recht haben (auch der Kunst ge¬ 
genüber), wozu sie es sich selber geben — 
können. Auf das Können, die Kunst, wird 
es auch beim Kritiker zuletzt ankommen. Der 
Kritiker ohne Kunst, ohne innere Macht, ist 


gerade soviel wert, als der Künstler ohne 
Verstand. 

Zeitschriften, die nicht als oberstes Ge¬ 
setz die freie Kritik haben, sind eigentlich 
ein Widerspruch in sich selbst. Zuletzt wer¬ 
den sie bemessen nach dem Kraftmasse 
von Kritik, das sie äufgew'andt haben. Dass 
man sogar aus Zeitschriften schon in der 
Verlegenheit so etwas wie Anthologien macht, 
die man bald „Salon“ und bald „Revue“ nennt, 
zeigt vielleicht am besten, wie hülflos, verworren 
und feig unser Federvolk ist. Eine Zeitung, 
auch die politische, ist kritisch oder sie 

nicht, sie macht höchstens Geschäfte. 
Selbst die engherzigste Parteikritik ist noch 
anständiger als die sogenannte unparteiische 
Berichterstattung, die immer ein Deckman¬ 
tel der Feigheit ist oder ein Lug nach Ge¬ 
schäftsmanipulationen. Mit dem Kritiker fehlt 
dem öffentlichen Leben die Existenz des freien 
Schriftstellers. Die Kritik ist die Brise, die 
über stagnierende Wasser fährt. 

X 

- 

^ Die Heimat der Germanen. 

Von Dr. J. W. Bruinier, Greifswttld. 

Jedes Wort ist der Ausdruck eines Ge¬ 
dankens. In seinen einzelnen Lauten ist es 
ein mechanisches Erzeugnis unserer Sprech¬ 
werkzeuge, und, kaum geboren, auch schon 
wieder dahin. In seinem Begriffe ist es ein 
Gedanke von ewiger Lebenskraft. Aber nicht 
immer, ja fast nie unser eigener Gedanke. 
Wir verbinden z. B. mit dem Worte „Süden'^ 
einen ganz bestimmten Sinn; aber Jemand, 
der noch niemals von den Himmelsrichtungen 
hörte, nicht. Für den ist „Süden'^ nur ein 
leeres, unverständliches Lautgefüge. Wir 
haben oft Augenblicke, wo uns beim näheren 
Betrachten eines hundertmal gedankenlos 
gebrauchten Wortes ein tiefes Sinnen befällt: 
„Wie kommt man nur dazu, das Wort so 
sonderbar zu schreiben und zu sprechen?“ 
Das ist die Auflehnung unseres eigenen 
Sprachgeistes gegen den ungeheuren Zwang 
der Überlieferung. Wir haben von unsern 
Eltern und Lehrern gelernt, dass das Wort 
„Südeu“ seinen jetzigen Sinn hat, unsere El¬ 
tern von den ihren, und die von den ihren. 
Aber nicht immer kann doch das Wort nur 
ein Lautgefüge ohne sofort verständlichen, 
nicht überlieferten Sinn gewesen sein. Der 
Mann, der das Wort schuf, der schuf zugleich 
einen Gedanken. Er sah in der Gegend, 
wo die Sonne dann stand, wenn der Tag am 
heissesten war, das Meer wogen. Nicht 
schreckte es ihn ab. Er wusste, dass schon 
andere vor ihm hinüber gezogen waren über 
diese feuchten Pfade. Er ahnte, dass drüben 


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Bruinier, Heimat der Germanen, 


15 


ihm ein Land winkte, reicher als sein eigenes. 
Und so nannte er denn diese Gegend „dem 
fahrbaren Meere, dem Sunde zu“. Und die 
entgegengesetzte, den Norden, nannte er: 
„Dem Lande, der Erde zu". Er wohnte also 
im Norden eines Meeres. Und weil alle Ger¬ 
manen den Süden und den Norden so nennen, 
wohnten alle Germanen im Norden eines Meeres. 

Die nahen Beziehungen aller Germanen 
zum Wasser ersehen wir aus der reichen 
Bedeutungsentwickelung, die das Wort Fahren 
bei ihnen „erfuhr“. Fahren bedeutet ur¬ 
sprünglich „Fortbewegung zu Wasser**, wie 
wir ersehen aus den Wörtern Furt, Fähre, 
Ferge, dem lateinischen Portus „Hafen", 
dem griechischen Porthmos „Meerenge", 
porthmeus „Ferge“, poreuo „übersetzen, 
bringen, fahren",poreuesthai „{zu Wasser) 
fahren, reisen“, die alle damit Zusammen¬ 
hängen. Aber weil das Wasser eben der haupt¬ 
sächlichste Verkehrsweg war, wurde „zu Wasser 
fahren“ zum Bekiffe „fahren“ überhaupt. 
Wer viel gefahren, der ist erjahren, wie die 
spätere Völkerwanderungszeit wohl die Wur¬ 
zel zu unserm „bewandert in einer Thätig- 
keit“ gelegt hat. Der alte Germane fragte 
den Freund beim Wiedersehen: „Wie/«Ärs/ 
Du?“, wie der Germane des Festlandes, der 
vielgewanderte, fragt: „Wie geht es Dir?“, 
wie der Mann der That, der Engländer, 
„Wie thun Sie?", und der Franzose, dem 
die äussere Erscheinung so viel gilt: „Wie 
tragen Sie sich?“ Zum Abschied grüsste 
der Germane traulich „Fahre wohl!“ Der 
zur Fahrt bereite ist fertig, der davonge¬ 
fahrene ist ferne. 

Halten wir das Gewonnene fest. Wasser 
als hauptsächlichstes Verkehrsmittel, Meer 
im Süden. 

Ein weiteres Mittel, um die Heimat der 
Germanen zu bestimmen, gibt uns das Wort 
Hahn an die Hand. 

Der Hahn ist erst verhältnismässig spät 
nach Europa gelangt. Die ältesten griechi¬ 
schen Dichter kennen ihn nicht, erst Aristo- 
phanes erwähnt ihn. So finden wir bei allen 
indogermanischen Völkern Europas andere 
Benennungen für das Tier; sie lernten es 
eben erst lange nach ihrer Trennung kennen. 
Die Germanen nennen ihn alle Hahn „Sänger“. 
Die nächsten Nachbarn, Kelten und Lit- 
thauer, haben andere Benennungen, die 
Finnen aber dasselbe Wort wie wir. 
Als der Hahn nach dem Norden kam, da 
wohnten die Germanen von Kelten und LiU 
thauern räumlich getrennt, mit den Finnen 
aber in Nachbarschaft. Der Beweis schon 
von V. Hehn angedeutet, kann als unan¬ 
tastbar gelten. 


Ein drittes Mittel endlich zur Lösung 
unserer Frage gibt das Wort Silber. 

Die Inder, Perser, Griechen, Italiker und 
Kelten benennen dieses Metall mit einhei¬ 
mischen, indogermanischen Elementen „das 
weisse“. Die Germanen, Litthauer und Sla- 
ven dagegen haben dafür ein ganz anderes, 
lange unerklärtes, jedenfalls nicht indoger¬ 
manisches Wort: Silber, sidubras (litth.), 
sirebro (slav.). Diese drei Wörter sind 
einander ausserordentlich ähnlich, an ihrer 
Verwandtschaft darf man nicht zweifeln. Aber 
sie fügen sich den Lautgesetzen nicht. Das 
eine Wort hat /, das andere d, das dritte r: 
eine Abweichung, die nicht erklärt werden 
konnte. Man musste die vorgeschichtliche Alter¬ 
tumskunde heranziehen, um das Rätsel zu lösen. 
Die Südindogermanen, von den Indern im 
Osten bis zu den Kelten im Westen, erhiel¬ 
ten, wie diese Wissenschaft erwies, die Kennt¬ 
nisse der Metalle von den alten Kulturzen¬ 
tren in Egypten und Babylonien, die Nord¬ 
indogermanen aber von einem Volke im west¬ 
lichen Sibirien. Die beiden Völkergruppen 
standen damals wahrscheinlich in keiner nähe¬ 
ren Verbindung. Dieses westsibirische Volk 
nun kann kein anderes gewesen sein, als die 
Vorfahren der heutigen — Japaner. Unglaub¬ 
lich,, aber wahr! Denn im Japanischen heisst 
„weiss“ siro und das wird mit dem </-ähn- 
liehen r ausgesprochen, das wir heute in 
vielen deutschen Dialekten als Aussprache 
des d finden. Dieses siro konnte von den 
einen, den Slaven, als siro, von den andern, 
den Litthauern, als sido, von den dritten, 
den Germanen, als silo gehört und aufge¬ 
fasst werden, und so erklärt sich der Wech¬ 
sel des l, d, r in den genannten Wörtern 
dieser drei Völker aufs allerbeste. Die Japa¬ 
ner sind aber aus den Gegenden am Ostabhange 
des Ural nach ihren Inseln ausgewandert, wie 
die Verwandtschaft des Baues der japanischen 
Sprache mit dem der Völker Nordwestasiens 
beweist. 

In der Zeit also, wo das Silber den Völ¬ 
kern Europas bekannt wurde — es braucht 
ja nicht auf einmal geschehen zu sein —, 
waren die Nordeuropäer von den Südeuro¬ 
päern durch irgend einen Grund ausseror¬ 
dentlich scharf getrennt; die Nordeuro¬ 
päer selbst zerfielen schon in die noch jetzt 
gültige Dreiteilung: Slaven, Litthauer, Ger¬ 
manen und wohnten bereits, wie jetzt, im 
Norden. Besonders auffällig muss die da¬ 
mals vorhanden gewesene völlige Abschliess¬ 
ung der Germanen den Kelten gegenüber er¬ 
scheinen, weil wir ja sonst sehen, dass unsere 
Vorfahren keinen anderen fremden Volksstamm 
besser gekannt haben können, als eben die 
Kelten. In späterer Zeit muss die Schranke 


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V. Halle, Vom Börsenjahr 1896. 


gefallen sein, die in der „Silberzeit" beide 
Volksstämmc haarscharf trennte. 

Halten wir nun alle diese Punkte zusam¬ 
men, so finden wir, dass die Germanen nir¬ 
gendwo anders ihre Urheimat gehabt haben 
können, als in Skandinavien, d. h. wohl dem 
südlichen Schweden. Dort haben wir ein 
Meer im Süden; dort standen die Germanen 
in unmittelbarer Berührung mit den Finnen, 
waren aber von den anderen Indogermanen 
durch das Meer getrennt. In dem Meere 
ist auch die Schranke zu sehen, die zur Zeit, 
wo das Silber aufkam, Kelten und Germanen 
so scharf scheiden konnte. Die keltische 
Grenze gegen Osten und Nordosten, gegen 
Litthauer und Slaven, wird jener Urwald ge¬ 
bildet haben, von dessen Schrecknissen die 
klassischen Schriftsteller berichten und der 
in Schlesien, der Mark und Pommern erst 
im Mittelalter, sogar zum Teil erst in der 
Neuzeit gelichtet worden ist. 

Dass in Skandinavien ihre Heimat zu 
suchen sei, wissen von den germanischen 
Stämmen noch Goten und Langobarden. Der 
gotisch-lateinische Schriftsteller Jordanes 
nennt die insula Skandza eine „Völker¬ 
schmiede“, aus der das Volk der Goten her¬ 
vorgebrochen sei wie ein Bienenschwarm. Und 
Paulus Diakonus, der langobardische Ge¬ 
schichtsschreiber, erzählt, dass im Norden eine 
Insel Scadanau liege, von vielen Völkern be¬ 
wohnt, unter ihnen auch von dem kleinen 
Stamme der Winnuler, der später von W o- 
dan „Langbärte“ genannt worden sei. Sca¬ 
danau, im angelsächsischen Heldensange Sce- 
den i ge, bedeutet „Insel der Skadines“: Insel, 
denn die Nordgrenze bildeten die grossen 
Seeen. Noch heute heisst dieser Teil Schwe¬ 
dens Skone, Schonen, was nichts anderes 
als das alte Skadinavia ist. Mit dieser 
Heimat erschliessen wir zugleich den ältesten 
Namen der Germanen. Sie nannten ihr Land 
nach sich selbst „Insel der Skadines“, „Insel 
der Ausgezeichneten“. Skadines ist der älteste 
und zwar einheimische Name der Ger¬ 
manen. Das Wort ist desselben Stammes wie 
das griechische kekasmenos, wie Homer 
seine Achaier benennt. Wir finden es in 
anderer Gestalt wieder in Kattegat, was 
„Strasse der Ausgezeichneten“ heisst, und 
dann in dem Namen, den noch heutigen 
Tages einer , der besten und stolzesten Ger¬ 
manenstämme trägt, die Hessen. Kattrn und 
Hessen sind Abwandlungen desselben Namens. 
Auch die hessischen Orts- und Bergnamen 
Katzenellenbogen, Katzenbuckel, Katzenstem 
tragen den Namen weiter. Ja, man ist ver¬ 
sucht, das uralte Wort vom blinden Hessen 
hierdurch zu deuten. Es könnte ursprünglich 
ein Schimpfwort sein, das allen Germanen 


galt und ihnen von der von ihnen unter¬ 
jochten Urbevölkerung Deutschlands beige¬ 
legt wurde. Das blind braucht nicht auf die 
jetzige Bedeutung zu gehen; in solchen 
Schimpfreden erhält sich häufig das älteste 
Sprachgut, unverstanden und von der Volks¬ 
etymologie verständlich gewandt. In diesem 
blind könnte das unzweifelhaft germanische 
Wort blond in seiner ältesten Bedeutung 
stecken, dessen jetzige Bedeutung klar ist, 
dessen eigentlich germanische aber — 'das 
Wort ist ja zu uns nur als Lehnwort Jaus 
dem verwälschten Fränkischen gekommen, 
sonst in allen germanischen Sprachen ausge¬ 
storben — für uns dunkel ist. Blinder Hesse 
könnte also im letzten Grunde blonder Ger¬ 
mane sein, als Schimpfwort gedacht mit ftlr 
uns jetzt unverständlicher Spitze. 

Sei dem, wie ihm sei; die Heimat der 
Germanen und ihr altehrwürdiger Name steht 
fest. Im Norden müssen wir unsere Wiege 
suchen, und unser jetziges Vaterland ist es 
— nicht kraft des Erbrechts, sondern kraft 
unseres guten Schwertes und unserer welt¬ 
geschichtlichen Bestimmung. Im Völkerleben, 
wie in der Natur, hat eben stets der Stärkere 
das Recht. 


Vom Börsenjahr x8g6. 

V'on S. V. Halle. 

In dem Anlage- und Spekulationsverkehr, dessen 
Centren unter dem Namen: Börse eine weithinsicht¬ 
bare, wirtschaftliche Rolle spielen, müssen sich notge¬ 
drungen die Bewegungen und Ereignisse fasst des 
gesamten praktischen Lebens abspiegeln. Die vie¬ 
len Anfechtungen unseres Effektenhandels kön¬ 
nen über die Thatsache nicht hinwegtäuschen, 
dass die wichtigsten Aufgaben des Börsenwesens 
noch lange fortbestehen werden. Es war ein höchst 
interessantes Jahr, das Jahr 1896 und seine poli¬ 
tischen und wirtschaftlichen Ereignisse treten in 
einer seltenen Fülle auf. Sogleich in den ersten 
Tagen schlägt die Botschaft des Präsidenten 
Cleveland wie ein Blitz ein, da doch die ganze 
Venezuelafrage einen so herben Angriff gegen 
England nicht werth war. London benutzte sodann 
sofort die zwei nächsten Börsenstunden, um eine 
wahre Fluth von amerikanischen Werthen nach 
New-York zu entleeren. Natürlich scheitern nunmehr 
auch die Verhandlungen des amerikanischen Schatz¬ 
sekretärs wegen eines Bondsanlehens in Europa. 
Und dabei wähnte man damals noch, dass die 
Währungsfrage von keiner Partei in den Wahl¬ 
kampf gebracht werde, sondern dies TUir bezüglich 
der Monroe-Doctrin und des Zolltarifs geschehen 
würde. — Der überraschende Einfall Jamessons in 
Transval, beunruhigt die Börse nur wenig, da ande¬ 
rerseits unsere Reichstags-Debatten über die „Re¬ 
form" des Effectenverkehrs und der Anleiheprospekte 

auffallend sanft dahinfliessen. Erst die böse Auf¬ 
nahme des Kaisertclegramms in England an Kr üger, 
die sogar zu commerciellen Spannungen und londoner 
Verkäufen von Reichsanleihe führt, beginnt die 


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V. Halle, Vom Börsenjahr 1896. 


17 


Allgemeintendenz zu bedrücken. Die Hochfinanz 
bleibt sehr zurückhaltend, da die Möglichkeit er¬ 
wogen wird, dass England an verschiedenen Punkten 
in Kriege verwickelt werden könnte. Unsere 
Banken treten in der Folge gegen ihre speku- 
lirende Kundschaft mit Strenge auf; dies bringt 
auch Rückgänge in Italienern und Mexikanern 
hervor. — Der Sturz der Rheinisch-Westfälischen 
Bank in Berlin, u. a. auch vielbesprochene Emittentin 
von Akkumulatoren-Aktien interessirt die reguläre 
Geschäftswelt nur wenig. — Einen ^ten Eindruck 
macht es, dass auf dieioo Millionen Dollars Goldbonds 
in der Union selbst, an 600 Millionen überraschender 
Weise gezeichnet werden. Kluger Weise hatte sich 
die Deutsche Bank am Syndikat beteiligt, w’as ihr 
sehr bald auch grossen geldlichen Gewinn brachte. 

Der Februar sieht eine Hausse, auf die voraus¬ 
sichtlich sehr günstigen Bankdividenden und auf 
leichtes Geld bei der Scehandlung, hinter der aller¬ 
dings in diesem Falle das Frankfurter Haus Roth¬ 
schild stand. Ferner animirte der Auftrag der 
preussischen Staatsbahnen mit der stattlichen Ziffer 
von gleich anfangs iiooo Waggons. Die Verstaat¬ 
lichungsverhandlungen der Hessischen Ludwigsbahn 
werden mit Spannung verfolgt. 

Im März bricht sich wieder die allgemeine Ver¬ 
stimmung Bahn. Es mangelt die Geschäftslust und 
Italien würde gern seine Schatzbonds in Berlin 
anbringen, ohne den hohen Stempel von 6 pro Mille, 
Die Unruhen im Orient beginnen schon jetzt ihre 
Kreise zu ziehen. Das Chinesische Anlehen 
wird nach weitläufigen Unterhandlungen perfect. 
Cours 94. Die Hälfte des Gesamtbetrages, also 
M. 180 Millionen fällt an den deutschen Markt. 

Der April zeigt bereits ein lebloses Geschäft 
wegen des Abwartens des Börsengesetzes. Wegen 
des letzteren giebt das Berliner Ältestcncollegium 
energische Erklärungen ab und in den Bankberichten 
ist derjenige der Discontogesellschaft der einzige, 
welcher sich direkt gegen das Treiben der Agrarier 
ausspricht. — Von der Deutschen Bank, Direktor 
Siemens, tritt nunmehr in den Aufsichtsrat dieses 
Institutes. In der letzten Woche des Monats wird 
die Tendenz von zwei Zwischenfällen beeinflusst: 
von der grossen Defraudation bei der Niedersäch¬ 
sischen Bank in Bückeburg, mit Mk. 2,600,000, sowie 
von Luegers entscheidender Rede gegen die zu 
guten Ablösungsbedingungen der österr. Nordwest¬ 
bahn. Auch der Tod des Baron Hirsch als Riesen¬ 
kapitalisten, wurde nicht gleichgiltig hingenommen. 

Im J/ir?» kommt gleich anfangs die Verstaatlichung 
der Hessischen Ludwigsbahn zu Stande. — Man hofft 
auf einen Widerspruch der Regierung gegen die 
Beschlüsse der Börsenreform, da das Verbot des 
Getreideterminhandels offenbar die Gutsbesitzer 
selbst am schärfsten treffen müsste. Andererseits wirft 
das Depotgesetz seine Schatten voraus. Die Hausse 
in Dividendenpapieren geht jetzt nur noch von 
Berlin und nicht mehr vom Publikum selbst aus. 
— Mehrfache Gründungen von Hypothekenbanken; 
in erster Linie wohl, um den dabei interessirten 
Bankfirmen grosse Baarmittel zur Verfügung zu 
stellen. — Viel Aufsehen erregt durch einen Be¬ 
leidigungsprozess, das angebliche Bernsteinmonopol 
Beckeris in Königsberg, welches Haus aber auch 
den betreffenden sehr schwierigen Markt stets zn 
halten verstanden hat. 


Im Juni wird sich die bayerische Regierung 
endlich wegen Conversion ihrer 4 % igen Anleihe 
schlüssig. {1236 Millionen) — Argentinier steigen auf 
Käufe von Buenos Ayres zur erforderlichen Amor¬ 
tisation; was aber nur beweist, dass fast alle Bonds 
nach Europa gewandert sind. — In Krefeld erstrebt 
man die Gründung einer Baumwollspinnerei für feine 
Nummern; bisher nur in England bestehend. — Die 
Reichstagsdebatten zur Unterdrückung der Detail¬ 
reisenden , verstimmen in weiten Kreisen. Die 
einander förmlich drängenden Industrieprospekte 
halten auch jetzt noch an, da mit dem Juli das neue 
Gesetz Alles das ungemein erschwert. 

Der Juli sieht die allgemeine Aufmerksamkeit 
auf die Unterhandlungen wegen des neuen Russen- 
anlehens gelenkt, i.) weil man auf die Beteiligung 
der deutschen Banken gespannt ist, und 2.) weil 
Finanzminister Witte als Grund, die so ziemlich 
bezweifelte Einführung der Goldwährung angiebt. 
Dabei sieht die Börsentendenz sogar wie eine Art 
Aufschwung aus. Die französischen Bankiers durch 
das Rentensteuerprojekt einmal erschreckt, w’cnden 
sich mehr auswärtigen Fonds zu; vor Allem aber 
den soliden, wie Eiserne Thor-Obligationen, Österr. 
Goldrente etc. — Italiener werden von unserem 
Publikum mehr abgestossen. Von Kohlenaktien sind 
besonders solche von Gaskohle gefragter. Unsere 
Industrie geht glänzend, vor AUem auch die Fahr¬ 
rad-Fabrikation. 

Im August ist man bezüglich des amerikanischen 
Wahlkampfes noch ruhig. — In Sachen des Aueri- 
schen Glühlichtes wird eine patentrechtliche Ent¬ 
scheidung des Reichsgerichtes wegen ihner ver¬ 
schiedenartigen Auslegung vielfach besprochen. — 
6%ige Mexikaner fallen plötzlich in London sehr 
stark. — Die ausserordentlich starke Ueberzeichnung 
der Russen-Anleihe, sowohl in Frankreich als in 
Deutschland, gilt bei Unterrichteten sofort als 
höchst unzuverlässig. 

Der September sieht Paris in hundert Ängsten 
wegen der Cours-Entwertung des dortigen grossen 
Türkenbesitzes, infolge der Niedermetzelung der Ar¬ 
menier, ferner wegen Spanier, deren Cours unter den 
Ereignissen auf Cuba zurückgeht, sowie wegen der 
ausgedehnten französischen Engagements in Gold¬ 
shares. — Dynamit Trusts werden hinaufgesetzt auf 
ein angeblich neues Verfahren Cyankali aus Carbid 
herzustellen. — Geld vertheuert sich nunmehr, auf die 
Gold Verschiffungen von London nach Ne wyork, dader 
dortige Wahlkampf mit seiner überraschenden Hetze 
zu Gunsten des Freisilbers, das amerikanische Ka¬ 
pital schwer besorgt macht. Auch die europäischen 
Rentner fürchten stark für die Zahlung ihrer Gold¬ 
coupons. Geld vertheuert sich noch auf unseren grös¬ 
seren Getreidebedarf, der 3 Millionen Hektoliter mehr 
und zu einem um ca. 10 Prozent höheren Preise ca. 
50 Millionen Mk. mehr als voriges Jahr erfordert. — 
Die Chemischen Aktien leiden keineswegs von der 
starken Steigerung des Benzols. — Das Ultimo sieht in 
Berlin sehr gute Firmen 6 V» Proz. zahlen; ferner 
ganz ungewöhnlicher Weise bis in den Oktober 
hinein Nachzügler, die noch nicht prolongirt hatten. 
Von Wien gehen enorme Summen als Aushilfe 
nach Berlin, was sonst bekanntlich umgekehrt 
der Fall ist. 

Im Oktober hält das Gerücht von der Gründung 


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i8 


Kleine Mitteilungen. 


Stumm eine Zeitlang an. Das Börsengesch^ wird nur 
für so klein gehalten, weit das vorige Vergleichsjahr 
ausserordentlich belebt war. Italiener werden von 
den Franzosen wiedergekauft, da der Handelsver¬ 
trag mit Tunis zu Stande kommt. Der Pariser 
Druckluftbericht (Hauptinteresent: Discontogesell- 
schaft) constatirt, dass Gewinn nur aus dem 
elektrischen Betrieb erwachse, die Druckluft indessen 
wenigstens nichts mehr koste. — Unsere Eisen- und 
Stahlbergwerke sind mit Aufträgen so überhäuft, 
dass für viele Monate Nichts Neues mehr angenommen 
werden kann. Besonders für elektrische Bahnen 
ist viel zu liefern. Nunmehr ist auch das Hochofen- 
Syndikat zu Stande gekommen. Inzwischen hat 
aber das Rheinland daraufhin immense Posten 
Montanpapiere eingcthan und in Frankfurt und Köln 
lombardirt, sodass ausgedehnte Engagements-Lö¬ 
sungen stattfinden müssen. — DerReichsbankdisconto 
geht jetzt auf 5 Prozent. — Argentinier stürzen auf die 
unvermutete Erklärung des Intendanten von Buenos- 
Ayres, wegen Schuldenreduktion. — Panik in London 
wegen Goldshares-Verkäufe, welche aber von der 
ganz deroutirten Pariser Spekulation ausgehen. Auch 
Spanische Fonds stürzen. — Falsche Nachricht der 
„Times“ wegen eines Moratoriums in Brasilien. — 
Aufsehen erregt das Reichsgerichtserkentnis, wonach 
Elektrizität ein Zustand, aber keine Kraft, also auch 
nicht entwendbar sei. 

Die ersten NovemberXB%Q sind wegen der Lage 
in Paris beängstigend, da Spanier und Türken weiter 
fallen, und in London der Disconto hoch ist. Mc. 
Kinleys entscheidender Sieg giebt zunächst an 
allen Börsen einen Anstoss nach oben. In New- 
york werden in den ersten Tagen 600,000 Aktien 
umgesetzt, statt wie gewöhnlich nur ca. 180,000. Die 
Berliner Banken wollen nicht in das Register. 

— Die von der DiscontogeseUschaft vor 2 Jahren ge¬ 
gründete Südafrikanische Gesellschaft löst sich ohne 
Schaden wieder auf. Alfons v. Rothschild über¬ 
nimmt einen grossen Posten Charteredaktien für 
eine in Verlegenheit gekommene hohe englische 
Persönlichkeit. — In der Generalversammlung der 
Dortmunder Union, erringt der Leiter der Oppo¬ 
sition, Direktor Blumenfeld aus Hamburg, einen 
wichtigen Sieg über den Aufsichtssrat, sodass die 
Aktionäre bei der Zusammenlegung ihrer Aktien 
wesentlich besser wegkommen, als anfangs beab¬ 
sichtigt wurde. — Noch immer vermisst die Börse 
die Ausführungsbestimmungen über das neue Gesetz. 

Anfangs Dezember erkennt man, dass bei der 
Börsenreform eigentlich alles beim Alten bleibt, so¬ 
weit es das Grosskapital treffen könnte. Finanz¬ 
minister Miquel verlangt die obligatorische Schul¬ 
dentilgung, und die Festlegung des 3>i%igen 
Zinsfusses für die convertirten 4 %igen Consols auf 
IO Jahre. — In der Generalversammlung der All¬ 
gemeinen Elektrizitätsgesellschaft wird eine grosse 
Gewinnsumme nunmehr zum Dividendenergänzungs¬ 
fonds erhoben. Hiergegen prozessirt ein einzelner 
Aktionär; wichtige Abmachungen zwischen dieser 
Gesellschaft und „Ludwig Löwe resp. der „Union“ 
in Berlin. Das Börsengeschäft ist still, Geld sehr 
theuer. Das italienische Finanz-Ebepose entspricht 
nicht ganz den gehegten Erwartungen. Zum Schluss 
erleben wir noch den grossen Hafenstrike in Ham¬ 
burg, welcher den dortigen Handel stark schädigt. 

— Der Rücktritt des Präsidenten von Brasilien 


überrascht nicht und wird sogar für gut gehalten. 
Im Allgemeinen hat es wohl kaum jemals ein Jahr 
gegeben, mit einer so glänzenden Entwickelung 
unserer Eisen- und Kohlenwerke, sowie fast unserer 
gesamten übrigen Industrie und demgegenüber einem 
so starken Darniederliegen des eigentlichen Börsen¬ 
verkehrs. Und das letztere dürfte sich, so lange die 
Einschränkungen in Kraft bleiben, nur wenig ändern! 


Kleine Mitteilungen. 

Wissenschaftliche Weltkongresse werden von 
der amerikanischen Zeitschrift „Science“, dem 
Organ der amerikanischen Vereinigung zur För¬ 
derung der Wissenschaften, vorgeschlagen. Im 
ersten Jahre des neuen Jahrhunderts solle ein inter¬ 
nationaler Kongress der gesamten Wissenschaften 
abgehalten werden. Die „British Association for 
the Advancement of Science" wird im nächsten 
Jahre ihre Versammlung in Toronto in Kanada ab¬ 
halten, und die genannte Schwester-Vereinigung in 
Amerika hat bereits den Entschluss gefasst, ihre 
Jahresversammlung an der kanadischen Grenze in 
Detroit zu begehen und die britischen Gelehrten bei 
dieser Gelegenheit auf amerikanischem Boden zu be- 
grüssen. Als Dankeszeichen hat der britische Verein 
den Vorstand des amerikanischen Vereins als Ehren¬ 
mitglied und sämtliche Teilnehmer an dem ameri¬ 
kanischen Kongress als ordentliche Mitglieder zu 
ihrer Versamnifung in Toronto eingeladen, sodass 
in Toronto im nächsten Jahre die englischen und 
amerikanischen Gelehrten zusammentagen werden. 
Auch zwischen Frankreich und England hat sich 
eine älinliche Annäherung angebahnt, indem die 
„Association fran^aise pour l’Avancement des 
Sciences“ beschlossen hat^ im Jahre 1898 oder r8gg 
sich in Boulogne zu versammeln, und der British 
Association nahegclegt hat, zu gleicher Zeit einen 
Ort gegenüber Boulogne am Kanal als Versamm¬ 
lungsort zu wählen. Die Anregung ist bereitwilligst 
angenommen, die British Association wird 1899 ihre 
Tagung in Dover abhalten und mit der französischen 
Versammlung Besuche austauschen. Als bedeutungs¬ 
voll ist noch der Beschluss zu erwähnen, nach 
welchem 1898 der Internationale Zoologen-Kongress 
mit dem Internationalen Physiologen-Kongress zu¬ 
sammen nach Cambridge berufen werden soll. 

• « 

Der Begleiter des Procyon. Auf der Lickstem- 
warte ist es dem Astronomen Schaeberle gelungen 
den schon lange auf Grund der gesetzmässig vor- 
sichgehenden Ungleichheiten in der Eigenbewegung 
des Procyon vermutheten Begleitstern thatsächlich 
aufzufinden. Es ist das wiederum ein Zeichen für 
die Richtigkeit der den astronomischen Rechnungen 
untergelegten Theorien, namentlich des Newton’ 
sehen Gravitationsgesetz. Die Auffindung des 
Neptun, des Begleiters des Sirius u. s. w. waren 
die ersten Errungenschaften auf diesem Gebiete. 
Neuerdings ist allerdings auch die Spektralanalyse 
im Stande dem Auge unsichtbare Gestirne, welche 
umeinander kreisen durch die Verschiebungen der 
Linien, durch ihre zeitweise Verdoppellune u. s. w. 
nachzuweisen. Die rechnerische Untersuchung der 
Procyonbewegung wurde namenüich von Geh. Kath 
A. A u w e r s durcheefilhrt, nachdem schon B e s s e 1 
die dahingehende Vermutung ausgesprochen hatte. 
Auwers fand eine nahe kreisförmige Bahn, in welcher 
der Begleiter in etwa i" Distanz und in 40 Jahren 
einmal um den Hauptstem sich bewegt. — Neuer¬ 
dings hatte auch H. Struve das in Pulkowa ge¬ 
wonnene Beobachtungsmaterial bearbeitet und war 


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Kleine Mitteilungen. 


i9 


auch zu der sicheren Ueberzeu^ng von dem Vor¬ 
handensein eines dunklen Begleiters gekommen. — 

A. 

• » 

• 

Die Astronomie hat in den letzten Wochen 
mehrere schwere Verluste erlitten durch den Tod her¬ 
vorragender Astronomen. Einer der bedeutendsten 
davon: Fran^rois Felix Tisseraud, der 
Direktor der Pariser Sternwarte, starb am 20. Ok¬ 
tober V. J. Das Hauptverdienst dieses Gelehrten 
liegt auf dem Gebiete aer theoretischen Astronomie, 
wdche er in seinem letzten grossen Werke: Tratte 
de Mecanique celeste im Zusammenhang behandelte. 
Er w'ar zu Nuits - Saint - Georges im Departe¬ 
ment Cöte-d’or geboren, er wurde, nachdem er seine 
Studien an der Ecole Normale Supörieure beendet, 
1866 am Pariser Observatorium als Astronom an¬ 
gestellt. Bis 1873 arbeitete er dort an verschie¬ 
denen Instrumenten. 1868 beteiligte er sich an der 
Expedition nach Malacca zur Beobachtung der 
totalen Sonnenfinsternis. 1873 wurde Tisseraud 
Direktor des Observatoriums zu Toulouse, hier be¬ 
schäftigte er sich namentlich mit der Theorie der 
kleinen Planeten und des Satellitensystems des 
lupiter und des Saturn. Zur Beobachtung der 
beiden Vorübergänge der Venus vor der Sonnen¬ 
scheibe in den Jahren 1874 und 1882 begab er sich 
im ersteren Jahre mit Janssen nach Japan und 
im letzteren in Begleitung anderer Astronomen 
nach der Insel Martinique. Nachdem Tisseraud 
an Stelle Leverrier’s, Mitglied der Pariser Aka¬ 
demie geworden war, wurde ihm auch bald der 
Lehrstuhl für die Mechanik der Bewegungen der 
Himmelskörper übertragen. An Admiral Mouchez’ 
Stelle übernahm Tisseraud nach dessen Tode 
die Direktion der Sternwarte. Hier setzte er seine 
theoretischen Untersuchungen über die Bewegungen 
der Himmelskörper fort und lieferte Tafeln für die 
Vorausberechnung der Orte derselben, welche heute 
den meisten Rechnungen dieser Art zu Grunde 
gelegt werden. — Ein Werk von grosser Be¬ 
deutung, welches unter seiner besonderen Fürsorge 
in Angriff genommen wurde und dessen erste auf 
internationaler Mitwirkung einer grosser Anzahl 
von Sternwarten gegründete Resultate er noch das 
Glück hatte, vor sich zu sehen, ist die grossartig 
angelegte photographische Aufnahme der gesamten 
Gestirne bis herab zur 11. oder 12. Grösse. — Auf 
seine Hauptwerke, besonders das genannte photo¬ 
graphische Unternehmen, wird sich Gelegenheit 
finden, einmal des Weiteren 'zurückzukommen. — 

A. 

• « 

Niederschlagreichstes Gebiet in Afrika. Schon 
lange galten die westlichen Abhänge des Kamerun¬ 
gebirges als sehr regenreich und namentlich wurde 
das Kap Limboh als eine Art Wetterscheide an¬ 
gesehen, von der aus nach Westen die Niederschläge 
erheblich anwachsen sollten. Dennoch ist die 
Schätzung, welche im Jahre 1895 Dr. Preuss für 
die Pflanzungsstation Debundja mit 7000 mm Nieder¬ 
schlag gab durch genaue Messungen noch erheblich 
überholt worden. Auf Grund der von den Herren 
Linne 11 und Faustmann gemachten Aufzeich¬ 
nungen lässt sich jetzt feststellen, dass das Debundja- 
gebiet der regenreichste Punkt ganz Afrikas ist, ja 
soweit Messungen vorliegen, der zweitregenreichste 
der ganzen Erde, indem er nur von dem bekannten 
regenreichen Gebiete der Khassia-Ketten in Assam 
Obertroffen wird, wo jährlich durchschnittlich eine 
Regenhöhe von 12086 mm gemessen worden ist. 
In Debundja wurden im Jahre 1895 rund 9000 m m 


gemessen, w’ährend die Kamerunstation selbst in 
dem gleichen Jahre nur 3741 mm zeigte. Da in¬ 
des Debundja an der Meeresküste liegt, so dürfte 
in den Gebirgsgebieten oberhalb Debundja sicher 
eine Regenhöhe von 10000 m m überschritten werden, 
da erst dort der von der westlichen feuchten See¬ 
brise mitgeftihrte Wasserdampf zur vollen Kon¬ 
densation gelangen wird. Im September 1895 allein 
fielen 1880 mm, d. h. mehr als an irgend einem 
Orte unserer mitteldeutschen Gebirge in einem Jahre; 
die grösste Regenmenge in 24 Stunden betrug 
188 mm. Eine Trockenzeit besteht hier Überhaupt 
nicht, höchstens könnten die Schwankungen der 
Niederschläge w'ährend der einzelnen Jahre im 
Dezember daran erinnnern. Dr. p. Elfxrt. 

* « 

* 

Der vor circa hundert Jahren von MungoPark 
angeregte Plan, den .Niger durch eine Fahrt strom¬ 
abwärts zu erforschen, ist durch die Anfang Oktober 
1896 glücklich beendete Bootfahrt des französischen 
Hauptmanns Hourst nunmehr ausgeführt worden. 
Derselbe hat den ganzen Nigerlauf von Bomako 
aus durchfahren und denselben, einschliesslich der 
Strecke zwischen Timbuktu und Say, welche bisher 
nur stückweise bekannt war, in seiner ganzen Aus¬ 
dehnung schiffbar gefunden. Nur an einigen Stellen 
ist die Schiftbarkeit etwas erschwert, aber dennoch 
ausführbar. 


Der räthselhafte, mit Schopenhauer der euro¬ 
päischen Wissenschaft näher gerückte Buddhismus, 
namentlich in seinem unzugänglichen Centralsitz im 
tibetanischen Lhassa, ist das Ziel nicht nur der 
philosophischen, sondern auch der ethnologischen 
Forschung. Im Jahre 1892 hat sich ein Reisender 
H. Leder, im Auftrag der russischen geogra¬ 
phischen Gesellschaft von Irkutsk nach Riachta 
und dann weiter nach Urga in der nördlichen Mon¬ 
golei begeben. (U. heisst wörtlich heiliger Lager¬ 
platz). Hier befindet sich ein riesiges Standbild 
des lamaischen Gottes Maidiri aus Bronce, hier 
ist auch der Sitz buddhistischer Hochschulen. Es 
darf nicht überraschen, dass der Würdenträger 
göttliche Ehren geniesst, umso mehr als er in der 
23. Incamation seine ununterbrochene Wiederge¬ 
burt feiert. Es giebt vier Falkultäten, 12—13 Tau¬ 
send Mönche bei ca. 15 Tausend Einwohnern. Auch 
residirt hier der älteste Mongolenftlrst, ein Nach¬ 
komme Dschengis Chans, während die wirkliche 
olitische Herrschaft durch einen mandschurischen 
eamten von Peking ausgeübt wird. Ach. 

• • 

• 

Die Pflege der Volkskunde in der Schweiz. 
Im Frühjahr 1896 hat sich in Olten eine schweizer¬ 
ische Gesellschaft für Volkskunde konstituirt, die 
heute schon bezüglich der Mitgliederzahl, welche 380 
beträgt, viele Gesellschaften mit ähnlichen Zielen 
überffügelt hat. Im November ist das erste Heft 
der Zeitschrift „Schweizer Archiv (Ür Volkskunde“ 
erschienen. Die Redaktion hat Dr. E d. H o f fm a n n, 
unterstützt durch die Vorstandsmitglieder Dr. 
Stückelberg, Prof. ■ Vetter und Oberstl. 
Richard übernommen. Aus dem ganzen Land 
sind schon Beiträge eingelaufen und etwa vierzig 
Mitarbeiter stehen der jungen Gesellschaft zur Seite. 
Der Inhalt des ersten Heftes befasst sich mit Holz¬ 
architektur, Rassenkunde, Sitten des Kantons Zug, 
Karlssagen, Begräbnisfeierlichkeiten, Fastnachts¬ 
gebräuchen, Volksmedizin, Alpsegen u. a. Die 
Gesellschaft steht in Schriftenaustausch mit den her¬ 
vorragendsten ähnlichen Vereinen des Auslandes; 


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Kleine Mitteilungen. 


sie verfügt bereits über eine Bibliothek und eine 
kleine Sammlung volkstümlicher Gegenstände. 

E. A. SlCCKtLBERC. 

« • 

• 

Anlässlich der in letzter Zeit bei Versuchen mit 
Acetylen vorgekommenen Explosionen dürfte ein 
Gutachten von Prof. Erdmann in Halle, das wir 
dem „B. .L. A.“ entnehmen, von Interesse sein. 
„Für die Zukunft des Acetylen schienen zwei Be* 
denken zu bestehen: sein Giftgehalt und seine Ex* 
plosionslähigkcit. — Lange Versuche haben jedoch 
erwiesen, dass Acetylengas in kleinen Mengen ein- 
gcathmet, — unschädlich ist. Etwas anderes ist 
es mit der Explosionsfähigkeit. Die Explosivität 
des Acetylengases beginnt, wenn man ein Volumen 
des Gases • mit wenigstens i K Volumen Luft 
gemischt hat, eireicht ihr Maximum bei 12 
Volumen Luft und hörtauf, wenn das Gas mit 
20 Volumen oder noch mehr Luft gemischt ist. 
Es lässt sich nicht leugnen, dass das Acetjden* 
gas in der geeigneten Mischung mit Luft erheblich 
stärker explodirt als Leuchtgas. Immerhin sehe 
ich auch hierin keinen direkten Punkt, der die Ein* 
führung des Acetyi^’ngases unmöglich machen sollte.“ 
Betreffs der Herstellung des flüssigen Acetylens 
ergeben die Versuche von Berthelot und Vieille, 
dass Acetylen unter gewöhnlichem Druck nicht 
explosiv ist, dass"es aber bereits unter einem Druck 
von 2 Atm. alle Eigenschaften eines explosiven 
Gasgemenges zeigt und -dass die Explosionsfähig¬ 
keit mit dem Druck wächst. Flüssiges Acetylen ist 
ebenfalls' explosiv. Berthelot und Vieille halten 
eine praktische Verwendbarkeit trotzdem nicht für 
ausgeschlossen. - ln Frankreich werden bereits 
eine Reihe von Vorschriften für die Fabrikation 
von Acetylen ausgearbeitet. 

* 

Nach § 4, 1 . des Weingesefaes ist als Verfälschung 
des Weines insbesondere anzusehen die Herstellung 
von Wein unter Verwendung eines Aufgusses von 
Zuckerwasser f petiotisirter) Wein auf ganz oder teil¬ 
weise ausgepresste 'IVauben, wenn die nach diesem 
Verfahren hergestellten weinhaltigen und wein¬ 
ähnlichen Getränke unter dein Namen Wein schlech* 
weg in den Handel kommen;, solange ein solches 
Getränk unter einer ihre Beschaffenheit erkennbar 
machenden oder einer anderweitigen sie von Wein 
unterscheidenden Bezeichnung ~ Tresterwein — 
feilgehalten oder verkauft w'erden, ist dagegen nichts 
einzuwenden. — Die Herren Spaeth und Thiel*) 
haben chemische Untersuchungsniethoden zur Unter¬ 
scheidung solch petiotisirter resp. Tresterweine von 
unverfälschtem Weine geprüft und ausgcmittelt und. 
kamen zu folgenden Resultaten: Das wuchtigste 
Merkmal für petiotisirte Weine ist der abnorm ge¬ 
ruhe Gehalt an Phosphorsäure; bei Weinen, die 
mit petiotisirten Weinen verschnitten sind, ist der 
Nachweis mei.st sehr schwer, oft unmöglich. Als 
weiteres Merkmal für petiotisirte Weine dient der 
hohe Grrds/o^gehalt. Doch lässt sich dieser durch 
Schönen (Zusatz von Eiw’eiss oder Gelatine) ver¬ 
mindern. Andererseits muss mam berücksichtigen, 
dass auch reine Weissweine, w’enn sie mehr oder 
weniger auf den Trestern vergähren, viel Gerbstoff 
enthalten können. B. 


Die schwersten Lokomotiven der Welt 
sind nach Le Genie civil zur Zeit die zwölf- 
rädrigen Berglokomotiven der Mcxican. Ccntral- 
Eisenbahn, welche ohne Tender 104 Tonnen 
wiegen und deren 8 gekuppelte Räder mit 88 t 
belastet sind. Der grösste Raddruck beträgt hier- 

Zeicschr. f. aegew. Chemie 1896, Heft 33. 


nach II t, während derselbe bei den zum Verein 
Deutscher Eisenbahn-Verw'altungen gehörigen Loko¬ 
motiven 7 t nicht übersteigen darf. Diesen Loko¬ 
motiven am nächsten kommen die fünfachsigen 
Tendermaschinen des St. Clair-Tunnels in Amenka 
mit 89 t Dienstgewicht, und die ftinffach gekuppelten 
Güterzuglokomotiven der Erie-Eisenbahn mit vor¬ 
derem Drehgestell, deren totales Gewicht 881 beträgt. 

Fr. 

• » 

* 

Ein Acetyle;ngasmotor für Fahrräder ist w'ohl 
das Neueste auf dem Gebiete des Gasmotoren¬ 
baues. Eine grössere Maschinenfabrik Italiens be¬ 
schäftigt sich seit Kurzem mit dem Bau dieser 
Acetylengasmotoren und hat dieselben zunächst 
in kleinerem Massstabe bei Motorfahrrädern be¬ 
nutzt. .Der Cylinder der Maschine enthält ein Ge¬ 
misch von */i8 Acetylen und '®/ie Luft, wodurch 
ein Kühlen des Cylinders durch Circulationswasser 
nicht erforderlich ist. Die Art der Entzündung 
des Ga^emisches ist noch Geheimniss des Erfin¬ 
ders. Diese Motoren arbeiten mit einer Um¬ 
drehungzahl von 600 Touren und sollen ohne Wei¬ 
teres 15 Stunden im Betrieb bleiben können. Das 
Gewdeht beträgt 9 Kg. und die entwickelte durch 
Abbremsen gemessene Kraft 62 Kg. Die Betriebs¬ 
kosten werden auf etwa 5 Pfg. für die Stunde ver¬ 
anschlagt. (Dirglf.r’s folytechn. Journal). 

• 

Fortschritte im Eisenbahnwesen. Der im Som¬ 
mer 1895 stattgefimden Wettstreit zwischen den 
englischen Ost- und Westküstenlinien, die Schnell¬ 
züge London-Aberdeen mit der grösstmöglichen 
Fahrgeschwindigkeit zu befördern, hat bekanntlich 
den Erfolg gehabt, dass diese Züge auf der 824 
bis 864 Km. langen Strecke in 512 Minuten, also 
mit einer durchschnittlichen Falirgeschwindigkeit 
von 101,8 Km. bei einer Steigerung der Maximal¬ 
geschwindigkeit bis zu 130 Km. in der Stunde, be¬ 
fördert w'orden sind. Nachdem Nordamerika diesem 
Beispiele auf der Strecke New-York-Buffalo gefolgt 
ist und sogar eine noch grössere durchschnittliche 
Fahrgeschwindigkeit erreicht hat, ist nunmehr auch 
die Preiissische Staatseisenbahnverwaltung dazu 
übergegangen, eingehende Versuche mit der Stei¬ 
gerung der Fahrgeschw’indigkeit zu machen. Bei 
diesen im vorigen Jahre auf der Strecke Berlin- 
Lübbenau Vorgenominenen Versuchen ist bei einer 
Zugstärke von 30 Achsen eine grösste Fahrge¬ 
schwindigkeit von 106 Km. in der Stunde festge¬ 
stellt W'orden, also 20 Km. mehr, als die bisher 
höchste Fahrgeschwindigkeit der schnellsten D-Züge 
beträgt, während die Geschwindigkeit der gewöhn¬ 
lichen Schnellzüge nur etwa 70 Km. erreicht. Wenn 
auch bei uns kein so leidenschaftliches Interesse 
für den Wettstreit der Eisenbahnen in betreff der 
Steigerung der Fahrge.schwindigkeit der Schnell¬ 
züge vorhanden ist, so wird doch bei der fort¬ 
dauernden Zunahme des Personenverkehrs und 
dem mit der wirtschaftlichen Entwicklung des Lan¬ 
des steigenden Bedürfniss, grosse Entfernungen wie 
Berlin-Köln. Berlin-Frankfurt a. M., Berlin-Bresiau 
u. s. w'. öfter und desshalb in möglichst kurzer 
Zeit zurückzulegen, die Absicht der Staatseisen¬ 
bahnverwaltung auf weitere Beschleunigung der 
Schnellzüge mit Freude begrüsst werden, besonders 
wemi auch mit der weiteren Einführung der Durch¬ 
gangswagen nach amerikanischem System die An¬ 
nehmlichkeit des Rcisens wesentlich erhöht wird. 

IVehkehrs-Corkesponoenz). 


G. Horstmann's Druckerei. Frankfurt a. M. 


s. 


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DIE UMSCHAU 

ÜBERSICHT ÜBER DIE FORTSCHRITTE UND BEWEGUNGEN AUF 
DEM GESAMTGEBIET DER WISSENSCHAFT, TECHNIK, 

Wöchentlich eine Nummer. LITTERATUR UND KUNST Pre», vierteljährlich 

Zu beziehen durch herausgegeben von M. a.50. 

alle Buchhandlungen und IlTTlTrr'lIXirtTrk Jahres-Abonnement 

Postanstalten. T BECHHOLD Preis M. xo.-. 

Poslzeitungsprcisliste No. 7aaia. --- Im Ausland nach Coura. 

Verlag von: Verantwortlicher Redakteur: 

H. Bechhold Verlag, Frankfurt a. M. Otto Adolf Wolters, Frankfurt a. U. 

Neue Krame i9;'9i. 


2. 1. Jahrg. 


Nachdruck aus dem Inhalt der Zeitschrift ohne Erlaubnis 
der Redaktion verboten. 


1897. 9. Januar. 


Zur Behandlung der „Nervenschwäche“ 
(Neurasthenie). 

Von Professor Dr. A. Eulenuurc. 

„Krankheit'^ ist ein abgezogener Begriff; 
es giebt, im Grunde genommen, überhaupt 
keine Krankheiten, sondern nur „Kranke'', 
d. h. erkrankte Einzelwesen — und die Auf¬ 
stellung von Krankheitsbildern oder Krank¬ 
heitstypen beruht, mehr oder minder bewusst, 
auf einer Verallgemeinerung, die aber be¬ 
rechtigt und zu der unsere ärztliche Wissen¬ 
schaft sogar genötigt ist, um in dem ver¬ 
wirrenden Labyrinth der Einzelerscheinungen 
den leitenden Faden nicht zu verlieren. Trotz¬ 
dem haftet dieser Verallgemeinerung immer in¬ 
sofern etwas Bedenkliches an, als sie uns gar 
zu geneigt macht, mit leeren Begriffen zu 
operieren und Namen an die Stelle von Sachen 
treten zu lassen; der denkende Arzt wird 
sich daher auch über die Grenzen ihrer Be¬ 
rechtigung keinen Täuschungen hingeben. Gilt 
dies nun schon auf den verschiedensten an¬ 
deren Gebieten ärztlicher Wissenschaft, so 
noch viel mehr auf dem unendlich schwierigen 
und verworrenen Felde der sogenannten ner¬ 
vösen Krankheitszustände, wo wir zu einer 
einigermassen sicheren Abgrenzung und zur 
Aufstellung fester, typischer Krankheitsbilder 
Oberhaupt kaum erst in ^ngster Zeit unter 
Überwindung mannichfaltiger, in der Natur 
der Sache liegender Hindernisse gelangt sind. 

Unter „nervösen Krankheitszuständen" ist 
hier alles das zu verstehen, was man ärztlicher¬ 
seits in einem gewissen Gegensatz zu den (im 
engeren Sinne) „organischen“ Erkrankungen 
des Nervensystems auch als „functioneileNerven¬ 
störungen", „Neurosen" bezeichnet, und wo¬ 
von die unter dem mehr und mehr sich ein¬ 
bürgernden A\xsdT\xc)/Le „Nervenschwäche" (Neu¬ 
rasthenie) zusammengefassten Störungsformen 
die Haupt- und Grundmasse bilden, 

„Neurasthenie" ist für uns einerseits die 

tlmschjiu 1897. 


zumeist angeborene, häufig ererbte fehlerhafte * 
Veranlagung, die sich in geringerer Wider 
Standsfähigkeit, gesteigerter Reizbarkeit und 
Erschöpfbarkeit („reizbarer Schwäche") des 
Nervensystems kundgiebt — andererseits auch 
der aus diesem Anlagefehler in Oberaus zahl¬ 
reichen Fällen hervorgehende Komplex krank¬ 
hafter Störungen selbst, dessen beklagenswerte 
Opfer, die „Neurastheniker", uns im modernen 
Leben in den allerverschiedensten Exemplaren 
und Spielarten auf Schritt und Tritt allent¬ 
halben entgegentreten, und der grossen Mehr¬ 
zahl der Leser vermutlich nicht blos vom 
Hörensagen, sondern aus eigenen Erfahrungen 
und Erlebnissen hinreichend bekannt sind. 
Eines näheren Eingehens darauf müssen wir 
uns umsomehr enthalten, als wir es dem ge¬ 
wählten Thema zufolge ja hier nicht mit der 
Schilderung und ursächlichen Begründung die¬ 
ser krankhaften Zustände, sondern mit Be¬ 
merkungen über ihre Behandlung ausschliess¬ 
lich zu thun haben. 

In notwendiger Consequenz der Eingangs¬ 
worte haben wir uns auch hier vor Allem 
gegenwärtig zu halten, dass es nun und nie¬ 
mals unsere Aufgabe sein kann, die „Nerven¬ 
schwäche“, die „Neurasthenie“ als solche zu 
behandeln, sondern Nervöse, Neurasthenische; 
und dass 'diese Unterscheidung keine leere 
Wortspielerei ist, sondern von unmittelbarer 
und weittragender praktischer Bedeutung -• 
weil damit sofort Alles abgelehnt und ver¬ 
urteilt ist, was irgendwie nach „Schablone“, 
nach einer bestimmten „Methode“, einem pa¬ 
tentierten „Kurverfahren“ gegen Nervosität 
aussieht — mag es nun von ärztlichen oder 
nichtärztlichen Charlatanen in die Welt gesetzt 
und mit noch so volltönigem Reklame-Tamtam 
als souveränes Heil- und Universalmittel tau¬ 
sendstimmig und täglich angepriesen werden. 
Es giebt dergleichen nicht — und Alles, was 
sich in solcher Weise präsentiert, mag es in 
Unispi oder Hypophosphitsyrup, Heilmagnetis- 

2 




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22 


Eulenburg, Nervenschwäche. 


musoder Elektro-Homöopathie, Sonnenbädern, 
elektrischen Lichtbädern, Dampfschwitzbädern, 
Sitzreibbädern oder kalten Güssen, in Re- 
generations- oder Heilkräuterkuren und was 
sonst immer bestehen — es ist und bleibt in 
diesem Sinne einfach Schwindel! Misstrauen 
gegen Alles, * was sich unter dem pomphaften 
Titel einer Kur oder gar einer alleinselig¬ 
machenden Panacee ausbietet, und gegen den 
geschäftsgewandten Agenten oder Händler 
in derartiger Kurwaare ist hier dringendst 
gebotene und vor schwersten Opfern und 
Verlusten sicher stellende Weisheit. Nicht 
Schablone, sondern Individualisierung, nicht 
gegen das Schreckgespenst dpr „ Nervosität" ge¬ 
richtete „Kuren", sondern eine aus eindring¬ 
lichem Verständniss und Berücksichtigung der 
Einzelverhältnisse entspriessende Hülfeleistung 
für den einzelnen Kranken ist auf diesem Ge¬ 
biete die Losung. 

Ehe wir uns den Aufgaben der eigent¬ 
lichen Behandlung zuwenden, müssen wir noch 
die Fragen der (Prophylaxe), soweit 

sie hier in Betracht kommen, wenigstens kurz 
streifen. Man „wird" in der überwiegenden 
Mehrzahl der Fälle eigentlich nicht zum „Neu¬ 
rastheniker“, sondern man „ist" es; die von 
vornherein bestehende Veranlagung wird nur 
herausgebildet, entwickelt — durch Umgebung, 
Erziehung, Selbstzucht allerdings mannichfaltig 
gehemmt oder gefördert. Aus dem Begriffe 
der „Neurasthenie“ geht dies im Grunde als 
selbstverständlich hervor, da sie ja eben Krank¬ 
heitsanlage und Krankheit zugleich sein soll; 
es wird aber auch durch die alltägliche Er¬ 
fahrung überreichlich bestätigt. Wer sich die 
Mühe giebt, Kinder, zumal in Grosstädten, 
diesen Brutanstalten der Neurasthenie, darauf¬ 
hin sorgfältiger zu beobachten, der wird in 
ihrem Wesen und Gehahren bei den verschie¬ 
densten Gelegenheiten, beim Spiel, bei der 
Arbeit, beim Verkehr unter einander und mit 
Erwachsenen die Typen der sich entfaltenden 
Neurastheniker unschwer herausfinden. Eine 
wirksame Prophylaxe müsste also sehr früh, in 
der Regel schon in früher Kindheit einsetzen; 
und sie würde folgerichtig darin zu bestehen 
haben, solche nervös veranlagten und zumeist 
erblich belasteten Kinder unter ganz andere 
körperliche und geistige Entwickelungsbeding¬ 
ungen, in ganz andere Lebens- und Erziehungs¬ 
verhältnisse zu versetzen, als sie für „nor¬ 
male" Durchschnittskinder tauglich oder wenig¬ 
stens erträglich sein mögen; sie vor Allem 
schädigenden Einflüssen ihrer näheren und 
ferneren Umgebung völlig zu entziehen und in 
einer für sie geeigneten, auf sie wohlthätig 
wirkenden geistig-sittlichen Atmosphäre her¬ 
anreifen zu lassen. Also auch hier wieder 
nicht „Schabionisierung^', sondern „Individuali¬ 


sierung"; geeignete Sondererziehung an Stelle 
der üblichen, dressurmässigen, Massen- und 
Durchschnittserziehung. Es liegt freilich auf 
der Hand, dass zur Erfüllung solcher päda¬ 
gogischen Sonderaufgaben die Eltern, von 
denen die nervöse Belastung stammt, in der 
; Regel möglichst wenig berufen und auch zum 
, Bringen der dafür unvermeidlichen Opfer nur 
ausnahmsweise zu haben sein werden; und 
dass andererseits unsere Staatsschulen mit 
ihrer bOreaukratischen Bevormundung, ihrer 
geistigen Uniformirung, ihren vorgeschriebenen 
Lehrpensen, Lehrmitteln und Lehrmethoden zur 
Erreichung solcher Sonderzwecke sich als 
gänzlich ungeeignet erweisen müssen. Auf die 
Mithülfe von Familie und Schule ist also wenig 
zu zählen; und was bleibt uns dann in der¬ 
gleichen Fällen übrig? — Doch „das ist ein 
weites Feld“, wie der alte Oberst in Fontane’s 
Effie Briest solchen heiklen Fragen gegenüber 
zu bemerken pflegt; und so müssen wir uns 
damit begnügen, die wunderliche Beschaffen¬ 
heit unserer Gesellschaftseinrichtungen anzu¬ 
staunen, die nun einmal darauf angelegt scheinen, 
zahllose unnütze und selbst gefährliche Mit¬ 
glieder aufzuzüchten, um sie hinterdrein zu be¬ 
kämpfen und nach Kräften unschädlich zu 
machen, statt sich ihrer fehlerhaften und ver¬ 
kehrten Aufzucht von vornherein zu erwehren. 

Treten wir um einen Schritt der eigent¬ 
lichen Behandlung näher, so schliesst sich 
diese insofern der voraufgehenden Betrach¬ 
tung eng an, als auch hier offenbar in 
zahlreichen Fällen die Aufgabe obwaltet, 
noch in späterem Lebensalter und unter un- 
ungünstiger und schwieriger gestalteten Ver¬ 
hältnissen nachzuholen, was während der 
Jugenderziehung versäumt oder doch nicht 
in ausreichendem Maasse geleistet wurdet Ab¬ 
härtung, Kräftigung, nicht blos in körperlicher, 
sondern mindestens ebensosehr in geistig sitt¬ 
licher Hinsicht; Erweckung und Festigung der 
intellektuellen und moralischen Energie, der 
inneren Selbstarbeit, Ablenkung der krank¬ 
haften Empfindlichkeit auf die Bewegungs- und 
Willenssphäre, überhaupt: Heranbildung eines 
festen sittlichen Wollens! Es ist schon hiermit 
ausgesprochen, dass wir der „seelischen" Ein¬ 
wirkung oder Behandlung („Psychotherapie") 
den weitaus grössten Spielraum und entschei¬ 
dende Bedeutung bei Neurasthenikern zu¬ 
erkennen; vorausgesetzt natürlich, dass sie in 
sachkundiger Weise, mit vollendetem psycho¬ 
logischen Verständnis, und dabei ohne Auf¬ 
dringlichkeit, wie etwas Selbstverständliches 
geboten wird — in einer Form also, die ge- 
vvissermasen nur eine erweiterte und vertiefte, 
auf die besonderen Verhältnisse des kranken 
Lebens übertragene, ärztliche Pädagogik dar¬ 
stellt. Es ist das freilich nicht leicht, und 


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Eulenburg, Nervenschwäche. 


23 


ebensoweit entfernt von den selbstgefällig 
renommistischen Künsten unserer Hypnotiseure 
oder, wie sie sich jetzt lieber nennen hören, 
„Suggestionstherapeuten“ — wie von den ter¬ 
roristischen Anwandlungen mancher sonst leid¬ 
lich Verständigen, die mit „schmerzbereitender“ 
faradischer Pinselung und ähnlichen Schreck¬ 
mitteln, hier und da auch — wie bekannt — 
mit noch drastischeren und handgreiflicheren 
Manipulationen gegen einzelne Symptome los¬ 
ziehen und mit deren (oft spielend leicht zu 
erzielender) Beseitigung sich selbst und Andern 
gewaltig imponieren. Es handelt sich zunächst 
und in erster Reihe darum, durch ein zielbe¬ 
wusstes, konsequentes, und bei allem Entgegen¬ 
kommen doch der ärztlichen Würde nichts ver¬ 
gebendes Auftreten das volle Vertrauen des 
Kranken zu verdienen und zu behaupten; seiner 
Eigenart, seinen besonderen Verhältnissen und 
Lebensbedingungen das richtige Verständnis 
und teilnahmvollesInteresse entgegenzubringen 
— ein Verständnis, das uns erst den Schlüssel 
fürdie Auffassung und Würdigung der kranken 
Einzelpersönlichkeit und somit einer sach- und 
zweckgemässen Einwirkung an die Hand giebt, 
das sich aber natürlich bei Leibe nicht in 
blindem kritiklosen Hinnehmen, sondern nur 
in einer auf reiche Erfahrung gestützten Sich¬ 
tung alles Gehörten und Wahrgenommenen 
und in der nach wissenschaftlichen Gesetzen 
erfolgenden Verwertung des so erhaltenen 
Materials wirksam bekundet. Hauptsache bleibt 
dabei immer, dass dem Kranken die über¬ 
legene und sichere ärztliche Persönlichkeit ent¬ 
gegentritt, deren Leitung er sich gern und 
willig anvertrauen mag; denn in der „Persön- 
. lichkeit“ liegt schliesslich das volle und alleinige 
Geheimnis der Wirkung von Mensch zu 
Mensch, mag es sich um das rein erzieherische 
Wirken im Sinne der gewöhnlichen Jugend¬ 
erziehung, oder um die uns hier beschäf¬ 
tigende, schon kurz charakterisierte Art ärztlich¬ 
pädagogischer Einwirkung handeln. Freilich 
muss dann auch der Arzt selbst, und vor 
Allem der Nervenarzt, eine solche Persönlich¬ 
keit sein und, wofern ihn die Natur nicht 
dazu geschaffen haben sollte, mit strenger und 
stetiger Selbstarbeit — wozu viel gehört — 
Alles daran setzen, sich zu einer solchen zu 
bilden. Hier allerdings fehlt es nur zu oft; Un¬ 
zählige halten sich für berufen, aber „Wenige 
sind auserwählt“; und dass diese Wenigen 
gerade unter der Zahl derer, die durch Kauf, 
Pacht, Erheiratung oder Neugründung in den 
Besitz einer „Nervenheilanstalt“ gelangen und 
sich darum für „Nervenärzte“ halten oder er¬ 
klären, besonders häufig anzutreffen sein soll¬ 
ten, ist von vornherein nicht allzu wahr¬ 
scheinlich. Viel eher vielleicht sind die von 
Natur berufenen und begnadeten Persönlich¬ 


keiten unter ganz anderen Leuten zu finden, 
die leider mit der strengen Wissenschaft nichts 
oder recht wenig zu thun haben, die aber die¬ 
sen mitunter selbstempfundenen Mangel durch 
andere Vorzüge bis zu einem gewissen Grade 
zu ersetzen und jedenfalls, worauf esankommt, 
einen ganz ungeheuren Einfluss auf die Kran¬ 
ken zu gewinnen und diesen Einfluss auch 
im Allgemeinen zu deren Nutzen zu gebrauchen 
verstehen. Was für Persönlichkeiten ich da¬ 
bei im Auge habe, das wird man, auch ohne 
dass ich einzelne „illustrative“ Beispiele nam¬ 
haft mache, ohne Weiteres verstehen. • 

Dem Gesagten zufolge beantwortet sich denn 
auch die im Einzelfalle freilich oft recht schwie¬ 
rige und von den besonderen Verhältnissen ab¬ 
hängige Frage, wo man Neurasthenischebehan¬ 
deln soll, ob zu Hause und in der Familie, oder 
ausserhalb, in Kurorten,Krankenhäusern,Privat- 
kliniken, Sanatorien, Kaltwasseranstalten, Ner¬ 
venheil- oder unter sonstigen, mehr oder minder 
anspnichsvollen Namen auftretenden Spezial¬ 
anstalten. Die Hauptsache ist natürlich nicht, 
an welchem Orte behandelt wird, sondern in 
welchem Geiste; nicht wo, sondern von wem 
— aber immerhin spielt doch auch das„Milieu“ 
gerade bei Kranken dieser Art eine unver¬ 
kennbar wichtige, auf Gemüt und Stimmung 
einwirkende und dadurch den Kurzweck 
fördernde oder beeinträchtigende Rolle. Der 
geschickte Arzt wird auch diese Einflüsse 
zum Wohle des Kranken auszunOtzen und 
zu lenken verstehen; er wird freilich oft 
mit bescheidenen Mitteln und unter un¬ 
günstigen Aussenverhältnissen weit mehr zu 
leisten imstande sein, als der Ungeübte und 
Unerfahrene oder auch der blos scheinerfah¬ 
rene Routinier mit allen „Heilfakforen“ einer 
mit renommistischem Pomp ausgestatteten und 
durch grossartige Anlage und Einrichtung im¬ 
ponierenden Anstalt. Übrigens bekenne ich 
ganz offen, dass ich nach einer mehr als 
dreissigjährigen gewiss nicht geringen Erfah¬ 
rung auf diesem Gebiete aus einem ursprüng¬ 
lichen Freunde und warmen Förderer der An¬ 
staltbehandlung zwar nicht zu einem entschie¬ 
denen Gegner, aber zu einem mehr und mehr 
ernüchterten und herabgestimmten Beurteiler 
ihres Wertes und ihrer Leistungen bei Nerven¬ 
kranken geworden bin.* Die unter den obigen 
Titeln sich ankündigenden Spezialanstalten 
entsprechen zwar, wie die Thatsache ihres Röus- 
sierens und ihrer fast ins Maslose gestei¬ 
gerten Überproduktion ergiebt, einer offenbar 
im Zuge der Zeit liegenden und nicht zu um¬ 
gehenden Notwendigkeit; aber sie sind und 
bleiben fllr den, der sie oder wenigstens eine 
gehörige Anzahl von ihnen kennen gelernt 
und hinter ihre Kulissen geblickt hat, nichts 
als ein „notwendiges Übel", ein bequemes, 

a* 


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24 


Hamann, Tierwelt der Höhlen. 


aber nicht gerade schätzbares Auskunftsmittel 
in den zahlreichen Fällen, deren man sich 
entledigen will oder muss, und zum weitaus 
überwiegenden Teile mit so mannichfachen 
und schweren Übelständen belastet, dass sie 
selbst das wenige Gute, das sie zu leisten ver¬ 
mögen, dadurch in recht empfindlicher Weise 
beeinträchtigen. Ich widerstehe, aus Raum¬ 
und Zeitmangel, ungern der Versuchung, mich 
in eine ausführlichere Kritik des Wirkens 
und Treibens dieser Anstalten einzulassen — 
einer Kritik, die sich stellenweise fast wie Satire 
ausnehmen und von Unkundigen vielleicht da¬ 
für genommen werden könnte. Natürlich giebt 
es einzelne rühmliche Ausnahmen, die nach dem 
bekannten Worte „die Regel bestätigen“, und 
ich kann es selbstverständlich keinem Anstalts¬ 
besitzer oder Anstaltsarzte verwehren, seine 
eigene Anstalt als eine dieser Ausnahmen zu 
betrachten und wie bisher in Prospekten und 
Reklamen jeder Art ausgiebigst zu glorifizieren. 
Ich will nur noch darauf aufmerksam machen, 
dass es — von allen sonstigen Mängeln ganz 
abgesehen — schon an sich etwas Bedenkliches 
hat, eine grosse Anzahl von nervösen Kranken, 
die sich durch „psychische Kontagion“ oder 
Induktion fortwährend infizieren, in einer An¬ 
stalt zu vereinigen — und dass es überdies bei 
einer grösseren Krankenzahl auf diesem Ge¬ 
biete selbst dem hingehendsten Willen und der 
grössten Kraft und Ausdauer entschieden un¬ 
möglich ist, die oben formulierten Heilauf¬ 
gaben in ausreichendem Masse ärztlicherseits 
zu erfüllen. Es-trifft dieser Vorwurf natülich 
ganz besonders die „grossen Anstalten“; aber 
welche Anstalt, zumal wenn sie im Sinne ihres 
Gründers oder Besitzers „gut geht", wäre nicht 
fortwährend darauf bedacht, sich zu vergrössern 
— zum Teil in solchem Umfange, dass An¬ 
stalten mit hundert und selbst noch weit mehr 
Insassen, der die „Kurmittel“ benutzenden Ex¬ 
ternen nicht zu gedenken, kaum noch zu den 
Seltenheiten gehören. Die sogenannten „Natur¬ 
heilanstalten“ sündigen ürigens gerade in die¬ 
ser Beziehung am kräftigsten. 

(Schluss folgt.) 


Die Tierwelt der Höhlen. 

Von Professor Dr. Otto Hamann.' 

Licht und Leben, Finsternis und Tod sind 
so eng zusammengehörige Begriffe, dass es 
uns kaum glaublich erscheinen will, wenn von 
Organismen berichtet wird, die ohne den Ein¬ 
fluss des Lichtes, ohne den Einfluss der 
Sonnenstrahlen ihr Dasein fristen. Zu irgend 
einer Zeit ihrer Entwickelung oder ihres 
Lebens, müssen sie, so meinen wir, das Tages¬ 
licht benötigen. Und doch giebt es Räume, 


tief unter der Erde, wo, für immer abge¬ 
schnitten vom Tageslicht, in ewiger Finster¬ 
nis, Tiere leben, entstehen und vergehen. 
Fragt man sich, was es wohl für Tiere ge¬ 
wesen sein mögen, die in die Höhlen aktiv 
oder passiv gelangt, sich in ihnen heimisch 
fühlten und ansiedelten, so meine ich, wird 
die Antwort zunächst lauten: Es werden 
Formen gewesen sein, die bereits oberirdisch, 
freilebend lichtscheue Wesen waren. Ob diese 
Antwort eine allgemeine Giltigkeit bean¬ 
spruchen kann, werden wir weiter unten sehen. 

In den meisten Höhlen, wie sie in den 
Kalkgebirgen der alten und neuen Welt auf- 
treten, treffen wir eine Tierwelt an, die sich 
in ihrer Organisation teilweise sehr weit ent¬ 
fernt von den nächsten oberirdisch lebenden 
Verwandten. Wenn man von Höhlen spricht, 
so darf man sich nicht kleine, unterirdische 
Gänge von geringer Tiefe vorstellen, die 
etwa in einen Berg hineinftlhren, sondern viel¬ 
mehr grosse über mehrere Kilometer sich 
verzweigende Systeme von Höhlengängen, die 
sich bald zu domartigen Räumen erweitern, 
bald wieder derartig verengen, dass man kaum 
aufrecht in ihnen stehen kann. Erinnert man 
sich, dass diese Höhlen entstanden sind durch 
Auswaschung des durch Spalten im Kalk¬ 
gestein in die Tiefe dringenden Wassers, das 
sie allmählich erweiternd durchfloss, um später 
wieder an das Tageslicht zu treten, so wird 
man es nicht wunderbar finden, dass wir in 
den Höhlen noch jetzt Flüsse mit Seen und 
Wasserfällen antreffen, die die imposanten 
unterirdischen Räume durchziehen. Solche 
Höhlensysteme sind verschiedene in Amerika 
bekannt geworden. Das grösste ist noch 
immer die Mammuthhöhle in Kentucky, dann 
folgen die Akteleker-Höhle in Ungarn und 
die Adelsberger Höhle mit ihren Verzwei¬ 
gungen. In allen diesen Höhlen, wie auch 
in jenen Englands, Frankreichs, der Pyrenäen 
und Italiens, sind uns Vertreter einer unter¬ 
irdischen Fauna beschrieben worden, die sich 
aus fast allen Tiertypen zusammensetzt. Neben 
Fischen und Amphibien, wie dem Olm, leben 
Schnecken und Insekten, insbesondere ist die 
Zahl der Käfer, Spinnen, Tausendfüssler sehr 
gross, während Heuschrecken, Fliegen, Wür¬ 
mer und die einzelligen Wesen mehr zurück¬ 
treten. Dabei haben wir nur die echten Höhlen¬ 
bewohner im Sinn, also solche Tier, die 
ausschliesslich im Finstern leben, hier geboren 
werden und Zeit ihres Lebens in den Höhlen 
verharren, nicht aber die grosse Zahl von 
Organismen, die bereits oberirdisch an feuchten, 
dunklen Orten leben und sich in den Ein¬ 
gängen, selten tiefer in den Höhlen finden. 
Wenn man die echten Höhlentiere Europas 
und Amerikas zusammenzählt, so mögen jetzt 


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Hamann, Tierwelt der Höhlen. 


25 


gegen Tausend bekannt geworden sein, deren 
Zahl von Jahr zu Jahr zunimmt. 

Für das Fehlen des Lichtes werden diese 
Bewohner der Finsternis entschädigt durch 
eine das ganze Jahr hindurch fast gleich 
bleibende Temperatur, die im Mittel gegen 
7 * R. beträgt. Sie sind so den atmosphärischen 
Einflüssen, dem Wechsel von Kälte und 
Wärme enthoben. 

Den meisten Höhlentieren sieht man an 
ihrer Färbung den unterirdischen Aufenthalt 
an. Sie haben eine blässere Farbe als ihre 
Verwandten, die oberirdisch leben, oder sind 
farblos, weiss, indem das Pigment gänzlich 
verschwunden ist. Die Krebse, die die unter¬ 
irdischen Wässer bevölkern, sind sogar bei¬ 
nahe durchsichtig, glashell. Die Schnecken, 
besonders die Arten der Gattung Carychium 
sind ebenfalls farblos und leben mit hell ge¬ 
färbten Spinnen und TausendfÜssern zusammen. 
Ebenso sind die Milben, die Springschwänze 
(Thysanuren) weiss wie Schnee. Auch der 
Olm, dieser merkwürdige Molch der Höhlen 
Krains, hat eine gelblichweisse, fleischrote 
Färbung. Neben diesen farblosen Arten leben 
aber andere, die in ihrer Färbung sich wenig 
entfernen von den freilebenden Arten. So 
besitzen viele echte Höhlenspinnen eine 
dunklere Farbe und einzelne Tausendfüsser 
sind sogar grell gefärbt, ein Zeichen, dass 
die Dunkelheit die Farbe wohl bleichen kann, 
aber es nicht braucht. 

Einen weit gewaltigeren Einfluss schreibt 
man dem Einwirken der Finsternis auf die 
Sehorgane zh. Da thatsächlich der grösste 
Teil aller Höhlentiere der Augen entbehrt, 
so ist man schnell bei der Hand zu sagen, 
dass das Fehlen der Sehorgane eine Folge 
des Lebens im Dunkeln sei. Man glaubt 
hierzu um so mehr Recht zu haben, als die 
Fische und der Olm, die die Höhlen bevölkern, 
rückgebildete Augen besitzen, ähnlich wie 
es beim Maulwurf der Fall ist. Der Nicht¬ 
gebrauch der Augen hätte somit ihre Rück¬ 
bildung oder gar den Schwund zur Folge 
gehabt. Bei einer Anzahl von Tieren mag 
ein solcher Vorgang thatsächlich stattgefunden 
haben, für die Mehrzahl aber lässt er meines 
Erachtens sich nicht einmal wahrscheinlich 
machen. 

Das Problem des Ursprungs der Höhlen¬ 
tiere, ihrer Blindheit, sowie die Entstehung 
blinder Tiere Überhaupt, ist bisher so gut wie 
garnicht in Angriff genommen worden. Dass 
es nicht von heute auf morgen gelöst werden 
kann, zeigen folgende Thatsachen. Man trifft 
unter den echten Höhlenbewohnern Käfer¬ 
arten an, deren Vertreter nicht die Spur von 
Augen haben; daneben solche, bei welchen 


nur die weiblichen Tiere blind, die männlichen 
hingegen augenbegabt sind. Nicht wunderbar 
wird uns die Existenz eines blinden Höhlen¬ 
käfers beispielsweise sein, wenn die oberirdisch 
lebenden Arten derselben Gattung ebenfalls 
blind sind und wir unter den freilebenden 
Arten überhaupt eine Tendenz zur Rückbildung 
sehen. Das gilt für die Gattungen Trechus 
und Bathyscia, von denen viele unter Moos 
und Steinen lebende Arten blind sind. Bei 
den hierher gehörigen Tieren brauchen die 
Augen nicht erst in den Höhlen durch Dunkel¬ 
heit in Folge Nichtgebrauches geschwunden 
zu sein; sie werden, das ist das wahrscheinliche, 
bereits mit rudimentären Augen in die Höhlen 
gelangt sein. 

Ich glaube aus den angegebenen Gründen 
die echten Höhlentiere in zwei Gruppen sondern 
zu müssen. In die erste Gruppe würden alle 
diejenigen Arten gehören, die oberirdische 
blinde Verwandte haben und jedenfalls bereits 
ohne Sehorgane waren, als sie sich in den 
Höhlen ansiedelten. Zur zweiten Gruppe 
rechne ich diejenigen Formen, deren nächsten 
Verwandten augenbegabt sind. Bei den dieser 
Gruppe zugehörigen Formen würde man die 
Rückbildung der Sehorgane als Folge der 
Dunkelheit ansehen dürfen. Damit schreiben 
wir die Verkümmerung der Augen dem Ein¬ 
fluss der veränderten äusseren Lebensbeding¬ 
ungen zu. Beim Olm legen sich die Augen 
bei jedem einzelnen Individium in der Jugend 
an und bilden sich zu einer bestimmten Zeit 
zurück, um von der verdickten Oberhaut be¬ 
deckt, nicht mehr zu funktionieren. Ähnlich 
soll es bei der in den oberirdischen Fluss¬ 
läufen lebenden Garneele sein, was ich aber 
bezweifle. Bei anderen Tieren wiederum, so 
dem Flohkrebs aus den Tümpeln der Höhlen, 
legen sich die Augen nicht in der Jugend an. 
Diesen Tieren fehlen während ihres ganzen 
Lebens die Augen und die Sehnerven, wäh¬ 
rend im Gehirn der Teil, von dem der 
Sehnerv sonst seinen Ursprung nimmt, vor¬ 
handen ist. 

Die verschiedenen Hypothesen, die bisher 
über den Ursprung blinder Höhlentiere auf¬ 
gestellt worden sind, und zwar auf Grund 
nur weniger Beobachtungen, versuchten die 
Frage für alle Tiere in dem gleichen Sinne 
zu lösen. Sie lassen die blinden Formen von 
oberirdisch lebenden sehenden abstammen, 
was, wie ich ausführte, nur für einen Teil 
gelten kann. Der grösste Teil aber, darauf 
weist das Vorhandensein von blinden Tieren 
zu allen, auch früheren Erdperioden, hin, war 
bereits freilebend blind. Diejenigen Formen, 
die bereits freilebend dunkle, feuchte Orte 
bevorzugten, eigneten sich besonders zur 
dauernden Besiedelung der unterirdischen 


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26 


Ehlers, Volkswirtschaftslehre. 


Räume, in die sie teils aktiv teils passiy 
hineingeführt sein werden. ’ 

Beobachtet man die blinde Tierwelt in den 
Höhlen, wie sie auf Nahrungsen^'erb ausgeht, 
so fragt man unwillkürlich, in welcher Weise 
ein Ersatz fiir das Fehlen der Augen geschaffen 
sei. Es lässt sich, wie zu erwarten war, nach- 
weisen, dass bei den blinden Tieren an Stelle 
des Gesichts andere Sinne geschärft worden 
sind. Blinde Tiere benehmen sich, wie man 
in den Höhlen beobachten kann, wie die 
sehenden. Wenn man einmal das Glück ge¬ 
habt hat zu verfolgen, wie der blinde Pseudo¬ 
skorpion Obisium mit hoch erhobenen 
Greifzangen auf einen blinden Käfer Jagd 
macht, und auf meterweite Entfernung sich 
ihm langsam aber sicher, zielbewusst nähert, 
so wird man zu der Meinung kommen müssen, 
dass dies nur möglich ist, wenn Geruch und 
Gehör besonders geschärft sind. Dass der 
Geruchsinn stark entwickelt ist, können wir 
durch den Nachweis besonderer Organe bei 
den meisten Höhlentieren nachweisen, die 
zweifelsohne Geruchsorgane sind. Weiter sind 
aber besondere Sinnesorgane bekannt ge¬ 
worden, die den augenbegabten Tieren fehlen; 
ja der ganze Körper der blinden Thiere zeigt 
besondere Organisationsmerkmale. Die Glieder 
der blinden Höhlentiere haben das Be¬ 
streben, sich in die Länge zu ziehen und zu 
strecken. Am schönsten zeigen dies unter 
den Käfern der Leptoderus, Aphaenops, 
einzelne Spinnen, das von mir entdeckte In¬ 
sekt Camp'odea, dessen Schwanzanhänge, 
die aufrecht getragen werden, drei mal so 
lang, als wie das ganze Tier sind. Bei allen 
Formen treten längere, zartere Beine auf; ihr 
Leib ist gestreckter. Zugleich sind die Haare 
und Borsten auf dem Körper, den Fühlern 
und Beinen von besonderer Länge und Be¬ 
schaffenheit, wie ich an einem anderen Ort 
ausführlich nachzuweisen denke. In jedem 
Härchen, jeder Borste enden Nervenfasern, 
die jeden Reiz, der die Körperhaut trifft, 
vermitteln. 

Was die Lebensweise der Höhlentiere be^ 
trifft, so sind die einzelnen Arten eben so auf 
einander angewiesen, wie die oberirdisch 
lebenden. Für einzelne ist der Kampf ums 
Dasein härter als im Freien, für andere ist 
er kaum vorhanden. Den blinden Flohkrebs 
fand ich in der Adelsberger Höhle in kleinen 
Tümpeln, die durch die von der Decke trop¬ 
fenden Sickerwässer gebildet werden, wo er 
doppelt so gross wie sein frei lebender Ver¬ 
wandter wird, da ihm kein Feind nachstellt. 
Für die grossen Käfer hingegen ist die Zahl 
der Nachsteller sehr gross. Die Spinnen, be¬ 
sonders Stalita und die Pseudoskorpione 
sind ihre schlimmsten Feinde. Viele Käfer 


nähren sich von den Resten abgestorbener 
Tiere, andere von Pflanzenresten, die von 
aussen in die Höhlen gelangt sind, während 
noch andere, wieTrechusarten, lebende Arthro¬ 
poden angreifen. Die Isopoden, kleine Krebs¬ 
tiere, und viele Tausendfüsser, trifft man auf 
faulenden Holzstücken an, ebenso die winzigen 
Bärentiercheh und Thysanuren. Im allgemeinen 
wird sich der Nahrungserwerb ftlr die Höhlen¬ 
tiere nicht schwieriger gestalten als oberirdisch. 

Werfen wir zum Schluss einen Blick auf 
einzelne Höhlentiere, so ist es vor allem der 
Olm, der unsere Aufmerksamkeit fesselt, denn 
noch immer ist Vieles über seine Fortpflanzung 
nicht aufgeklärt, wenn wir auch jetzt vor¬ 
nehmlich durch die Untersuchungen einer 
Dame, MarievonChauvin, erfahren haben, 
dass er Eier legt. Über seine Herkunft 
wissen wir nichts; mit den jetzt oberirdisch 
lebenden Amphibien steht er in keinen Be¬ 
ziehungen. Nicht viel besser sind wir über 
die blinden Fische der amerikanischen Höhlen 
unterrichtet und die Lebensgeschichte, ja der 
ganze Bau der meisten Höhlentiere harrt noch 
der Erforschung. Kein Wunder, wenn man 
bedenkt, dass das Betreten der Höhlen teil¬ 
weise mit grossen Gefahren verbunden ist 
und nicht Jeder seiner Gesundheit zumuten 
mag, stundenlang in den kalten, unterirdischen 
Räumen bald kletternd, bald kriechend zu¬ 
zubringen. Eine ausführliche Zusammenstellung 
der Höhlentiere Europas mit Angabe ihrer 
Fundorte habe ich in dem Buche „Europäische 
Höhlenfauna“. (Jena 1896 mit 5 Tafeln) ge¬ 
geben. Es sei Jeder, der sich näher orientieren 
will, darauf verwiesen. Wer aber nach dem 
Süden Österreichs, nach K r a i n kommt, der 
versäume nicht, den Adelsberger Höhlen einen 
Besuch abzustatten, um sich selbst von der 
Grossartigkeit der Wohnräume der Höhlen¬ 
tierwelt zu überzeugen. 

/ _ 

/ 

*) Die Entwickelung der Volkswirtschaftslehre 

Von Dr. Otto Ehltrs. 

Es hiesse den Ruf der Gründlichkeit, den 
das deutsche Volk sich mühsam erworben 
hat, leichtsinnig aufs Spiel setzen, wenn eine 
Betrachtung, die sich mit der Entwickelung 
der Nationalökonomie befasst, nicht zwei Vor¬ 
aussetzungen erfüllte: erstens die Frage be¬ 
antwortete, was man unter Nationalökonomie 
versteht, und zweitens die Geschichte dieser 
Wissenschaft ab ovo behandelte. Aber der 
Leser braucht nicht zu erschrecken; es liegen 

•) Die späteren Nummern der .Umschau“ werdeu eiuge Auf¬ 
sätze bringcu, die gewisse Vorkenntnisse wünschenswert er* 
scheinen lassen. Obiger Aufsatz soll zur EinfQhrun^ fnr die¬ 
jenigen unserer Leser dienen, welche mit der Materie weniger 
vertraut sind. (D. Red.) 


N 


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Google 



Ehlers, Volkswirtschaftslehre. 


27 


Umstände vor, die ihn der Gefahr, lang¬ 
wierige Darlegungen über Begriff und Urge¬ 
schichte der Nationalökonomie anhören zu 
müssen, gütig entrücken. Über den Begriff 
dieser Wissenschaft kann man nicht viel sagen, 
und über ihreUranfönge braucht man nicht viel 
Zusagen. Jede Erklärung Ober das, was man un¬ 
ter Volkswirtschaftslehre zu verstehen hat, ist bis 
jetzt misslungen, sodass es scheint, als ob 
sich der Gegenstand der scharfen Formu- 
lining überhaupt entziehe. Im Allgemeinen 
ist richtig, dass sich die Volkswirtschafts¬ 
lehre mit der Welt der materiellen Güter be¬ 
schäftigt, d. h. derjenigen nützlichen Dinge, 
durch welche menschliche Bedürfnisse, leib¬ 
liche wie seelische, befriedigt werden. Die 
Wirtschaft stellt nicht das gesamte, sondern 
nur eins der Lebensgebiete dar, auf dem 
der Mensch sich bethätigt, allerdings das¬ 
jenige, dessen Vernachlässigung mit dem 
Tode bestraft wird. Staat, Verfassung, Rechts¬ 
ordnung, Kirche, Schule, Kunst etc. be¬ 
zwecken auch Befriedigung leiblicher und 
seelischer Bedürfnisse, und sie bedienen sich 
dazu der Güter, der äusseren Mittel; aber 
diese machen ihr Wesen nicht aus. Das 
Wesen der Wirtschaft besteht in der Be¬ 
schaffung und Verwendung der Güter. Sie 
hält sich bescheiden im Hintergründe, wenn 
der Forscher in seiner Seele weltbewegende 
Pläne wälzt; aber sobald er Miene macht, 
seine Ideen in die Sichtbarkeit überzuführen, 
da kommt sie eilig hervor und stellt ihm die 
Werkzeuge, Papier und Druckerei, zur Ver¬ 
fügung, die aus seinen Gedanken ein Buch 
machen. Die Gedankenarbeit liegt auf dem 
Gebiete der Kunst und Wissenschaft, die 
Buchdruckerei auf dem Gebiete der Wirt¬ 
schaft; allein zwischen beiden findet die engste 
Wechselwirkung statt. Welchen Einfluss hat 
die Erfindung der Lettern auf sämtliche 
Wissenschaften ausgeübt! So breitet sich 
das Reich der Wii’tschaft in unendlicher 
Weite aus, und dem Jünger einer Wissen¬ 
schaft, die vor dem unübersehbaren Raume 
steht, muss bange werden. Deshalb hat man 
— kurz ist das Leben, lang die Kunst — 
alles, was sich irgend aus der Volkswirtschafts¬ 
lehre formell ausscheiden lässt, besonderen 
Disziplinen zugewiesen, namentlich die sog. 
Kunstlehren, d. s. Anweisungen über den 
Betrieb der Privatwirtschaften, Landwirt¬ 
schafslehre, Forstkunde, Handels-, Haushalt¬ 
ungskunde etc. Aber feste Grenzen gibt es 
natürlich hier nicht. 

Soweitüberden^^^f^der Nationalökonomie. 
Die zweite Frage nach der Urgeschichte der¬ 
selben lässt sich noch rascher erledigen. Die 
Wirtschaft der alten Völker war, an unseren 
heutigen Verhältnissen gemessen, im grossen 


und ganzen primitiv, und da die Volkswirt¬ 
schaftslehre der Spiegel ist, in dem das Bild 
der Wirtschaft des Volkes aufgefangen wird, 
so ergibt sich von selber, dass die Völker des 
Altertums, die in der Dichtkunst, der Philo¬ 
sophie etc. nach dem höchsten griffen, in der 
Behandlung volkswirtschaftlicher Theorien 
auch nicht Über die dürftigsten Anfänge hin¬ 
ausgekommen sind. Etwas ähnliches gilt vom 
Mittelalter, doch muss man hier in der Zen¬ 
sur schon vorsichtiger sein. Nicht mit Unrecht 
bemerkt Karl Knies: „Zu dem Urteil, dass 
die wirtschaftliche Theorie in den Zeiten 
zwischen den altklassischen Völkern und den 
Völkern der neuen Zeit überhaupt geruht habe, 
würden wir uns erst dann berechtigt halten 
dürfen, wenn die Schollen auf den weiten 
Latifundien des mittelalterlichen Bodens so 
oftmals umgewendet und verarbeitet wären, 
wie es in dem zwergwirtschaftlichen An¬ 
bau der altklassischen Geschichtsfelder längst 
der Fall ist“. Immerhin wird die Be¬ 
hauptung keinen Widerspruch finden, dass 
die Menschheit es vor der Zeit der Refor¬ 
mation zu keinem wissenschaftlichen Systeme 
der Nationalökonomie gebracht hat. Es ist 
nicht einmal unangefochten, ob als erstes 
System dieser Art der Mcrcantilismus, dessen 
hervorragendster Vertreter der Minister Lud¬ 
wig des Vierzehnten, Jean Baptiste Colbert, 
war, zu betrachten sei; manche erkennen erst 
dem späteren Physiocratismus die Ehre des 
ersten volkswirtschaftlichen Systems zu. Jeden¬ 
falls stellt aber der Mcrcantilismus mit seiner 
Vorliebe für viel Geld, viel Export, viel 
Menschen, viel Regulative eine volkswirtschaft¬ 
liche Anschauung dar, die für die Praxis 
des 17. und 18. Jahrhunderts von ausseror¬ 
dentlicher Bedeutung war, ja, die mit ihren 
Ausläufern bis in die Gegenwart hineinreicht. 
Es sind nicht ganz unansehnliche Leute, die 
dem Ideal der günstigen Handelsbilanz — 
bei der die Summe der ins Ausland expor¬ 
tierten Waren einen höheren Wert erreicht, 
als die Summe der eingeführten Waren — 
auch in unseren Tagen anhangen, und die 
echt merkantilistische Auffassung, dass das 
Geld ausgegeben werden darf, wenn es nur 
im Lande bleibt, erfreut sich auch gegen¬ 
wärtig einer Beliebtheit, deren Ausbreitung 
sich bei einer statistischen Aufnahme als er¬ 
staunlich gross erweisen würde. Die Mer¬ 
kantilisten hatten den Stab krumm gebogen; 
ihn wieder gerade zu biegen, übernahmen 
die Physwcraten. Die Natur, sagten sie, ist 
die Quelle alles Einkommens, und deshalb ist 
nicht der vom Merkantilismus gehätschelte 
Handel, nicht die von ihm künstlich aufge¬ 
fütterte Industrie, sondern nur die Landwirt¬ 
schaft produktiv. Ein überaus verwegener 


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28 


Ehlers, Volkswirtschaftslehre. 


Einbruch in die orthodoxe Lehre war es, als 
Quesnay, der Leibarzt Ludwigs XV. und der 
Pompadour, solches Ketzertum vortrug. Es 
ist immer interessant, zu beobachten, wie die 
ersten Gehversuche eines neuen Systems im 
Publikum aufgenommen werden. Die Stell¬ 
ung gegenüber der damaligen Nationalökono¬ 
mie im allgemeinen kennzeichnet sich in dem 
Ausspruche der Kammerfrau der Pompadour, 
die von Quesnay sagte: „Er war ein gros¬ 
ser „Economiste“, aber ich weiss eigentlich gar 
nicht, was das ist“.*) Über die spezielle 
Nationalökonomie Quesnay’s gab ein zeitge¬ 
nössischer Vertreter der Presse das Urteil ab, 
dass er in den Reden des Mannes nur un¬ 
bestimmtes und dunkles Zeug zu erblicken 
vermöchte; trotzdem spendete er diesen Reden 
Beifall: „Zielten sie doch dahin, den Acker¬ 
bau in einem Lande zu befördern, wo der¬ 
selbe gegen Gebühr in Missachtung geraten 
war.“ Das agrarische Interesse wurde also 
mit Erfolg in den Mittelpunkt gestellt, eine 
Erscheinung, die den Blick aus jenen Zeiten 
in die Gegenwart hinüberleitet. Sind die 
heutigen Agrarier Nachfolger der Physiocra- 
ten? Die Ironie des Schicksals hat es gewollt, 
dass die Physiocraten eine Parole erfunden 
haben, in welcher die modernen Vertreter des 
agrarischen Interesses nichts als eine Grab¬ 
schrift für ihre Bestrebungen erblicken, das 
Wort: „Laissez faire, laissez aller“. Beide 
verfolgen dasselbe Ziel: Hebung des Acker¬ 
baues; aber während die Physiocraten den 
Weg zu diesem Ziele in der Befreiung des 
Verkehrs finden, fordern die heutigen Agra¬ 
rier aus demselben Grunde die Beschränk¬ 
ung des Verkehrs. Man mag über die Rich¬ 
tigkeit des einen und anderen Weges denken, 
wie man will, immerhin ist jene Thatsache 
geeignet, das Gefühl der Duldsamkeit im 
Busen des Nationalökonomen zu stärken. 

Jean Jacques Rousseau hatte den Physio¬ 
craten, die ihn zu Gunsten ihrer Lehre be¬ 
arbeiteten, den Satz ins Album geschrieben: 
„Euer System ist sehr gut für die Leute in 
Utopien, aber es taugt nichts fiir die Söhne 
Adams“. Wenige Jahre später — 1776 — ver¬ 
öffentlichte Adam Smith das Werk, welches 
ihn zum Stammvater der Nationalökonomie 
gemacht hat, die „Untersuchungen über 
die Natur und Ursachen des Völker¬ 
reichthums“. Es ist die Bibel des Individu¬ 
alismus, des Systems der wirtschaftlichen Frei¬ 
heit. Dass es für die Söhne Adams taugte 
und nicht für Utopier geschrieben war, wird 
durch den Umstand bewiesen, dass die Ideen, 
die es predigte, die Welt eroberten. Jedes 


*) Oncken in der Vierteljahrsschrift für 
Staats- und Volksw., V. 3. 


wissenschaftliche System, jede Erfindung und 
Entdeckung liegt, wenn man so sagen darf, 
in der Luft; die ganze Atmosphäre ist ge¬ 
schwängert mit Erfinderstoff, bis es dann end¬ 
lich einem unter vielen gelingt, das Kind 
beim rechten Namen zu rufen. Das System 
des Adam Smith, welches die Entfesselung 
der wirtschaftlichen Kräfte proklamierte, war 
das einzige, welches für die Wende des 
vorigen Jahrhunderts passte. Es drückte 
nur das Siegel auf die Umwälzungen, die mit 
der Verwendung der Dampfmaschine, der 
Ausbreitung des Fabrikationswesens etc. ge¬ 
geben waren. Wer den grossen Schotten 
anklagt, dass er die freie Konkurrenz auf 
den Thron gesetzt habe, kann ebensogut dem 
Schneider, der für erwachsene Personen 
Röcke herstellt, den Vorwurf machen, dass 
er für die Poesie der Jugend kein Verständ¬ 
nis besitze. Smith riss der Menschheit die 
Zwangsjacke vom Leibe und schnitt das 
Kleid nach Maassen zu, die den stark gewor¬ 
denen Gliedern entsprachen. 

Der Einfluss, den Smith und seine beiden 
vornehmsten Nachfolger, Ricardo und Mal- 
thus, auf die Volkswirtschaftslehre ausgeObt 
haben, ist beispiellos. Man kann dies am 
besten beurteilen, wenn man die Werke eines 
der berühmtesten Nationalökonomen unserer 
Zeit, Wilhelm Roschers, darauf hin an¬ 
sieht. Was dieser geistvolle Mann geschrieben 
hat, erscheint wie das Denkmal, errichtet auf dem 
Grabe eines grossen Toten; hin und wieder 
geht der Künstlereifer mit der Pietät durch, 
es entsteht allerlei Ornamentik, die den Denk¬ 
malscharakter verwischt, aber mit um so 
stärkerer Dringlichkeit werden wir vom Künst¬ 
ler hinterher gemahnt, nicht zu vergessen, 
dass die Hauptsache nicht über, sondern 
unter der Erde liegt. „Roscher", sagt 
Schmoller in seiner Schrift „Zur Literatur 
der Staats- und Sozialwissenschaften“ ( 1888 ), 
„hat von Rau und der ganzen älteren Ge¬ 
neration den tiefen Respekt vor Adam Smith, 
Ricardo und Malthus übernommen. Er steht 
zwischen zwei wissenschaftlichen Epochen 
mitten inne, er schliesst die ältere Zeit ab 
und eröffnet die neue“. 

Die neue Zeit — was hat sie auf dem 
Gebiete der Nationalökonomie geleistet? Hat 
sie das System, welches die englischen Klas¬ 
siker begründet hatten, durch ein neues über¬ 
wunden? Es gibt genug Schriftsteller, die 
diese Frage bejahen, aber eine Sache wird 
deshalb noch nicht wahr, weil sie von vielen 
behauptet wird. Ein neuerer Autor spricht 
von der kritischen Revolution, die die Herr¬ 
schaft der klassischen Nationalökonomie ge¬ 
stürzt habe, ein Verdienst, in das sich die 
historische Schule der Nationalökonomie und 


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Ehlers, Volkswirtschaftslehre. 


29 


die Sozialisten nebst Kathedersozialisten zu 
teilen hätten. Wir möchten glauben, dass 
der Ausdruck Revolution hier nurcumgrano 
salis aufzufassen wäre, soweit die Mitwirkung 
der historischen Schule in Betracht kommt. 
Wilhelm Roscher, das Haupt der historischen 
Schule, steht, wie Schmoller andeutet, mit 
einem Fusse in der alten, mit dem anderen 
in der neuen Zeit; solche Leute sind aber 
nicht Revolutionäre, sondern Reformer. An¬ 
ders verhält es sich mit den Sozialisten’, sie 
herrschen der klassischen Nationalökonomie 
den Befehl zu: Stehe auf, dass ich mich an 
deine Stelle setze. Aber wie wenig wir auch 
die theoretischen und praktischen Erfolge des 
Sozialismus unterschätzen, es wäre eine un¬ 
verständliche Uebertreibung, zu behaupten, 
dass jener Befehl befolgt worden wäre. 

Dass es auch in der Nationalökonomie 
gährt, braucht kaum bemerkt zu werden — 
wo gährte es heutzutage nicht? Aber trotz 
aller kritischen Revolution bleiben im Grossen 
und Ganzen die Fundamente, die Smith, Ri¬ 
cardo etc. gelegt haben, unangetastet. Neu 
ist unseres Erachtens nur, dass dem Sozialis¬ 
mus, der früher anonym ins Haus eingetreten 
war, jetzt der freie Zutritt offiziell gestattet 
wird. Der extreme Freihandel, die sog. Man¬ 
chesterdoktrin, hatte den Fehler begangen, 
den heute der orthodoxe Sozialismus begeht: 
neben dem einen Prinzip kein zweites zu dul¬ 
den. Freilich hat sich die Praxis des Wirt- 
schaftens niemals an solche Einseitigkeit ge¬ 
kehrt; von Urbeginn der Welt bis auf unseren 
Tag haben die Menschen das Eine nach in¬ 
dividualistischem, das Andere nach sozialisti¬ 
schem Prinzip geordnet. Die heutigen National¬ 
ökonomen erkennen in ihrer erdrückenden 
Mehrheit, vom freihändlerischen bis zum ka¬ 
thedersozialistischen Flügel, die Selbstverant- 
wortlicbkeit des Individuums als Basis des 
Wirtschaftslebens an, aber sie sind mehr, als 
ihre Vorgänger, bereit, dem Eingriffe des 
Staats und der Gemeinde Berechtigung zu¬ 
zugestehen. Wenn man diese Wandelung eine 
Revolution nennen will — gut, auf den Na¬ 
men kommt es nicht an. Herrscher im Reiche 
ist jedenfalls die klassische Nationalökonomie. 
Allerdings ist das Reich nicht mehr eine ab¬ 
solute Monarchie, der König hat sich manche 
Beschränkung gefallen lassen müssen, viele 
Scheinrechte sind ihm entwunden worden; 
allein wenn man nicht am Äusserlichen haf¬ 
tet, kann man nicht sagen, dass seine Macht 
eine geringere geworden wäre. Die klassische 
Nationalökonomie ist von Missbräuchen ge¬ 
reinigt, ausgebaut und vertieft worden, aber 
um so heller leuchten ihre Wahrheiten. 

Man braucht nur die Fehden, die zwischen 
den einzelnen Burgen der Nationalökonomie 


ausgefochten werden, des Näheren zu betrach¬ 
ten, um zu erkennen, dass in ihnen auch nicht 
einmal die Keime zu Revolutionskriegen lie¬ 
gen. Ein Streit herrscht zwischen den An¬ 
hängern der historischen, historisch-deskrip¬ 
tiven, empirischen Methode auf der einen und 
der abstrakt-deduktiven, aprioristischen, 

isolierenden Methode auf der anderen Seite. 
Schmoller wirft den Vertretern der letzteren 
Methode vor, dass sie die hundertmal destil¬ 
lierten Sätze des alten Dogmatismus weiter 
destillirten, und Brentano spottet über die 
neue Formulierung altbekannter Wahrheiten. 
Auf der Gegenseite wird aber auch den Ex- 
cedenten der historischen Methode nichts ge¬ 
schenkt. „Menschliche Werturteile über wirt¬ 
schaftliche Güter,“ sagt Böhm-Bawerk, 
„sind millionenmal beobachtet worden. Die 
Wissenschaft hat nun die Frage zu lösen, 
was denn das letzte Prinzip und der Masstab 
unserer Güterschätzungen sei: ob die aufge¬ 
wandte Arbeit oder die Produktionskosten oder 
die Grösse eines geleisteten Dienstes oder 
der erwartete Grenznutzen u. s. f. Ich glaube 
nun nicht, dass irgend jemand erwarten wird, 
dass wir der Lösung jener Frage dadurch im 
mindesten näher kommen, dass wir eine zweite 
oder dritte oder zehnte Million von Wert¬ 
urteilen aufzeichnen; dass wir alle Arsenale 
der Geschichte und Statistik leeren, um allen¬ 
falls noch zu erfahren, wie die Bürger von 
Elberfeld im 15. Jahrhundert das Fleisch oder 
Getreide geschätzt haben oder wie heute die 
Baumwolle in England, Schweden, der Türkei 
oder Ostindien geschätzt wird.“ Es braucht 
kaum betont zu werden, dass beide Parteien 
im Recht sind, wenn sie die gegnerische 
Übertreibung geissein. Deduktion und Induk¬ 
tion sind für die Nationalökonomie gleich¬ 
wertige Methoden und in ihrer Anwendung 
untrennbar. 

Die Theorie von dem eben erwähnten 
Grenznutzen hat namentlich der sog. öster¬ 
reichischen Schule (Menger, Wieser, Sax, 
Böhm-Bawerk) als Unterlage für einen Fehde¬ 
brief an die Nachbarn gedient. Wir wollen 
hier nicht auf das Materielle eingehen; es 
genügt die Thatsache, dass die genannte Schule 
auf den Grenznutzen ihre neue Werttheorie 
gründete. Klagend bemerkte einer der Grenz¬ 
werttheoretiker, E. Sax: „In jeder anderen 
Wissenschaft würde über eine Publikation sol¬ 
chen Inhalts sofort die eifrigste Diskussion 
entstanden sein, anstatt dessen wurden jene 
Forschungen in der deutschen Fachpresse bei¬ 
nahe vollständig ignoriert, eine ftlr den gegen¬ 
wärtigen Zustand der nationalökonomischen 
Wissenschaft in Deutschland höchst bezeich¬ 
nende Thatsache“. Wozu sollen wir^uns denn 
auiVegen, erwiederte Dietzel, eure Erfindung 


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30 


Achelis, Tierkultus. 


ist ja nichts als eine Dublette. „Was Ri¬ 
cardo (bezüglich der Werttheorie) in wenigen 
Zeilen sagt, spinnen die neueren durch lange 
Seiten aus. Der Unterschied liegt nicht im 
sachlichen Ergebnis, sondern in der Form der 
Auseinandersetzung. Ich ziehe die schroffe 
Kürze Ricardos 4 er bequemen Breite vor". 
Es mag ganz dahingestellt bleiben, ob die 
Grenzwerttheorie als Neudruck oder als Nach¬ 
druck anzusprechen sei und ob sie eine be¬ 
deutende oder geringfügige Bereicherung der 
Wissenschaft enthalte; aber wir können uns 
im Angesicht des nationalökonomischen Ozeans 
des Eindrucks nicht erwehren, dass jener Streit 
etwas an den Sturm im Glase Wasser erinnert. 
Die Bewegung wird keine Revolution gebären. 

Der Kampfplatz, auf dem fortan die Waffen 
am lautesten klirren werden, liegt auf dem 
Felde der Sozialpolitik. 


Über Tiercultus. 

Von Dr. Theodor Achelis. 

Um eine der wichtigsten Seiten primitiver 
Religion kennen und verstehen zu lernen, 
bedarf es vor Allem einer Orientierung über 
die Beziehungen, welche der einfache Natur¬ 
mensch mit der Tierwelt unterhält. Während 
erst die neuere Zeit den Versuch macht, über 
die starre Scheidewand, welche vordem Gleich¬ 
gültigkeit und Hochmuth zwischen uns und 
unseren biologischen Vettern gezogen hatte, 
durch eine schärfere psychologische Unter¬ 
suchung hinauszudringen — auch in dieser 
Beziehung müssen wir der Naturwissenschaft 
dankbar sein —, bestand für eine kindliche 
Anschauung, ein unmittelbarer Wechselverkehr 
zwischen Mensch und Tier; nur stufenweise 
Unterschiede existirten, ja nicht selten erschien 
das Tier seinem eifersüchtigen, aber unge¬ 
schickten, und seiner geistigen Ueberlegen- 
heit nicht völlig sich bewussten Rivalen als 
bedrohlicher Gegner. Die Kraft, Schnelligkeit 
und Gewandtheit vieler Raubtiere, die un¬ 
heimliche Sicherheit des Schlangenbisses 
mussten auf Grund des uralten mächtigen 
Animismus den Naturmenschen hier die glei¬ 
chen resp. ähnlichen seelischen Triebe und 
Gefühle vermuthen lassen, von denen er sich 
selbst leiten Hess. Es ist deshalb sehr er¬ 
klärlich, dass er auch diese Welt, die ihn auf 
Schritt und Tritt umgab, nach demselben 
Schema psychologischer Deutung auffasste und 
sich verständlich machte, das er für sein 
eigenes Dasein verwendet hatte: Uebcrall sind 
die Tiere die entsprechenden Repräsentanten 
seelischer Empfindungen und Kräfte, unmittel¬ 
bare Abbilder des Menschentums. Dazu kommt, 
was für unsere Auffassung als wesentliches 
Hinderniss in’s Gewicht fällt, dass der so 


relevante ethische Unterschied zwischen Gut 
und Böse bei jeher mangelhaften Erkenntnis 
und flachen sittlichen Anschauung gar keine 
Rolle spielt; für den Wilden (um das freilich 
sehr anfechtbare Wort zu gebrauchen) existirt 
das sittliche Ideal in unserem abstracten Sinne 
nicht, sondern nur das ungemessene Kraft¬ 
gefühl und die ebenso schrankenlose Herrsch¬ 
sucht, die sich durch keine auch noch so 
schreiende Brutalität eindämmen lässt.*) Des¬ 
halb gelten die Tiere auch ganz von selbst 
als Personen in der vollen Bedeutung des 
Wortes, die sogar, abgesehen von allen in¬ 
dividuellen Eigenschaften, auch darin den 
Menschen gleichen, dass sie ebenso wie diese 
in Genossenschaften und Verbänden vereinigt 
sind. Wie sollten sie nun nicht auch Träger 
von Seelen sein, da ein blosser Mechanismus 
für den schlichten Verstand eines Natur¬ 
menschen ein Unding ist? Und nun bemächtigt 
sich seine lebhafte Phantasie dieses so er¬ 
giebigen Stoffes, um ihn nach allen Seiten 
hin auszubeuten; die Tiere sind Incarnationen 
von Seelen Abgeschiedener, bald guter, bald 
feindseliger Geister, endlich von göttlichen 
Mächten, die entweder für immer oder nur 
zeitweilig in einem Tierleibe ihre Wohnung 
aufgeschlagen haben. Die vielfach noch mit 
Unrecht als speculative Lehre ausgegebene 
Vorstellung von der Seelenwanderung, die sich 
vielmehr bei den meisten Naturvölkern con- 
statiren lässt, entwickelt sich ebenfalls auf 
diesem üppig wuchernden Untergründe. 

Waren auf diese Weise erst die äusseren 
Umrisse jenes Dogmas entworfen, so musste 
sich die detaillirte Ausführung dieser Idee 
von selbst einstellen; auch in dieser Beziehung 
darf man, wie der Altmeister der Ethnologie, 
Adolf Bastian, mit Recht sagt, von einem 
organischen Wachstum des geistigen Lebens 
reden, das sich individueller Willkür, und sei 
sie noch so genial und selbstherrlich, entzieht. 
Vor allen Dingen wirkt der bekannte, dem 
menschlichen Gemüt unaustreiblich innewoh¬ 
nende Gegensatz zwischen Gut und Schlecht 
verhängnissvoll oder besser gesagt, zwischen 
Angenehm und Schädlich, — denn, wie eben 
schon angedeutet, von einer wirklichen mo¬ 
ralischen Unterscheidung, können wir auf 
jenen primitiven Entwickelungsstufen nicht 
sprechen. — **) In diesem Licht wird auch die 
in einem Tierleib verkörperte Seele bald als 
gütige, sengenspendende, bald als feindselige, 
tückische Gottheit verehrt, besonders in dem 
so natürlichen Zusammenhänge, dass die ab- 

*) Vgl. Tylor, Anfänge der Kultur I, 460 ff. 
und v. d. Steine^ Unter den Naturvölkern Zentral- 
BrasiÜens S. 351 ff. 

••) Vgl. Tylor, Anfänge der Kultur II, 316 ff. 
und Roskoff, 5 Geschichte des Teufels, (a Bände). 


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Achelis, Tierkultus. 


31 


geschiedene Seele eines mächtigen Häuptlings 
eine derartige Tiergestalt annimmt, die dann 
für den ganzen Stamm einen heiligen Charakter 
erhält: damit betreten wir unmittelbar das 
Gebiet des Cultus. 

Religion und Sitte, diese beiden Grund¬ 
pfeiler des Völkerlebens, verschmelzen sich 
auch hier zu einem fast unlöslichen Ganzen, 
sodass wir nur im Allgemeinen diese beiden 
Motive, die Idee der Incarnation und die Ahnen¬ 
verehrung, herausheben können, ohne imStande 
zu sein, diese Grenzlinie für jeden einzelnen 
Fall mit annähernder Deutlichkeit zu ziehen. 
Betrachten wir in erster Linie das religiöse 
Motiv, so bietet sich die ganze Tierwelt dem 
Menschen dar; eine gewisse Universalität kommt 
nur dem Schlangendienst zu, der weit in die 
Stufen höherer Kultur hineinreicht.*) In 
Griechenland, Aegypten, Indien, bei den 
Azteken, bei den Mayas in Mittelamerika, im 
alten Rom, bei unseren Vorfahren (als Drache, 
Lindwurm, Greif u. s. w.) repräsentirte dies 
Tier in seiner geheimnisvollen Thätigkeit die 
Gottheit. Von anderen Geschöpfen, welche 
auf einen weiteren Kultus Anspruch erheben 
können, erwähnen wir den Stier (im Parsismus 
und in Indien), die Kuh in Aegypten, den 
Büffel bei den Indianern, den Hund bei 
Zoroaster, die Haifische in Aegypten und 
Polynesien, den Elephant in den buddhistischen 
Ländern Hinterasiens, von den Vögeln den 
Adler (Griechenland, Rom, Germanen), den 
Kolibri im alten Mexiko, den Kondor in 
Peru etc. Der aegyptische Tierkultus, welcher 
vor den Zeiten der vergleichenden Völker¬ 
kunde ein Buch mit sieben Siegeln war, 
lässt sich ethnologisch und psychologisch auf 
die Ideen mit grösster Leichtigkeit zurückführen, 
welche überhaupt den Fetischismus erzeugt 
haben. Es verschlägt dabei Nichts, ob die 
betreffenden- Tiere für immer oder nur zeit¬ 
weilig der Sitz der göttlichen Kraft sind, ja 
es ist für den naiven Standpunkt des bei aller 
Phantasie doch sehr materiell gesinnten Na¬ 
turmenschen kein Widerspruch, wenn er auf 
diesen Repräsentanten zur Jagd auszieht und 
ihn erlegt — was meist freilich erst nach 
umständlichen und für unser Gefühl fast 
lächerlichen Cereraonien von Statten geht. 
Gelegentlich nimmt die Sachlage sogar einen 
unmittelbar komischen Anstrich an, wie in der 
Schilderung von Charleroix über die nord- 
amerikanischen Indianer, die nach der Töd- 
tung eines Bären seinen Kopf mit vielen Farben 
bemalt aufsteckten und ihm Lob und Huldigung 
darbrachten, während sie zugleich die schmerz¬ 
liche Pflicht erfüllten, seinen Leib zu verzehren. 


*) Vgl. L ^ p e r t, Kulturgeschichte II, 403 und 
L u b b o c k, Entstehung der Civilisation, S. 221 ff. 


(Tylor, Anfänge II, 232). Oder ein anderes 
Beispiel: In Afrika jagen die Kaffem den Ele- 
phanten, indem sie ihn bitten, nicht auf sie 
zu treten und sie zu töten, und wenn er 
tot ist, versichern sie ihm, sie hätten ihn nicht 
absichtlich getötet; seinen Rüssel begraben 
sie, denn der Elephant ist ein mächtiger 
Häuptling und sein Rüssel ist seine Hand. 
(Tylor I, 461). Die sociale Beziehung tritt 
besonders überall da hervor, wo es sich um 
den gemeinsamen Stammvater eines Ge¬ 
schlechtes handelt, der im Gegensatz zu dem 
speciellen Schutzgeist, den sich der Einzelne 
ausersehen hat, über das Wohl des ganzen 
Stammes wacht. Diese geschlechterrechtlichen 
Verbände führen ein bestimmtes Tier als 
Wappen, das in Folge dessen auch häufig 
nicht gegessen werden darf. Dies System 
des Totemismus ist über die ganze Erde ver¬ 
breitet und findet sich — freilich nur in be¬ 
deutsamen Rudimenten — auch noch auf 
höheren Gesittungsstufen. So theilen sich 
die meisten Indianervölker nach bestimmten 
Tieren in einzelne Banden, die Angehörigkeit 
bedingt eine gewisse solidarische Verantwort¬ 
lichkeit der betreffenden Genossen und ebenso 
verwandtschaftliche Beziehungen, in China 
soll es noch Dörfer geben, wo alle Einwohner 
den Familiennamen eines bestimmten Tieres 
führen, an der Goldküste in Afrika finden 
sich die Tiernamen ebenfalls als Familien¬ 
bezeichnungen, bei manchen indischen Ur- 
stämmen gründet sich die Totemfamilie auf 
agnatische Verwandtschaft, die indischen Go- 
tras (Clans) haben vielfach ihren devak, ihren 
Pflanzen- und Tiergott mit entsprechender 
Verehrung, (vgl. Post, Grundriss der eth¬ 
nologischen Jurisprudenz. 1894 I, 117 ff.): *) 
Überall mischen sich, wie schon angedeutet, 
religiöse und sociale Ideen. 

Fehlt nun, wie wir uns überzeugt haben, 
den Vertretern niederer Gesittung die Em¬ 
pfindung eines qualitativen Unterschiedes 
zwischen Mensch und Tier, schreibt er ihm 
vielmehr Sprache und Intellekt, zu, wie sich 
selbst, so ist es nur konsequent, wenn er auch 
andere komplicirtere Vorstellungen auf ihn 
überträgt. Ist die Seele unzerstörbar, ent¬ 
flieht sie nur mit dem Tode aus dem Leibe, 
um einen anderen Aufenthaltsort aufzusuchen, 
stellt sich für sein Denken die Seelenwanderung 
als unabweisliche Konsequenz heraus, so muss 
auch das Tier an diesem Vorrecht Anteil 


*) Bei den Indianern werden öfter geschnitzte 
Stammbäume mit den entsprechenden Totemtieren 
eführt, während anderseits (so in Arabien) völlig 
ngirte Stammväter existiren, indem z. B. auch 
Ortsnamen einfach in Stammväter umgewandelt 
werden. (Vgl. Post, Studien zur Entwickelungs¬ 
geschichte des Famüienrechts, S. 24). 


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32 


Achelis, Tierkultus. 


haben. Die Seele des canadischen Hundes 
folgt deshalb seinem Herren in die andere 
Welt, oder nach den Kamtschadalen kommt 
selbst die Fliege in der Unterwelt wieder zum 
Leben, und noch Pythagoras giebt mit 
Platon bekanntlich den Tieren unsterbliche 
Seelen. Am unheimlichsten hat sich dieser 
furchtbare Aberglaube wohl in der, bei dem 
gemeinen Manne selbst hoch civilisirter Völker 
mit seltsamer Zähigkeit fortwurzelnder, Vor¬ 
stellung von den Vampyren und Werwölfen, 
den Menschentigern etc. erhalten, wobei dann 
noch ausserdem das Bedürfnis masgebend ist, 
die plötzliche Abzehrung und Blutarmut, 
resp. die Thatsache zu erklären, dass Wölfe 
und Tiger Menschen anfallen, (vgl. Tylor, 
Einleitung in das Studium der Anthropologie 
S. 429 ff.). Um so unbedenklicher kann so¬ 
mit auch das Pferd als Totenopfer dem ver¬ 
storbenen Häuptling mit in das Jenseits 
nachgesendet werden, da es ja dort sofort wie¬ 
der zu neuem Leben erwacht. Selbst noch im 
vorigen Jahrhundert, im Jahre 1781 ist diese 
Anschauung dadurch zum Ausdruck ge¬ 
kommen, dass einem General, der in Trier 
bestattet wurde, das Schlachtross in die Gruft 
nachgesandt wurde, (vgl. Tylor, Anfänge I, 
467), — in der That wiederum ein sehr 
drastisches Beispiel für die unverwüstliche 
Kraft ursprünglicher animistischer Ideen. 

Noch nach einer anderen Seite hin, haben 
wir zum Schluss die Wirksamkeit dieser to- 
temistischen Anschauungen zu verfolgen, 
einem Gebiet, das bislang in seiner ethno¬ 
logischen Bedeutung viel zu sehr verkannt 
und nur nach seiner poetischen Würdigung 
beachtet ist, nämlich in Bezug auf die Tier¬ 
fabel. Diese bleibt solange eine phantastische 
Erscheinung völlig willkürlicher Art, bis wir 
im Animismus den psychologischen Schlüssel 
zu ihrer Entwickelung gefunden haben. 
Während man häufig vordem Fabel und 
Märchen (beide gehören unmittelbar zusam¬ 
men) lediglich als anmutige Proben eines 
individuellen Talentes auffasste, musste diese 
Anschauung sich mit einem Schlage ändern, 
als die vergleichende Völkerkunde Variationen 
desselben Themas bei völlig stammfremden 
Völkerschaften kennen lehrte: Ich erinnere 
nur an die Tierfabeln der Zulus, die, wie 
Bleek seiner Zeit darlegte, bis auf ein Haar 
unserem Reineke Fuchs gleichen. (Vgl. Max 
Müller, Essays II, 186 ff.). Gehen wir von 
der für den Naturmenschen selbstverständlichen 
Voraussetzung aus, dass er die Tiere wie 
ebenbürtige Personen betrachtet, ebenso mit 
Sprache und seelischem Leben begabt wie 
er — obschon nur ein Zauberer sich völlig 
verständlich mit ihnen machen kann —, so 
versteht es sich von selbst, dass eine un¬ 


mittelbare Wechselwirkung stattfindet, die sich 
in beliebigen Venvandlungen und Vertretungen 
geltend macht. Sowohl für den Menschen, 
wie damit auch für den Charakter der Tiere 
bildet das Märchen und die Fabel (welche 
ursprünglich noch so gut wie vollständig eines 
moralisirenden Zusatzes*) entbehrt) ein getreues 
Spiegelbild. Nur eines statt vieler Beispiele 
aus Guinea, wo die Tierfabel besonders 
blüht: Der grosse Engena-Affe bot seine 
Tochter demjenigen Kämpen als Braut an, 
der ein ganzes Fass Rum trinken würde. 
Der würdevolle Elephant, der anmuthige Leo¬ 
pard, der grämliche Eber, versuchten den 
ersten Mund voll des Feuerwassers und zogen 
sich zurück. Da kam der winzige Telinga- 
Affe, der listig Tausend von seinen Brüdern 
in dem hohen Grase versteckt hatte; er nahm 
sein erstes Glas, und so ging es fort, bis das 
ganze Fass geleert war und Telinga führte 
die Tochter des Affenkönigs heim. Auf dem 
grossen Pfad griffen ihn jedoch der Elephant 
und der Leopard an und trieben ihn in die 
Flucht; er aber suchte in den höchsten 
Zweigen der Bäume Schutz, und gelobte, 
niemals wieder auf dem Erdboden zu leben 
und solche Gewalt und Ungerechtigkeit zu 
erdulden. Daher findet man bis auf diesen 
Tag die kleinen Telingas nur in den höchsten 
Baumwipfeln. (Tylor, Anfänge I, 405). Des¬ 
halb treten uns auch überall Verwandlungen 
der Tiere und Menschen in den häufig drol¬ 
ligen, auf hohen Kulturstufen tragisch gefärbten 
Erzählungen entgegen, einerlei ob diese Me¬ 
tamorphose während Lebzeiten (so im Traume 
und Visionen), oder angeblich im wachen Zu¬ 
stand auch vom Hexenmeister oder nach dem 
Tode geschieht, was dann eine spätere Zeit 
mit dem abstrakten Wort: Seelenwanderung 
belegt. Ursprünglich aber darf man sich für 
das naive, an unmittelbare, sinnliche An¬ 
schauung gebundene Bewusstsein des Natur¬ 
menschen keine ideelle Repräsentation nach 
dem Muster unseres landläufigen Anthro¬ 
pomorphismus denken: Vielmehr, wie mit 
Recht ein neuerer vortrefflicher Beobachter, 
K. V. d. Steinen, von den brasilianischen 
Waldindianern, den Bakairi und Paressi, 
berichtet, ist z. B. der Jaguar der Urahn 
eines menschenfressenden Stammes gewesen, 
denn es wird ausdrücklich betont, dass dieser 
Stammvater Jaguar Vorfahren des eigenen 
Stammes getötet und gefressen habe. Ich 
darf auf das Bestimmteste versichern, dass 


’) Das tritt erst in den buddhistischen Legenden 
auf, wo zahlreiche Geschichten an die Leb^ensge- 
schichte des Stifters der Religion, des erhabenen 
Königssohnes Gautama aus Kapilavastu, geknüpft 
werden. (Vgl. Tylor, Studium der Anthropo¬ 
logie S. 4&). 


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Radfahrende Infanterie. 


33 


mein Gewährsmann felsenfest überzeugt war, 
dass der betreffende böse Stammvater der 
Legende ein Jaguar war, obwohl er mit Pfeilen 
schoss und nicht nur so hiess. Dass die 
frühere Zeit, in der die Legende entstanden 
ist, nur symbolisiert und Nachkommen, Namen 
und Sache verwechselt habe, ist eine bequeme, 
aber unzulässige Unterstellung, weil alsdann 
die ganze Tradition nur aus Verwechselungen 
bestehen würde. (Naturvölker Central-Bra¬ 
siliens S. 353). Wo aber eine feinsinnigere, 
dichterisch angehauchte Anschauung Platz 
greift, — da erscheint, so im Lohengrin und 
Melusinenstoff die ganze Tiefe des tragischen 
Konflikts, der die frühere Einheit der Welt¬ 
anschauung, gegründet auf die Wesensver¬ 
wandtschaft zwischen Mensch und Tiere, zer- 
reisst; das rein Natürliche wird damit in 
eine erhabene ethische Perspektive gerückt 
, und zum Spiegelbild der edelsten menschlichen 
Regungen und Triebe, (vgl. J. Köhler, 
Ursprung der Melusinensage, Leipzig 1895, 
der auch besonders die Bedeutung totemist- 
ischer Ideen für die Entwickelung des Märchens 
und damit socialer Motive gegenüber den 
bisher lediglich bevorzugten aesthetischen 
betont, besonders S. 37 ff.). Auch in dieser 
Beziehung bestätigt sich der Ausspruch des 
scharfsinnigen, englischen Forschers Tylor, 
auf den wir. in cfiesem Zusammenhang schon 
öfter hinzuweisen Gelegenfieit hatten, dass 
wir aus den Mythen mancher Völker oft mehr 
lernen können, als aus ihrer Geschichte. Die 
Völkerkunde eröffnet uns in ihrer durch keine 
ethnographischen, topographischen und chrono¬ 
logischen Schranken gehemmten Vergleichung 
erst den psychogenetischen Einblick in dies 
Wachstum des geistigen Lebens, dessen Früchte 
wir in unserer Kultur bewundern, ohne häufig 
im Stande zu sein, diesen organisichen Ent¬ 
wickelungsprozess im Zusammenhang zu 
verfolgen. 


Radfahrende Infanterie. 

Die Verwendung des Fahrrads zu mili¬ 
tärischen Zwecken hat bei uns bis jetzt ziemlich 
geringe Fortschritte gemacht. Wie lange hat es 
gedauert, bis manTruppenteile versuchsweise da¬ 
mit ausrüstete, wie wurden die ersten uniformier¬ 
ten Radler allseitig angestaunt, wie schwer ent¬ 
schloss sich endlich der Offizier, das Stahl¬ 
ross zu besteigen und sich auf ihm den Blicken 
des Publikums zu zeigen! Die ersten Versuche 
waren auch keineswegs ermutigend; einerseits 
wqren die Fahrer noch nicht genügend sattel¬ 
fest und sachkundig, anderseits wareh die ge¬ 
lieferten Fahrräder schwerfällig, unhandlich 
und erforderten ziemlich viel Reparaturen, zu 


deren Besorgung die Fachkenntnis fehlte, oder 
welche bedeutende Kosten verursachten. So 
kam es, dass die Radfahrer bei den Übungen 
und in den Manövern anfangs grossem Miss¬ 
trauen begegneten; man wusste nicht recht, 
wie und wo sie verwenden, da sie Wege¬ 
oder Geländeschwierigkeiten nur schwer oder 
gar nicht überwinden konnten und man sich 
nicht gern auf sie allein verliess wegen der 
unterwegs leicht eintretenden Nichtbenutzbar* 
keit des Rades. Wie oft begegnete man bei 
Übungen einem Militär-Radler, der, einsam 
und verlassen, oft selbst lahm sein lahmge-' 
wordenes Stahlrösslein keuchend und ratlos 
einherführte! Die Manöverberichte sprachen 
sich daher vielfach nicht sehr günstig über 
die Verwendbarkeit des Fahrrades zu mili¬ 
tärischen Zwecken aus. Wenn sich nun auch 
in neuerer Zeit darin ein Wechsel gezeigt 
hat, so ist doch im Allgemeinen die Verwen¬ 
dung des Fahrrades auf den Melde-Dienst nur 
hinter der Front beschränkt geblieben, zur 
Ausrüstung von Erkundungs-Abteilungen oder 
einer unter Umständen zum Kampfe bestimm¬ 
ten Truppe ist es mit Ausnahme einiger ge¬ 
ringen Versuche noch nicht gekommen.*) 
Hierin haben uns unsere westlichen Nach¬ 
baren — wie überhaupt was Versuche an¬ 
langt — wie wir sehen werden, mit Erfolg 
überholt. Jenseits der Vogesen ist man mit 
Versuchen rascher bei der Hand und hat man 
dort — was die Hauptsache ist — für alles 
Militärische mehr Geld! Nachdem schon im 
vorigen Jahre von Hauptmann G^rard des 
87. Linienregiments ein zusammenlegbares 
Fahrrad konstruiert und über schwierige Wege, 
selbst über freies Feld und bei jeder Witte¬ 
rung erprobt worden war, ohne dass es ver¬ 
sagte, wurde während,der vergangenengrossen 
Übungen bei dem genannten Regimente eine 
besondere Radfahrer-Abteilung von 60 Mann 
gebildet. Die vom „Avenir militaire“ hierüber 
gebrachten Schilderungen sind in hohem Grade 
interessant. Hiernach wurde diese Abteilung 
in 2 Züge zu 2 Halbzügen zu 2 Sektionen 
mit 3 Offizieren, 12 Unteroffizieren eingeteilt; 
die Abteilung (Kompagnie) marschierte in 
Sektionen zu Vieren, jede Sektion mit Ab¬ 
stand. Diese geschlossene Radfahr-Abteilung 
wurde den als Vorhut des Regiments dienen¬ 
den beiden Eskadrons beigegeben; letzteren 
kühn vorausfahrend gelang es ihr, die feind¬ 
lichen Eskadrons mehrfach durch Nahfeuer 
derart zu überraschen, dass sie kampfunfähig 
geworden wären; die vor ihr fliehenden, sich 
verbergenden oder die ruhenden gegnerischen 

*) Zu diesen Zwecken ist die durch die Fahr¬ 
rad-Vorschrift vorgeschriebene Bewaffnung der Rad¬ 
ler nur mit Revolver und Seitengewehr nicht aus¬ 
reichend. 


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34 


Radfahrende Infanterie. 


Reiter-Abteilungen wurden eingeholt und über¬ 
holt, abgeschnitten, von Neuem immer wieder 
plötzlich aufgestöbert, so dass sie zu keiner 
Ruhe kommen konnten und ihre Thätigkeit 
lahmgelegt wurde. — Solche Erfolge waren 
natürlich nur ermöglicht durch die Leistungs¬ 
fähigkeit eines Rades, das auch auf schlech¬ 
tem, durch Regen aufgeweichtem Boden nicht 
versagte, das bei Ersteigung von Hängen in 
wenigen Sekunden zusammengelegt und ohne 
sonderliche Mühe auf dem Rücken getragen 
und ebenso rasch wieder bestiegen werden 
konnte, sowie durch die leichte Bekleidung 
und Ausrüstung der Fahrer. Dieselbe bestand 
in der Hauptsache aus einer Bluse, Bein¬ 
kleidern mit Ledergamaschen und Schnür- 


Bildung einer grösseren geschlossenen Rad- 
fahr-Abteilung einen Vorsprung, den einzu¬ 
holen wir nur im Stande sein werden, wenn 
auch unsere Fahrrad-Fabrikation uns ein so 
leistungsfähiges Rad liefert, als welches sich 
das vom Hauptmann G^rard konstruierteerwie¬ 
sen hat. Dies scheint nun nach den bei einem 
sächsischen Truppenteil während der letzten 
Herbstübungen vorgenommenen Probefahrten 
einer Fabrik in Dresden*) gelungen zu sein. 
Das von ihr konstruierte Rad kann ebenfalls 
in kürzester Zeit vom Fahrer zusammengelegt 
— und zwar ohne jede Beihülfe und ohne 
Gebrauch von Werkzeugen durch einen ein¬ 
fachen Handgriff —, auf dem Röcken getra¬ 
gen und ebenso wieder fahrbar gemacht wer- 



Anschlag vom Rade aus. 

schuhen, einem Karabiner, Leibgurt mit 120 
Patronen in 3 Taschen, einer auf dem Rücken 
getragenen Tasche mit den nötigen kleineren 
Reparatur-Werkzeugen und einer kleinen Um¬ 
hängetasche, nur ein Hemd enthaltend.*) 
Ausserdem sind der Abteilung zwei Me¬ 
chaniker auf einem Doppelrad mit Ersatzteilen 
und Werkzeugen sowie ein Gepäckwagen mit 
Rädern u. s. w. beigegeben. — Somit bedeu¬ 
tet dieser offenbar gelungene Versuch mit 

*) Der deutsche Militär ■ Radfahrer ist nach der 
Fahrrad-Vorschrift noch ausgerüstet mit: Mantel, 
Feldflasche, Brotbeutel, Tornisterbeutel und Leib¬ 
riemen mit Meldetasche; auf dem Marsche tritt 
hierzu noch die Rahmentasche mit Drillichanzug 
oder Waffenrock, Hemd, einem Paar Strümpfe oder 
Fusslappen, einem Paar Schuhe und einer Kon¬ 
servenbüchse. 


Tragweise des zusammengeklappten Rades. 

den; es hat weiter den grossen Vorteil, dass 
infolge der niedrigen Konstruktion des Sitzes 
und der Tretvorrichtung beim Halten die 
Füsse einfach auf den Boden gestellt zu wer¬ 
den brauchen, um die Hände für die Schuss¬ 
waffe oder zu anderen Zwecken freizumachen 
-- der Fahrer kann also ohne Weiteres vom 
Rad aus mit dem Gewehr schiessen und von 
dieser Stellung aus sofort wieder die unter¬ 
brochene Fahrt fortsetzen; mit dem Fahrrad 
auf dem Rücken kann der Mann in jeder Lage 
als Schütze wirken. Ist das Rad nach genann¬ 
ten Richtungen hin schon an sich ein grosser 
Fortschritt, so scheint es sich auch im prak¬ 
tischen Manöver-Gebrauch nach einem uns 


*) Seidel und Naumann. 




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Emil Du Bois-Reymond. 


35 


vorliegenden Bericht bewährt zu haben. Nach 
demselben sind mehrere derartige Räder bei 
Tag und Nacht und auf allen durch das vor¬ 
wiegend regnerische Wetter oft sehr schlech¬ 
ten Wegen stark benutzt worden, sie haben 
dabei sehr gut ausgehalten und auch inbezug 
auf ihre Zusammenlegbarkeit keinerlei Störung 
erlitten; ihre Tragweise auf dem Rücken war 
nicht erheblich unbequemer wie diejenige des 
gepackten Tornisters; hierdurch waren die 
Fahrer imstande, überallhin der Truppe leicht 
z\i folgen und bei jedem Gelände gute Pa¬ 
trouillendienste zu leisten, und letzteres um¬ 
somehr, als sie ihr Gewehr unabhängig vom 
Rade gebrauchen konnten. 

Sollte es nach Vorstehendem thatsächlich 
gelungen sein, ein dergestalt kriegsbrauch¬ 
bares Fahrrad herzustellen und dies sich durch 
weitere ausgedehnte Versuche bestätigen, so 
dürfte die Zusammenstellung besonderer Fahr¬ 
rad-Abteilungen nur eine Frage der Zeit sein, 
denn man wird sich der Erkenntnis nicht ver- 
schliessen können, dass die damit versehene 
Partei gegenüber des solcher Abteilungen ent¬ 
behrenden Gegners bedeutende Vorteile vor¬ 
aus hat. Welch’ erhöhte Wirkungsthätigkeit 
eröffnet sich für die Kavallerie-Divisionen, 
denen 1 — 2 Radkompagnien beigegeben sind I 
Das Problem der durch das Hemmnis eines 
grossen Wagentrosses bisher vergeblich er¬ 
strebten Unterstützung derselben durch In¬ 
fanterie erscheint hierdurch gelöst. — Rasche 
Gewinnung und die Möglichkeit zäher Ver¬ 
teidigung wichtiger oft entfernter Gelände- 
punkte, rasche Zerstörung oder Wiederher¬ 
stellung weitab liegender Brücken, Wege u. 
s. w., Erweiterung des Beitreibungskreises, 
Verfolgung geschlagener Truppen, Überrasch¬ 
ungen des Feindes im Ruheverhältnis, Ver¬ 
wendung als „fliegende Kolonnen“ zur Ver¬ 
breitung von Schrecken und Bestrafung feind¬ 
seliger Einwohner, zum Abfangen feindlicher 
Trains, zum schnellen Schutz der eigenen rück¬ 
wärtigen und Störung der feindlichen Verbin¬ 
dungen — das werden in grossen Zügen weitere 
dankbare und erfolgreiche Aufgaben für dieFahr- 
rad-Infanterie abgeben! — Ob diese Truppe 
behufs zweckmäsiger Ausbildung — die im¬ 
merhin als eine eigenartige sich ergeben wird 
für sich zu organisieren ist — etwa ein 
Bestandteil der Jägerbataillone wird, oderähn¬ 
lich der Meldereiter-Detachements — oder ob 
sie im bisherigen Rahmen der Truppenein¬ 
teilung nutzbringend geschaffen werden kann, 
werden Fragen eingehender Erwägung und 
praktischer Erfahrung sein müssen. Nicht min¬ 
der wichtig wird aber auch die Frage der 
Bekleidung und Ausrüstung, beziehungsweise 
des mitzuführenden Gepäclis sein. Wenn man 
auch bezüglich der französischen Manöver- 


Versuche mit Recht sagen wird: dem Manne 
nur ein Hemd mitzugeben, ist zwar im Ma¬ 
növer auf ein paar Tage möglich, im Kriege 
aber nicht durchführbar — so glauben wir 
doch der persönlichen Gepäckausrüstung des 
Fahrers keinen allzu grossen Wert beilegen 
zu dürfen, da dieser findigen Truppe sich 
überall da, wo sie hinkommt, meist Gelegen¬ 
heit bieten wird, ihren täglichen persönlichen 
Bedarf an Bekleidung und Verpflegung sich 
zu verschaffen; unter Umständen muss sie 
sich eben besonderen Entbehrungen nach die¬ 
ser Richtung gewachsen zeigen — dafür ist 
sie radfahrende Infanterie! In jeder Kampf- ^ 
Periode giebt es Ruhepausen, in denen dann 
die ohne besondere Schwierigkeiten in den 
Train der Kavallerie-Divisionen oder der an¬ 
deren Formationen einzufügenden Gepäckwagen 
der doch immerhin nur in beschränkter Stärke 
vorhandenen Radfahr-Abteilungen zu letzteren 
herangezogen werden können. — Zum Schlüsse 
dieser Betrachtung möchten wir uns indessen 
nicht verhehlen, dass, da einerseits zu Rad¬ 
fahrern ein besonders ausgesuchtes, zuver¬ 
lässiges und gewandtes Personen-Material nötig 
ist und die Gefechtskraft der bestehenden Ver¬ 
bände um ihre Zahl geschwächt wird, ander¬ 
seits die Errichtung einer besonderen Rad- 
fahr-Truppe nach manchen Richtungen nicht 
zu unterschätzende Schwierigkeiten bereitet, 
die Regelung der Frage über die Gestaltung 
der radfahrenden Infanterie der Zukunft noch 
nicht so bald zur endgültigen Lösung reif 
sein wird. l - 


Emil Du Bois-Reymond f* 

Von Dr. P. J E N s b m. 

Am 26. Dec. vor. Jahres schied Emil 
Du Bois-Reymond, der ordentliche Pro¬ 
fessor an der Universität Berlin, im Alter von 
78 Jahren aus dem Leben. In seiner Geburts¬ 
stadt Berlin, wo er das Gymnasium besuchte, 
wo er seinen vielseitigen naturwissenschaft¬ 
lich-medizinischen Studien obgelegen und wo 
er endlich als Lehrer und Forscher eine frucht¬ 
bringende Thätigkeit entfaltet hatte, hat ihn 
nach einem reichen Leben die Hand des To¬ 
des berührt. Geboren wurde Du Bois-Rey¬ 
mond im Jahre 1818, er studirte bis 1843, 
wurde dann Assistent von JohannesMüller, 
dem grossen Physiologen und Anatomen, 1846 
Privatdozent, 1851 Mitglied der Preussischen 
Akademie der Wissenschaften, 1858, als Nach¬ 
folger Joh. Müllers, ordentlicher Professor 
der Physiologie, 1867 ständiger Sekretär der 
Akademie. 

Du Bois-Reymond, der vielgepriesene 
und viel angefeindete, ist eine imposante Er- 


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36 


Emil Du Bois-Reymond, 


scheinung in der Geschichte der Naturwissen¬ 
schaften. Nach dreierlei Richtung sehen wir 
sein Wirken ausgedehnt. Für’s erste hat er 
auf seinem engeren Arbeitsfeld Grundlegendes 
geleistet. Ferner ist er, besonders in seiner 
Eigenschaft als Mitglied und Sekretär der 
Akademie, stets für die Würde und das An¬ 
sehen der Naturwissenschaft-Disziplinen, mit 
denen er eng verwachsen war, mit grosser 
Energie eingetreten gegenüber allen denjenigen, 
welche den Naturwissenschaften keinen höheren 
Wert zuerkennen wollten als den in der 
praktischen Verwertufig ihrer Ergebnisse ge¬ 
legenen, die bei mangelndem Verständnis für 
die hohen Ziele der naturwissenschaftlichen 
Erkenntnis sich nicht zu der Einsicht erheben 
konnten, dass die letzten Fragen des Natur- 
erkennens ebenso einem rein geistigen Be¬ 
dürfnis entspringen, wie die Beschäftigung 
mit den Künsten und den anderen Wissen¬ 
schaften. In gewisser Beziehung endlich zu 
dem Letztgesagten stehen diejenigen geistigen 
Bestrebungen Du Bois-Reymonds, welche 
ihn über die Grenze zwischen Naturwissen¬ 
schaften und anderen Gebieten menschlicher 
Geistesthätigkeit hinaustreten lassen, wie wir 
dies in seinen mannigfachen Festreden und 
Vorträgen sehen. 

Um die Bedeutung Du Bois-Reymonds 
für die Physiologie richtig zu würdigen, müs¬ 
sen wir vor allem seine Leistungen auf dem 
Gebiete der tierischen Elektrizität ins Auge 
fassen. Diesem Gegenstände galt die Haupt¬ 
arbeit seines Lebens; er hat ihn in zahlreichen 
Abhandlungen und besonders in seinem 1848 
erschienenen 3bändigen Werke „Untersuch¬ 
ungen über tierische Elektrizität“ behandelt. 
Das allgemeinste Resultat dieser Untersuch¬ 
ungen sagt aus, dass jeder Muskel und jeder 
Nerv (und heute dürfen wir annehmen, dass 
dies für alle lebendige Substanz gilt) während 
seiner Lebensthätigkeit Elektrizität produziert 
(ähnlich wie derJ^Muskel z. B. auch Wärme 
liefert) welche dadurch nachgewiesen wird, 
dass sich ein galvanischer Strom voiy ihnen 
gewinnen lässt, der in der Ablenkung einer 
hinreichend empfindlichen Magnetnadel zum 
Ausdruck kommt. Die Eigenschaften dieses 
„Muskel"- und „Nervenstromes“, ihre Ab¬ 
hängigkeit von den verschiedenen Lebenszu¬ 
ständen der lebendigen Teile hat Du Bois 
in mustergültiger Weise festgestellt. 

Es ist ein gewaltiger Gegenstand, den 
diese Untersuchungen umfassen; und die letz¬ 
teren erhalten ihren Wert nicht minder durch 
die Ueberwindung der grossen Schwierigkei¬ 
ten, welche den Eintritt in das bis dahin nur 
von Irrlichtern erhellte Gebiet verwehrten, 
als durch die äusserst vielseitige und gründ¬ 
liche Durchforschung dieses Gebietes und die 


Fülle und Tragweite der dort gemachten Ent¬ 
deckungen. 

Zwar hat man anfangs diese Tragweite 
überschätzt; wegen der engen Beziehungen 
zwischen der Lebensthätigkeit der Muskeln 
und Nerven und ihren elektrischen Erschein¬ 
ungen glaubte man nämlich in den letzteren 
dem Wesen des Lebens auf die Spur gekom¬ 
men zu sein. Wenn diese hohen Erwart¬ 
ungen, welche die überraschend neuen Ent¬ 
deckungen hervorriefen, sich auch nicht er¬ 
füllten, so blieben doch der wichtigsten Er¬ 
gebnisse noch genug: Zunächst die allge¬ 
meine Erkenntnis, dass die in der lebendigen 
Substanz der Muskeln und Nerven angehäufte 
potentielle chemische Energie neben anderen 
Formen der kinetischen Energie, wie Wärme 
und Massenbewegung, auch in diejenige der 
elektrischen Bewegung übergehen kann, ganz 
analog den Vorgängen in der unbelebten 
Materie. 

Damit hatte die vitalistische Lehre, welche 
in den lebendigen Organismen ausser den in 
der unbelebten Natur wirksamen Kräften noch 
eine besondere „Lebenskraft“ annimmt, eine 
Lehre, die zu Anfang der Laufbahn Du Bois- 
Reymonds noch in verschiedenen Formen im 
Ansehen stand, einen empfindlichen Stoss er¬ 
litten. Sodann bringen die Untersuchungen 
über die tierische Elektrizität mit einem Male 
auch die vorher so geheimnisvollen Erschein¬ 
ungen der elektrischen Fische unserem Ver- 
ständniss näher, indem sie die Fähigkeit der 
elektrischen Organe als einen Spezialfall der 
allgemeinen elektrischen Eigenschaften der 
Muskeln und anderer lebendiger Gewebe er¬ 
kennen lassen. Von grosser Bedeutung ist 
es auch, dass die mannigfachen Erschein¬ 
ungen des elektrischen Eigenstromes der 
Muskeln, Nerven etc. uns wertvolle An¬ 
haltspunkte zu geben vermögen über den 
zeitlichen und örtlichen Verlauf der Lebens¬ 
vorgänge in den lebendigen Geweben, in 
ähnlicher Weise, wie dies die Wärmebildung 
und Arbeitsleistung thun. Die angedeuteten 
allgemeineren Ergebnisse und Gesichtspunkte 
und die für Gewinnung derselben in genialer 
Weise ersonnene und ins Einzelne ausgebil¬ 
dete Methodik sind ein wertvoller, dauernder 
Besitz der Physiologie; sie haben für eine 
Fülle späterer gleichgerichteter Untersuchungen 
die Grundlage abgegeben und werden auch 
für die Aussaat neuer Ideen ein fruchtbares 
Feld darstellen. 

Von anderweitigen Untersuchungen Du 
Bois-Reymonds sei nur einer im Jahre 1859 
gemachten Entdeckung dieses Forschers ge¬ 
dacht, welche seitdem nach den verschiedenen 
Richtungen hin weiter ausgebaut worden ist, 
nämlich die Thatsache, dass der ermüdete 


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Kleine Mitteilungen. 


37 


Muskel saure Reaktion zeigt, während ein aus¬ 
geruhter im allgemeinen neutrat reagiert. 

Neben den physiologischen Leistungen Du 
Bois’geschah oben noch seiner allgemein-natur¬ 
wissenschaftlichen und weiteren umfassenden 
Interessen Erwähnung, sowie seiner Neigung, 
diese in Festreden und in Vorträgen zum Aus¬ 
druck zu bringen. Die letzteren sind es vor¬ 
wiegend, welche den Namen des Physiologen 
in weitere Kreise getragen haben. Manche 
dieser Reden haben reichlich Widerspruch 
erfahren, wie diejenige „über die Grenzen des 
Naturerkennens“ und die vielgenannte Rek¬ 
toratsrede: „Goethe und kein Ende". Und 
leider sind es gerade diese, welche haupt¬ 
sächlich als Grundlage für die Wertschätzung 
Do- Bois - R-eyraonds in Laienkreisen gedient 
haben, während andere an Inhalt und Form 
gleich meisterhafte Reden, wie z. B. die schöne 
Gedächtnisrede auf Johannes Müller, weniger 
bekannt geworden sind. 


Betrachtungen und kleine Mitteilungen. 

• Als du Bois-Reymond in der Leibniz- 
Sitzung vom 29. Juni 1882 Herrn Prof. Landolt 
als neues Mitglied der Kgl. preussischen Akademie 
der Wissenschaften begrüsste, sagte er u. a. folgen¬ 
des: Und doch gilt von dieser modernen 

Chemie auf ihrer stolzen Höhe noch, was Kant 
von der Chemie seiner Zeit sagte. Sie ist eine 
Wissenschaft, aber nicht Wissenschaft; in dem 
Sinne nicht, in welchem es Oberhaupt nur Wissen¬ 
schaft giebt, nämlich im Sinne des zur mathe¬ 
matischen Mechanik gediehenen Naturerkennens. 
In diesem Sinne würde es unsere Sehnsucht 
nach den Ursachen nicht einmal stillen, wenn 
wir wüssten, wie um das Kräftecentrum, das 
wir ein Kohle-Atom nennen, die vier andern Kräfte- 
centren beliebiger stofflicher Natur räumlich verteilt 
sind, welche ersteres zu fesseln vermag, und wie 
bei einem bestimmten Vorgänge die Atome sich 
umlagern. Wissenschaft in jenem höchsten mensch¬ 
lichen Sinne wäre Chemie erst, wenn wir die 
Spannkräfte, Geschwindigkeiten, labilen und stabilen 
Gleichgewichtslagen der Teilchen ursächlich in der 
Art durchschauten, wie die Bewegungen der Ge¬ 
stirne. Hierin ist freilich die Astronomie der Chemie 
weit voraus, welche, seit sie auf Berzelius naive 
Erklärung verzichten musste, in abwartender Ent¬ 
sagung auf einer Stufe verharrt, noch unter der der 
Astronomie zu Kopernikus und Keplers 
Zeit,“ — Diese Worte führte auch Ostwald im 
Jahre 1887 an, in der Vorrede zu s einer neuen 
„Zeitschrift für physikalische Chemie“, die haupt¬ 
sächlich der Erreichung der oben genannten Ziele 
dienen sollte. — Von der noch damals vielfach 
gehegten Hoffnung, aus der Chemie eine Art Astro¬ 
nomie im kleinen zu machen, dereinst vielleicht die 
Geschwindigkeiten zu messen, mit denen ein Atom 
oder auch ein Molekül sich um ein Anziehungs¬ 
centrum bewegt, aus diesen Bewegungen die che¬ 
mischen Veränderungen voraus zu berechnen, diesem 


Ziel ist man um keinen Scfaritt näher gekommen. 
Ja, man ist weiter denn Je davon entfernt, und 
es wird momentan kaum einen Chemiker mehr 
geben, der diesem Problem seine Arbeit opferte. 
Es fehlt sogar nicht an Stimmen, die 'luasere ge¬ 
samten heutigen Theorien von der Zusammensetzung 
aller Körper aus kleinsten Teilen, den Molekülen, 
und dem Aufbau aus Elementarteiien, den Atomen, 
Umstürzen oder mindestens auf die rein empirisch 
gefundenen Thatsachen beschränkt sehen möchten. 
Unsere heutigen Theorien von den Molekülen und 
Atomen mögen ein Zerrbild sein, aber sicherlich 
haben sie eine reale Basis. Wie wären sonst die un¬ 
vergleichlichen Erfolge zu erklären, die die Struktur¬ 
chemie*) aufzuweisen hat. Nur mit Zugrundelegung 
jener Theorien ist es gelungen, alle Äe {Mächtigen 
Farbkörper zu konstruiren, die uns in den letzten 
20 Jahren fast unabhängig gemacht haben von den 
überseeischen Pflanzenfarbstoffen; ihnen verdanken 
wir die neuen künstlichen Arzneimittel. — Ohne 
die Errungenschaften der Stereochemte*) wäre es 
wohl nie gelungen, eine Zuckerart nach der andern 
künstlich herzustellen. — 

Die physikalische Chemie hat seit 12 Jahren**) 
Probleme nahezu gelöst, an denen ein ganzes Jahr¬ 
hundert lang fast vergeblich gearbeitet wurde: ich 
meine die Theorie der Lösungen, in Zusammenhang 
damit die theoretischen Erklärungen füt- die Mani¬ 
pulationen der analytischen Chemie und die Vorgänge 
bei der Elektrolyse und in galvanischen Elementen. 

Angesichts der ausserordentlichen praktischen 
Erfolge auf einzelnen Gebieten der reinen und an¬ 
gewandten Chemie muthet es einen eigentümlich 
an, dass man dem von du Bois-Reymond im 
Jahre 1882 gesteckten Ziel scheinbar um keinen 
Schritt näher gerückt ist, dass im Gegenteil die 
Erkenntnis und Erklärung aller chemischen Vor¬ 
gänge von einem höheren Gesichtspunkt heute 
weniger möglich ist denn je. 

Dr. Bechhold. 

• • 

• 

Waren Europa und Amerika vordem durch 
ein Festland verbunden? Nach einer neuerdings 
auch von de Lapparent wieder aufgenommenen Hy¬ 
pothese sollen in einer früheren Erdepoche Europa 
und Amerika durch ein Festland verbunden ge¬ 
wesen sein. Aus zoologischen Gründen, welche er 
bei der Erforschung der Südwasserthierwelt der 
Azoren gesammelt hat, beweist nun Th, Barrois 
die Unhaltbarkeit dieser Hypothese. Wenn nämlich 
Amerika und Europa jemals durch einen Kontinent zu- 
sammenhingen, von dem die Azoren noch ein Ueber- 
bleibsel, so müssten sich auf den letzteren auch ameri¬ 
kanische Thierformen finden. Diese fehlen aber gänz¬ 
lich. Vielmehr ist der Charakter der Flora und fauna 
dieser Inselgruppe ein rein europäischer, und dieser 
erklärt sich am einfachsten durch die Annahme 
eines allmählichen und zufälligen Imports nach dem 
von Anfang an isolierten, durch vulkanische Erhebung 
entstandenen Archipel. Hierfür spricht das sehr 
sporadische Auftreten mancher niederer Bewohner 
des süssen Wassers an weit von einander ent¬ 
fernten Lokalitäten; man hat diese Formen als 

*) Die altere Stnikturchemie untenuchte den Zusammenhang 
der Atome und Atomgruppen, die ein MolekQl bilden, Hess aber die 
Lagt derselben zu andern Atomen oder Atomgruppen des Mole¬ 
küls, die nicht direkt mit ihm Zusammenhängen, unerdrtert. Mit 
dem letztgenannten Problem befasst sich die moderne Stcreochemie. 

**} 1885 veröffentlichte H. van’t Hoff seine Theorie vom os¬ 
motischen Druck. 


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38 


Kleine Mitteilungen 


neuere Ankömmlinge aufzufassen, für welche die 
Zeit noch nicht auSreichte, um -sich über die ganze 
Insel auszubreiten. Sehr beweisend ist weiter der 
Umstand, dass an der Süsswasserfauna der Azoren 
fast ausschliesslich weitverbreitete Formen beteiligt 
sind, denen, in hohem Grade die Eigenschaft zu¬ 
kommt, cintrocknen zu können oder Dauerstadien 
(Wintereier, Statoblasten, Cocons, Cysten) zu bilden, 
sodass ihre passive Verschleppung auf weite Ent¬ 
fernung gesichert ist. — Die Möglichkeit ftlr die 
Einwanderung der europäischen Tierwelt in das 
SOsswasser der Azoren ist durch die herrschende, 
direkt aus Europa streichende Windrichtung ge¬ 
geben. Dazu ist Europa der nächstgelegene Kon¬ 
tinent, von dem aus Zugvögel und Wasserinsekten, 
unterstützt durch den dominierenden Wind, am 
leichtesten die Inselgruppe erreichen können. Ge¬ 
rade aber Vögel' und Insekten sind die beiden 
Tierklassen, welche in ausgedehnter Weise als 
Vehikel ftir die Verbreitung niederer Tiere dienen. 
Endlich aber spielte auch der Mensch eine gew'isse 
Rolle als unfreiwiliger Zwischenträger der europä¬ 
ischen Fauna nach den Azoren. Durch ihn wurden 
Fische, Frösche und Blutegel eingeführt, wobei der 
Import zahlreicher niederer Tiere nicht nur mög¬ 
lich, sondern höchst wahrscheinlich war. Seit alter 
Zeit aber unterhalten die Azoren mit Europa den 
regsten Verkehr. — Auch die Zusammensetzung 
der Landfauna, soweit man dieselbe kennt, spricht 
für die allmähliche und zufällige Bevölkerung der 
Azoren mit europäischen Elementen. — Mit diesem 
Nachweise einer allmählichen Besiedelung vom 
europäischen Festlande aus ist jedem Versuche 
der Boden entzogen, die Azoren als Beweismittel 
für eine ehemalige Verbindung Europas und Ame¬ 
rikas durch ein Festland auszuspielen. Rk. 

• 4 » 

• 

In der „Science" weist G. W. Hubbard an 
der Hand statistischen Materials nach, dass in den 
Sodstaaten der Union viel mehr farbige als iveisse 
Individuen an der Lungenschwinasuchi sterben. Der 
Prozentsatz beträgt im Durchschnitt 5,6 im Gegen¬ 
sätze zu 1,6. Nach der Ansicht unseres Forschers 
sind als mutmaassliche Ursachen dieses hohen Pro¬ 
zentsatzes an Schwindsüchtigen folgende Verhält¬ 
nisse namhaft zu machen: i) Ungesunde Wohnungen, 
a) Qualitativ schlechte und quantitativ unzureichende 
Nahrung. 3) Ungenügende Kleidung gegen die Un¬ 
bilden des Wetters. 4) Schlechte Gewohnheit und 
wenig Schlaf. 5) Starker Alkoholismus. 6) Unkennt¬ 
nis der hygienischen Forderungen. 7) Mangel an 
ärztlicher Behandlung und guter Kinderpflege. — 
Allem Anscheine nach gehen also Kultur und Natur 
Hand in Hand zu immer weiterer Verringerung 
der nordamerikanischen Negerbevölkerung. 

Rft. 

» • 

• 

Der englische Alpinist E. A. Fitzgerald hat im 
Okt. verg. Jahres seine Expedition zur Besteigung des 
Aconcagua, des höchsten Berges von Südamerika, 
angetreten und sich mit einem Stabe von Fachge¬ 
lehrten umgeben, um auch die wissenschaftliche 
Durchforschung der ganzen Umgebung vornehmen 
zu können. Um die Wirkungen der Bergkrankheiten 
besser zu beobachten, beabsichtigt er, nur allmählig 
seine Stationen nach der Höhe vorrücken zu lassen, 
und hofft, auf diese Weise auch die höheren Gipfel 
des Himalaya-Gebirges später ersteigen zu können. 


Das kn Jahre 1876 durch den Kapitän Pearn 
auf der inneren Route des grossen Barrieren-Riffes 
an der Ostküste Australiens entdeckte und nach 
ihm benannte Pearn-Riff, welches in der Folgezeit 


trotz einer genauen Vermessung des Kanals nicht 
wieder aufzufinden war und deshalb wegen seiner 
nicht fixirten Lage stets eine Gefahr für die Schiff¬ 
fahrt bildete, ist nunmehr durch das englische Ver¬ 
messungsschiff „Dart“ aufgefunden und seiner Lage 
nach bestimmt worden. Hiernach liegt das Riff in 
II* 25 39" S. Br. und 142* 56' 2" ustl. L. v. Gr„ 
d. h. 3,2 Seemeilen südwestl. von der Insel Half- 
way entfernt. Auf der Klippe steht bei Niedrig¬ 
wasser nur 3 m Wasser, während die Umgebung 
21,9 m Tiefe zeigt. 

• • 



Eine neue Verwendung des 
elektrischen Stroms enthält das 
D. R. Patent No. 89062 der 
ciete civile d’ötudes du syndicat 
de Tarier Gerard“.*) Lässt man 
geschmolzenes Metall in dünner 
Schicht zwischen zwei nahe ge¬ 
rückten Elektroden durchfailen, 
durch welche man einen Strom 
von geringer Spannung, aber 
hoher Intensität schickt, so 
wird die Metallschicht in einen 
Pulverregen aufgelöst; die Fein¬ 
heit des Pulvers ist von der Tem¬ 
peratur des flüssigen Metalls ab¬ 
hängig. Die Methode soll der viel¬ 
seitigsten Anwendung fähig sein 
z. B. zur Gewinnung von Blei¬ 
staub zu Accumulatorenplatten; 
ferner kann man das fein verteilte 
Metall chemischen Einwirkungen 
aussetzen z. B. flüssiges Eisen 
durch Einwirkung von Luft in Stahl überführen. 


Die im Winter 1895*96 durch das österreichische 
Vermessungsschiff „Pola“ begonnene Durchforschung 
des Roten Meeres, welche in den nächsten Jahren 
eine Fortsetzung erfahren wird, hat nach den bisher 
vorliegenden Berichten beachtenswerte Resultate 
ergeben. In dem zunächst untersuchten nördlichen 
Teile (nördlich des Breitenparallels von Dschidda) 
ist als grösste Tiefe in 22* 7' N. Br. und 38® o' 
östl. L. V. Gr. 2190 m gemessen worden. Im Golf 
von Akaba, der bisher fast ganz unbekannt war, 
wurde eine Tiefe von 1287 m festgestellt. Die See- 
wassertemperatuf nahm von der Oberfläche bis in 
etwa 700 m Tiefb ab und blieb von da ab konstant 
auf 21,5" C. stehen. Das specifische Gewicht des 
Seewassers ergab gegenüber anderen Meeren einen 
sehr hohen Betrag, nämlich 1,03125 im Norden und 
1,02980 im Süden, was einem Salzgehalt von 4,09, 
bezw. 3,90 96 entspricht. Für den atlantischen Ozean 
betragen diese Zahlen im Maximum nur 1,02768, 
bezw. 3,6396. Ausserdem fand eine Zunahme des 
Salzgehaltes von der Oberfläche nach der Tiefe 
hin statt. Weitere Beobachtungen betrafen die 
Durchsichtigkeit des Meerwassers, den Seegang, 
erdmagnetische und astronomische Ortsbestim¬ 
mungen u. s. w. deren Resultate gIcichfaUs eine 
wesentliche Bereicherung unserer Kenntnisse des 
Roten Meeres enthalten. 


No. 3 der Umsebau wird enthalten: 

Eulenburz, Neurasthenie (Schluss!. — Juriach, Gefa hren der 
Arbeiter in der chemischen Industrie. — Wiedetnann, Eni Ide- 
allst auf dem Throne der Pharaonen. ~ Reh, Abstammung des 
Menschen. — Hauptmann X., Schnellfcuergeschatze. 


• Zeitschr. f. angew. Chemie 1896, Heft 33. 


G. Horstmann’s Druckerei. Frankfurt a. M. 


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DIE UMSCHAU 

ÜBERSICHT ÜBER DIE FORTSCHRITTE UND BEWEGUNGEN AUF 
DEM GESAMTGEBIET DER WISSENSCHAFT, TECHNIK, 
k™.. LITTERATUR und KUNST 


Zu beziehen durch 
alle Buchhandlungen und 
Postanstalten. 

Postzeitungspreisliste No. 7^91 a. 

Verlag VOQ: 

H. Bechhold Verlag, Frankfurt a. M. 


herausgegeben von 

DR. J. H. BECHHOLD 


Neue Krhme 19.31. 


Preis vierteljährlich 
M. 3.50. 

Jahres* Abonnement 
Preis M. 10.—. 

Im Ausland nach Cours. 
Verantwortlicher Redakteur: 

Otto Adolf Wolters, Frankfurt a. BL 


JSfe 3. 1 . Jahrg. 


Nachdrutk aus dem Inhalt der Zeitschrift ohne Erlatdmis 
der Redaktion verboten. 


1897. 16. Januar. 


Eine neue Stammform des Menschen¬ 
geschlechts. 

Von Dr. L. Reh. 

Als Darwins Lehren bald nach der Mitte 
dieses Jahrhunderts eine völlige Umwälzung 
unserer Anschauungen anzubahnen begannen, 
war eine der ersten und mit die wichtigste 
der neuen Fragen, die nach dem Ursprünge 
des Menschen-Geschlechts. Nicht mehr, wie 
bisher, konnte man sich damit begnügen, zu 
glauben, dass der Mensch einst urplötzlich und 
schon ganz in seiner heutigen Gestalt die Erde be¬ 
treten habe. Dem widersprach zu sehr eine 
grosse Masse von Thatsachen, die man schon 
lange gekannt hatte, aber erst jetzt unter der 
Beleuchtung der neuen Lehre richtig zu ver¬ 
stehen lernte. Und sehr rasch brach sich die 
neue Anschauung Bahn, dass der Mensch 
nicht der Herr der Natur, sondern nur ein 
kleines Stückchen von ihr, also auch allen 
ihren Gesetzen unterworfen sei, dass auch er 
sich aus niederen Anfängen entwickelt habe, 
und dass er sich eng an die ihn umgebende 
Tierwelt, insbesondere an die Säugetiere, am 
meisten natürlich an die grossen, menschen¬ 
ähnlichen Affen anschliesse. In der ersten 
Sturm- und Drangperiode des Darwinismus 
konnte man sich die erst jetzt in ihrer ganzen 
Bedeutung in die Augen fallende übergrosse 
Ähnlichkeit der letzteren mit dem Menschen 
nicht anders erklären, als dass man sie für 
dessen Vorfahren ausrief. Orang-Utan, Gorilla, 
Schimpanse sollten unsere Ahnen sein. Es 
ist bekannt, welche Unmenge von Spott die 
Vertreter dieser Behauptungen über sich er¬ 
gehen lassen mussten, besonders von Seiten 
der Laien. Aber auch die Wissenschaft stellte 
sich ihnen entgegen, und es entstand ein von 
beiden Seiten heftig geführter Kampf. Aus 
ihm ging eine neue Wissenschaft, die Anthro- 
pogenie, die Lehre von der Entstehung des 
Menschen, gereinigt und geklärt hervor. Sie 

Unwehau 1897. 


behauptet nicht mehr, dass die heutigen Men- 
schen-Affen unsere Vorfahren seien, sondern 
hat ihnen die Stellung von Vettern, und zwar 
nicht allzuweiten Grades, angewiesen. Aber 
von ihnen sehr nahestehenden Geschöpfen, 
die man immerhin noch Affen nennen kann, 
die aber längst ausgestorben sind, leitet man 
die Menschen ab, und Beide, Mensch und Affe, 
müssen wiederum auf gemeinsame Vorfahren 
zurückgeführt werden. Das sind Schlüsse, die 
die Wissenschaft ihren Vertretern aufzwang, 
bezw. aufzwingt, und an deren Berechtigung 
heutzutage kein naturwissenschaftlich Gebil¬ 
deter mehr zu zweifeln wagt. — Natürlich er¬ 
schien es nun auch von grösstem Interesse, 
Überreste dieser ausgestorbenen Stamm-Formen 
ausfindig zu machen, und man begann eifrigst 
nach solchen zu suchen. Mehrere Male hiess 
es, sie seien gefunden. In verschiedenen Ge¬ 
genden West-Europas grub man Schädel oder 
Skelette von Menschen aus, die auf einer viel 
tieferen Entwickelungsstufe zu stehen schienen, 
als die heutigen, oder gar Zwischenformen 
von Mensch und Affe sein sollten. Aber die¬ 
ser Deutung der Einen stellte sich schroff die 
der Andern, Virchow an der Spitze, ent¬ 
gegen, die in den Funden nur Überreste krank¬ 
haft veränderter Menschen, von Mikrocephalen, 
Idioten u. s. w. sehen wollten. Und diese 
Deutung erhielt das Übergewicht, so dass man 
heute den Menschen von Spy, Neanderthal, 
u. s. w., wie man sie nach den Fundorten 
ihrer Skelett-Theile nennt, nur wenig Beacht¬ 
ung mehr schenkt, trotzdem es noch Sachver¬ 
ständige genug giebt, die sich nicht der Autorität 
Virchows fügen wollen. Aber letztere ist doch 
so gross, dass der berühmte Gelehrte in der 
Eröffnungsrede zum Anthropologen-Congress 
in Innsbruck, am 24. August 1894, sagen 
konnte, dass sich die Forschung von der ver¬ 
geblichen Suche nach den tierischen Urahnen 
des Menschen zurückgezogen habe, um sich 
anderen Zielen zuzuwenden. 

3 


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40 


Reh, Neue Stammform des Menschengeschlechts. 


Gewissermassen als Antwort darauf erschien 
ein Vierteljahr später ein Buch von dem Nieder¬ 
ländisch-Indischen Militärärzte E. Dubois, 
betitelt; „Pithecanthropus erectus, eine men¬ 
schenähnliche Uber gangsform aus Java.“ 
Mit grosser Entschiedenheit behauptet der Ver¬ 
fasser, dass er endlich, bei Ausgrabungen in 
Java, unter vielen anderen Fossilien, die so 
lange und viel gesuchte Übergangsform zwi¬ 
schen Mensch und Affe gefunden habe. 

Gehen wir also auf das hochinteressante 
und hochbedeutsame Werk etwas näher ein. 

Dr. Eugen Dubois, ein tüchtiger Anatom, 
und erfahrener Paläontologe, hatte im Auftrag 
der Niederländisch-Indischen Regierung auf 
Java in der Provinz Madium in der Nähe des 
kleinen Gehöfts Trinil, Ausgrabungen grossen 
Stiles vorgenommen, um die Ablagerungen 
des Bengawan oder Solo, des grössten Flusses 
der Insel, zu untersuchen. Fünf Jahre hin¬ 
durch, während jeder Trockenzeit, waren diese 
Ausgrabungen fortgesetzt worden und hatten 
ein reiches Material von interessanten Wirbel¬ 
tier-Resten zu Tage gefördert. Unter diesen 
war im September 1891 ein menschenähnlicher 
Backenzahn gefunden worden, dem einen Monat 
später ein Schädeldach folgte. Im Mai des 
nächsten Jahres fand sich dann noch ein Ober¬ 
schenkelbein und im Oktober ein zweiter Backen¬ 
zahn. Alle vier Stücke waren gut erhalten, 
wenn auch ihr Aussehen auf hohes Alter 
schliessen liess; und auf eine Zeit, aus der 
seither noch keine Menschenreste bekannt 
waren, auf die sogenannte Pliocän-Zeit, das 
Ende der unserer geologischen Epoche, dem 
Quartär, vorausgegangenen, dem Tertiär, wie¬ 
sen denn auch die geologischen Befunde, be¬ 
sonders die übrigen Fossilien hin. — Die vier 
Knochen lagen zwar in einer Ebene, aber in 
einiger Entfernung von einander, zwischen i 
bis 15 m. 

Das wichtigste der Fundstücke ist das 
Schädeldach. Es ist etwa derTeil der Schädel- 
kajfeel, der das Gehirn von oben bedeckt. 
Vorn reicht es bis zu den Augenbrauen-Bogen, 
hinten nicht ganz bis zum Nacken, an den 
Seiten etwa bis zu den Schläfen. Das Übrige 
ist abgebrochen. Es ist durchaus glatt, zeigt 
also keine solche Knochen -Vorsprünge und 
Leisten, wie die Schädel des Gorilla und Orang- 
Utan. Nur die Augenbrauen-Bogen springen 
stark hervor, eines der charakteristischsten 
Kennzeichen des AfFenschädels. Die Wölbung 
ist gering, bedeutend flacher als beim Men¬ 
schen, aber immerhin stärker als bei den 
Affen, mit Ausnahme der Gibbons, deren Schä¬ 
del dasStück überhaupt ausserordentlich ähnelt. 
Aber es unterscheidet sich von ihm vor Allem 
durch die stärkere Wölbung des Stirnteiles, 
unter dem die wichtigsten Teile des Gehirnes 


liegen, und durch grössere, an menschliche 
Verhältnisse erinnernde Steilheit der Nacken¬ 
gegend, die auf ein aufrechtes Kopftragen hin¬ 
deutet und ihren Ursprung hat in der stärkeren 
Krümmung der Hirn-Achse und der bedeu¬ 
tenderen Grösse des Vörderhirnes, alles Eigen¬ 
schaften, die sich denen des menschlichen 
Schädels nähern und auf eine beträchtlichere 
Ausbildung der Geisteskräfte schliessen lassen. 
— Das Schädeldach misst 185 mm in der 
Länge, entsprechend etwa dem Normalmasse 
des Menschen, aber nur 130 mm an der brei¬ 
testen, 90 mm an der schmälsten Stelle, den 
Schläfen, ist also hochgradig langköpfig. Diese 
auffallende Schmalheit der Schläfengegend 
unterscheidet es wieder sehr vom Menschen 
und gleicht fast dem Gibbon-Schädel. Dubois 
hat auch den Inhalt der Schädelkapsel zu be¬ 
rechnen versucht und hat 900—1000ccm er¬ 
halten gegen 500 — 600 bei den Menschen- 
Affen und 13 — 1500 beim Menschen. — In 
fast allen seinen Eigenschaften ist der Abstand 
des Schädeldaches nach dem Menschen hin 
kleiner, als nach den Affen. 

Die Zähne sind der zweite obere Backen¬ 
zahn links und der dritte obere, der sog. 
Weisheitszahn, rechts. Ihre Kronen sind grösser 
als durchschnittlich beim Menschen, besonders 
breiter, und ungleich abgenutzt. In der Rück¬ 
bildung der Spitzen nähern sie sich sehr dem 
Typus der Affenzähne. DieWurzeln stehenschief 
nach hinten und weichen stark auseinander. 
Im Ganzen lassen die Zähne schliessen auf 
eine verhältnismässige Rückbildung des Ge¬ 
bisses, worauf auch die glatte Schädel-Ober¬ 
fläche hinweist, wenn auch immer noch die 
Zähne schief standen, wie bei den Aft'en. Die 
Kiefer waren kürzer, das Maul war breiter 
geworden, sodass die Zunge mehr Spielraum 
erhielt, eine der wesentlichsten Vorbedingungen 
zur Ausbildung der Sprache. 

Der Oberschenkelknochen ist der des linken 
Beines. Im Wesentlichen gleicht er dem des 
Menschen. An seinem oberen Ende trägt er 
die Spuren eines langwierigen Verheilungs- 
Prozesses einer schweren Wunde. Durch seine 
Gestrecktheit, sowie einige andere nebensäch¬ 
lichere Merkmale, unterscheidet er sich deut¬ 
lich vom menschlichen Oberschenkel und nähert 
sich dem der Affen. Andererseits sind aber 
besonders sei ne Gelenkflächen durchaus mensch¬ 
lich und beweisen, dass sein Besitzer aufrecht 
gegangen ist. Aus seiner Grösse lässt sich 
die des ganzen Geschöpfes auf 165 —170 cm 
berechnen. — Durch diese Grösse war das 
Klettern sehr erschwert, sodass die aufrechte 
Körperhaltung sich als Notwendigkeit ergeben 
musste. Als so die Hände frei geworden waren, 
war ein weiterer sehr wichtiger Schritt auf 
der Bahn der Menschwerdung gethan. 


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Reh, Neue Stammform des Menschengeschlechts. 


Aus verschiedenen anatomischen Befunden 
ergiebt sich, dass die Knochen einem alten 
weiblichen Wesen angehörten. 

Es ist selbstverständlich, dass auch Dubois 
mit seinen Ausführungen auf heftigen Wider¬ 
spruch stossen musste. Der erste Einwand, 
der ihm, besonders von zoologischer Seite, 
entgegengehalten wurde, war der, dass es doch 
fast tollkühn wäre, die vier Teile zu einem 
Individuum zu rechnen, da sie doch so weit 
auseinander und sogar in verschiedenen Jah¬ 
ren gefunden worden seien. Als sich aber die 
Sachverständigen, besonders die Geologen 
und Paläontologen, auf die Seite von Dubois 
stellten, war dieser Einwand abgethan. An 
seine Stelle trat der durch Überlieferung ge¬ 
heiligte, dass man es mit den Resten eines 
pathologisch veränderten Menschen, eines Mi- 
krocephalen oder Idioten zu thun habe. Mit 
dem Reize der Neuheit hatte jedoch dieser 
Einwurf auch seine Bedeutung eingebüsst. — 
Aber auch ein ernster wissenschaftlicher Streit 
erhob sich um die Deutung der Reste, und 
Berufene und Unberufene erbrachten Gründe 
für und wider. 

Inzwischen hatte Dubois von seiner Re¬ 
gierung Urlaub erbeten und erhalten, und war 
mit seiner ganzen Ausbeute nach Europa ge¬ 
kommen. Hier, auf dem internationalen Zoo- 
logen-Congress zu Leiden vom i6. —21. Sept. 
1895, legte er sie den Gelehrten aller Län¬ 
der vor und vertrat nochmals seinen Stand¬ 
punkt. Seine Hoffnung, dass dort eine Ent¬ 
scheidung herbeigefürt würde, ging nicht in 
Erfüllung; vielmehr dauert die Erörterung noch 
heute fort, so dass schon eine ganze Litteratur 
über den Pithecanthropus entstanden ist. Aus 
ihrer Fülle nur kurz einige der interessantesten 
Gesichtspunkte. Als angreifbarster Punkt 
der ganzen Ausführungen von Dubois er¬ 
wies sich seine Berechnung des Schädel-In¬ 
haltes, also der Gehirngrösse. Mögen nun 
die von ihm angeführten Zahlen richtig sein 
oder nicht, so hat noch niemand das End¬ 
ergebnis dieser Berechnung in Zweifel zu 
ziehen gewagt, dass der Schädelinhalt der 
fossilen Form kleiner ist, als der des Men¬ 
schen, und grösser als der der Affen. — We¬ 
gen der Schmalheit der Schläfengegend glaubt 
Virchow direkt auf einen Affen schHessen zu 
müssen, da etwas Ähnliches beim Menschen 
nie vorkäme. Aber der ausgezeichnete Ber¬ 
liner Zoologe und Paläontologe Nehring wies 
auf einen Schädel in seiner Sammlung hin, 
der aus den Sambaquis*) von Santos in Bra¬ 
silien stammt, ein unzweifelhafter Menschen- 

*) Die Sambaquis in Brasilien entsprechen luise- 
ren Kjökken-möddings und sind Abtallhaufen von 
Mahlzeiten des Ur-Menschen, besonders aus Muschel¬ 
schalen bestehend. 


41 


Schädel ist, aber ebenso schmale Schläfen hat. 
Dieser Schädel, ein äusserst interessantes Stück, 
stellt etwa eine Mittelform zwischen Pithecan¬ 
thropus und dem Menschen vor. — Der 
Schenkelknochen wurde für den eines Menschen 
erklärt, weil ein solcher Heilungsprozess, wie 
er ihn aufweist, bei wildlebenden Geschöpfen 
nicht Vorkommen könne, sondern sorgsame 
Pflege erfordert habe. Auch sei durch diesen die 
Form des ganzen Knochens so verändert wor¬ 
den, dass sich dadurch leicht seine affenähn¬ 
lichen Merkmale erklären Hessen. Aber Nehring 
und der französische Physiologe und Anthro¬ 
pologe Manouvrier zeigten, dass man eben¬ 
solche Heilungsprozesse sehr oft bei Tieren 
beobachtet habe, und zwar ohne dass die 
Form des ganzen Knochens im Geringsten 
abgeändert worden sei. 

Bemüht man sich unbefangen die ver¬ 
schiedenen Ansichten zu betrachten und ab¬ 
zuwägen, so sieht man, dass die Gegensätze 
nicht so gross sind, als es auf den ersten 
Blick scheint. Eine Gruppe der Sachverstän¬ 
digen, an ihrer Spitze drei bedeutende deutsche 
Anatomen, Virchow, Waldeyer und 
Krause, erklären mit ziemlicher Bestimmt¬ 
heit die Reste als die eines ausgestorbenen 
menschenähnlichen Affen, aus der Familie 
der Gibbons, aber viel menschenähnlicher, 
als einer der bekannten fossilen oder leben¬ 
den Affen. Eine andere Gruppe, vor allem 
der deutsche Anthropologe Martin nnd vier 
englische Anatomen erklären sie mit eben¬ 
solcher Entschiedenheit für menschlich, aber 
für einer Menschenrasse angehörig, die tiefer 
steht als eine der bekannten lebenden oder 
fossilen.— Zeigt einerseits diese Meinungs¬ 
verschiedenheit, wie unendlich schwierig es 
ist, durchgreifende Unterschiede im Kno^en- 
bau von Mensch und Affe zu finden, so muss 
sie andererseits den Unbefangenen zu dem 
Schlüsse drängen, dass die Reste sowohl 
menschliche als Affen ähnliche Merkmale 
vereinen. Dadurch wird man unwillkürlich zu 
der dritten Gruppe geführt, die eben behauptet, 
dass sie weder einem Affen noch einem 
Menschen angehört haben, sondern einer 
Mittelform zwischen Beiden. An der Spitze 
dieser Gruppe steht natürlich Dubois selbst. 
Ihm haben sich deutscherseits vor allem 
Hä ekel und Nehring angeschlossen. Auch 
der kürzlich verstorbene Karl Vogt hat sich 
vor seinem Tode noch für diese Ansicht ent¬ 
schieden. Von ausvrärts wird sie noch unter¬ 
stützt von dem bedeutendsten amerikanischen 
Paläontologen C. Marsh und drei franzö¬ 
sischen Anthropologen^) 

*) Aufmerksam will ich hier noch auf die für 
die Völker-Psychologie interessante Verschieden¬ 
heit der Ansichten nach den Ländern machen, eine 

3 * 


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42 


SchnellfeuergeschOtze. 


Schon im Jahre 1868, in der ersten Auflage 
seiner natürlichen Schöpfungsgeschichte, hatte 
Häckel es unternommen, gestützt auf anato¬ 
mische und entwickelungsgeschichtliche That- 
Sachen, ein Bild des Vorfahren des Menschen¬ 
geschlechts zu entwerfen. Der Pith,pcanthro- 
pus alalus oder erectus (sprachloser oder auf¬ 
rechter Affenmensch), wie er ihn nannte, war 
am ganzen Körper behaart, von dunkler, 
bräunlicher oder schwärzlicher Farbe. Er 
ging aufrecht, aber mit stark eingebogenen 
Knieen. Die Arme waren lang und stark, 
mit echten Händen, die Beine kurz und dünn, 
ohne Waden. Der Schädel war langköpfig 
und schiefzähnig. Seine Entstehung fällt in 
das Ende der Tertiärzeit, seine Heimat war 
Indien. Auch Virchow und C. Marsh 
haben sich um das Jahr 1870 dahin ausge¬ 
sprochen, dass man die Urheimat des Menschen 
in Indien, besonders auf Borneo und der be¬ 
nachbarten Inseln suchen müsse. — Wir 
sehen, dass also der Affenmensch von Dubois 
recht gut die Anforderungen erfüllt, die die 
Wissenschaft an den Vorfahren des Men¬ 
schen gestellt hat. 

Ob und wie nun eine Entscheidung über 
die Bedeutung der interessanten Fundstücke 
fallen wird, lässt sich jetzt noch nicht ab- 
sehen. Aber von grundlegender Bedeutung 
wird sie' nicht sein. Dass sein Pithecanthro- 
pus derjgemeinsame Vorfahr des Menschen 
und derjAffen sei, hat Dubois selbst nicht 
behauptet. Er soll nur ein Verbindungsglied 
von Mensch und Affe sein. Und dass ein 
solches existiert haben muss, ebenso wie ein 
gemeinsamer Vorfahr Beider, ist schon längst 
keipe Hypothese mehr, sondern eine Forder¬ 
ung der Logik. Wird die Streitfrage bezüg¬ 
lich der Java-Reste einst im Sinne von Du boi's 
entschieden, oder findet man sogar den ge¬ 
meinsamen Vorfahr von Mensch und Affe, so 
hat man eine oder zwei interessante 'l'hat- 
sachenmehr, nicht aber den Beweis für die Ab¬ 
stammung des Menschen von affenähnlichen 
Vorfahren. Denn eines solchen bedarf die Wis¬ 
senschaft nicht mehr. Den hat schon längst die 
logische Verknüpfung der durch sie erbrachten 
Thatsachen geliefert. 


Schnellfeuergeschütze. 

VoQ ilauptmanu X. 

Die letzten Tage des Jahres 1896 haben 
dem deutschen Volke eine recht wenig er¬ 
freuliche Überraschung gebracht; die Kunde 
nämlich, dass aller Wahrscheinlichkeit nach 
unsere westlichen Nachbarn den Anlass dazu 
geben werden, dass unsere Regierung der 

Thatsache, die sich bei wissenschaftlichen Streit¬ 
fragen sehr häufig beobachten lässt. 


Volksvertretung die Forderung der sehr be¬ 
deutenden Mittel zur Neubewaffnung der 
Feldartillerie stellen wird. 

Schon aus den kurzen Andeutungen der 
Tageszeitungen dürfte hinlänglich bekanntsein, 
dass das Zukunftsgeschütz der deutschen Feld¬ 
artillerie vermutlich ein Schnellfeuergeschütz 
sein wird. Zwar werden alle diesbezüglichen 
Pläne der massgebenden Behörden sowohl 
bei uns, wie bei allen anderen Militärstaaten 
streng geheim gehalten und diejenigen Zahlen¬ 
angaben, die zuweilen schon von Zeitungen 
über die Einzelheiten der Konstruktion und 
der ballistischen Leistung von Versuchsge¬ 
schützen gebracht werden, sind fast durch¬ 
gängig als Phantasiegebilde übereifriger 
Berichterstatter zu bezeichnen und dement¬ 
sprechend zu würdigen, — trotzdem muss man 
aber die oben erwähnte Voraussage als durchaus 
wahrscheinlich anerkennen, da schon seit vielen 
Jahren die gesamte Entwickelung der Feld¬ 
artillerie auf ein Schncllfeuerg^sc\\\liz oder 
richtiger SchnelUadcg&sch^tz unabweisbar 
hindrängt. 

Die erste Frage, die wir uns vorlegen 
wollen, ist folgende: 

„ Worin bestehen die charakteristischen 
Merkmale eines Feld-Schnellfeuergeschützes im 
Gegensätze zu den bisherigen Feldgeschützen?'* 

Die Antwort liegt schon im Namen: 
Während man von unserem jetzigen Feld¬ 
geschütz nur eine Feuergeschwindigkeit von 
2 — 3 Schuss pro Minute erwarten kann, soll 
ein Schnellfeuergeschütz zur Abgabe von bis 
zu 8 Schuss im gezielten Feuer befähigt sein. 

Worin nun diese Vorrichtungen zu Be¬ 
schleunigung des Feuers bestehen, darüber 
gewinnen wir sofort Klarheit, wenn wir uns 
die Vorgänge vergegenwärtigen, die bei Ab¬ 
gabe eines Schusses sich abspielen. 

Der hintere Abschluss des innen ausge¬ 
bohrten Rohres, wird bekanntlich durch einen 
sogen. „Verschluss“ bewirkt, der verschie¬ 
denartig bezeichnet wird, („Keilverschluss“ 
[Deutschland], wenn er senkrecht zur Längs¬ 
richtung des Rohres eingeschoben wird, 
„Schraubenverschluss“ [Frankreich] — wenn 
man ihn von hinten her in der Längsrichtung 
einschraubt u. s. w.) Will man also ein Ge¬ 
schütz fertig zum Feuern machen, so muss 
erst ein Mann den Verschluss öffnen, ein 
anderer bringt das inzwischen bereit gehaltene 
und fertig gemachte Geschoss in die Bohrung 
des Rohres und schiebt das erforderliche 
Quantum Pulver, in einen Sack — Kartusch¬ 
beutel — eingenäht, nach, der erste schliesst 
den Verschluss wieder; es ist weiter das Vor¬ 
nehmen der Richtung erforderlich, indem 
mittelst besonderer Richtvorrichtungen (Auf¬ 
sätze, Quadranten, Richtbogen), dem Rohr die 


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ScHNELLFEimRGESCHÜTZE. 


43 


erforderliche Erhöhung gegeben wird und 
durch Schwenken der Lafette gleichzeitig 
dasselbe die genaue Richtung nach der Seite 
erhält, und endlich ist noch das Einfiihren 
der Schlagröhre in das Zündloch, sowie das 
Einhaken der Abzugsschnur notwendig, um 
nun erst wirklich sagen zu können: »das 
Geschütz ist zum Feuern fertig." 

Dass auch zum Fertigmachen des Ge¬ 
schosses noch eine gewisse Arbeit gehört, 
nämlich Einschrauben gewisser Zünderteile, 
die, um Explosionen während des Marsches 
zu verhindern, erst im letzten Moment ein¬ 
gesetzt werden dürfen, Einstellen der Zünder 
auf die befohlene Entfernung, auf der .sie das 
Geschoss zum Krepieren bringen sollen u. 
dergl. — das wollen wir nur flüchtig streifen; 
alles in Allem werden die wenigen Worte 
aber genügen, um dem Nichtartilleristen einen 
Begriff davon zu geben, welche Summe von 
Arbeit das Fertigmachen eines Geschützes 
zum Feuern erfordert. 

f .• Nur dadurch, dass das Prinzip der Arbeits¬ 
teilung auf das Peinlichste durchgeführt und 
die Bedienungsmannschaften Monate und jahre¬ 
lang für alle Eventualitäten einexerziert sind, 
ist es möglich, mit einem Geschütz 2 — 3 Schuss 
gezieltes Feuer in der Minute abzugeben; ja 
es ist das eine Leistung, die die Mannschaften 
sogar nur ganz kurze Zeit hindurch auszu¬ 
halten vermögen, da sie geistig und körperlich 
einfach aufreibt. 

Es spricht gerade hierbei noch ganz be¬ 
sonders ein Erschwernis der Feuergeschwindig¬ 
keit mit, das man beim Gewehr den „Rück- 
stoss" nennt. Dieselben inneren Ursachen sind 
es, die beim Geschütz den sog. „Rücklauf“ be¬ 
wirken und dasselbe je nach der Beschaffenheit 
des Bodens, um eine geringere oder grössere 
Anzahl von Metern zurücklaufen lassen, nach¬ 
dem der Schuss das Rohr verlassen hat. Die 
Folge ist, dass die Mannschaften, ehe sie 
Oberhaupt die vorbeschriebenen umständlichen 
Verrichtungen des Ladens beginnen können, 
das Geschütz erst wieder vorschieben müssen, 
da der einmal ausgesuchte Platz aus Rück¬ 
sichten der Deckung, oder der besseren Über¬ 
sicht oder dergl. zumeist ziemlich peinlich 
innegehalten werden muss. Gerade dieses 
Vorbringen des Geschützes ist es, was zumeist 
die Mannschaften stark ermüdet und das 
Feuern sehr auihält. 

Überblickt man das ganze umständliche 
Ladeverfahren unserer gegenwärtigen Feld¬ 
geschütze, so sieht man auch, wo die Hebel 
der Konstrukteure angesetzt werden mussten, 
um zu einer Steigerung der Feuergeschwindig¬ 
keit zu gelangen, und wo also die charakter¬ 
istischen Merkmale von Schnellfeuergeschützen 
liegen werden. 


Wir wollen zunächst annehmen, dass das 
Geschoss — dieser Ausgangspunkt einer Rohr¬ 
konstruktion — seinem Durchmesser und 
Gewicht, sowie seiner Anfangsgeschwindigkeit 
nach, dasselbe sei, wie das eines Feldgeschützes, 
so wird ein solches Schnellfeuergeschoss mit 
dem Karfuschbeutel zu einem Ganzen ver¬ 
einigt sein müssen, damit dem Mann ein Griff 
erspart wird. Eine weitere Erhöhung der 
Feuergeschwindigkeit tritt fernerhin ein, wenn 
an Stelle des Beutels eine MetallhOlse — die 
Patronenhülse des Gewehres — tritt, die 
in ihrem Boden eine Zündladung, entspre¬ 
chend dem Zündhütchen des Gewehres, hat 
und somit, wie wir später bei Besprechung 
des Schnellfeuerverschlusses sehen werden, 
die Schlagröhre überflüssig macht. Eine solche 
Vereinigung von Geschoss und Pulverladung 
nennt man Einheitspatrone und damit haben 
wir das erste charakteristische Merkmal des 
Schnellfeuergeschützes gewonnen. 

Das zweite ist der Fertigzünder, d. h. ein 
Zünder am Geschoss, der bereits während 
des Marsches fertig zum Verfeuern ist, so dass 
der Bedienungsmann vorm Einsetzen ins Rohr 
nur noch die befohlene Entfernung einzustellen, 
aber keinerlei Zünderteile mehr einzuschrauben 
oder Sperrvorrichtungen zu entfernen braucht. 
Selbstverständlich muss das Geschoss trotzdem 
während des Marsches völlig explcsionssicher 
sein, da ja sonst unberechenbare Unglücks¬ 
fälle passieren könnten. 

Das dritte ist ein Schnellfeuerverschluss, 
d. h. ein durch eine einzige Drehbewegung 
zu öffnender Verschluss, bei dem gleichzeitig 
mit dem öffnen ein innen gelagerter Schlag¬ 
bolzen gespannt wird, der in dieser gespannten 
Lage, auch nach erfolgtem, wieder nur 
durch einmalige Drehbewegung bewirktem 
Schliessen des Verschlusses bis zum Abfeuern 
gehalten wird. Selbstverständlich gehört zum 
Verschluss ein Auszieher, d. h. eine Vor¬ 
richtung, die selbstthätig beim Öffnen desselben 
die Metallpatrone ergreift und herauswirft, 
um der. nächsten Platz zu machen. Ein 
solcher Schnellfeuerverschluss macht mit seinem 
Schlagbolzen, wie schon bei der Einheits¬ 
patrone angedeutet, nunmehr das Einsetzen 
der Schlagröhre in das Zündloch ~ wodurch 
den Mannschaften, namentlich in der Kälte 
bei steif gefrorenen Fingern unendliche Mühe 
und grosser Zeitaufenthalt erwuchs — über¬ 
flüssig und beschleunigt daher das Feuern 
ungemein. 

Das vierte und letzte charakteristische 
Merkmal ist endlich die Schnellfeuerlafette, 
mit ganz oder doch wenigstens fast völlig 
aufgehobenem Rücklauf und thunlichster Er¬ 
leichterung des Nehmens der Richtung. Zu 
ersterem Zweck hat eine solche Lafette eine 


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44 


Schnellfeuergeschütze 


automatisch wirkende Schiessbremse, die 
beim Schuss von selbst derartig bremst, dass die 
Räder sich absolut nicht mehr drehen können. 
Da auf glattem Boden die Lafette trotzdem 
noch beträchtlich zurOckgleiten würde, sind 
noch Vorrichtungen da (Sporn am Lafetten* 
schwänz, Spaten unter der Achse u. s. w.), 
die sich in den Boden sofort einbohren. Da 
nun eine solche stark gebremste Lafette durch 
die enorme Wirkung der Gase oft in die Höhe 
springt oder sich tief in den Boden bohrt, 
damit aus der Richtung kommt und nur unter 
grossem Zeitverlust wieder einzurichten sein 
würde, so ist zur thunlichsten Erleichterung 
des Nehmens der Richtung die Trennung der 
Lafette in O b er- undUnterlafette notwendig. 
Erstere — das Rohr tragend — lässt sich 
dann auf der Unterlafette drehbar, mit wenig 
Kurbeldrehungen schnell einrichten, trotzdem 
die letztere fest im Boden steckt. Wie wichtig 
dies ist, dürfte daraus erhellen, dass schon 
bei unseren Lafetten, die doch noch keinen 
Sporn oder dergl. haben, das Einbohren des 
Lafettenschwanzes zuweilen so tief stattfindet, 
dass die Mannschaften ihn erst mit Spaten 
ausgraben müssen, ehe zur nächsten Richtung 
geschritten werden kann — also ein enormer 
Zeitverlust. 

Für den Laien, dem die beträchtlichen 
Kosten einer Neubewaffnung der Feldartillerie 
berechtigtes Grausen erregen, entsteht nun 
aber naturgemäss die Frage: 

„Kann etn Feldgeschütz jetziger Art nicht 
nachträglich durch zweckentsprechende Umän¬ 
derung zu einem Schnellfeuergeschütz gemacht 
werden.*^ 

Die Antwort ist: Nein! Das ist unmöglich! 

Was zu thun war, ist an den alten Ge¬ 
schützen seitens unserer Militärbehörde gethan 
worden: Wir haben einen Fertigzünder be¬ 
kommen und wir haben eine Schiessbremse 
erhalten, die das Geschütz selbstthätig bremst; 
eine Umänderung der Munition in Einheits¬ 
patronen würde aber mit einem Schlage alle 
Munitionsfahrzeuge und Protzen in ihrer 
jetzigen Gestalt unbrauchbar machen, da 
die durch Hinzutritt der Patronenhülse dann 
beinahe doppelt so langen Geschosse dann 
nicht mehr zu verladen sein würden. Eben¬ 
so ist die Anbringung von Schnellfeuer¬ 
verschlüssen an unseren jetzigen Rohren und 
die Umgestaltung der Lafette zur Beschleu¬ 
nigung der Richtung undenkbar. Wir haben 
es eben hier nicht mit einem Kleidungsstück 
zu thun, an dem man nach Belieben stücken und 
flicken kann, sondern mit Stahl und Eisen. 

Und selbst, wenn es möglich wäre, unsere 
Feldgeschütze zu solchen schnellfeuernden Ge¬ 
schützen umzuändern, so würden sie darum 
doch noch lange nicht auf der Höhe der Zeit 


stehen! Alle europäischen Grossstaaten voll¬ 
zogen in den dem Kriege 1870/71 ziemlich 
unmittelbar folgenden Jahren die Neubewaff- 
nung ihrer Feldartillerie; sie haben seitdem 
wohl alle fortdauernd an Versuchsgeschützen 
weiter gearbeitet, um jederzeit zur Einführung 
einer auf der jeweiligen Höhe stehenden Waffe 
gerüstet zu sein, kein Staat hat aber den An¬ 
fang mit einer Neubewaffnung machen wollen. 
Alle Grossstaaten haben somit gegenwärtig 
noch ein Feldartilleriematerial, welches auf 
dem Stande der ballistischen Wissenschaft von 
1875 aufgebaut ist. Dass jetzt auch die Bal¬ 
listik eine wesentlich höhere Stufe einnimmt 
wie vor,2o Jahren, ist wohl selbstverständlich. 
Es würde daher die Frage naheliegen: 

„Inwiefern hat ein modernes Feldschnellfeuer¬ 
geschütz dem gegenwärtigen Stande der Ballistik 
Rechnung zu tragen? 

Wir würden uns mit anderen Worten also 
klar zu machen haben, wie muss ein neues 
Geschütz sich inbezug auf Kaliber (d. i. 
Durchmesser der Rohrbohrung oder „Seele"), 
Geschossgewicht, Anfangs - Geschwindigkeit, 
Flugbahn und Trefffühigkeit verhalten, um auf 
der Höhe der Zeit zu stehen. 

Wir sagten schon, dass das Geschoss 
der Ausgangspunkt jeder Geschütz-Con- 
struction sei. Man muss sich nämlich zu¬ 
nächst fragen, welches Geschossgewicht kann 
man anw'enden, ohne die Protzen und Mu¬ 
nitionswagen zu sehr zu belasten und die Zahl 
der letzteren pro Batterie zu stark zu ver¬ 
mehren (jetzt muss eine Batterie z. B. bereits 
nicht weniger als 8 6-spännige Munitionswagen 
mit sich führen, um nur den notwendigsten 
Schussbedarf auf dem Gefechtsfeld sicherge¬ 
stellt zu sehen!), andererseits welches Ge¬ 
schossgewicht . muss man anwenden, um eine 
ausreichende Wirkung und vor Allem auch 
Beobachtungsfühigkeit des Einzelgeschosses 
zu haben. 

Die Artillerie steht im Felde dem Gegner fast 
durchweg auf mehr oder weniger grossen, unbe¬ 
kannten Entfernungen gegenüber. Wenn also die 
ersten Schüsse nach ungefährer Schätzung der 
Entfernung abgegeben werden müssen, so erhellt 
ohne Weiteres, dass man sich auf Entfernun* 
gen von 2 — 3000 und mehr Metern leicht um 
beträchtliches irren kann, und es ist [dringend 
notwendig, dass ein Geschoss beim Krepieren 
eine solche Rauchwolke erzeugt, dass man 
deutlich zu beurteilen vermag, ob man zu weit 
oder zu kurz geschätzt hatte. 

Ebenso muss aber auch die ausreichende 
Wirkung des Einzelschusses betont werden. 

Die Artillerie verlangt Einzelwirkung, d. h. 
sie will nicht etwa mit jedem Geschoss als 
Vollgeschoss einen Mann treffen, sondern viel¬ 
mehr vorm Ziel in der Luft ein Geschoss 


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SCHNELLFEUERGESCHÜTZE. 


45 


zum Krepieren bringen, wobei dasselbe 
eine Garbe von Hunderten von Kugeln 
und Sprengstücken nach vorwärts ausstreut, 
um so ganze Reihen niederzulegen. Jede dieser 
Kugeln, jedes dieser Sprengstücke muss noch 
schwer genug sein und genügende Geschwin¬ 
digkeit besitzen, um einen Menschen ausser 
Gefecht zu setzen und somit gelangt man zu 
derForderung, dass das Geschossgewicht nicht 
unter ein gewisses Mass herabsinken darf, 
um noch genügend viele und genügend schwere 
Kugeln aufzunehmen. 

Wenn nun aber ein gewisses Geschossge* 
wicht feststeht, und wenn andererseits ein 
Geschoss auch nicht allzulang gemacht wer¬ 
den kann, damit es sich in der Luft bei sei¬ 
nem Flug nicht überschlägt, so folgt, dass es 
ihr die Artillerie eine gewisse Grenze des 
Kalibers giebt, die nicht unterschritten werden 
darf, will man nicht an Geschosswirkung und 
Beobachtungsftlhigkeit einbüssen. 

Bei unserem Feldgeschütz war bei dem da¬ 
maligen Stande der Ballistik und der herr¬ 
schenden Anschauungen 7,5 Kilo Geschoss¬ 
gewicht und 8,8 cm Kaliber festgestellt worden. 

Beide Zahlen wird man bei einem neuen 
Geschütz unterschreiten ~ um wie viel? 
Darüber gehen die Ansichten auseinander und 
wir vermögen natürlich nicht zU sagen, zu 
welchem Entschluss die Versuche und Er¬ 
örterungen an massgebender Stelle geführt 
haben. 

Sehr wesentlich ist dabei die Verminderung 
des Kalibers; denn es ist klar, dass — wenn 
man an ein gewisses Geschossgewicht gebun¬ 
den ist (und das Gewicht von 7,5 Kilo wird 
kaum sehr wesentliche Verminderungzulassen) 
— man dieses Gewicht bei kleinerem Geschoss¬ 
durchmesser nur innezuhalten vermag, indem 
man das Geschoss unverhältnismässig verlän¬ 
gert. Längeren Geschossen muss aber eine grös¬ 
sere Stabilität ihrer Achse gegeben werden, damit 
sie sich w'ährend des Fluges nicht überschla¬ 
gen und dies führt notwendig zum verbesserten 
Drall (Führungseinrichtung) und zur stärkeren 
Anfangsgeschwindigkeit der neuen Geschütze. 
Als letztes und wesentlichstes Moment ist 
schliesslich anzuführen, dass stärkere Anfangs¬ 
geschwindigkeit, stärkerer Drall und längere 
Geschosse grössere Trefflähigkeit und rasantere 
Flugbahn im Gefolge haben! 

Damit hätten wir den Kernpunkt der bevor¬ 
stehenden ballistischen Verbesserung; beim 
Beschiessen lebender ungedeckter Ziele, wie 
sie uns im Feldkriege zumeist gegenübertreten, 
ist es dringend wünschenswert, dass die Flug¬ 
bahnen unserer Geschosse so flach wie mög¬ 
lich über dem Erdboden dahinstreichen; Feh¬ 
ler in der Schätzung der Entfernung werden 
dann in weitem Maasse ausgeglichen. 


Stellt man zu den soeben genannten Vor¬ 
zügen noch die bedeutende Steigerung der 
Feuergeschwindigkeit, so wird man zugeben, 
dass die Überlegenheit eines neuen FeldschnelU 
feuergeschützes gegenüber dem jetzigen Feld¬ 
geschütz eine ausserordentliche genannt werden 
muss. 

Solange alle Staaten, wie bisher der Fall, 
ein annähernd gleichwertiges und zwar allent¬ 
halben gleichmässig nicht mehr auf der Höhe 
stehendes Feldartilleriematerial besassen, war 
kein direkter Anlass zur Vornahme von Än¬ 
derungen geboten. Alle Staaten beschränkten 
sich von Jahr zu Jahr auf Verbesserungen 
von Geschossen, Zündern, Pulver, Richtvor¬ 
richtungen, auf immer sachgemässere Abfass¬ 
ung der Schiessregeln sowie auf immer pein¬ 
lichere Durchbildung der Offiziere und 
Mannschaften. 

Die Rohre und Lafetten blieben allent¬ 
halben ungeändert und gleichwertig. Der 
Sieg in den grossen blutigen und entschei¬ 
denden Artillerieduellen der Zukunftsschlach¬ 
ten musste voraussichtlich derjenigen Artil¬ 
lerie zufallen, die es verstehen würde ihr 
Material am besten zu handhaben, zu ver¬ 
werten und zu beherrschen und die grösste 
Geschosswirkung zu erzielen. 

Wenn somit also die Artillerien der Gross¬ 
mächte untereinander hinsichtlich der Güte 
des Geschützmateriaies während mehr denn 
20 Jahren auf gleicher Stufe standen, so ist 
doch nicht zu leugnen, dass durch den Um¬ 
stand, dass die Infanterieen im Laufe dieser 
Periode wiederholte vollständige Neubewaff¬ 
nungen erfuhren und dadurch mit dem Fort¬ 
schreiten der Ballistik gleichen Schritt hielten, 
eine Verschiebung im Wertverhältnis der In¬ 
fanterie und Artillerie vor sich ging. 

Die Wirkungssphäre und Trefflähigkeit der 
Infanterie erweiterte sich mit jeder Neube¬ 
waffnung, ihre Feuergeschwindigkeit desglei¬ 
chen, namentlich nachdem ihr das Magazin¬ 
gewehr in die Hand gegeben worden war, 
während die Artillerie hinsichtlich Feuerge¬ 
schwindigkeit und Wirkungssphäre während 
der ganzen Zeit annähernd auf dem gleichen 
Niveau blieb und nur ihre Geschosswirkung 
und ihre Schiessregeln zu verbessern ver¬ 
mochte. Es führte dies dazu, dass jetzt In¬ 
fanterie bereits auf 1500 m als ein sehr ge¬ 
fährliches Ziel anzusehen ist, und dass ein 
Duell mit ihr von dieser Entfernung abwärts 
— in der sie früher der Artillerie nicht 
nennenswert zu schaden vermochte — für 
die Artillerie bereits einen Kampf auf Leben 
und Tod bedeutet. Es lässt sich aus den 
auf den Schiessplätzen erreichten Resultaten 
folgern, dass ein solches Duell in 3 —4 Minu¬ 
ten bereits mit der Vernichtung des einen 


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46 


Schnellfeuergeschütze. 


oder des anderen Gegners enden wird und 
muss. 

Die Infanterie ist also der Artillerie ein 
sehr beachtensw’erter Gegner geworden; das 
ist zweifellos! Aber auch diese Verhältnisse 
lagen ~ infolge der gleichartigen und an¬ 
nähernd gleichwertigen Bewaffnung aller In- 
fanterieen für die Artillerieen der Grossmächte 
gleichmässig und man hatte diesem Umstand 
durch Anpassung der Artillerie/tf^///’ Rech¬ 
nung getragen. 

Vergegenwärtigen wir uns aber nun den 
Umschwung, der in dem Gleichgewicht eintreten 
würde, sobald ein einziger Staat ein neues, 
dem Stand der Artillerie-Wissenschaft ent¬ 
sprechendes Feldschnellfeuergeschütz einführt. 

Wenn zu beginnender Schlacht sich zu¬ 
nächst die Artillerieen der beiden Gegner 
gegenübertreten, um gewissermassen die Ein¬ 
leitung des Kampfes durchzukämpfen, so wird 
der modern bewaffnete Gegner infolge der 
grösseren Schussweite, Ra.sanz und Trefffähig- 
keit seiner Geschütze die feindliche Artillerie 
bereits aus Entfernungen wirksam bekämpfen, 
auf welchen ihm dieselbe keinen nennens¬ 
werten Schaden zu thun vermag. Jeden güns¬ 
tigen Gefechtsmoment vermag er durch aus* 
giebiges Schnellfeuer bis aufs Ausserste aus¬ 
zunutzen und in Minuten ungeheuere Eisen¬ 
massen in die feindlichen Reihen zu werfen. 

Dasselbe gilt für die späteren Epochen 
der Schlacht, wo sich die Artillerie gegen 
die feindliche Infanterie wendet, um dieser 
das Vorgehen zu verwehren bezw. sie aus 
den innegehaltenen Stellungen zu vertreiben. 

Man darf sich die Wirkungsweise der 
Schnellfeuergeschütze natürlich nicht etwa so 
verstellen, als ob dieselben nun dauernd mit 
ihrer äussersten Feuergeschwindigkeit schös¬ 
sen! Das würde weder die Geschütz-Be¬ 
dienung aushalten, noch würde der Munitions¬ 
vorrat dies auch nur annähernd gestatten, 
noch würde endlich der Batteriechef im Stande 
sein, ein solches Massenfeuer in der wün¬ 
schenswerten Weise zu leiten und zu beherr¬ 
schen. Die Feuergeschwindigkeit einer Feld¬ 
schnellfeuerbatterie wird sich für gewöhnliche 
Phasen des Kampfes nicht wesentlich über 
die der jetzigen Batterien erheben. Eine grosse 
Überlegenheit ist aber der Schnellfeuerbatterie 
auch hierbei —'ganz abgesehen von den ballis¬ 
tischen Vorzügen - schon um deswillen zuzu¬ 
sprechen, weil das einzelne Geschütz ausseror¬ 
dentlich schnell feuerbereit ist und die so ersparte 
Zeit auf ein peinlich genaues Richten seitens der 
Bedienungsmannschaften und sorgfältige Kon¬ 
trolle der Richtungen und der Zünderstell¬ 
ungen durch die Unteroffiziere und Offiziere 
verwendet werden kann. 

Die Qualität der Schüsse wird also we¬ 


sentlich gesteigert und man kann somit sagen; 
Bei gleicher Qualität der Schüsse besitzt eine 
Feldschnell/euerhatteric die 2 — jfache Feuer¬ 
überlegenheit, bei gleicher Feuergeschwindigkeit 
aber eine bedeutend bessere Qualität der SchüsseX 

Treten plötzlich wichtige Gefechtsmomente 
ein, sieht man z. B. Batterien des Gegners 
in Stellung auffahren, oder Infanterie sich 
aus der Marsch- in die Gefechtsformation ent¬ 
wickeln, oder tauchen Schützenschwärme in 
grosser bedrohlicher Nähe auf u. s. w. — 
dann ist der Zeitpunkt da, wo sich die volle 
Feuerkraft einer Schnellfeuerbatterie entwickelt. 
Gelingt es dem Führer einer solchen die Ent¬ 
fernung gleich mit den ersten Schüssen an¬ 
nähernd richtig -zu ermitteln, so wird es ihm 
dann häufig möglich sein, den Gegner Über¬ 
haupt nicht erst zur Entwicklung seines 
Feuers kommen zu lassen, sondern ihn zu 
vernichten ehe derselbe seinerseits mit dem 
Ermitteln der Entfernung fertig geworden ist! 
Es bedarf keiner grossen Phantasie, um sich 
auszumalen, wie rapid bei einer mit minder¬ 
wertiger Artillerie versehenen Armee das 
moralische Element sinken wird, jener Faktor 
ohne den ein siegreicher Krieg nicht denkbar 
ist! Die Artillerie wird schon nach den ersten 
Schlachten das Vertrauen zu ihrer Waffe 
verlieren, die Infanterie wird sich an dem 
Feuer der gegnerischen Artillerie verbluten, 
da diese im einleitenden Artillerieduell durch 
die minderwertig bewaffneten gegnerischen 
Batterieen keinerlei nennenswerte Schwäch¬ 
ung erfahren hat, und es wird in kritischen 
Momenten von der Artillerie nicht mehr jener 
begeisternde Impuls auf die Infanterie über¬ 
gehen, wie wir ihn in dem 70er Krieg oft 
beobachten konnten. 

Erhellt nun, dass man, ohne zu übertrei¬ 
ben, eine modern bewaffnete Batterie als ge¬ 
wiss doppelt überlegen gegenüber einer der 
jetzigen Batterieen bezeichnen darf, so fragt 
es sich doch noch endlich: 

„ Welche Folgen in Bezug auf Organisation 
der Artillerie sind von der Einführung der Feld- 
schncllfcuergeschütze zu erwarten?" 

Wie s. Z. vor Einführung der Repetir- 
und Magazingewehre ängstliche Gemüter fort¬ 
während auf den unausbleiblichen Mangel an 
Munition infolge des übermässig schnellen 
Feuers hinwiesen, so fehlt es auch jetzt nicht 
an Stimmen, welche eben dasselbe für die 
Artillerie prophezeien, falls sie sich zur An¬ 
nahme von Feldschnellfeuergeschützen ent- 
schliessen sollte. Erstere haben das Maga¬ 
zingewehr nicht in seinem Siegeslauf aufhalten 
können, man hat einfach dem Infanteristen mehr 
Munition mitgegeben — um wie viel weniger 
kann der Einwoirf für das Geschütz gelten, 
wo man zwar wesentlich beschränkter in der 


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Schultz, Reisen im Mittelalter. 


47 


Mitgabe von mehr Munition ist, da man den 
Wagenpark einer Armee nicht über gewisse 
Grenzen hinaus vermehren kann, wo man 
aber bedeutend mehr Mittel in der Hand hat, 
um die Munitionsverschwendung zu verhüten. 
Durch das Zusammenwirken ist von selbst 
dafür Sorge getragen, dass der Einzelne nicht, 
wie bei der Infanterie, in der Erregung des 
Kampfes dem Kommando des Batteriechefs 
durchgeht und mehr verfeuert, als dieser in 
Erwägung der Wichtigkeit des Gefechtsmo¬ 
ments für geboten hält und kommandiert. 
Es ist ausserdem Sache des Exerzierdrills, 
dass den Mannschaften die peinliche Inne¬ 
haltung der Feuerdisziplin — die eine unzu¬ 
lässige Munitionsverschwendung unmöglich 
macht — in Feisch und Blut übergeht und 
dass diese von ihnen auch in der durch das 
zeitweilig enorme Feuertempo Übermässig ge¬ 
steigerten Erregung nicht ausser Acht ge¬ 
lassen wird. 

Eingehendere Erwägungen und Versuche 
dürften in den massgebenden Kreisen da¬ 
durch entstanden sein, ob die Einführung 
eines Schnellfeuergeschützes eine Umorgani¬ 
sation der Feldartillerie im Gefolge haben 
muss oder nicht. 

Es ist unbekannt, welche Entschlüsse dies¬ 
bezüglich an den leitenden Steilen der euro¬ 
päischen Militärstaaten gefasst worden sind, 
obgleich sicher angenommen werden kann, 
dass die Entscheidungen auch diesbezüglich 
schon festliegen. In artilleristischen Kreisen 
sind die Ansichten sehr geteilte und dies hat 
zu lebhaften Diskussionen in den Fachschriften 
geführt. Man streitet sich, kurz gesagt, darum, 
ob es zweckdienlich, ja ob es überhaupt 
möglich sein wird, die Batterieen noch zu 
6 Geschützen zu belassen, oder ob es sich 
empfiehlt, kleinere Geschützgruppen als Bat¬ 
terien zusammenzufassen, um auf diese Weise 
jedes einzelne Geschütz besser auszunutzen, 
und dem Batteriechef trotz der erheblich ge¬ 
steigerten Feuerleistung den erforderlichen 
Einfluss auf seine Batterie zu sichern. 

Theoretisch kann man eine Menge für 
und wider anführen, — entscheidend bleibt 
die Praxis! Nur der praktische Versuch kann 
zeigen, welche Schiessvorschriften und regle¬ 
mentarischen Formen die beste Ansnützung 
der kostbaren neuen Waffe gewährleisten, 
und hieraus folgt dann wieder die zweckent¬ 
sprechendste Gliederung der neubewaffneten 
Artillerie. 

Wir wollten auch daraufhinweisen, dass ein 
Schnellfeuergeschütz nicht ohne ganz wesent¬ 
lichen umgestaltenden Einfluss auf die Taktik 
der Infanterie und Kavallerie bleiben wird, 
welche beide alsbald bestrebt sein müssen, 
durch entsprechende Gefechtsformen sich thun¬ 


liehst vor der gesteigerten mörderischen Wirk¬ 
ung und der vergrösserten Wirkungssphäre 
der Artillerie zu schützen. 

Es dürfte jedenfalls zur Genüge aus dem 
Gesagten hervorgehen, dass wenn, wie kaum 
noch zu bezweifeln, Frankreich wirklich dem¬ 
nächst mit der Einführung eines Feldschnell¬ 
feuergeschützes vorgeht, dies einer der be¬ 
deutendsten und folgenschwersten Schritte sein 
würde, der seit Decennien auf militärischem 
Gebiete gethan worden ist, und dass er die 
unbedingte und sofortige Nachfolge der an¬ 
deren Grossstaaten im Interesse der Selbst¬ 
erhaltung fordert. 


Reisen im Mittelalter. 

Von Professor Dr. Alwiw Schultz. 

Vergnügungsreisen kennt das Mittelalter 
nicht. Ein Vergnügen konnte auch die ganze 
Art des damaligen Reisens nicht gewähren, 
wohl aber eine Menge von Beschwerden und 
Mühsalen, von denen unsere heutige Zeit kaum 
einen Begriff hat. Und doch waren zahlreiche 
Männer zum Reisen gezwungen: Kaufleute, 
die von fernher, aus Italien oder Spanien ihre 
Waaren holten und die Transporte selbst ge¬ 
leiteten. Männer, die die Hochschulen Italiens, 
Frankreichs und Deutschlands aufsuchten, 
Pilger, die nach Wallfahrtsorten bis nach 
S. Jago da compostella in Spanien zogen oder 
in Rom die Heiligtümer kennen lernen und 
verehren wollten; junge und alte Ritter reisten 
hin, wo sie Beschäftigung im Kriege, Sold und 
Beute zu erhalten hoffen durften. Waren diese 
gut beritten, so mussten sich die Kriegsknechte 
die gleichfalls aus einem Kriegsdienste in den 
andern zogen und bald dem, bald jenem Herren 
gegen gute Bezahlung ihre Kräfte anboten, 
sich zu Fuss durchschlagen, so wie die//a«ff- 
werksgesellen dies thaten, die von Werkstätte 
zu Werkstätte wandernd sich in ihrer Kunst 
möglichst zu vervollkommnen trachteten, ehe 
sie in ihre Heimat zurückgekehrt, sich als 
ehrbare Meister sesshaft niederliessen. Zu 
diesen Fussgängern gesellten sich die Boten, 
die vor Einrichtung der Post den Verkehr 
vermittelten und auch später noch, wenn es 
sich um die Bestellung wichtiger und drin¬ 
gender Sendungen handelte, mit Vorliebe* be¬ 
nutzt wurden. Auch .ßöVfrr wurden wohl schon 
im Mittelalter von Kranken vielfach aufge¬ 
sucht. Unter den Reisenden sind die Frauen 
stark in der Minderzahl. Sie beteiligen sich 
höchstens an Wallfahrten und reisen nach den 
heilkräftigen Bädern; sonst beschränken sich 
ihre Reisen auf Besuche, die sie in der 
nächsten Umgebung ihres Wohnortes abstatten. 

Für Frauen war auch der Gedanke, eine 


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Schultz, Reisen im Mittelalter. 


weite Reise zu unternehmen, nicht gerade ver¬ 
lockend. Schon die Männer sahen nur wenig 
Vergnügen, wohl aber viele Gefahren, mannich- 
faltige Unbequemlichkeiten und Entbehrungen 
als die unvermeidlichen Folgen einer Reise 
an. Wenn wir aus dem vorigen Jahrhundert 
lesen, dass vor Antritt der Reise man durch 
Empfang der Sakramente die Stärkung vom i 
Himmel zu erhalten sich bemühte, dass man 
der Fürbitte seiner Freunde und der Kirchen¬ 
gemeinde sich empfahl, so wird dies wahr¬ 
scheinlich in nach erhöhterem Grade für die 
Zeiten des Mittelalters anzunehmen sein. 

Wer nicht zu Fuss zu reisen gezwungen 
war, schaffte sich ein tüchtiges Pferd an. Das 
Reiten war immer noch die beste Art, grössere 
Strecken zurückzulegen. Die Wagen boten 
überaus wenig Bequemlichkeiten; erst gegen 
das Ende des fünfzehnten Jahrhunderts lernt 
man den Wagenkasten in Lederriemen auf¬ 
hängen und so die Stösse ein wenig abzu¬ 
schwächen. Bis auf diese Zeit gleichen selbst 
die Reisewagen der Fürsten den Leiterwagen 
unserer Bauern, nur dass eine von Reifen ge¬ 
tragene Decke Schutz gegen Sonne und Regen 
bot. Wer nicht alt und schwach war, zog es 
gewiss vor, lieber zu Pferde zu steigen oder 
wenn er ganz krank sich fühlte, einer Ross¬ 
bahre, d. h. einer von Pferden getragenen 
Sänfte, sich anzuvertrauen. Auch die Damen 
zogen es vor, zu Pferd zu steigen; sie sassen 
wie auf einem Stuhl, beide Füsse ruhten statt 
in Steigbügeln auf einer Art von Schemel, 
der am Sattel befestigt war. Dass ihr Sitz 
unter diesen Umständen nicht besonders sicher 
war, Hegt auf der Hand. Allein wollte man 
reisen, so musste man sich eben in jene Un-' 
bequemlichkeiten schicken. 

Das notwendige Gepäck wurde auf Last¬ 
tiere verladen, Geldsummen nur für den näch¬ 
sten Bedarf mitgenommen; Kreditbriefe sicher¬ 
ten dem Reisenden die Möglichkeit, sobald 
er Geld brauchte, sich dasselbe zu verschaffen. 

Ein dichter gehörte zur notwendigen 

Ausstattung. Gegen Sonnenbrand und Regen 
konnte man die Kapuze Ober den Kopf 
ziehen; solch ein Mantel schützte Männer 
und Frauen gegen den Staub, gegen die 
Nässe gegen den von der Strasse aufspritzen¬ 
den Schmutz. 

J!)enn die Strassen befanden sich meistens 
in sehr vernachlässigtem Zustande. Nur die, 
auf denen sich die grossen Handelszüge be¬ 
wegten, wurden leidlich in Ordnung gehalten, 
alle anderen Wege aber, trotzdem zur Er¬ 
haltung derselben Zoll erhoben wurde, glichen 
kaum unsern Landwegen, im Sommer voll 
von Staub, auch hier und da ausgefahren 
und voll von Löchern, bei Regenwetter von 
einem unergründlichemj Schmutze bedeckt. 


Sobald die Strasse das Gebiet eines neuen 
Herren durchschnitt wurde wieder Zoll erho¬ 
ben, der aber jetzt nur noch als Einnahme¬ 
quelle für den Grundherrn angesehen wurde 
und zur Erhaltung der Strasse nicht mehr 
bestimmt war; da ja während des fünfzehnten 
Jahrhunderts in Deutschland tausende von 
kleinen Dynasten, von freien Rittern, Städten, 
Dörfern existierten, konnte ein Reisender öf¬ 
ter an einem Tage Gelegenheit haben mit 
den Plackereien des Zollzahlens unliebsame 
Bekanntschaft zu machen. 

Gegen die Bedrohung durch Strassenräu- 
her suchte man sich zu schützen, indem man 
den Territorialherrn um Geleit bat und für 
diese Begleitung bezahlte. Das Geleit hatte 
aber nur Wirksamkeit so lange sich die Rei¬ 
senden innerhalb der Grenzen des Landes 
oder Ländchens befanden, sobald sie dasselbe 
verliessen, mussten sie wiederum wegen neuen 
Geleites verhandeln. 

Dass alle solche unumgänglich notwendige 
Vorkehrungen Zeit kosteten, vom Gelde ganz 
abgesehen, Ärger und Verdruss aller Art zur 
Folge hatten, liegt auf der Hand. Allein die 
Gefahr, in die Hände der Strassenräuber zu 
fallen, war doch noch viel grösser. Das min¬ 
deste war, dass die Reisenden aller ihrer 
Habe beraubt wurden; wohlhabendere Leute 
nahm man wohl auch als Gefangene mit, um ein 
Lösegeld von ihren Verwandten zu erpressen; 
aber dabei kamen Mordthaten und Misshand¬ 
lungen aller Art, Verstümmelungen vor; 
Frauen waren von Gewaltthaten immer bedroht. 
Diese Räuberbanden, die während des ganzen 
Mittelalters die Strassen unsicher machten, 
bestanden zum Teil aus Rittern, die den 
schmalen Einnahmen ihrer Güter diese Er¬ 
trägnisse hinzuzufOgen trachteten, um dadurch 
die Mittel zum standesgemässen Leben zu 
erringen. Wurden sie abgefasst, dann war 
ihnen allerdings die Enthauptung sicher, wäh¬ 
rend ihre Knechte einfach aufgeknOpft wurden; 
allein diese Möglichkeit musste man eben in 
den Kauf nehmen. Neben diesen adligen 
Strauchdieben trieben aber zahlreiche Strolche 
das Räuberhandwerk; vor allem abgedankte 
Soldaten, die an ein geordnetes Leben sich 
nicht mehr gewöhnen wollten oder konnten. 
Leute, die mit den Gesetzen ihrer Heimat in 
Konflikt gekommen waren, Gesindel aller Art, 
begleitet von Weibern und Kindern. Die 
grossen, damals erst zum Teil gelichteten 
Wälder, boten diesen Banden erwünschte 
Schlupfwinkel. Ehe man ihnen in die Hände 
fiel, zahlte man lieber die Geleitsgebühren 
und ärgerte sich mit der Bedeckungsmannschaft, 
die häufig auch nicht den erwünschten Schutz 
gewährte. Jedenfalls hütete man sich bei an¬ 
brechender Dunkelheit, noch auf der Land- 


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Eulenburg, Nervenschwäche. 


49 


Strasse zu verweilen, suchte vielmehr möglichst 
früh ein sicheres Obdach zu erreichen. So 
lange man nicht in einer grösseren Stadt zu 
übernachten vermochte, musste man allerdings 
seine Ansprüche auf das allerbescheidenste 
Mass herabstimmen, in den Wald- und Dorf- 
schenken, in den Einkehrhäusern kleiner Land¬ 
städtchen, durfte man nicht viel Bequemlichkeit 
erwarten. Liessen doch selbst die Gasthäuser 
in den grösseren deutschen Städten, wie wir 
durch Erasmus von Rotterdam erfahren, vieles 
zu wünschen Übrig; die Bedienung war un¬ 
gefällig, die Kost theuer und schlecht, jeder 
Tadel wurde sogleich mit Impertinenz beant¬ 
wortet, die Sauberkeit, zumal der Betten war 
sehr fraglich. Dass mehrere Nachtgäste das¬ 
selbe Zimmer, ja dasselbe Bett teilten, erschien 
als selbstverständlich. Wer diesen Notständen 
zu entgehen vermochte, durch Empfehlungen 
in Klöstern Aufnahme erlangen konnte, oder 
bei Bürgern die Gastfreundschaft ansprechen 
durfte, hat dies gewiss vorgezogen. Auch 
auf den Burgen fand der Gast freundliche 
Aufnahme, je nach seiner Lebensstellung. 

Ein reisender Ritter und seine Angehö¬ 
rigen wurden mit aller Aufmerksamkeit em¬ 
pfangen, ihm sofort ein Bad bereitet, Kleider 
zum Austausche gegen die Reisetoilette zu¬ 
rechtgelegt. Im Kreise der gastlichen Familie 
pflegte man ihn, bis er zum Bedauern seiner 
Wirte zur Fortsetzung seiner Reise wieder auf¬ 
brechen musste. 

Diese Gastfreundschaft wurde noch im 
dreizehnten Jahrhundert viel in Anspruch ge¬ 
nommen; als sich aber die Zahl der Reisen¬ 
den immer vermehrte, die Lage^ des Adels 
dagegen ungünstiger gestaltete, waren solche 
gastlichen Häuser sehr selten geworden. Man 
musste dann eben mit den Herbergen sich be¬ 
gnügen lassen und deren Ungemach tragen. 

Dass eine solche Reise nur sehr langsam 
von statten ging, versteht sich von selbst. 
Daftlr lernten die Reisenden aber Land und 
Leute kennen, bemühten sich Bekanntschaften 
zu machen, und sich einen möglichst grossen 
Nutzen ftir ihre Geistesbildung von der mit 
so viel Mühe und Entbehrung erkauften Ge¬ 
legenheit, sich in der Fremde umzusehen, 
dann auch zu sichern. 

So schlimm wie uns die Strapazen einer 
Reise im Mittelalter erscheinen, mögen sie 
den damals Lebenden nicht vorgekommen 
sein. Wer reisen wollte oder musste, dem 
blieb nichts übrig als sie zu ertragen und 
sich ins Unvermeidliche zu schicken. 

Gewiss war man glücklich, wenn man die 
schützenden Wälle einer grossen Stadt er¬ 
blickte. Der Anblick des fernhin sichtbaren 
Rabenstein, an dessen Galgen die Leichname 
hingen, bis sie von selbst herabfielen, auf 


dessen Räder die Leichen der armen Sünder 
geflochten waren, dies abstossende Zeichen 
der strengen Gerechtigkeitspflege erlhllte den 
Reisenden mit der Beruhigung, jetzt unter 
einem sicheren Rechtsschutze sich zu befinden. 

Aber, dass man nicht ohne guten Grund 
eine Reise unternahm dass man nicht zum 
Vergnügen reiste, das wird man, wenn man 
alle die geschilderten Umstände in Erwägung 
zieht, wohl begreiflich finden. 


Zur Behandlung der „Nervenschwäche“ 
(Neurasthenie). 

Von Geh. Med.-Rat Professor Dr. A. Eulenburg. 

(Schluss.) 

Auf einen sehr wesentlichen Übelstand fast 
aller bestehenden Anstalten ist neuerdings 
durch Moebius in einer geistvollen kleinen 
Schrift*) aufmerksam gemacht worden: dass es 
nämlich den Insassen dieser Anstalten durch¬ 
aus an „Arbeit'^ fehle — an einer solchen zu¬ 
mal, die der Eigenart der Arbeitenden ent¬ 
sprechend richtig ausgewählt, diesen selbst 
Freude und zugleich der Allgemeinheit Nutzen 
schaffen könnte. Eine solche Arbeit würde 
durch das erhöhte Gefühl der eigenen Leist¬ 
ungsfähigkeit und durch die Freude an dem 
unmittelbar Geleisteten auf den Arbeitenden 
in doppelter Weise segensreich wirken. Aber 
wo und woher etwas derartiges finden ? Moebius 
selbst schlägt die Errichtung ganz neuer An¬ 
stalten auf neuer oder wesentlich reformierter 
Grundlage vor und macht daför verschiedene 
mehr oder minder praktische Vorschläge, die 
insbesondere darauf abzielen, auch Minder¬ 
bemittelten die Aufnahme in die neuen „Nerven- 
heilstätten" zugänglich zu machen, und solche 
daher durch Genossenschaften, oder auf grund 
öffentlicher Sammlungen, oder als eine Art 
von Aktienunternehmungen, durch Zeichnung 
von Anteilscheinen, ins Leben zu rufen. So 
weit es sich Übrigens um Begründung öffent¬ 
licher Anstalten für Nervenkranke handelt, 
ist Ähnliches schon früher von Dr. Benda,**) 
und auch neuerdings von verschiedenen 
Seiten in Vorschlag gebracht worden. Es 
wäre wohl einstweilen noch verfrüht, diese 
gutgemeinten und sicher beachtenswerten 
Vorschläge, die aber für die nächste Zeit 
wenig Aussicht auf Verwirklichung bieten, 
ernstlich zu diskutiren. Nur das sei er¬ 
wähnt, dass man in Zürich, einer von dem 
dortigen berühmten Irrenarzte Forel aus¬ 
gehenden Anregung folgend, seit mehreren 

*) Uber die Behandlung von Nervenkranken und 
die Errichtung von Nervenheilstätten, Berlin 1896. 

**) Öffentliche Nervenheilanstalten? Berlin 1891. 


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Eulenburg, Nervenschwäche. 


Jahren damit begonnen hat, Nervenkranke, 
namentlich solche, die durch geistige Arbeit 
überreizt waren, mit Feld- und Gartenarbeit, 
auch mit einzelnen Handwerken, in nützlicher 
Weise körperlich zu beschäftigen, und dass da¬ 
mit nach dem gewiss competenten Urteile 
Forers sehr günstige Resultate bei Neuras- 
thenischen, auch selbst bei Damen, erzielt 
wurden. Die jedenfalls nachahmenswerten Ver¬ 
suche sind unter Leitung des Civilingenieurs 
A. Grohmann in Hirslanden-Zürich angestellt 
worden. 

In grösserem Masstab werden sich der¬ 
artige Versuche aus Mangel an Mitteln, Ein¬ 
richtungen, sachgemäser Leitung und Über¬ 
wachung zunächst schwerlich durchführen las¬ 
sen, und so sind wir denn auf die Ver¬ 
wendung körperlicher — aber doch nicht rein 
körperlicher — Arbeit in anderer Form ange¬ 
wiesen, wofür sich uns glücklicherweise in 
dem immer zunehmenden und in immer weitere 
Kreise eindringenden Sporthetrieb die geeig¬ 
neten Hülfsmittel in reicher Auswahl darbieten. 
In der That ist für eine überaus grosse Zahl von 
Neurasthenischcn aller Klassen und Altersstufen 
die Anregung zu irgend einer Art sportlicher 
Thätigkfeit fast der beste Dienst, den wir ihnen 
zu leisten vermögen. Der Wert des Sportbetrie¬ 
bes liegt, wie der einer jeden zweckmässig ge¬ 
wählten Arbeit Oberhaupt, keineswegs blos in 
der damit verbundenen körperlichen Bethätig- 
ung, in der Entwickelung von Muskelkraft und 
Gewandtheit — sondern weit mehr in der da¬ 
von unzertrennlichen Willensanspannung; in 
der Anregung und Schärfung der Willens¬ 
energie, ihrer steten Richtung auf bestimmt 
zu erreichende Ziele, in der Gelegenheit zur 
Entwickelung von Geduld, Mut, Ausdauer, 
Selbstüberwindung, kurz aller der geistig-sitt¬ 
lichen Fähigkeiten, die gerade bei Neurasthe¬ 
nischcn in der Regel so schwach veranlagt 
sind und deren Pflege und Förderung bei ihnen 
besonders erwünscht ist. 

Es eignen sich natürlich nicht alle Arten 
und Abarten sportlicher Thätigkeit in gleicher 
Weise für Neurasthenische, und diese sind 
auch nicht für Alles in gleicher Weise zu 
haben. Auch hier ist vielmehr individueller 
Eigenart und Vorliebe möglichst weitgehende 
Berücksichtigung zu schenken. Als ein Glück 
kann man es fast betrachten, dass die lau¬ 
nische Mode sich in die Sache einmischt und 
bald diese, bald jene Art des Sportbetriebes 
für kürzere oder längere Zeitdauer in Flor 
bringt — wie ehedem den Bergsport, dann den 
Ruder- und überhaupt den Wassersport, augen¬ 
blicklich bekanntlich vor Allem den Radfahr¬ 
sport —, so dass selbst Viele, die aus Ver¬ 
nunft- und Gesundheitsgründen allein sich dazu 
schwerlich entschÜessen würden, der allmäch¬ 


tigen Mode nicht widerstehen und ihr zu 
Liebe sogar mit sonst ungeahnter Energie 
„bei der Stange" (in diesem Falle der Rad¬ 
fahrstange) verbleiben. Wir Ärzte sind ge¬ 
nötigt, unsere Heilmittel zu nehmeri, wo wir 
sie finden; und Alles, was man dem Rad¬ 
fahren mit Recht oder Unrecht vorgeworfen 
hat, verschwindet für uns vollständig gegen¬ 
über der Thatsache, dass bei angemessenem 
und vorsichtigem Betriebe in zahllosen Fällen 
unendlicher Nutzen damit zu stiften ist — 
und zwar' gerade ganz besonders bei krank¬ 
haft veranlagten nervösen (neurasthenischcn) 
Personen, beiderlei Geschlechtes. Ich betone 
das „ beiderlei “ — denn das weibliche Geschlecht 
kommt in diesem Falle ebenso sehr und fast 
noch mehr in Betracht wie das männliche, 
dem ja die verschiedensten gymnastischen und 
sportlichen Übungen in reicher Auswahl auch in 
früherer Zeit zur Verfügung gestanden haben. 
Bei dem weiblichen Geschlecht war das in 
auch nur annähernd ähnlichem Umfange keines¬ 
wegs der Fall; Sitte, Vorurteile jeder Art und 
nicht zum wenigsten das dem Weibe eigene 
Kleben am Hergebrachten (jener weibliche 
„Misoneismus" Lombroso’s) haben sich einem 
weiteren Eindringen der meisten Sport- 
kOnste erfolgreich widersetzt; und erst dem 
von der Mode begünstigten Radfahren war 
es Vorbehalten, diesen Bann endlich zu brechen, 
und erst im Auslande, seit wenigen Jahren 
auch bei uns eine noch immer im Wachsen be¬ 
griffeneunabsehbare vom drs/ZfrÄr« Standpunkte 
aus jedenfalls nicht genug zu preisende Um¬ 
wälzung zu schaffen. Das Fahrrad hat die 
Frauenwelt „auf die Beine" gebracht, sie im 
wörtlichsten Sinne „emanzipiert", indem es sie 
an Stelle der bisher allein fleissigen, allzu 
fleissigen Hände auch die Beine als gleich¬ 
berechtigte Gliedmasen zu gebrauchen lehrte 
— und was das in gesundheitlicher Beziehung 
gerade für das weibliche Geschlecht bedeutet, 
darüber vermag sich eben nur der Arzt in 
vollem Masse Rechenschaft abzulegen. Es wird 
voraussichtlich aber auch in einer anderen 
Richtung durch Anbahnung einer schon längst 
als dringende Notwendigkeit empfundenen, ver- 
nunftgemässen/?^or«/ derFraue.nkletdung,yfOz\x 
von den verschiedensten Seiten gleichzeitig An¬ 
läufe gemacht werden, äusserst segensreich 
wirken. Es ist das ein Kapitel, das eine eigene 
weitläufigere Besprechung erheischte — an 
dieser Stelle will ich nur auf den schon von 
zahlreichen Ärzten (u. A. von meinem ver¬ 
ehrten Freunde O. Rosenbach in einer vor- 
treftlichen kleinen Schrift über die Bleichsucht) 
betonten Zusammenhang der fehlerhaften 
Fraucnkleidung mit Blutarmut, Herz- und Er¬ 
nährungsstörungen der verschiedensten Art, die 
wiederum eine Hauptquelle allgemeiner Ner- 


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Eulenburg, Nervenschwäche. 


51 


vosität und noch schwererer Formen von 
Nervenerkrankung bilden, beiläufig Hinweisen. 

Es sei mir gestattet, mit einer sich hier 
naturgemäs anknüpfenden Betrachtung diese 
vielleicht schon zu lang gewordenen Bemerk¬ 
ungen zu schliessen und zwar: über die eben¬ 
so wichtige als heikle [Frage der Verheiratung 
Neurasthenischer. Nur allzu häufig wird, nicht 
blos von wohlmeinenden Laien-Ratgebern, son¬ 
dern selbst von Ärzten gerade Neurasthenischen 
die Eingehung der Ehe zur vermeintlichen Ab- 
hOlfe ihrer Beschwerden und sogar zur wirk¬ 
lichen Heilung dringlichst empfohlen. Es ist 
dies wohl ein ebenso verbreiteter wie ver¬ 
hängnisvoller Irrtum, und es erweist sich, von 
welchem Standpunkte aus man die Sache an- 
sehen mag — ob im Interesse des zu Verehe¬ 
lichenden selbst, oder seines ehelichen Opfers, 
oder gar der zu erwartenden Nachkommen¬ 
schaft — in der Regel als ein sich schwer und 
hart bestrafender Missgriff. Neurasthenische 
passen überhaupt durchgängig wenig für die 
Ehe; und je vollentwickelter, je ausgesproche¬ 
ner ihr Zustand ist, nur um so weniger. Ab¬ 
gesehen davon, dass sie auch den rein phy¬ 
sischen Anforderungen der Ehe recht häufig 
nicht gewachsen sind (oder, was ebenso be¬ 
denklich ist, nicht gewachsen zu sein glauben), 
so sind in der Regel auch gerade die ftir eine 
harmonische Ehe unerlässlichsten geistigen und 
moralischen Fähigkeiten bei ihnen nur schwach 
oder gar nicht entwickelt. Die Fähigkeit, sich 
in ein fremdes Wesen, in fremde Eigen¬ 
art hineinzufinden oder auch nur damit ab¬ 
zufinden, die Eigenschaften der Geduld, der 
liebevollen Nachsicht, der Selbstverläugnung, 
worauf eine glückliche Ehe so wesentlich be¬ 
ruht — das Alles sind Dinge, die dem Neu¬ 
rasthenischen vermöge seines Temperaments, 
seiner Veranlagung und Entwickelung mehr 
oder weniger vollständig versagt sind; er 
wäre eben nicht oder er wäre kaum noch 
Neurastheniker, wenn er sie in reichlichem 
Masse in sich zu entwickeln und Anderen ge¬ 
genüber nachhaltig zu bekunden vermöchte. 
Neurasthenische haben davon selbst oft ein recht 
feines Gefühl; und so kann es kommen, dass 
dergleichen, mit Mühe und Not zusammen¬ 
gebrachte Verbindungen noch fast „im Hafen“ 
selbst kläglich Schiffbruch leiden. Bei dem 
unüberwindlichen Entsetzen, das der echte 
Neurastheniker schon vor dem Gedanken em¬ 
pfindet, eine „That“ zu vollbringen und gar 
einen unwiderruflichen, für das ganze Leben 
bindenden Entschluss zu fassen, kann es nicht 
Wunder nehmen, dass hin und wieder die so Be¬ 
drohten, ähnlich wie von der Examenangst 
gepackt, vor dem sich ihnen aufthuenden Ehe¬ 
paradiese Knall und Fall die Flucht ergreifen 
— wie ich das an eigentümlichen Beispielen er¬ 


lebt habe; wenn sie nicht gar auf den noch 
schlimmeren Ausweg verfallen, sich den be¬ 
ängstigenden Freuden des ehelichen Lebens 
durch einen Revolverschuss noch eben recht¬ 
zeitig zu entziehen. Die Zeitungen vermel¬ 
den dergleichen Historien dann und wann; 
niemand begreift sie, man vermutet einen 
plötzlich ausgebrochenen Irrsinn; der erfah¬ 
rene Nervenarzt allein vermöchte wohl, über 
den psychologischen Zusammenhang in der¬ 
artigen Fällen Auskunft zu geben. — Aber 
auch wo die Affaire sich nicht so tragisch zu¬ 
spitzt, wäre es thöricht, sich Illusionen zu über¬ 
lassen, die sich im Laufe der Zeit als solche 
notwendig ausweisen müssen; und es wäre 
unverantwortlich, ein zweites Wesen in das 
mutmasslich zu erwartende Elend einer solchen 
Verbindung unwissend hineinzuziehen. Ist 
dieses „zweite Wesen“ nun vollends, wie das 
ja vorkommt, auch seinerseits nervös, viel¬ 
leicht gar eine voll ausgereifte Hysterische, 
dann kommen solche pathologische Zerrbilder 
moderner D6cadence-Ehen zustande, wie sie 
uns u. A. vor einiger Zeit die Aufsehen er¬ 
regende Schrift von Clara Hahn („Meine Ehe¬ 
scheidungsprozesse“. Erster und zweiter Teil. 
Wien 1895) klassisches document hu- 
main auf diesem Gebiete entrollte; wie sie 
übrigens im Leben einer Grosstadt, in ge¬ 
wissen Bevölkerungsschichten wenigstens, heu¬ 
tigentags nicht einmal zu den äussersten 
Seltenheiten gezählt werden dürfen. 

Es soll mit dem Vorstehenden nicht aus¬ 
gesprochen werden, dass Neurasthenische von 
rechtswegen niemals und unter keinen Um¬ 
ständen zur Ehe schreiten dürften; ein solches 
Verbot erschiene in unserer weichherzigen 
Zeit gar zu drakonisch, und würde über¬ 
dies die sozial-politisch bedenkliche Folge ha¬ 
ben, einen unter heutigen Verhältnissen nicht 
unbeträchtlichen und in steter Zunahme be¬ 
griffenen Bruchteil der menschlichen Ge¬ 
sellschaft seiner „natürlichen Bestimmung“ 
ganz und gar zu entziehen. Vom konsequent 
durchgeflihrten ärztlich - hygienischen Stand¬ 
punkte aus wäre freilich nicht viel selbst 
gegen eine so einschneidende Massregel ein¬ 
zuwenden; um so besser also — oder auch um 
so schlimmer — dass wir darüber gar nicht 
befragt werden. Jedenfalls aber sollte bei der 
Behandlung Neurasthenischer der Eheversuch 
nicht an den Anfang, sondern (wie ihn selbst 
Romane alter Schule stets ans Ende ge¬ 
rückt) — als Ergebnis und Ziel, wenn man 
will als Belohnung, nie aber als Behand¬ 
lungsmittel selbst hingestellt werden. Auch 
hier heisst es vielmehr, gerade den noch 
besserungs- und heilungsfähigen Neurastheni¬ 
schen die unwillkommenen Lehren der Geduld 
und Entsagung zu predigen und ihnen be- 


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52 


Sprachliche Fragen. — Verhalten der Bakterien. 


greiflich zu machen, dass sie nur durch ernste 
und stetige Arbeit an sich selbst, auf dem 
Wege energischer Selbstzucht dazu gelangen 
können, an den Freuden und Leiden ihrer 
Mitmenschen als gleichwertige und gleichbe¬ 
rechtigte Schicksalsgenossen vollen Anteil zu 
nehmen. 


Sprachliche Fragen. 

Von Dr. F. Tetzwer, L«ipzig. 

Wenn so mancher Sprachgelehrte in den dahin 
rauschenden Strom der Sprachentwicklung blickt, 
möchte er am liebsten der einzelnen Welle Halt 
gebieten, sie nach seinen Begriffen gestalten und 
mre Unveränderlichkeit für alle Zeiten festsetzen. 
Man ist leicht geneigt die Verwandelungen im Sprach- 
leben mit Namen zu bezeichnen, die etwas unan¬ 
genehmes ausdrücken. Alexandres wird zu Sander, 
Hispania zu Spanien verstümmelt, Paraveredus zu 
Pferd verdorben, ten zu zehn verschoben, juko 
zu Joch gebrochen, Got. hausideduth verfällt 
Nhd* in hörtet, Drittteil schwächt man zu Drittel. 
Die Sprachgesetze behalten ihre Giltigkeit nur eine 
Zeit, und dann werden sie von neuen abgewech¬ 
selt, inzwischen aber arbeitet der Volksgebrauch 
durch Analogiebildung, Anlehnung, Herbeiziehung 
von fremden und mundartlichen Worten, unaufhalt¬ 
sam an der Sprache herum, lässt alte gute und 
nötige Worte smken, hebt neue an die Oberfläche, 
setzt andere anstelle irgend eines Begriffes und ver¬ 
ändert sie trotz aller ft^lheren Regeln. In die mund¬ 
artliche Volksliteratur hat man bereits die Ver¬ 
mischung von Sie und Ihnen, vom Akkusativ und 
Dativ, von allen Kasus nach allen Präpositionen ein 
geführt, dass über kurz oder lang das völlige Ab¬ 
sterben besonderer Flexionswendungen zu erwar¬ 
ten steht. Es sei nun auf einzelne Erscheinungen 
hingewiesen, die gegenwärtig die Verschlechterung 
des Stils, der Ormographie und der Flexion her- 
vorrufen, und die richtig zu stellen Pflicht der Ge¬ 
bildeten sein sollte. 

1. Und-lHversion. 

Seit Bestehen der deutschen Schriftsprache folgt 
in gewöhnlicher Rede die Aussage auf den Satz¬ 
gegenstand. Wenn ein bedeutsames Umstands¬ 
wort vorausgeht, war es umgekehrt (Und so ge- 
schahs); diesen Fall lasse ich hier unerörtert. Aus¬ 
nahmen von obiger Regel hat es, besonders im 
Vers, immer gegeben. Walther von der Vogel¬ 
weide singt; „Wie selten ich dich prise, und ich 
doch von dir Wort hän unde wise" oder „die Wisent 
uns ze himele, und verent sie zer helle“. Diese 
Ausnahmen sind so alt, als die Regel, kommen aber 
im grossen Sprachgebiet fast nicht in Betracht. Es 
heisst „Der König rief und alle kamen" aber nicht: 
„Der König rief und kamen alle“. Will man die 
Inversion gebrauchen, so muss man das gramma¬ 
tische Subjekt einschieben „und es kamen alle“. 

Liest man aber heute di© zahllosen Annoncen 
und Offerten unserer Kaufleute, da steht selten 
anders zu lesen, als: und habe ich die Ehre, und 
erlaube ich mir, und ist es längst bekannt, und 
sieht jedermann ein, und wird es sich zeigen. Diese 
unschöne Wortfolge hat sich so verbreitet, dass 
z. B. auch Dr. Schmidt an Emin Pascha 
schreibt: „Und muss ein weiteres Mehr vermieden 
werden“. Emin erwidert: Und glaube ich, dass es 
absolut erforderlich ist“. Ja, sogar in Anschlägen 
von Universitäts- und anderen Behörden findet man 
die Wendung „Und hat man dies um so mehr zu 
bedauern gehabt“ u. a. 


Als ich vor einer Reihe von Jahren neben anderen 
sprachlichen Aufsätzen auch einen an die Wissen¬ 
schaftliche Beilage der Leipziger Zeitung Ober obiges 
Thema sandte, bat mich der Redakteur, ihn zurück- 
zuholen, da ja der Gebildete längst klar Ober die 
Richtigkeit meiner Ausführungen sei und man schon 
oft darauf hineewiesen habe. Amtliche Kundgebungen 
mit der falschen Wendung bestimmten mich später 
doch noch, ein Wort gegen den üblichen Brauch 
zu richten. Ich that dies mit der Bitte, die Kun¬ 
digen möchten Nichtgermanisten gegenüber nicht, 
wie das in einem anderen Falle geschehen war, 
neue Abweichungen aus den Minne- und Meister¬ 
sängen! zusammensuchen, um den Wert der Regel 
anzutasten. Sie möchten vielmehr ihr Gewicht in 
die Wagschale werfen, die durch den Brauch von 
Jahrhunderten gesicherte Wortfolge zu befestigen. 
Diese Bitte war vergeblich. Mit Genauigkeit rügte 
man das doch in einem Familienblatt gebrauchte 
Wort: „Seit undenklichen Zeiten ist die Wortfolge 
im Deutschen so, dass der Satzgegenstand der Aus¬ 
sage vorausgeht“, entschied sich schliesslich zwar 
für die auch von mir geäusserte Anschauung, be¬ 
trachtete aber dennoch die Entscheidung der Frage 
als Geschmackssache. Als philologische und historische 
Arbeit hat ja eine solche Untersuchung ihren Wert, 
ist aber in nicht fachmännischen Zeitungen von 
schlechtem Einfluss auf die ganze Presse. Die 
Unterlassung der Und-Inversion ist richtiger. Die- 
Poesie ist sorgfältiger, sie hat seit einem Jahr¬ 
zehnt mit der falschen Inversion Oberhaupt ge¬ 
brochen und die ihr fälschlich zugestandene „poe¬ 
tische Lizenz“ verschmäht. 


Das Verhalten der Bakterien zu chemischen 
Desinfektionsmitteln. 

Als Desinfektionsmittel dienen neben der Er¬ 
hitzung hauptsächlich eine Reihe von chemischen 
Körpern, die krankheiterregende Bakterien ab¬ 
zutöten vermögen; wir nennen hier u. a. Queck¬ 
silbersalze (z. B. Sublimat), in neuerer Zeit 
auch Silbersalze, Eisenvitriol, Kaliumpermangat, Car- 
bolsäure, Formol. — Uber den Wert der einzelnen 
Desinficientia ist man noch sehr geteilter Ansicht, 
zumal die allgemeinen Prinzipien der Desinfektions¬ 
wirkungen noch in dichten Schieiner gehüllt sind. 
Unsere Kenntnisse darüber sind rein empirisch, durch 
die Erfahrung erworben. So meinte z. B. Behring, 
dass „der desinfizierende Wert der Quecksilberver¬ 
bindungen im wesentlichen nur von dem Gehalt an 
löslichem Quecksilber abhänge, die Verbindung möge 
sonst heissen wie sie wolle“. (Aus nachfolgendem 
wird man ersehen, dass die Ansicht nicht zu Recht 
besteht.) Die Frage wird dadurch noch etwas kom¬ 
pliziert, dass die Bakterien, je nach der Form, 
äusseren Einflüssen sehr verschiedenen Widerstand 
entgegensetzen. Während der Dauer ihres Wachs¬ 
tums und der Vermehrung, also in ihren vegetativen 
Formen, besonders als Keimlinge, sind sie sehr em¬ 
pfindlich, während die Sporen, d. h. die Dauer¬ 
formen, welche Bakterien oft unter gewissen Le- 
bensbe^ngungen annehmen, häufig sehrwiderstands- 
fähig sind. Es sind Sporen beobachtet worden, die 
nach stundenlangem Verweilen bei einer Temperatur 
von — 130® und im Wasserdampf bei loo® noch 
auskeimten; es wurden sogar solche beobachtet, die 
noch entwicklungsfähig waren, nachdem sie 25 Mi¬ 
nuten in wässriger 2®/« Quecksilberchloridlösung 


V 


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Buddha und die Stätte seiner Geburt. 


53 


(Sublimat) — einem der heftigsten Gifte ftlr alle 
Lebewesen — gelegen hatten. Die Zählebigkeit der 
Sporen ist es besonders, welche die Desinfektion 
der Haut und Gebrauchsgegenstände sehr erschwert. 

Die Fortschritte der physikalischen Chemie im 
letzten Jahrzehnt, insbesondere die bessere Kenntnis 
der Theorie der Lösungen liess von dieser Seite 
eine Bearbeitung der Frage aussichtsreicher erschei¬ 
nen als bisher. So verbanden sich ein Chemiker, 
Herr Dr. Th. Paul am physikalisch-chemischen 
Laboratorium und Herr Dr. B. Krönig an der Univ.- 
Frauenklinik zu Leipzig zu einer weit angelegten 
Untersuchung. *) 

Die Mehrzahl der Versuche wurde mit den Sporen 
von Milzbrand (Bacillus anthracis) angestellt, trotz¬ 
dem das Arbeiten damit, der Infektion wegen, nicht 
imgeföhrlich ist; ferner kam ein aus Rohcatgut ge¬ 
züchteter Bacillus zur Verwendung und die vege¬ 
tativen Formen eines Eitererregers (Staphylococcus 
pyogenes aureus). 

Man kann sich eine Bakterie (gleichgültig ob 
vegetative Form oder Spore) zu den Zwecken unse¬ 
rer Betrachtung als eine Protoplasmamasse vorstellen, 
die von einer Membran umgeben ist. Die Einwirk¬ 
ung gelöster chemischer Agentien kann unter die¬ 
sen Umständen folgende sein: 

1) Oxydationsmittel, z. B. Permanganatlösung, 
konzentrierte Säuren und Laugen werden 
Membran und Protoplasma zerstören; 

2) durch osmotische Vorgänge (Ein- oder Aus¬ 
tritt von Flüssigkeiten resp. Lösungen durch 
die Zellmembran) kann dem Protoplasma so 
viel Wasser zugefhhrt oder entzogen werden, 
dass dauernde Störung der Lebensthätigkeit 
erfolgt; 

3) die durch die Membran eintretenden gelösten 
Stoffe können auf das Protoplasma zerstörende 
Wirkung ausüben. So wird z. B. die tötliche 
Wirkung der meisten Metallsalze darin be¬ 
stehen, dass sie mit dem Eiweis des Proto¬ 
plasma schwerlöslicheVerbindungen eingehen. 
Die Promptheit ihrer Wirkung wird von der 
Geschwin^gkeit abhängen, mit der das Metall 
die Membran durchdringt. 

Betrachten wir nun einige Resultate, zu denen 
Paul und Krönig kamen: 

1) Den Salzen der Edelmetalle, mit Ausnahme 
des Platins, also den Gold-, Silber- und Queck¬ 
silbersalzen, kommt eine spezifische giftige 
Wirkung zu; 

2) Die Desinfektionswirkung der Metallsalze hängt 
nicht allein von der Konzentration des in Lös¬ 
ung befindlichen Metalls ab, sondern ist ab¬ 
hängig von den spezifischen Eigenschaften der 
Salze und des Lösungsmittels. Während z. B. 
Quecksilberchlorid (Sublimat) sehr hohes Des¬ 
infektionsvermögen besitzt, ist das des Queck¬ 
silberacetats und des in der Medizin viel ver¬ 
wandten Formamids nur sehr gering. Zusatz 
von Alkohol erhöht bei Silbemitral und Queck¬ 
silberchlorid die Desinfektionswirkung. Erste- 
res wirkt am besten bei 5o''/o, letzteres bei 
as^/o Alkoholgehalt; 

3) Metallsalzlösungen, in denen das Metall Be- 

*) Ztochr. f. pby«. Chemie 3tZI. 3, 


standteil eines komplexen Jons*) und infolge 
dessen die Konzentration seines Jons sehr ge¬ 
ring ist, üben nur eine äusserst schwache 
Desinfektionswirkung aus, z. B. Quecksilber¬ 
cyanid; 

4) die Wirkung eines Metallsalzes hängt nicht 
nur von der spezifischen Wirkung des Me¬ 
tallions ab, sondern auch'von der des Anions,*) 
bezw. des nicht dissocüerten Anteils. W^- 
rend z. B. die Desinfektionswirkung von Silber- 
nitrat (Höllenstein) eine sehr kräftige ist, ist 
die Wirkung der entsprechenden Menge Silber¬ 
acetat (ecsigsaures Silber) erheblich geringer, 
die Desinfektionswirkung wässriger Queck¬ 
silberchloridlösung wird durch Zusatz von 
Metallchloriden herabgesetzt. Das ist für die 
Medizin sehr zu beachten: die Schwerlöslich¬ 
keit von Quecksilberchlorid, das so viel zu 
Desinfektionszwecken zurVerwendungkommt, 
wird meist durch Zusatz von Kochsalz be¬ 
seitigt. Das deutsche Arzneibuch hat in seiner 
neuesten Auflage Sublimatpastillen vorge¬ 
schrieben, welche Quecksilberchlorid und Koch¬ 
salz zu gleichen Teilen enthalten. Solche 
Pastillen haben bereits eine relativ etwas ver¬ 
minderte Desinfektionskraft; 

6} Chlor übt eine spezifische sehr kräftige Des¬ 
infektionswirkung ; 

7) Die Wirkung von Carbolsäure wird durch 
Zusatz von Salzen, z.B. Kochsalz, verbessert. 
Der Grund ist zur Zeit noch unbekanntj 

8) Lösungen in absolutem Alkohol oder Äther 
(z. B. von Sublimat) sind fast wirkungslos (da 

/ keine Dissociation erfolgt). Dr. Bechhold. 

' . • 

Buddha und die Stätte seiner Geburt. 

Eine befremdliche Kunde macht neuerdings die 
Runde durch die Zeitungen: Der Leiter der Aus¬ 
grabungen für die nordwestlichen Provinzen Indiens; 
Dr. Fa&er, habe in Nepal bei seinen Forschungen 
ein von dem in der Geschichte des Buddhismus 
rühmlich bekannten König Asoka errichtetes Denk¬ 
mal aufgefunden, das, wie die noch wohlerhaltene 
Inschrift bezeugt, an der Geburtsstätte des Grün¬ 
ders des Buddhismus, des königlichen Einsiedlers 
aus dem Stamme derSakya**) aufgestellt sei. Man 
weiss zur Genüge, wie das Leben des grossen Re¬ 
ligionsstifters mit einem Kranz manchmal sinniger, 
mitunter aber auch phantastisch-groteskerMythen- und 
Erdichtungen umgeben ist, und wie sich die glaubens¬ 
eifrigen Jünger und Fortsetzer des Werkes meist 
nicht genug thun konnten, mit immer neuen und 
abenteuerlichen Wunderzeichen das welterschüt- 
temde Ereignis auszumalen. Buddha, Christus, Mo- 
hamed, um nur die Hauptrepräsentanten namhaft 
zu machen, gleichen sich in dieser Beziehung bis 
auf detaillierte Züge (unbefleckte Empfäi^nis, 
Geburt, Eintritt von Naturkatastrophen u. s. w.), 
sodass auch hier wieder die Einheit des menschlichen 
Geistes in typischer Weise sich bekundet und es 
höchst gewagt ist, wie man wohl versucht hat, bloss 
nach unseren Uebertragungen und Enüehnungen 
aus zu schliessen und statt jener so einleuchtenden, 
durch die Völkerkunde unwiderleglich bewne- 

*) Jooco oenat man die Atome oder Atomg^uppen. in die 
die Molckflle von Salzen, S&urcii und Baaen unter dem Einflüsse 
mancher Lösungsmittel, zumal Wasser, zerfallen. Der metallische 
Bestandteil, das Mctallion, heisst auch Kation, der andere Be¬ 
standteil Anion. 

Der gebräuchliche Name .Buddha* ist ein Sanskritwort 
and heisst .der Erweckte, Erleuchtete*. 


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5^ 


Buddha und die Stätte seiner Geburt. 


senen social - psychologischen Perspektive sich 
änzlich haltlosen HypoÄesen hinzugeben. Diesmal 
egt der Fall aber ganz anders; es handelt sich 
um sichere, historisch genau kontrollierbare That- 
sachen, die wir bei dem grossen Interesse, das die 
Sache überall hervorgerufen hat, in aller Kürze mit* 
teilen wollen. Zunächst ist es richtig, dass jener Ort 
etwa i8 Meilen in nordwestlicher Richtung von dem 
mit Trümmern und Ruinen von Stupas (Pfeilern), 
Klöstern und Palästen besäeten Platz entfernt ist, wo 
einst Kapilavastu, die Hauptstadt des Königs Suddho- 
dana, des Vaters Buddhas, stand. Sodann ist die Re¬ 
gierungszeit Asokas, oder wie er sich in seinen zahl¬ 
reichen Inschriften selbst lieber nennt^ der götterge¬ 
liebte König Piyadati mit unzweideutiger Sicherheit 
auf die Jahre 259 - 222 v. Chr. zu berechnen, ein Fak¬ 
tum, das unterschiedslos von allen Sanskritisten zuge- 
gegeben wird. Endlich entspricht die Versicherung 
dieses Herrschers in der betreffenden Inschrift, dass 
er 20 Jahre nach seiner Salbung (Bekehrung) — 
etwa um das Jahr 239 v. Chr. —, um seine per¬ 
sönliche Verehrung dem Buddha zu erweisen, ver¬ 
schiedene Säulen auf jenem Platze errichtet habe, 
genau, wie dem Schreiber dieser Zeilen Prof. Ol- 
denberg, einer der berufensten Kenner des Buddhis¬ 
mus mitteilt, dem Stil, in welchem Asoka seine 
Edikte abzufassen pflegte. Somit ist nach Lage der 
Sache die äusserste Wahrscheinlichkeit vorhanden, 
dass wir es hier mit einem historisch gut beglau¬ 
bigten Dokument zu thun haben, und es ist sogar 
nicht unmöglich, dass hierdurch eine andere, bislang 
als eine Kuriosität aufgefasste Notiz des berühmten 
chinesischen Pilgers Hmen-Tsang, der etwa in den 
Jahren 629—645 n. Chr. Indien bereiste, ihre rich¬ 
tige Würdigung empfängt. Als dieser Forscher die 
schon damals in Trümmer liegende Residenz von 
Buddha’s Vater besuchte, traf er auf eine Bildsäule, 
welche, wie er erzählt, den Ort bezeichne, wo sich 
das Schlafzimmer der Königin Maya, der Mutter des 
Erlösers, befunden habe. Es ist durchaus nicht un¬ 
möglich, dass der Reisende denselben Pfeiler ge¬ 
sehen hat, der jetzt uns jene überraschende Kunde 
gebracht hat. Wir können es nur freudigst begrüssen, 
dass die indische Regierung mit allem Eifer die 
Nachgrabungen fortzusetzen entschlossen ist. 

Von diesen, in erster Linie nur den Archaeo- 
logen, Sprachforscher und vielleicht auch den Kul- 
turhistonker interessierenden Details wendet .sich 
aber der Blick verlangend nach der so überaus 
reizvollen Gestalt Buddha’s selbst, welcher noch 
jetzt bei weitem die grösste Schaar von Gläubigen um 
sich sammelt. Freilich verwehrt es sich von selbst, 
die Lehre dieses Weisen auch nur in ungefähren Um¬ 
rissen hier entwerfen zu wollen, aber wohl können 
wir uns über zwei au-sschlaggebende Punkte aus¬ 
reichend orientieren, nämlich emmal über den gross- 
artigen Triumphzug, welchen die neue Religion in 
Indien antrat, und sodann über das Cardinalproblem 
der angestrebten Erkenntniss. Der Buddhismus ist 
keine neue Religion, sondern er bildet in erster 
Linie nur eine Reaction gegen den herrschssüch- 
tigen und alle freieren Regungen knechtenden 
Brahmanismus. Ueberall zeigt sich der schärfste, 
absichtlich auf die Spitze getriebene Gegensatz; 
während die Brahmanen den Mitgliedern der drei 
obersten Kasten gestatteten, sich von der Welt 
zurückzuziehen, nachdem sie allen Pflichten der 
lugend und des Mannesalters genügt hatten, er¬ 
laubte Gautama seinen Jüngern, sofort Bet- 
tclmönch zu werden und in die Welt hinau-szuziehen, 
um mit Wort und That die Menschen zu bekehren, 
mochten sie eine längere, bestimmt abgeteilte Lehr¬ 
zeit durchgemacht haben, oder nicht, und während 
die Brahmanen nur sich selbst die Lehrfreiheit vor- 
bchielten, war jetzt jeder dazu berufen, einerlei 


welcher Kaste er angehörte, wenn er nur im Zustande 
der Erleuchtung sich befand, d. h. ein „buddha“ ge¬ 
worden w'ar, — und gerade die Zerstörung dieser 
eisernen Schranken hat dem neuen Glauben Mill¬ 
ionen über Millionen Bekenner zugefilhrt, die unend¬ 
lichen Scharen der Annen und Bettler, welche bis¬ 
lang von der reichen Gnadentafel ausgeschlossen 
w’aren. Kannte der Brahmanismus eine ausgebildete 
Seelenlehre, eine Unsterblichkeit und das dräuende 
Schreckgespenst der furchterfüllten Phantasie, die 
Seelenwanderung, so wich Buddha, wie die verschie¬ 
densten Gespräche beweisen, allen solchen Fragen 
auf das ängstlichste aus. Die sophistische Fassung, 
welche die Nonne Khemä dem in sie dringenden 
König Pasenadivon Kosala empfiehlt, ist zu 
charakteristisch, als dass wir sie nicht hier berüh¬ 
ren sollten; es heisst hier u. A.t „Der vollendete 
Buddha, o König, ist davon erlöst, dass sein Wesen 
mit den Zahlen der Körperwelt zählbar sei; er ist 
tief, unermesslich, unergiUndlich, wie der grosse 
Ocean. Wollte man sagen, der vollendete Buddha 
sei jenseits des Todes, so träfe dies nicht zu. Wollte 
man sagen, der vollendete Buddha sei nicht jenseits 
des Todes, so wäre dies ebenfalls falsch. Zu sagen, 
der Vollendete ist und ist zugleich nicht jenseits 
des Todes, ist auch nicht richtig; ebenso wenig trifft 
zuj wenn man sa^te, der Vollendete sei weder noch 
sei er nicht jenseits des Todes. „Damit muss sich 
der wissbegierige König zufrieden geben; dass aus 
erkenntnisstheoretischen Gründen, da der Seele jede 
Substanzialität nach buddhistischer Anschauung fehlt, 
eine absolute Negation der Unsterblichkeit folgt, 
sei mu" beiläufig bemerkt, aber wohl ist es be¬ 
achtenswert, dass die Leugnung der Metempsy- 
chose ebenfalls nicht wenig, wie leicht erklärlich, da¬ 
zu beigetragen hat, die Seele von dem entsetz¬ 
lichen Druck zu befreien, mit dem eine bigotte 
und intrigante Hierarchie die Gemüter belastet 
hatte. Ebenso radikal ist der Gegensatz, um 
christlich -zu sprechen, gegen die brahmanische 
Lehre von der Gerechtigkeit der Werke, welche 
Buddha völlig preisgab; die Erlösung erfolgte nach 
seiner Darlegung lediglich durch eine den ganzen 
Menschen erfassende Umwandlung und Erleucht¬ 
ung, durch einen Akt der Erkenntnis, die wieder¬ 
um Sache und Verdienst des persönlichen Denkens 
ist und nicht an einen bestimmten Grad des Wis¬ 
sens oder gar an einen sozial hohen Stand ge¬ 
knüpft ist. Alle diese Ideen, welche natürlich in 
den Köpfen und Herzen unzähliger Tausender von 
Buddhas Zeitgenossen geschlummert hatten, er¬ 
weckte dieser kühne Reformator zu bewusstem, 
thatkräftigen Leben und so wurde er ihr Erlöser 
und rief somit eine soziale Revolution hervor, 
deren Wogen all die verschiedenen Götter und 
Halbgötter des populären Glaubens und der Pries¬ 
terzunft hinwegspülten, bis endlich, wie bekannt, mit 
eigentümlicher Nemesis sich dieselbe Restauration 
der vordem unbarmherzig vertriebenen Olympier 
vollzog, — ein traurig beredtes Zeugnis Für die 
Hinfälligkeit uikI Unzuverlässigkeit menschlichen 
Denkens und Empfindens. Der eigentliche Kern 
aber dieser grossartigen und doch wieder grau¬ 
sig erkältenden Weltanschauung liegt in einem 
IMnzip, dass sie in gewissem Sinne mit dem 
Brahmanismus teilt, in der Lehre von dem Karma, 
d. h. der unentrinnbaren, durch persönliche That 
bedingten, Notwendigkeit des menschlichen Handelns, 
wie sie selbst unter den heutigen Hindus eine 
sehr geläufige Vorstellung bildet. Wir werden ge¬ 
boren, wozu wir geboren zu werden verdienten, wir 
biissen in diesem Leben die Strafe oder empfangen 
umgekehrt den Lohn unserer früheren Thaten. 

Durch dies tiefwurzelnde religiöse Dogma wird 
eine gewisse Geduld im Leiden erzeugt, w’ie sie dem 


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Kleine Mitteilungen. 


55 


atalistischen Denken des Orientalen entspricht. 
Die weltüberwindende Kraft aber des Buddhismus 
beruht, wie schon erst angedeutet, auf einem unmittel¬ 
baren Erkenntnissakt, der die iVesenlosigkeit aller 
Erscheinungen, welche leere Trugbilder ohne sub- 
tantiellen Hintergrund sind, erfasst hat. Dieser 
ewig wechselnden Erscheinungswelt, in welcher die 
Kausalität mit ehernem Zwang regiert, entspricht, 
wie es heisst, das Zuruhekommen aller Gestaltungen, 
das Erlöschen des Begehrens, das Nirvana, die Er¬ 
lösung von allem Irdischen und Persönlichen, die fiSr 
den Weisen schon hier auf Erden eintreten kann. 
Auch hier zeigt sich wieder eine höchst charakter¬ 
istische Unklarheit des Begriffes, der bis zum 
heutigen Tage deshalb so vielfach entgegengesetzt 
edeutet wird, bald in christlicher Auffassung als 
öchste Seligkeit, bald nur im ablebenden Sinne als 
blosse Negation des irdischen, individuellen Daseins. 
Unseres Erachtens liegt dieSache ganz einfach so, dass 
jene Interpretation für die materiellere Anschauung 
des grossen Volkes, diese aber, w'elche konsequenter 
Weise in einen radikalen Nihilismus auslaufen 
musste, für die Gemeinde der schärferen Denker 
den Abschluss des Wissens bildet. 

Höchst eigentümlich ist sodann die enge Ver¬ 
knüpfung der Denkthätigkeit mit dem sittlichen 
Vernähen, ja, die ganze Wiedergeburt ist genau 
genommen, wie schon angedeutet, eine Folge einer, 
freilich angeblich allen* Menschen zugängigen, Er- 
kenntniss; die Aufhebung des L.idens durch den 
Pfad der vier grossen Heilswahrheiten ist nur durch 
das Wissen bewirkt, und hierin gleicht sich der 
Bnddliismus auffällig milder antiken Weltanschauung 
eines Socrates und Plato. Aber es bedarf anderer¬ 
seits geringer Ueberlegung, um sich darüber klar 
zu werden, dass diese strenge und feine Luft welt- 
flüchtiger Spekulation, die mit der Vernichtung des 
Bewustseins und der Persönlichkeit, sei es mensch¬ 
licher, sei es göttlicher, abschliesst, nicht für den 
gröberen Organismus des Durchschnittsmenschen 
zuträglich ist, und so mussten ganz von selbst Ent¬ 
stellungen und Missdeutungen verhältnissmässig sehr 
früh trotz aller Concilien, auf welcher Orthodoxie 
vom Irrglauben getrennt werden sollte, Platz 
greifen. Und doch ist gerade deswegen ein Moment 
um so beachtenswerter, auf das wir zum Schluss 
dieser ilüchtigen Skizze die Aufmerksamkeit lenken 
möchten, nämlich auf die so Oberaus weitgehende, 
Toleranz in religiösen Dingen. 

Es ist für uns ganz besonders empfehlenswert, 
diesen Punkt offen ins Auge zu fassen, da die 
christliche F^eligionsgeschichte reich ist an fanat¬ 
ischen Gräuelthaten, die sich schlecht mit dem Geiste, 
welchen die Religion der Liebe predigt, vertragen. 
Die wahre Duldsamkeit, welche nicht auf die Worte, 
sondern die Handlungen der Mitmenschen sieht, 
die echte Humanität und Verträglichkeit, die vor 
Allem sich in religiösen Fragen bekunden sollte, 
tritt auf das schönste und lauterste z. B., in jenen 
obenerwähnten Felsinschriften des Königs Asoka uns 
entgegen, sodass wir es uns nicht versagen können, 
wenigstens eine kurze Probe dieser Ausführungen 
zu geben. 

„Der göttergeliebte König Piyadati“ so heisst es 
u. A., „ehrt alle Sekten, die der Einsiedler und die 
der Haushälter, er ehrt sie durch Almosen und durch 
alle Arten von Verehrung. Aber der göttergeliebte 
König schätzt Almosen und Verehrung nicht so 
hoch, als das Wachsen des Wesentlichen. Und das 
Wachsen des Wesentlichen ist nicht sehr verschieden 
bei den verschiedenen Sekten; im Gegenteil, die 
wahre Grundlage einer jeden von ihnen, ist das 
Zügeln der Zunge, auf dass weder das Preisen der 
eigenen Sekte, noch das Schmähen anderer Sekten 
ohne Grund vorkomme. Man mag sogar die Re¬ 


ligionen Anderer hochpreisen. Darum ist gegen¬ 
seitiges Einverständnis am besten, so dass Alle die 
Lehren Anderer hören und zu hören wünschen 
sollten. Das ist ja auch der Wunsch des götter¬ 
geliebten Königs, dass alle Sekten viel hören und 
seine Lehren besitzen sollten." Wie ersichtlich, bestan¬ 
den im dritten Jahrhundert unserer Zeitrechnung in 
Indien sehr viele reli^öse und philosophische Sekten, 
die in vielen Beziehungen von einander abwichen; 
um so bewundernswerter ist dieser Geist der Duld¬ 
samkeit, der sich in jenem Erlass ausspricht, und 
man kann ohne Bedenken Max Müller beistimmen, 
wenn er sagt: „Ich zweifle, ob irgend eine andere 
Religion solche königliche Edikte zu Gunsten gegen¬ 
seitiger Duldsamkeit aufzuweisen hat. Sie bilden 
eine der glänzendsten Seiten in der Geschichte 
Indiens, und ich halte es für gut, dieselben bekannt 
zu machen, weil sie zeigen, dass selbst wir aus dem 
vergleichenden Studium der Religion manche nütz¬ 
liche Lehren ziehen können. Wenn ich daher zu¬ 
weilen von einigen dieser Religionen in zu günstigem 
Tone gesprochen haben sollte, darf ich mich dann 
nicht auf die Worte des Königs Asoka berufen: 
Denn wer immer aus Ergebenheit gegen seinen 
eigenen Glauben diesen hochpreist und aUe anderen 
Glaubensbekenntisse schmäht, der wird seinen 
eigenen Glauben schädigen.“ (Anthropol. Religion 
S. 41). Wahrlich auch unsere stolze Gegenwart, 
die manchmal wieder bedenklich fanatischer Bigot¬ 
terie zuneigt, sollte eine solche Warnung beherzigen. 

Dr. TM. Achelis. 


Kleine Mitteilungen. 

Leistungsfähigkeit einer Dampfturbine. Die 
Pariser Gasgesellschaft hat in ihren Werkstätten 
zu Tory eine 5pferdige Dampfturbine, System La- 
val, aufgestellt, w'elche täglich 24 Stunden ununter¬ 
brochen in Thätigkeit und zur Zeit insgesamt 5300 
Stunden in Betrieb ist. Nach 1700 Stunden Ar¬ 
beitszeit wurde sie behufs Vornahme eines Brems¬ 
versuches angehalten und läuft seitdem wieder 
3600 Stunden ununterbrochen. Die Umfangsge¬ 
schwindigkeit des zur Maschine gehörigen Schau¬ 
felrades beträgt 160 m. in der Sekunde, der ge¬ 
samte zurückgelegte, auf dem Umfange des Rades 
gemessene Weg demnach 3052800 Km. oder un¬ 
gefähr 78 mal den Umfang der Erde, seitdem die 
Maschine in Betrieb und ungefähr 53 mal den Um¬ 
fang der Erde in der Zeit von 150 Tagen, in wel¬ 
cher die Maschine nach dem Anhalten wieder un¬ 
unterbrochen Arbeit verrichtet. Dieses Ergebnis 
ist wohl beachtenswert, um so mehr, als die Ma¬ 
schine vollständig ohne Aufsicht in Gang bleibt. 
Nur alle 12 Stunden wird der Oelbehälter für selbst- 
thätige Schmierung der Maschine von Neuem ge¬ 
füllt. An Oel sind monatlich 55 Kg. erforderlich. (Fr.) 

The Railway Gazette. 

« • 

Elektrizität en gros und en dötail. Es ist eine 
ächt amerikanische Idee den elektrischen Strom an 
Detaillisten abzugeben, die ihn ihrerseits erst den 
Konsumenten zuführen. Wie wir den Pop. Sc. 

News entnehmen, soll dies seitens der Gesellschaft 
zur Verwertung der Niagafafälle geschehen. Ueb- 
rigens dürfte es wenige andere Stellen geben, an 
denen ein solches Projekt Aussicht auf Erfolg hätte. 
• « 

• 

Geripptes Fensterglas. Versuche haben er¬ 
geben, dass bei Verwendung von geripptem Fens¬ 
terglas viel mehr Licht in die duniden Ecken eines 
Zimmers kommt als durch die glatten Scheiben. 


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56 


Kleine Mitteilungen. 


(P. Sc. N.) Es stimmt dies durchaus mit den 
Erfahrungen überein, die man mit den jetzt viel 
gebrauchten gerippten Spiegeln zur Erhellung dunk¬ 
ler Räume gemacnt hat. 

• • 

« 

Die Elektrizitäts-Actienges. vorm. Sckuckert &• Co. 
scheint sich in letzterer Zeit nyt erhöhtem Interesse 
elektrochemischen Verfahren zuzuwenden. D^s von 
ihr genommene D. R. Patent No. 89844 enthält ein 
Verfahren zur Darstellung der Chhrate alkalischer 
Erden durch Elektrolyse. 


Ein Zusatz von geringen Mengen Chrommetall 
erhöht bei den meisten Metallen, wie Kupfer, Nickel, 
Gold, Silber etc. die Härte und Zähigkeit ganz 
bedeutend. Metallegirungen mit mehr als so% 
Chromgehalt sind so hart, dass sie nur mit dem 
Schleifstein bearbeitet werden können. Kupfer und 
Bronze, Messing und Neusilber mit einem Chrom¬ 
gehalt von 0,5 bis 20®/« haben eine Bruchfähigkeit 
die etwa der des Stahles gleichkommt. Durch Zu¬ 
satz von Chrom sollen die Metalle auch widerstands¬ 
fähiger gegen hohe Temperaturen und gegen 
chemische Einwirkungen werden. Chromzusatz 
wird deshalb für Münzen, chemische Apparate und 
Küchengerätc^mpiohlcn. Bisher machte es Schwierig¬ 
keiten, das Chrommetall in die geschmolzenen Me¬ 
talle einzuföhren, da es sich im Augenblick der 
Einführung oxydirt. Die El ec tro-Metallurg i- 
cal Co. (D. R. P. No. 89348) will dies dadurch 
verhüten, dass sie das Chrom vorher mit der Schicht 
eines Schutzmetalls (etwa Kupfer, Nickel, Gold, 
Silber etc.) umgiebt. 


Nach J. Mactear*) sind die Quecksilbergruben 
von Mexiko nach denen von Almaden in Spanien, 
die reichsten der Welt. Sie sind jedoch in ihrer 
Entwickelung zurückgeblieben, teils wegen der ihnen 
von der Regierung bereiteten Schwierigkeiten, teils 
infolge der primitiven VerhOttungseinrichtungen. 

• 

Seit eini^r Zeit werden Presskuchen und 
Samen der Baumivolle auch in Europa als Vieh- 
fulter verwendet. Indessen hat man bereits zahl¬ 
reiche Vergiftungsfälle an Rindern, Schafen und 
Schweinen, die damit gefuttert waren, beobachtet. 
C o r n e V i n hat nun festgestellt, dass die BaumwoU- 
Samen einen giftigen Stoff enthalten, der sich be¬ 
sonders im Mehl vorfindet; die Samenschale ent¬ 
hält weniger davon. Das aus dem Samen gewon¬ 
nene Oel ist ganz unschädlich. (Naturw. Rundschau. 19. la.gö.) 
« « 

• 

Die Anfertigung von Kinder • Spielwaaren in 
Deutschland, hat sich, als Hausindustrie aus kleinen 
Anfängen hervorgegangen, nach und nach zu einem 
wichtigen nationalen Gewcrbszweigc entwickelt, 
welcher heute noch reine Hausindustrie, den ganzen 
Erdkreis mit seinen Erzeugnissen versorgt. Die 
Wiege der deutschen Spielwaaren-Industrie stand 
in Thüringen; von hier holten Nürnberger Kauf¬ 
leute die Waaren ab, um sie im ln- und Auslande 
zu vertreiben. Später bildete sich in Nürnberg 
selbst ein zweiter Mittelpunkt dieser Industrie, 
welcher mit den thüringischen Orten Sonneberg, 
Ohrdruf, Gotha auf dem Gebiete einer gefälligen 
und billigen Anfertigung von Spielsachen aller Art 
wetteifert. Die Sonneberger Industrie ist ursprünglich 
aus der Holzschnitzerei hervorgegangen, umfasst 
heute aber lässt sämtliche Gattungen von Spiel- 
waaren. Die Ausfuhr des nordamerikanischen 


Consularbezirks Sonneberg bewerthet sich nach den 
Aufzeichnungen des dortigen Consuls der Vereinigten 
Staaten nach diesem Lande allein auf Ober iK WU. 
Dollars jährlich. In Nürnberg beschäftigen sich 
255 Betnebe mit der Anfertigung von Kinderspiel¬ 
sachen, worunter wahre Kunstwerke zu finden sind. 
Die Ausfuhr von hier nach Nordamerika stellt sich 
auf rund 2 Mill. Mark Jährlich. Im Ganzen kann 
man die deutsche Spielwaaren-Ausfuhr wohl auf 
30 Mill. Mark jährlich veranschlagen. 

Uhlaod'B Verkehrs-Zeitg. 


Alkoholfreie Obst- und Traubenweine. Die 

Hefepilze sind bekanntlich die Ursache der alko¬ 
holischen Gährung, indem sie den Zucker in Alkohol 
und Kohlensäure zerlegen. Soll dieser Process 
verhindert werden, so müssen diese Pilze unschäd¬ 
lich gemacht werden, was auf dreifache Weise 
geschehen kann: 1) Tödtung derselben-durch Zu¬ 
satz verschiedener Substanzen (Salicylsäure, schwe- 
felige Säure etc.); 2) Entfernung der Pilze durch 
Filtration; 3) Tödtung der Pilze durch Erwärmen 
des Trauben- oder Fruchsaftes. Nach Müller- 
Thurgau ist nur die 3. Methode zu empfehlen. 
Wenn der Traubensaft sofort von der Presse weg 
in gut verstöpselten und verbundenen Flaschen 
einer Temperatur von 40—45® C. au^esetzt wir^ 
so werden alle Gährungspilze getödtet. Obstsaft 
muss einer Temperatur von mindestens 60“ C. aus¬ 
gesetzt werden. Da den Obst- und Traubensäften 
noch allerhand Verunreinimngen anhaften, so ist 
nach dem Erwärmen zum Zwecke der Klärung ein 
Filtriren notwendig. 

Allen Anhängern der Abstinenz und Temperenz 
wird diese Errungenschaft der neuesten Zeit gewiss 
willkommen sein. ^ 

(Diese Safte verdienen wohl eher den Namen „Conaerve- 
Obstsafte*, denn das Wesen des Weins ist der Alkoholgehalt. 
Die Redaktion.) 


Dass die Buschmänner bei all ihrer bekannten 
Stumpfheit doch sich durch eine ungewöhnlich 
fein gegliederte Sprache auszeichnen, dürfte ziem¬ 
lich allgemein bekannt sein. Neuerdings hat man 
Funde gemacht, die nach einer anderen Richtung 
hin ihre intellektuelle Befähigung ausser Zweifel stel¬ 
len, so dass das landläufige absprechende Urteil 
vielleicht nicht unerheblich modifiziert werden 
müsste. Es sind nämlich in Nord-Transvaal (jen¬ 
seits des Lepalata-Flusses) originelle Felszeichnungen, 
meist Tiere, entdeckt, die ein sehr beachtenswertes 
künstlerisches Geschick bekunden. Durih Anwend¬ 
ung dunkler und heller Farben hat man die Unter¬ 
schiede von Schatten und Licht hergestellt; die 
einheimischen Tiere (Strausse, Giraffen, Löwen) 
waren sehr charakteristisch aufgefasst, die mensch¬ 
lichen Figuren (nur Männer), in rotbrauner Farbe 
und meist unbekleidet, in allen möglichen, teilweise 
unmittelbar komischen Situationen. Dass diese 
Malereien schon Jahrhunderte alt sein müssen, be- 
weisst der Umstand, dass schon die vor den 
jetzigen Bewohnern jener Gegenden dort ansässigen 
Massele ebenso ratlos zu diesen Gebilden aufschau¬ 
ten, wie die heutigen Eingeborenen, welche auf alle 
eindringlichen Fragen nur die eine nichtssagende 
Antwort besitzen: Ai Modimo, Gott hat sie gemacht. 


No. 4 ( 1 er Umschau wird ciithalten: 

Jurisch, (iefahren der Arbeiter io der chemischen Industrie. 
- Jensen. Oeber die Bedeutung des Rackenmarks. — Berdrow, 
Ausrüstung wissenschaftlicher Ballonexpeditionen. — Poiakowsky, 
Die deutsche Auswanderung nach dem span. Amerika. — Der 
Frdmagnetismiis. 


•} österr. Bergb. 1896, 510. 


G. Horstmano's Druckerei. Frankfurt a. M. 


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DIE UMSCHAU 

ÜBERSICHT ÜBER DIE FORTSCHRITTE UND BEWEGUNGEN AUF 
DEM GESAMTGEBIET DER WISSENSCHAFT, TECHNIK, 


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Zu beziehen durch 
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Postzcitungnprcisliste No. 7331.1. 

Verlag von: 

H. Bechhold Verlag, Frankfurt a. M. 


LITTERATUR UND KUNST 

herausgegeben von 

dr. j. h. bechhold 


Neue Krame 19/ai. 


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Preis M. la—. 

Im Ausland nach Court. 
Verantwortlicher Redakteur: 

Otto Adolf Wolters, Frankfurt a. M. 


4. I. Jahrg. 


Nachdruck aus dem Inhalt der Zeitschrift ohne Erlaid>$us 
der Redaktion verboten. 


1897. 23. Januar. 


über Gefahren für Arbeiter in chemischen 
Fabriken. 

Von Dr. Konrad W. Jukisch. 

Die Gefahren in gewerblichen Betrieben, 
welche die natürliche Lebensdauer des Men¬ 
schen abzukürzen drohen, lassen sich eintei¬ 
len in wirtschaftliche, politische, sociale und 
moralische Gefahren, die wir hier übergehen, 
und in hygienische Gefahren, welche den 
menschlichen Körper direkt bedrohen, und 
welche durch die Gewerbehygiene bekämpft 
werden. 

Diese letzteren Gefahren sind mechanischer, 
physikalischer, chemischer oder physiologi¬ 
scher Natur, wenn auch die Trennung nicht 
ganz scharf ist. 

Die mechanischen Gefahren bestehen in 
dem Vorhandensein bewegter Massen in der 
Nähe menschlicher Arbeitsplätze. Solche be¬ 
wegte Massen sind z. B. Räder, Treibwellen, 
Kolbenstangen, Maschinenteile aller Art und 
Werkzeuge, welche zum Betriebe eines Ge¬ 
werbes erforderlich sind. Ferner bestehen 
mechanische Gefahren in der Möglichkeit, dass 
Gegenstände auf Menschen herabfallen, oder 
dass Personen von erhöhten Standpunkten 
hinabstürzen; endlich in der Möglichkeit, dass 
durch Explosionen oder Implosionen feste 
Körper durch die Luft geschleudert werden, 
und Personen treffen; oder in ähnlichen Mög¬ 
lichkeiten mechanischer Verletzungen. 

Die physikalischen Gefahren bestehen in 
der Möglichkeit, dass Personen in Medien 
versetzt werden, oder mit solchen in Berühr¬ 
ung kommen, für welche der menschliche 
Organismus nicht eingerichtet ist. Der Mensch 
lebt an der Erdoberfläche unter bekannten 
physikalischen Bedingungen des Druckes, der 
Temperatur, des Lichtes, der Elektricität und 
anderer Einflüsse. Sobald diese physikalischen 
Bedingungen sich ändern, erfolgen Eingriffe in 
den menschlichen Organismus, welche sich 

Umschau 1897. 


bis zur Zerstörung desselben steigern können. 
Solche Gefahren bestehen z. B. in der Ver¬ 
minderung des Druckes beim Aufstieg in 
Luftballons, oder in der Vergrösserung des 
Druckes während des Arbeitens unter der 
Taucherglocke; beim Arbeiten in tiefen Kälte¬ 
graden oder hohen Wärmegraden, also in 
der Möglichkeit des Erfrierens oder des Hitz- 
schlages; in der Möglichkeit des Verbrannt¬ 
werdens durch flüssiges Metall, oder durch 
Hineinstürzen in einen Ofen; in der Mög¬ 
lichkeit des Erstickens oder Ertrinkens; oder 
endlich in der Möglichkeit der Verbrennung 
durch elektrisches Licht z. B. während des 
Löthens, oder der Berührung mit einem gleich¬ 
gerichteten elektrischen Strome von hoher 
Spannung. 

Die chemischen Gefahren bestehen in der 
Möglichkeit der Berührung mit ätzenden oder 
auf andere Weise akut schädlich wirkenden 
festen, flüssigen, staubförmigen oder gasför¬ 
migen Substanzen. Solche Berührungen kön¬ 
nen äusserlich stattfinden z. .B. wenn ätzende 
Stoffe umhergeschleudert werden, überlaufen 
oder verspritzen, oder durch Hineinfallcn in 
Gefässe, welche solche Stoffe enthalten; oder 
innerlich durch Verschlucken schädlicher Kör¬ 
per oder Flüssigkeiten, oder durch Einatmung 
schädlichen Staubes oder schädlicher Gase. 

Die physiologischen Gefahren schliessen 
sich eng an die chemischen an. Sie bestehen 
in der Möglichkeit, dass durch dauernde Ein¬ 
flüsse schädlicher Körper auf den Organis¬ 
mus chronische Erkrankungen oder physiolo¬ 
gische Veränderungen verursacht werden. 

Alle diese Gefahren können im Erwerbs¬ 
leben einzeln oder zusammenwirkend eintre- 
ten, und Unfälle oder Erkrankungen herbei¬ 
führen. 

Je dichter die Bevölkerung wird, je mehr 
die Industrie sich entwickelt, je mehr das 
Handwerk in industriellen Betrieb Obergeht, 
indem die Maschine an die Stelle des Men- 

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JuRiscH, Gefahren für Arbeiter in chemischen Fabriken. 


sehen tritt, um seine mechanische Arbeit zu 
verrichten, um so mehr häufen sich die Mög¬ 
lichkeiten, dass Unfälle entstehen. Deshalb 
haben wir die Pflicht, diesen Gefahren eine 
stets wachsende Aufmerksamkeit zu schenken, 
um Unfälle nach Möglichkeit zu verhüten. . 

Kaiser Wilhelm der Erste hat durch 
seine kaiserliche Botschaft vom 17. Novem¬ 
ber 1881 die socialpolitische Gesetzgebung 
des deutschen Reiches eingeleitet, welche die 
Versicherung gegen Krankheit, Unfälle, Alter 
und Invalidität zum Ziel, und die systema¬ 
tische Einführung von Unfallverhütungsmit¬ 
teln in Gefolge hatte. 

Die Herstellung von Schutzvorrichtungen 
und Unfallverhütungsmitteln kann aber nie¬ 
mals als abgeschlossen gelten, sondern sie 
muss sich, den Fortschritten der Industrie 
entsprechend, zu immer grösserer Vollkom¬ 
menheit entwickeln. Somit müssen wir uns 
beständig mit ihrem weiteren Ausbau beschäf¬ 
tigen. Um dies mit Erfolg thun zu können, 
müssen wir die Gefahren, gegen welche wirk¬ 
samer Schutz gefunden werden soll, vor allen 
Dingen möglichst genau kennen lernen. Dies 
kann natürlich nicht durch die folgende kurze 
Besprechung erreicht werden, aber wir wün¬ 
schen, von Neuem die Aufmerksamkeit auf 
den Gegenstand zu lenken, und zum Studium 
desselben anzuregen. 

In chemischen Fabriken können fast alle 
der angeführten Gefahren eintreten. Wenn 
man aber von Gefahren für Arbeiter in che¬ 
mischen Fabriken spricht, so meint man die¬ 
jenigen Gefahren, welche den chemischen 
Fabriken eigentümlich sind. Dies .sind die 
chemischen nnd physiologischen Gefahren. 
Trotzdem giebt.es chemische Betriebe, wie z. 
B. die Ammoniaksodafabriken, in denen che¬ 
mische und physiologische Verletzungen ganz 
zurücktreten gegenüber den mechanischen 
und physikalischen. 

Da mechanische und physikalische Ge¬ 
fahren auch unabhängig von jedem gewerb¬ 
lichen Betriebe Vorkommen, so wollen wir 
sie hier nicht weiter in Betracht ziehen, son¬ 
dern nur die chemischen und physiologischen 
Gefahren kurz schildern, indem wir ihre ge¬ 
nauere Untersuchung den bekannten Spezial¬ 
werken überlassen. 

Bei der Einteilung der chemischen Fabri¬ 
ken in Gefahrenklassen geht die Berufsgenos¬ 
senschaft naturgemäss nach der Unfall- und 
Krankenstatistik, mit der durchschnittlichen 
Entschädigung für einen Todesfall als Be¬ 
lastungseinheit. 

Der erste von der Berufsgenossenschaft 
der chemischen Industrie aufgestellte provi¬ 
sorische Gefahrentarif von 1884 enthielt nur 
vier Gefahrenklassen. Die höchste Gefahren¬ 


klasse, welche mit 100 Beitragseinheiten zur 
Unfallversicherung belastet war, umfasste die 
Fabriken von Explosivstoffen und Zündwaren. 
Die geringste Gefahrenklasse umfasste die 
Licht- und Seifenfabriken mit 31 Beitragsein¬ 
heiten. Dieser Tarif galt bis 1888. 

Der abgeänderte Gefahrentarif, welcher 
am 26. Sept. 1888 vom Reichsversicherungs¬ 
amte genehmigt wurde, enthielt bereits zehn 
Gefahrenklassen, in welchen die einzelnen 
Betriebe genauer specialisiert waren. Die 
höchste Gefahrenklasse war auch hier mit 
100 Beitragseinheiten belastet; die niedrigste 
mit ro. Dieser Tarif galt bis 1894. 

Der gegenwärtig gütige Gefhhrentarif 
vom 12. Septbr. 1894 umfasst dreizehn Ge¬ 
fahrenklassen, in denen die höchste mit 
125, die niedrigste mit 20 Einheiten zur Un¬ 
fallversicherung herangezogen wird. 

In der höchsten Gefahrenklasse überwie¬ 
gen aber die mechanischen und physikalischen 
Unfälle, während die chemischen und physio¬ 
logischen Unfälle nur in den mittleren Klas¬ 
sen vorherrschen. Die Fabrikation von Chlor¬ 
kalk z. B. ist in allen drei Tarifen mit nahe¬ 
zu 50 Beitragseinheiten belastet. 

Diese Tarifierung, die Unfall- und Kran¬ 
kenstatistik überhaupt, bietet uns daher keinen 
rechten Anhalt, um die chemischen und phy¬ 
siologischen Gefahren irgendwie systematisch 
zu untersuchen. 

Das einzige Mittel, um Gefahren dieser 
Art richtig zu beurteilen, bietet langjährige 
persönliche Erfahrung und Beobachtung. Hier¬ 
auf allein werden wir fussen, und in einzel¬ 
nen Beispielen in ziemlich willkürlicher 
Reihenfolge diejenigen Gefahren besprechen, 
deren Bekämpfung die Fabrikanten am meis¬ 
ten beschäftigt. Wir beginnen mit den vor¬ 
wiegend chemischen Gefahren. 

Chlorkalk. Die Fabrikation von Chlor¬ 
kalk, namentlich wie sie in England betrieben 
wird, stellt besonders während des Wendens 
des halbfertigen, und während des Packens 
des fertigen Chlorkalks erfahrungsmässig unter 
allen Betrieben der chemischen Industrie die 
höchsten Anforderungen an die Gesundheit 
und Kraft der Arbeiter. Trotzdem gehört 
die Unfall- und Krankenstatistik der Chlor¬ 
kalkpacker zu den günstigsten der Industrie. 
Man könnte auf grund dieser Statistik das 
Chlorkalkpacken für die gesündeste Beschäf¬ 
tigung erklären, w'elche in der Industrie vor¬ 
kommt, und sie auf gleiche Stufe stellen mit 
dem idyllischen Aufenthalt im Waldesdunkel 
oder auf Bergeshöhen. Thatsächlich ist dies 
durch einen Fabrikanten in einem englischen 
Parlamentsberichte auch geschehen. Wenn 
unter Chlorkalk-Fabrikanten solche Meinungen 
ausgesprochen werden, so spenden alle Bei- 


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JuRiscH, Gefahren für Arbeiter ix chemischen Fabriken. 


fall, aber sie grossen sich mit dem Lächeln 
der Auguren. 

ln der l'hat können nur völlig gesunde 
Männer mit sehr kräftigen Lungen diese Ar¬ 
beit verrichten. Es finden sich immer Leute 
dazu bereit, weil sie sehr hoch bezahlt wird. 
Sobald ein Chlorkalkpacker die geringste Be¬ 
schädigung seiner Lunge verspürt, muss er 
sofort eine andere Beschäftigung suchen. Der 
Schaden an seiner Lunge kann heilen, oder 
auch nicht. Im letzteren Falle tritt er mit 
einem Makel behaftet in den neu gewählten 
Erwerbszweig ein und beschwert dessen 
Krankenstatistik. 

Zum Zweck des Wendens und Packens 
des Chlorkalks müssen englische Chlorkalk¬ 
arbeiter in die Chlorkalkkammern hinein¬ 
gehen, deren Luft selbst nach den rigorosen 
gegenwärtigen Vorschriften immer noch freies 
Chlorgas enthält. Beim Aufschaufeln des 
Chlorkalks entweicht aus dem Chlorkalkpul¬ 
ver eingeschlossenes Chlorgas und Chlorkalk¬ 
staub. Gegen das Einatmen dieses Gemisches 
schützen sich die Arbeiter durch Mundbinden 
(Muzzles). Diese bestehen aus vielfach über¬ 
einander gelegten feuchten Flanellstreifen, 
welche fest vor den Mund gebunden werden. 
Der Arbeiter atmet nun durch die Mundbinde 
ein, und durch die Nase aus. Der Reibungs¬ 
widerstand der Mundbinde, welche Chlorgas 
und Chlorkalkstaub zurückhält, erschwert na¬ 
türlich das Atmen ganz beträchtlich, so dass 
nur sehr kräftige Lungen denselben überwin¬ 
den können. Die äusseren Körperteile wer¬ 
den .durch Einfetten und Umwickeln mit Pa¬ 
pier geschützt. 

Trotzdem kann es Vorkommen, dass ein 
Arbeiter Chlorgas einatmet, welches das 
Lungengewebe aufs heftigste angreift. Auch 
die Augen können angegriffen werden, und 
brennende und juckende Ausschläge an 
Beinen und Armen entstehen. 

In deutschen Fabriken sind diese Gefahren 
durch die etwas abgeänderte und sehr ver¬ 
langsamte Betriebsweise ganz bedeutend 
herabgemindert. Auch wendet man hier statt 
der Mundbinden Rauchmasken an, denen reine 
Atmungsluft zugeführt wird. 

Die hier angedeuteten Gefahren werden 
aber nahezu vollkommen beseitigt durch Ein¬ 
führung der mechanischen Chlorkalkapparate. 
Es ist das Verdienst des Herrn Kommerzien¬ 
rats Robert Hasenclever, Generaldirek¬ 
tors der Rhenania in Aachen, durch jahre¬ 
lange Bemühungen technisch brauchbare 
Apparate dieser Art hergestellt zu haben. 
Auf der Rhenania stehen ganze Batterien 
dieser Apparate in Betrieb. 

Sulfat. In englischen Sodafabriken wird 
das Sulfat eben nur hinreichend calciniert. 


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um möglichst viel aus einem Ofen auszu¬ 
bringen. Beim Herausziehen des Sulfats 
stösst dasselbe ganze Wolken von Salzsäure- 
und Schwefelsäuredämpfen aus, die natürlich 
den Arbeiter stark belästigen. 

Der Arbeiter schützt sich gegen die direkte 
Wirkung der sauren Dämpfe dadurch, dass 
er ein wollenes Tuch zwischen die Zähne 
nimmt, und dadurch einatmet. In dem Tuche 
aber condensieren sich die genannten Mine¬ 
ralsäuren und greifen die Zähne so heftig an, 
dass dieselben in kurzer Zeit zerstört werden. 

Diese Uebelstände werden bekämpft durch 
Verbesserungen an den Entleerungsvorricht¬ 
ungen an den Oefen und durch Verstärkung 
des Zuges nach der Condensation oder be¬ 
sondere Schornsteine. Eine durchgreifende 
und völlig befriedigende Beseitigung dieser 
Uebelstände ist aber nur zu erreichen durch: 

1) Einführung mechanischer Sulfatöfen mit 
zweckentsprechenden Entleerungsvor¬ 
richtungen; 

2) Verstärkung des Zuges nach der Con¬ 
densation durch Vergrösserung der Con- 
densationstürme. 

3) schärferes Calcinieren des Sulfats. 

Schwefelsäure. Beim Oeffnen der Kies¬ 
öfen zum Zwecke des Neubeschickens ent¬ 
weicht, wenn der Höhenunterschied zwischen 
Kiesöfen und Bleikammern nicht gross genug 
ist, schweflige Säure in den Arbeitsraum. 

Die Arbeiter schützen sich in solchen 
Fällen vor der erstickenden Wirkung der 
schwefligen Säure dadurch, dass sie ebenfalls 
ein wollenes Tuch zwischen die Zähne neh¬ 
men, da sie beide Hände zur Arbeit ge¬ 
brauchen. 

In England und Frankreich werden diese 
Uebelstände dadurch gemildert, dass man 
während des Beschickens eine direkte Ver¬ 
bindung zwischen den Kicsöfen und den Kam¬ 
mern herstellt, indem man den Glover-Turm, 
der zwischen beiden steht, durch Gasschieber 
mit hydraulischem Verschlüsse ausschaltet, 
wodurch der Zug verstärkt wird. 

Moderne deutsche Fabriken beseitigen 
diese Uebelstände vollkommen, indem sie den 
Boden der Bleikammern 7 Meter Ober die 
Fabriksohle legen. Dadurch wird der Auf¬ 
trieb der heissen Röstgase so stark, dass keine 
Spur schwefliger Säure mehr aus den Ofen¬ 
türen entweicht, selbst wenn man zwei davon 
über einander öffnet. 

Dies System sollte man daher bei allen 
Neuanlagen befolgen. 

Aetznatf'on. Die Fabrikation von Aetz- 
natron birgt in allen Stadien Gefahren für 
die damit beschäftigten Personen, gleichgül¬ 
tig, ob wir uns in einer Leblanc- oder Am¬ 
moniaksodafabrik, oder einer elektrolytischen 

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JuRiscH, Gefahren für Arbeiter in chemischen Fabriken. 


Fabrik befinden. Das Aetznatron wird ge¬ 
wonnen in Form von Lauge, welche durch 
Eindampfen in den geschmolzenen, und schliess¬ 
lich durch Abkühlung in den festen Zustand 
übergeführt wird. In allen Stadien können 
durch Verspritzen oder Umherschleudern Ver¬ 
letzungen, namentlich der Augen, entstehen. 
Ausserdem können Personen in Behälter stür¬ 
zen, welche mit Lauge oder geschmolzenem 
Aetznatron gefüllt sind. Im ersteren Falle 
werden dadurch Veränderungen der Körper¬ 
oberfläche bewirkt, welche oft den Tod zur 
Folge haben; im letzteren Falle tritt der Tod 
momentan ein, indem der ganze Körper auf¬ 
gelöst wird. Nur Gegenstände aus Gold, 
Silber, Eisen bleiben übrig, wie Münzen, 
Schlüssel, Schuhnägel. 

Um diese Gefahren zu vermindern oder 
zu beseitigen, werden alle Gefässe und Schmelz¬ 
kessel zweckentsprechend aufgestellt oder ein¬ 
gemauert, und mit Geländern umgeben. 

Beim Zerschlagen des festen Aetznatrons 
werden Schutzbrillen getragen. 

Chromate. Chromsäure erzeugt in der 
Haut, indem sie sich zu Chromoxyd reduciert, 
tiefgreifende und schwer heilende Wunden, 
sogenannte Chromlöcher. Eingeatmeter Chro¬ 
matstaub kann für den Kehlkopf und das 
Lungengewebe verderblich werden. Um die¬ 
ser Gefahr zu entgehen, stopfen sich die Ar¬ 
beiter in Chromfabriken Watte in die Nasen¬ 
löcher. Aber, indem die Watte als Staub¬ 
filter dient, sammelt sich auf ihr Chromat an, 
welches durch die Feuchtigkeit der Nase in 
Lösung geht, und die Nasenscheidewand 
durchlöchert oder zerstört. 

Die Fabrikanten suchen diese Ucbelstände 
dadurch zu bekämpfen, dass sie Staubent¬ 
wickelung nach Möglichkeit vermeiden, und 
nur solche Arbeiter zulassen, welche auch 
nicht die kleinste Verletzung der Haut auf- 
weisen, und diese zur allergrössten Reinlich¬ 
keit anhalten. 

Fluorivasserstoffgas, welches aus den Misch- 
gefässen der Düngerfabriken entweicht, greift 
die Atmungsorgane und die Augen auf das 
allerheftigste an. Gegenwärtig ist man be¬ 
müht, dasselbe durch Condensation unschäd¬ 
lich zu machen. Die Erfolge weisen aber 
noch sehr grosse Verschiedenheiten auf. Viel¬ 
leicht würde der Erfolg sicherer sein, wenn 
man das Gas in den Condensationstürmen 
mit kieselsäurehaltigem Material oder mit Kalk¬ 
milch in Berührung brächte. 

Ausser den hier angeführten sind noch 
viele andere Gefahren vorhanden, die aber 
verhältnismässig nur sehr selten ein Opfer 
fordern. 

So können Verletzungen entstehen durch 
Einatmung von Chlorgas an den Entwicklern 


und Leitungen; durch Einatmung nitroser 
Dämpfe in der Fabrikation von Schwefel¬ 
säure und beim Auspacken von Gay-Lussac- 
TOrmen. Verletzungen der letzteren Art 
wären aber vielleicht richtiger zu den physi¬ 
ologischen zu zählen. Ferner können che¬ 
mische Verletzungen entstehen durch Berühr¬ 
ung mit Mineralsäuren oder Verspritzen der¬ 
selben. 

Verfasser erlebte z. B. den Fall, dass der 
Aufseher in einer Schwefelsäurefabrik infolge 
eines Fehltritts durch die Kammerdecke in 
das Innere einer in vollem Betriebe stehen¬ 
den Bleikammer stürzte, und zwar in die am 
Boden befindliche Schwefelsäure. Der Mann 
hatte gerade noch die Kraft, mit den Augen 
voller Schwefelsäure oder durch Tasten das 
Mannloch zu finden und den Deckel heraus- 
zustossen. Dann brach er zusammen und 
starb nach kurzem Leiden. 

Während die chemischen Verletzungen 
— wenn überhaupt — in kurzer Zeit heil¬ 
bar sind, sind die sehr viel zahlreicheren 
physiologischen Verletzungen viel schwieriger 
zu behandeln, und oft nur nach gänzlichem 
Berufswechsel zu heilen. Die Grenze ist aber, 
wie schon bemerkt, nicht ganz scharf zu ziehen. 

Trotzdem charakterisieren sich die physio¬ 
logischen Verletzungen dadurch, dass sie, 
selbst in akuten Vergiftungsföllen, das Äus¬ 
sere des Menschen ziemlich unverändert las¬ 
sen, und die Neigung zeigen, chronische For¬ 
men anzunehmen. 

Indem wir uns jetzt zur Besprechung 
physiologischer Gefahren wenden, müssen wir 
wegen ausführlicherer Angaben auf die Spezial¬ 
werke über Gewerbehygiene und Gewerbe¬ 
krankheiten verweisen. 

Schivc/elivasserstoffgas. Unter allen Er¬ 
zeugnissen der chemischen Industrie verur¬ 
sacht der Schwefelwasserstoff die grössten 
physiologischen Gefahren für den Menschen, 
und zwar weniger seiner Giftigkeit wegen, 
als wegen der grossen Mengen, die zu be¬ 
wältigen sind. Schwefelwasserstoffgas ver¬ 
wandelt das hellrote, dünnflüssige arterielle 
Blut der Lungen in eine schwarze, dickflüs¬ 
sige Masse, raubt dem dadurch Vergifteten 
das Bewusstsein, färbt seine Körperoberfläche, 
namentlich die Lippen, bleigrau, und führt 
unter heftigen Krämpfen den Tod herbei, 
wenn nicht sofort die kräftigsten Oxydations¬ 
mittel, wie Chlorgas oder Sauerstoff, ange¬ 
wendet werden. Verfasser hat einst selbst 
auf diese Weise einen Arbeiter vom Tode 
errettet. 

Schwefelwasserstoffgas ist aber nicht blos 
für die Arbeiter innerhalb der Fabrik gefähr¬ 
lich, sondern es belästigt, durch den Wind 
fortgeführt, auch die Nachbarschaft. Wenn 


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JuRiscH, Gefahren für Arbeiter in chemischen Fabriken. 


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wir auch nicht erwarten, dass der Wind von 
einer chemischen Fabrik her uns die Düfte 
der Rosengärten von Schiras zuweht, oder 
die köstlichen Wohlgerüche der Hyerischen 
Inseln, so können wir doch verlangen, vor 
diesem übelriechenden Gase bewahrt zu bleiben. 
Denn das Gas durchdringt die Häuser, schwärzt 
die meisten Metallgegenstände und bereitet 
den Bewohnern Übelkeit und Erbrechen. 

Deshalb ist gegenwärtig in englischen Fa¬ 
briken das Entweichenlassen von Schwefel¬ 
wasserstoffgas absolut verboten. Nur die alten 
Haufen und Felder von Sodarückständen, die 
mitunter Schwefelwasserstoffgas ausstossen, 
bilden noch eine Schwierigkeit. Indessen 
vermindert sich dieselbe durch Auslaugung 
und Oxydation von Jahr zu Jahr. Neue Ab¬ 
lagerungen von Sodarückständen dürfen nicht 
mehr gebildet werden. Die Sodarückstände 
werden entweder sofort gänzlich aufgearbeitet 
(Widnes), oder zum Teil in’s Meer versenkt 
(Newcastle). 

Wie man das in der Fabrikation von 
Ammoniumsulfat auftretende Schwefelwasser¬ 
stoffgas unschädlich macht, hat der Oberin¬ 
spektor der chemischen Fabriken Englands 
in seinem 3iten Jahresberichte tabellarisch 
mitgeteilt. 

Schwefelkohlenstoff. Durch längeres Ein* 
atmen von mit Schwefelkohlenstoffdampf ge¬ 
schwängerter Luft werden die geistigen Fähig¬ 
keiten der Erinnerung und des Denkens her¬ 
abgesetzt. In akuten Vergiftungsföllen stellen 
sich zuerst Kopfweh, Erbrechen und Glieder¬ 
schmerzen ein. Völlige Heilung ist nur durch 
Berufswechsel möglich, da stets eine grosse 
Empfindlichkeit selbst gegen die kleinsten 
Mengen Schwefelkohlenstoffs zurückbleibt. 

Phosphor verursacht in akuten Vergiftungs¬ 
fällen heftige Herzkrämpfe, die den Tod durch 
Ersticken herbeiführen können, wenn nicht 
schleunige Hilfe wirkungsvoll eingreift. Die 
chronische Vergiftung lässt die sogenannte 
Phosphornekrose entstehen, welche therapeu¬ 
tische Behandlung erfordert. 

Schutzmittel sind Vorsicht und Reinlichkeit. 

Cyan. Da alle Cyansalze giftig sind, so 
erfordert die Fabrikation derselben Vorsicht. 
Vergiftungen durch das seit kurzer Zeit in 
grossen Mengen verbrauchte Cyankalium ver¬ 
laufen bekanntlich tötUch. 

Metallische Gifte. Vergiftungen durch Blei, 
Thallium, Quecksilber, Arsen erfordern ärzt¬ 
liche Behandlung. In manchen Fällen kann 
aber schon auf der Fabrik erfolgreiche Hilfe 
geleistet werden. 

In einer englischen Fabrik erlebte Verfasser 
folgenden Fall: Ein Arbeiter kam mit einer 
verletzten Hand ins Laboratorium, um sich 
verbinden zu lassen. Während der Herrich¬ 


tung der Wunde hatte er einen Ohnmachts- 
anfall. Der Laboratoriumsjunge nahm sich nicht 
die Zeit, den Wasserhahn aufzudrehen, um 
dem Manne Trinkwasser zu bringen, sondern 
ergriff die erste beste Flasche vom Labora¬ 
toriumstisch, in der er Wasser zu sehen meinte, 
und gab ihm deren Inhalt zu trinken. Un¬ 
glücklicherweise war dies aber eine Auflösung 
von 4,95 Gramm arseniger Säure; die zum 
Abkühlen hingestellt war, um nachher zu 
einem Liter verdünnt zu werden. Erst als der 
Mann entlassen war, und der betreffende Che¬ 
miker seine Arsenlösung vermisste, stellte sich 
das Versehen heraus. Sofort wurde der Mann 
zurückgeholt, bei dem sich schon die ersten 
Symptome der Vergiftung zeigten. Als jetzt 
erst der ganze Vorfall dem Verfasser gemel¬ 
det wurde, fand er einen seiner Assistenten 
bereits damit beschäftigt, frisch gefälltes Eisen¬ 
oxydhydrat herzustellen, und er konnte nichts 
besseres thun, als ihm dabei zu helfen. Man- 
gansalz war nicht in genügender Menge vor¬ 
rätig. Sowie ein Trichter notdürftig abfiltriert 
und ausgewaschen war, wurde der Inhalt des 
Filters mit Wasser aufgerührt, und diese 
braune Masse dem Manne zu trinken gegeben. 
Wenn ihm auch das noch vorhandene freie Am¬ 
moniak die Schleimhäute des Mundes und 
Schlundes ätzte, so musste er doch auf schar¬ 
fen Befehl hin 6 — 8 mittelgrosse Filter voll 
Eisenoxydhydrat hinunterschlucken. Am näch¬ 
sten Tage verrichtete der Mann seine ge¬ 
wohnte Arbeit, als wenn nichts vorgefallen 
wäre, und hat nie erfahren, in welcher Lebens¬ 
gefahr er geschwebt hat. 

In einer Fabrik, welche krystallisiertes 
arsensaures Natron herstellte, pflegten die 
Arbeiter nach einiger Zeit an chronischer Ver¬ 
giftung durch Arsensäure zu erkranken. Die¬ 
selbe äusserte sich durch das Entstehen von 
Bubonen und ähnlichen Anschwellungen. 

Rechtzeitiger Berufswechsel, Vorsicht und 
Reinlichkeit können auch hier viele Unfälle 
verhüten. 

Kohlenoxyd. Kohlenoxydgas entsteht durch 
unvollständige Verbrennung von Kohle in 
manchen Feuerungsanlagen, und ist gewöhn¬ 
lich von Rauch begleitet. 

Das Kohlenoxydgas wird vom Blute be¬ 
gierig absorbiert, welches dadurch zu einer 
dunklen Masse aufschwillt. 

Bei beginnender Vergiftung durch Kohlen¬ 
oxydgas greift man mit den Armen um sich 
her, um sich an irgend einem Gegenstände 
festzuhalten; später tritt Unfähigkeit, sich zu 
bewegen, Bewusstlosigkeit und Tod ein. 

Die Tageslitteratur ist überreich an Be¬ 
richten über derartige Unglücksfhlle. Der in¬ 
teressanteste ist vielleicht folgender: 

Eine Frau Druaux wurde am 15. No- 


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Jensen, Bedeutung des Rückenmarkes für das Leben des Organismus. 


vember 1887 durch die Geschworenen der 
„Seine Infürieure" zu lebenslänglichem Zucht¬ 
hause verurteilt, weil sie am 20. April 1887 
in Malaunay in der Picardie ihren Gatten und 
Bruder vergiftet habe. Die nachfolgenden 
Bewohner desselben Hauses erkrankten 1888 
unter denselben Erscheinungen. Endlich wurde 
Frau Druaux 1893 unschuldig aus dem 
Zuchthause entlassen, aber erst im Oktober 
1896 gerichtlich für unschuldig erklärt, und 
auf Grund des Gesetzes von 1894 
40,000 Frc. entschädigt. An dem UnglOcks- 
hause war ein Kalkofen angebaut. Die Mauer 
hatte aber Risse, so dass Kohlenoxyd in die 
Wohnung drang und die Menschen vergiftete. 
Den Bemühungen Brouardel’s gelang es, 
diese Thatsache nachzuweisen. 

Aus den bis 100 Meter langen Feuer¬ 
kanälen unter den Salzpfannen von Cheshire 
kann aus schadhaftem Mauerwerk bei schwa¬ 
chem Zuge Kohlenoxydgas in den Arbeits¬ 
raum dringen und akute und chronische 
Vergiftungsformen hervorbringen. 

Kohlensäure verursacht in chemischen 
Fabriken nur selten Unfälle, z. B. beim Be¬ 
fahren von Brunnen oder Reinigen von Feuer¬ 
kanälen. Sie bleibt nach der Explosion von 
schlagenden Wettern, unter gleichzeitiger Ver¬ 
minderung des Sauerstoffs, der Luft, in Berg¬ 
werken zurück und fordert Jahr aus, Jahr ein, 
ihre Opfer. 

Rauch und Staub. Wenn man Luft ein¬ 
atmet, welche feste Körper in feiner Verteilung 
in Suspension enthält, so bleibt ein Teil der¬ 
selben in der Lunge zurück. Auf diese Weise 
reichern sich die Fremdkörper in der Lunge 
an und bilden die sogenannten Staublungen. 
Die bekanntesten darunter sind die schwarze 
Kohienlunge und die weisse Kiesellunge. 

Die erstere findet man nicht blos bei Koh¬ 
lenarbeitern, sondern auch bei Personen, die 
einen grossen Teil ihres Lebens in rauchigen 
Räumen zugebracht haben; — die letztere 
namentlich bei Steinmetzen. 

Im Kaiserlichen Gesundheitsamte hat Dr. 
Theodor Sommmerfeld die Staublungen 
zu seinem Spezialstudium gewählt, und die 
Resultate seiner Untersuchungen am 26. Ok¬ 
tober 1896 in einem Vortrage in der Deut¬ 
schen Gesellschaft für öffentliche Gesund¬ 
heitspflege in Berlin zusammengestellt. Die 
Besprechung des Gegenstandes ergab noch 
weitere Aufschlüsse und Anregungen. 

Untersuchung verdient noch das Einatmen 
von Fuchsinstaub. 

Wenn auch jeder Staub die Lebensdauer 
abkürzt, so ist doch besonders der Metall¬ 
staub gefährlich, welcher unter dem Mikro¬ 
skop hakenförmige Gebilde zeigt. Denn die¬ 
ser Staub erzeugt Wunden, in denen sich 


Tuberkelbazillen einnisten können. 

Das grosse 'rhema der Schädigung der 
Garten-, Feld- und Forstkulturen durch Rauch 
muss hier unberührt bleiben. 

Alle Berufenen arbeiten fortgesetzt daran, 
die Bildung von Rauch und Staub zu ver¬ 
hüten oder unschädlich zu machen. 

Wir haben hier nur die wichtigsten physio¬ 
logischen Gefahren erwähnt, aber fortge¬ 
setzt werden neue entdeckt, indem man ihre 
Wirkungen wahrnimmt. Es würde uns aber 
zu weit führen, alle zu besprechen, die wir 
bis jetzt kennen. 

Wenn Verfasser über Gefahren für die 
Arbeiter in chemischen Fabriken spricht, so 
darf der Leser nicht glauben, dass er sich 
feindlich zur Industrie stellt. Im Gegenteil! 
Die Industrie ist zum Fortschritte der Kultur 
und zur Machtentwickelung des Deutschen 
Reiches unentbehrlich. Die grossen Segnungen 
der Industrie sind aber mit gewissen Nach¬ 
teilen verbunden. Aus der Kultur selbst 
müssen wir die Mittel schöpfen, um diese 
Nachteile zu bekämpfen und unschädlich zu 
mnehen. Nur aus diesem Kampfe winkt die 
Palme des Sieges und des wahren Fort¬ 
schritts. 

Nur die öffentliche Besprechung kann die 
stagnierenden Geister aufrütteln und zu 
neuer Kraftentfaltung anspornen. Die Indus¬ 
trie hat noch stets Vorteil daraus gezogen, 
wenn sie zur Verbesserung ihrer Methoden 
und Apparate angeregt, ja gezwungen wurde. 
Die Kompetenzfrage kann in jedem Falle 
sachlich erledigt werden. Was jeder an der 
Industrie Beteiligte oder Unbeteiligte verlangen 
kann, soll und muss, ist, dass in der Industrie 
stets die besten bekannten und praktisch durch¬ 
führbaren Mittel angewendet werden, um Schä¬ 
digungen nach Möglichkeit zu mildern oder zu 
verhüten. 


Die Bedeutung des Rückenmarkes für das 
Leben des Organismus. 

Von Dr. P. Jenskn. 

Mit dem Fortschreiten der Erkenntnis, dass 
die höheren Organismen aus einer ungeheuren 
Menge lebendiger Elementartcile, der sog. 
Zellen, bestehen, welche im Kleinen ihre eige¬ 
nen Lebenskreise beschreiben, Hess sich die 
Vorstellung, dass es einen auf ein bestimmtes 
Organ oder gar auf einen Teil eines solchen 
beschränkten besonderen „Sitz des Lebens“ 
gebe, nicht mehr aufrecht erhalten. Wir wis¬ 
sen, dass vollständig aus dem Körper ent¬ 
fernte Herzen von Kaltblütern unter entspre¬ 
chenden Verhältnissen noch eine Woche lang 
wciterzuschlagen vermögen und dass auch 


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Jensen, Bedeutung des Rückenmarkes für das Leben des Organismus. 


63 


andere Teile von Kaltblütern noch Tage hin¬ 
durch, solche von Warmblütern im Allge¬ 
meinen auf Stunden lebendig bleiben können. 
Ein Organismus ist daher in dem Augenblick, 
wo wir ihn als eben gestorben bezeichnen, 
noch nicht in allen seinen Teilen tot, da manche 
von ihnen, wie Muskeln und Flimmerzellen, 
noch längere Zeit ihr Lebensgetriebe fort¬ 
setzen, während andere Gewebsarten, wie z. B. 
das Nervensystem, bereits früher ihre Thätig- 
keit einstellen. Als Ganzes betrachtet, werden 
wir trotzdem dann einen Organismus mit Recht 
als tot bezeichnen, sobald sein Blutkreislauf 
oder seine Athmung unwiderruflich aufgehoben 
sind. Denn damit ist auch der baldige Tod 
der etwa noch „überlebenden“ Gewebsteile 
besiegelt. Stockt der Blutkreislauf, so befinden 
sich die einzelnen Teile des Organismus unter 
ebenso ungünstigen Lebensbedingungen, als 
wenn sie ganz aus dem Zusammenhang mit 
dem Organismus losgelöst wären. Es wird 
ihnen nicht mehr der erforderliche Sauerstoff 
und andere auf die Dauer unentbehrliche Stoffe 
zugeführt, und sie werden nicht mehr von der 
Kohlensäure und sonstigen im Lebensprozess 
entstehenden giftigen Produkten befreit. Einen 
ähnlichen Erfolg aber hat die Aufhebung der 
Athmung; auch dann können die lebendigen 
Teile nicht mehr in genügendem Maasse mit 
Sauerstoff versorgt und von der Kohlensäure 
entlastet werden. Es ist der Erstickungstod, 
dem die lebendigen Teile in ziemlich über¬ 
einstimmender Weise nach Aufhebung des 
Blutkreislaufs wie auch der Athmung preisge¬ 
geben sind. 

Da die Athmung bei allen höheren 
Tieren an gewisse Teile des Zentralnerven¬ 
systems und zwar an den oberen Abschnitt 
des Rückenmarkes gebunden ist, so hat die 
Zerstörung des letzteren ebenfalls den allge¬ 
meinen Tod des Tieres zur Folge. (DieAthem- 
muskeln erhalten nämlich die Anstösse zu 
ihrer rhythmischen Thätigkeit von Seiten des 
Rückenmarkes und sie stellen ihre Funktion 
ein, sobald sie dem Einfiuss des letzteren ent¬ 
zogen sind.) So ist also diese unmittelbare 
Abhängigkeit des Lebens vom Zentralnerven¬ 
system zu verstehen, im Gegensatz zu gewissen 
veralteten Vorstellungen, welche in letzteres 
den „Sitz des Lebens“ verlegten, von wo aus 
den übrigen Teilen des Organismus ihr Leben 
zuerteilt und genommen werde. 

Es war bis jetzt vorwiegend davon die 
Rede, dass nach der Ausschaltung des Zentral¬ 
nervensystems die einzelnen Teile des Organis¬ 
mus noch für sich einige Zeit fortleben können. 
Da aber im unverletzten Körper diese einzel¬ 
nen lebendigen Teile sich durch ihre speziel¬ 
len Leistungen gegenseitig unterstützen und 
auf diese Weise die Erhaltung des ganzen 


komplizierten Organismus überhaupt ermög¬ 
lichen, so erhebt sich die Frage, ob eine der¬ 
artige Solidarität der einzelnen Teile auch 
ohne das Zentralnervensystem noch bestehen 
könne, dessen gewaltiger regulierender Ein¬ 
fluss auf die Gesamtthätigkeit aller Organe 
doch bekannt ist. 

Was das Gehirn anlangt, so ist erwiesen, 
dass z. B. Frösche und Hunde nach Einbusse 
des grössten Teils desselben noch dauernd am 
Leben zu bleiben vermögen. Bezüglich des 
Rückenmarkes wurde durch neuere Untersuch¬ 
ungen von Goltz und Ewald (Pflügers Archiv 
für die ges. Physiologie Bd. 63) festgestellt, 
dass Hunde den Verlust von fast •/» dieses 
Organs auf Jahre hinaus überleben können. 
Ein Hund, dem von der Hals-Brust-Grenze 
an der ganze nach hinten gelegene Teil des 
Rückenmarkes durch vorsichtige Operationen 
exstirpiert worden ist, lässt in dem rücken¬ 
markslosen Körperabschnitt noch alle für die 
Erhaltung des Lebens unentbehrlichen Funk¬ 
tionen in ausreichendem Maasse von Statten 
gehen. Dies gilt zunächst für die Verdauung, 
Resorption, Defäkation und Harnentleerung. 
Von der Harnblase hatte man vordem gemeint, 
dass sie ohne die Einwirkung gewisser hier 
mitentfernter Rückenmarksteile vollständig ge¬ 
lähmt sein müsse, während in Wirklichkeit 
bei entsprechender Füllung sich ihre Musku¬ 
latur auch jetzt noch zusammenzuziehen und 
den Inhalt auszupressen vermag. Ferner kann 
eine Hündin, welcher die normalerweise beim 
Geburtsakte mitwirkenden Rückenmarksteile 
fehlen, noch Junge zur Welt bringen und 
grosssäugen. Und auch jetzt noch wird, wie 
unter normalen Verhältnissen, die Brustdrüse 
durch das Saugen der Jungen zu stärkerer 
Schwellung angeregt. Endlich ist noch eine 
Erscheinung zu erwähnen, welche für das 
Leben der Hunde mit verkürztem Rücken¬ 
mark von der grössten Bedeutung ist. Es 
tritt nämlich, entgegen anderslautenden Be¬ 
hauptungen, bei denjenigen Blutgefässen, welche 
infolge der Exstirpation dem Einfluss des Zen¬ 
tralnervensystems entzogen sind, keine dauernde 
Erweiterung durch Erschlaffung ihrer \^Ande 
ein. Wäre dies anders, so würde ein^ fort¬ 
währender grosser Wärmeverlust der Tiere 
unvermeidlich sein, und dieselben müssten 
dann bei gewöhnlicher Aussentemperatur un¬ 
fehlbar erfrieren. 

Wenn somit gewisse, für die Erhaltung 
des Lebens besonders wichtige Organe nach 
Verlust der genannten Rückenmarkspartieen 
noch genügend funktionstüchtig bleiben, so gilt 
das nicht in gleichem Maasse für andere leben¬ 
dige Teile, wie z. B. die Skelettmuskeln. Diese 
können zwar noch wochenlang die Fähigkeit 
behalten, sich infolge elektrischer oder anderer 


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64 


Berdrow, Ausrüstung wissenschaftlicher Ballon-Exff.ditionen. 


Reizung zu kontrahieren, aber mit der Zeit 
büssen sie dieses Vermögen gänzlich ein, 
während gleichzeitig ihre Substanz einem voll¬ 
ständigen Schwund anheimföllt. 

Es ist zu beachten, dass aber auch die 
selbständigen Organe nur bei bester Pflege 
der betr. Tiere des Rückenmarks entraten 
können. Das kommt daher, dass unter nor¬ 
malen Verhältnissen die Funktionen der ein¬ 
zelnen Organe von Seiten des Zentralnerven¬ 
systems in vielen Fällen derart reguliert wer¬ 
den, wie es für das Gedeihen des ganzen 
Körpers am zuträglichsten ist; dass ferner 
dann, wenn eine Funktion geschädigt ist, die 
anderen den Ausfall möglichst zu decken und 
der gestörten Funktion recht günstige Er¬ 
holungsbedingungen darzubieten suchen. Fehlt 
dieser regulierende, bald anregende bald hem¬ 
mende Einfluss des Zentralnervensystems, so 
ist das Ineinandergreifen der einzelnen Funk¬ 
tionen ein weniger promptes; es wird daher 
jetzt eine Störung, die sonst durch die feine 
regulierende Thätigkeit des Zentralnerven¬ 
systems wieder hätte ausgeglichen werden 
können, zunächst die betroffene Funktion und 
von hier aus auch die anderen vernichten. 
Ein Tier mit verstümmeltem Rückenmark ist 
daher weniger widerstandsfähig, ganz abge¬ 
sehen davon, dass es des Gebrauchs seiner 
Skelettmuskeln und der Beeinflussung ver¬ 
schiedener Funktionen durch den Willen be¬ 
raubt ist. 

Die Erfahrungen, die man an rückenmarks¬ 
kranken Menschen gesammelt, weisen darauf 
hin, dass hier das richtige Ineinandergreifen 
der Funktionen der verschiedenen lebendigen 
Teile in noch höherem Maasse als beim Hunde 
an ein intaktes Zentralnervensystem gebunden 
ist. Immerhin scheint es nicht ausgeschlossen, 
dass auch Menschen mit erheblicherem Rücken¬ 
marksdefekt unter günstigen Bedingungen noch 
längere Zeit dem Leben zu erhalten sein 
dürften. 


Die Ausrüstung wissenschaftlicher Ballon- 
Expeditionen. 

Von W. Berdrow. 

In der Reihe der wissenschaftlichen For¬ 
schungsmittel findet sich der Luftballon schon 
eine geraume Zeit, ja schon länger als hun¬ 
dert Jahre, und trotzdem ist eine intensive 
und einwandsfreie Benutzung dieses Hilfs¬ 
mittels eigentlich erst seit 5—10 Jahren er¬ 
folgt. Von der Wichtigkeit, welche für die 
meteorologische und physikalische Forschung 
die Kenntnis der Vorgänge in den oberen 
Luftschichten besitzt, ist man zwar schon lange 


überzeugt, und die früheren, meist in kurzen, 
weit auseinanderliegenden Zeiträumen ange¬ 
strengter Thätigkeit gemachten Versuche wis¬ 
senschaftlicher Ballonfahrten haben alle dieses 
Ziel verfolgt, ebenso wie die seit einigen Jahr¬ 
zehnten häufiger gewordenen Wetterwarten auf 
hervorragenden Bergen oder Gebirgspunkten. 
Wenn indessen weder dieser noch jener Weg 
die erhofften Resultate ergab, so lag das einer¬ 
seits daran, dass die Berg-Wetterwarten, so 
hoch sie auch liegen mögen, ihrer Natur nach 
doch immer nur die atmosphärischen Verhält¬ 
nisse der Erdoberfläche, an welche sie ge¬ 
bunden sind, zeigen können, die früheren 
Ballonfahrten aber sehr unrichtige und wider¬ 
sprechende Ergebnisse aus den höheren Luft¬ 
schichten herunterbrachten, weil sie stets mit 
mangelhaften und für jene Höhenschichten 
ganz ungeeigneten Instrumenten arbeiteten. 
Erst neuerdings hat man sich davon überzeugt, 
dass Apparate und Untersuchungsmethoden, 
welche auf der ebenen Erde und in ruhender 
Lage vorzüglich arbeiten, keineswegs dem in 
5000 —7000 m Höhe schwebenden und stetig 
seine Lage wechselnden Ballon angemessen 
sind, und erst von diesem Zeitpunkt an und 
seit der dadurch herbeigeführten Konstruktion 
besonderer Instrumente für atmosphärische 
Messungen in bedeutenden Höhen, kann die 
Epoche der modernen und eigentlich erfolg¬ 
reichen Ballonexpeditionen für wissenschaft¬ 
liche Zwecke gerechnet werden. 

Deutschland besitzt den Ruhm, der ihm 
von keiner Seite ernstlich bestritten wird, seit 
5 Jahren die Führung auf diesem Gebiete 
übernommen zu haben. Die Fahrten des deut¬ 
schen Vereins zur Förderung der Luftschiff¬ 
fahrt, welche von 1893 —95 unternommen und 
unter dem Beistand der geschulten Aöronauten 
der Militär-Luftschiffer-Abteilung sowie unter 
Förderung des deutschen Kaisers ausgeführt 
wurden, stehen sowohl an Zahl als Erfolg 
allen sonstigen Unternehmungen dieser Art 
voran und werden ihre volle Würdigung erst 
finden, wenn die genaue Bearbeitung des 
grossen, dabei gesammelten Materials beendet 
ist. Die Fahrten der russischen Militär-Luft¬ 
schiffer-Abteilung und diejenigen des von der 
Stockholmer Akademie unterstützten schwe¬ 
dischen Forscher» Andröe stehen den deut¬ 
schen Erfolgen um so näher, als sie den 
Untersuchungs-Apparat und die Methode der 
deutschen wissenschaftlichen Aöronautik, um 
welche sich Prof. Assmann, der rührige 
Meteorologe in erster Linie verdient gemacht 
hat, bis ins einzelne adoptiert haben, sodass 
ihre Resultate am besten mit den unsrigen 
vergleichbar sind. Daneben ist man auch in 
München, in Wien, in Frankreich und Nord, 
amerika mit Erfolg zur Aufklärung der physi 


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Berdrow, Ausrüstung wissenschaftlicher Ballon-Expeditionen. 


65 


kalischen Verhältnisse in den oberen Luft¬ 
schichten thätig. 

Was nun die Ausrüstung solcher modernen 
aeronautischenExpeditionenbetrifft,so sind meist 
schon die äusseren, mechanischen Zurüstungen 
ganz andere, wie früher. Ballons von der 
Grösse des berühmten „Phönix“, der jetzt, 
nachdem der deutsche Verein die Reihe sei¬ 
ner Fahrten vorläufig abgeschlossen hat, in 
den Besitz der Militär-Abteilung übergegangen 
ist, und seines verbrannten Vorgänger», des 
„Humboldt“, wurden zur Zeit eines Robert¬ 
son und Gay Lussac, ja noch zur Zeit 
Glaishers nicht oder nur zu marktschreie¬ 
rischen Zwecken der Berufsaöronauten, denen 
die wissenschaftliche Forschung ganz ferne 
lag, gebaut, die heutigen Sicherheits-, Land- 
ungs-. Füll- und Ventil Vorrichtungen kannte 
man überhaupt noch nicht, weshalb noch 
Glaisher vor 40 Jahren bei jeder seiner Fahr¬ 
ten die Gefahr lief, alle Instrumente durch 
eine heftige Landung zu zerbrechen, ~ was 
auch oft genug passierte. Der „Phönix“, wohl 
das beste Muster eines Ballons ftlr Forschungs¬ 
zwecke, hat mit 2630 cbm Fassungsraum Trag¬ 
kraft genug, um bei Leuchtgasfüllung 3 Per¬ 
sonen und ein grosses Instrumentarium 5000 m 
hoch zu befördern. Mit Wasserstoff gefüllt, 
kann er eine Person und die nötigen Instru¬ 
mente, die etwa 50 kg wiegen, sogar 10000 m 
hoch tragen. Die Gondel, gegen harte Lan- 
dungsstösse aussen gepolstert, bietet drei Be¬ 
obachtern hinreichenden Platz und ist mit 
ihrer Besatzung, den Instrumenten, Pelzen, 
Proviant, mit Anker und Leinen, Tragring 
und Netz volle 12 Centner schwer, die Ballon¬ 
hülle ergänzt das Gewicht auf 20, der mitge¬ 
führte Sandballast auf 30 bis 35 Centner. Es 
ist also eine ganz ansehnliche Last, welche 
.der gefüllte Ballon in wenigen Minuten über 
Bergeshöhen hinausträgt, und welchem nur 
der Auftrieb der in der feinen Hülle gefessel¬ 
ten Gase das Gleichgewicht hält. Alle Ge¬ 
fahren einer Luftfahrt, die übrigens fast immer 
erst bei der Landung beginnen, müssen na¬ 
türlich bei wissenschaftlichen Ballonfahrten, 
wo Instrumente von grossem Werte und die 
ganzen Aufzeichnungen der Registrierapparate 
auf dem Spiele stehen, noch ängstlicher ver¬ 
mieden werden als sonst. Deshalb sind die 
Ventile, besonders das Landungsventil des 
„Phönix", von besonders zuverlässiger Kon¬ 
struktion und präziser Arbeit, um den Ballon 
im Momente des Aufstossens auf die Erde 
möglichst rasch entleeren zu können, da sonst 
der Wind die grosse Leinwandmasse in höchst 
gefahrvolle Treibjagden über den Boden hin¬ 
weg treiben kann. Eine neue Vorkehrung er¬ 
möglicht es sogar, in besonders verzweifelten 
Fällen die Hülle im Augenblick der Landung 


von oben bis unten aufzureissen, sodass der 
Gasinhalt in wenigen Sekunden entweicht. 
Auch Anker, Seile u. dgl. sind mit grosser 
Sorgfalt, mit Einschaltung elastischer Glieder 
zur Vermeidung heftiger Stösse und mit dem 
thatsächlichen Erfolg einer fast immer sanften 
Landung ausgeführt worden. Freilich mussten 
bevor alle diese Verbesserungen ersonnen 
waren, auch die Leiter der deutschen Luft¬ 
fahrten Lehrgeld zahlen, und ohne einige 
harte Landungen, schwere Gefahren, ein paar 
bedeutende Verletzungen und selbst den Ver¬ 
lust des ersten grossen Vereinsballons ging 
es nicht ab. 

Wichtiger indessen als diese mechanischen 
Hilfsmittel der Fahrt selbst ist ihre wissen¬ 
schaftliche Ausrüstung, der wir nunmehr den 
Rest unserer Arbeit widmen, und die an Neu¬ 
heit, Originalität und Verbesserungen gegen¬ 
über den früher gebräuchlichen Apparaten der 
technischen Ballonausrüstung nichts nachgiebt. 
Die Aufgaben der meteorologischen Luftschiff¬ 
fahrt sind allerdings keineswegs sehr ver¬ 
zweigt: die Feststellung der Temperatur, der 
genauen Höhe in jedem Zeitpunkt und etwa 
noch des Feuchtigkeitsgehaltes der Luft sind 
die hauptsächlichsten Daten der atmosphärischen 
Verhältnisse, die sich durch Instrumente er¬ 
langen lassen, während man früher durch eine 
Reihe von, für die Meteorologie ziemlich un¬ 
wichtigen Experimenten im Ballon sich un¬ 
nötigerweise das Leben sauer machte. Die 
Windrichtung, Bewölkung und die zahlreichen 
optischen Phänomene, an denen die oberen 
Luftschichten so reich sind, fallen daneben 
der persönlichen Aufmerksamkeit des Beob¬ 
achters anheim. Aber merkwürdig, — gerade 
von den zuerst erwähnten einfachsten Elemen¬ 
ten des oberen Luftzustandes haben alle frühe¬ 
ren Hochfahrten fast immer falsche Resultate 
ergeben. Besonders die älteren Temperatur¬ 
messungen haben, wenigstens bei unbedecktem 
Himmel, fast nie die Wärme der durchfahre¬ 
nen Luftschichten angegeben, sondern stets 
die Temperatur der von den Sonnenstrahlen, 
je höher je stärker, erwärmten Gondel. Erst 
das Assmann’sche Aspirationsthermometer hat 
diesen falschen Beobachtungen ein Ende ge¬ 
macht und bildet nun einen der wichtigsten 
Bestandteile der modernen Ballonausrüstung. 
Um jede Einwirkung der in den höheren Luft¬ 
schichten rasch an Intensität zunehmenden 
Sonnenstrahlen fernzuhalten, sind die Thermo¬ 
meterkugeln in vernickelte und hochpolierte 
Hülsen eingeschlossen, da aber auch schon 
die vollkommene Windstille, die stets um je¬ 
den freischwebenden Ballon herrscht, im Ge¬ 
gensatz zur Luftbewegung an allen festen 
Punkten, hinreicht, um die Temperatur des 
Thermometers erheblich steigen zu lassen, so 


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Berdrow, Ausrüstung wissenschaftlicher Ballon-Expeditionen. 


wird an den Aspirationsthermometern bestän¬ 
dig ein gelinder Luftstrom durch ein Uhrwerk 
vorbeigetrieben. Endlich mussten aber die 
Thermometer überhaupt aus dem Korbe, dessen 
Temperatur stets höher als die der Umgebung 
ist, entfernt werden. Sie hängen deshalb an 
einem leichten Holzkrahn etwa 2 m vom Korbe 
entfernt und werden durch ein Fernglas ab¬ 
gelesen, soweit sie nicht die jeweilige Tempe¬ 
ratur selbstthätig aufschreiben. Letztere Appa¬ 
rate, die sog. Thermographen, hat man sogar 
schon an langen Seilen, 500 m unter dem 
Ballon aufgehängt, um sie noch besser von 
den Wärmeeinflüssen des letzteren zu isolieren. 
Mittels besonderer Thermometer, welche in 
eine luftleere, berusste Glaskugel eingefügt 
sind, wird endlich die je nach der Höhe sehr 
veränderliche Intensität der Sonnenbestrahlung 
gemessen. Erst nach Anwendung dieser Vor- 
sichlsmassregeln gelang es, der wahren Tem¬ 
peratur der durchfahrenen Luftschichten näher 
zu kommen, als durch die früheren falschen 
Messungen geschehen war. Kältegrade, welche 
die von Glaisher und seinen Vorgängern be¬ 
obachteten um 20 — 30'’ überstiegen, wurden 
gemessen, und nach den Ergebnissen mehrerer 
Fahrten, vor allem auch nach den Aufzeich¬ 
nungen der später zu erwähnenden Registrier¬ 
ballons festgestellt, dass die Atmosphäre in 
den höchsten Schichten eine Tag und Nacht, 
Sommer und Winter gleichbleibende Tempe¬ 
ratur besitzt. Schon bei 7000 m Höhe beträgt 
dieselbe 35®, bei 9000 m 47®, bei 16000 m 
53®, bei 18500 m endlich mindestens 640 C 
unter Null. 

Neben den Temperaturbestimmungen sind 
für den wissenschaftlichen Beobachter im Bal¬ 
lon die barometrischen Ablesungen von der 
grössten Wichtigkeit, da nur sie ihm ein 
Mittel geben, zu berechnen, wie hoch er sich 
in jedem Augenblick befindet. Die Höhebe¬ 
stimmungen der früheren Luftreisen sind nur, 
wie nachträglich festgestellt werden konnte, 
insgesamt ungenau, da sie stets am Aneroid¬ 
barometer gemacht wurden, und letzteres nur 
bei langsamer Bewegung des Ballons, sowie 
bei Höhen bis zu 2000m leidlich richtige Ab¬ 
lesungen gestattet. Darüber hinaus giebt das 
MetallbaTometer so unrichtige, bei schnellem 
Steigen viel zu hohe, beim raschen Fall viel 
zu niedrige Werte, dass die Angaben von 
Reisen bis zu 10000, ja iiooom Höhe, die 
Glaisher und Andere gemacht haben, ganz 
und gar unzuverlässig sind. Aus diesem Grunde 
gehört jetzt das Quecksilberbarometcr trotz 
seiner zerbrechlichen und unbequemen Gestalt 
zu den unentbehrlichen Requisiten der Gon¬ 
del, und auf das, oft ^selbst registrierende 
Aneroidbarometer verlässt man sich nur noch 
innerhalb der ersten 2000 m Höhe. Da ausser¬ 


dem die Bestimmungen des Quecksilberbaro¬ 
meters nach jeder Fahrt auf die jeweilige 
Temperatur und den in der Ebene herrschen¬ 
den Luftdruck durch Rechnung reduziert wer¬ 
den, so sind die heutigen Höhenbestimmungen 
als genau innerhalb einer Fehlergrenze von 
10 m zu betrachten, also für die Zwecke der 
Meteorologie mehr als hinreichend. 

Thermometer, Barometer, selbstregistrierende 
Feuchtigkeitsmesser sind für die meteorologische 
Beobafchtung die ersten und ziemlich einzigen 
Apparate, welche der Ballonkorb an seinen 
Tragseilen aufgehängt, beherbergt. Die photo¬ 
graphische Camera ist ein gern gesehenes 
Instrument, dessen Mitnahme die Fixierung 
einzelner Bodenpartien, der Wolken, interes¬ 
santer optischer Phänomene u. dgl. gestattet. 
Daneben dürfen nicht fehlen das untrügliche 
Chronometer und die bei den stetigen Dreh¬ 
ungen des Ballons sehr oft trügliche Magnet¬ 
nadel. Fernrohr und Krimmstecher sind un¬ 
erlässlich zur Fixierung der Route, die der 
Ballon eingeschlagen hat, und zu demselben 
Zwecke ist ein umfangreiches Kartenmaterial 
nicht zu entbehren. Der zurOckgelegte Weg 
wird nämlich mit genauen und häufigen Zeit¬ 
angaben während der Fahrt in die General¬ 
stabskarte eingezeichnet, da so allein die 
Schnelligkeit und Richtung der Winde, welche 
den Ballon getragen haben, nachträglich fest¬ 
gestellt werden kann. So interessant dies Ver¬ 
folgen der Reise auf der Karte ist, so schwierig 
ist es freilich auch, denn die Gegend sieht 
sich aus einer Vogelschau von einigen tau¬ 
send Metern denn doch anders an als von 
hohen Türmen oder im Gebirge. Die hoch¬ 
ragenden Gegenstände, Berge, TKürme u. dgl. 
schrumpfen zusammen zu Hütten und flachen 
Hügeln, und auch Wälder, Flüsse oder Städte 
zeigen ein ungewohntes, fremdartiges Aus¬ 
sehen. Haben vollends Wolken die Erde zeit¬ 
weilig verhüllt, so ist es doppelt schwer, sich 
an der Hand von Eisenbahnlinien, von Ge¬ 
wässern, Gebirgen oder Städten rasch wieder 
zu orientieren, da schon ein geübtes Auge 
dazu gehört, alle diese Gegenstände aus kilo¬ 
meterweiter Höhe nur richtig zu unterscheiden 
und zu enträtseln. 

Ist so für die Erfordernisse der Wissen¬ 
schaft gesorgt, so dürfen andererseits diejenigen 
der leiblichen Wohlfahrt nicht vernachlässigt 
werden. Der Kälte, die in hohen Regionen 
leicht 40 — 600 unter die Temperatur der Ab¬ 
fahrt sinken kann, muss durch Pelze begegnet 
werden. An Proviant darf es nicht mangeln, 
und zwar muss er bei jeder einzelnen Fahrt 
in Hülle und Fülle mitgenommen werden, da 
man vorher nicht wissen kann, wie weit die 
Reise geht, und ob man 4 oder 20 Stunden 
unterwegs sein wird. Endlich erfordert die 


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Der Erdmagnetismus zur Zeit der Etrusker. 


67 


Sicherheit bei jeder Expedition, die sich in 
Höhen von mehr als 6000 oder 7000 m er¬ 
strecken soll, unbedingt die Mitnahme des 
Sauerstoffapparates, der den Luftschiffern in 
den höchsten Regionen, wo das Barometer 
300 mm oder weniger zeigt, den mangelnden 
Sauerstoff der Atmosphäre ersetzen muss. 
Ein in einer Ecke des Korbes festgebundener 
Sauerstoffzylinder von 1000 Liter Inhalt und 
100 At. Druck, ein Reduktionsventil, welches 
das Gas stets auf die Dünne der umgebenden 
Atmosphäre reduziert, und ein Gummischlauch, 
dessen Mundstück der Insasse, Über 7000 m 
hinausgelangt, kaum von den Lippen lassen 
darf, — das ist der ganze Apparat. Nun er¬ 
übrigt noch ein prüfender Blick auf Ballon 
und Gondel, eine letzte genaue Inspizierung 
aller Hilfsmittel der Fahrt vom Ventil bis zum 
Anker. Die Sandsäcke ipit dem Ballast müssen 
teils rings um den Korb aufgehängt, teils am 
Boden' aufgestapelt sein, und man gebraucht 
ihrer um so mehr, je höher sich die Fahrt 
erstrecken soll. Denn nicht nur beim Hinauf¬ 
fahren ist die Leerung der Ballastsäcke von¬ 
nöten, sondern noch mehr im Verlauf des 
Sinkens, um den langsam beginnenden und 
dann immer mehr sich beschleunigenden Fall 
nicht in einen unaufhaltsamen Sturz ausarten 
zu lassen. Ist aber soweit alles geordnet, so 
mag der Ballon „die Anker lichten“, und seine 
lufterprobten Insassen mögen sicher sein, dass 
sie die Erde, so rasch sie auch unter ihnen 
versinkt, wohlbehalten wieder betreten werden. 

Etwas anders als die vorbeschriebene, ist 
die Einrichtung eines Ballons, der ohne mensch¬ 
liche Besatzung in Höhen eindringen soll, die 
unser Wärme- und Atmungsbedürfnis uns auf 
immer verschliesst, und der doch aus diesen 
Luftschichten genaue und reichhaltige Anga¬ 
ben über Temperatur und Luftdruck herab¬ 
tragen soll. Erst vor 2 — 3 Jahren gelang es, 
aller Schwierigkeiten diesesUnternehmens Herr 
zu werden und, besonders durch den 250 cbm 
grossen Registrierballon „Cirrus“, einige Kunde 
aus Luftregionen zu erhalten, in denen die 
Kälte jede Art von Registrierung ausser der 
photographischen, verbietet. Diese selbstthätig 
arbeitenden Ballons haben anstatt der Gondel 
nur einen festen Weidenkorb, der eben gross 
genug ist, die wenigen Apparate, ein zuver¬ 
lässiges Thermometer und Barometer nebst 
einer vorzüglichen Camera, welche die Be¬ 
wegungen beider fortlaufend aufzeichnet, zu 
beherbergen und beim Niedersturz vor der 
Zertrümmerung zu bewahren. Ein Anker, der 
beim Fall das Zerreissen der Ballonhülle ver¬ 
ursacht und damit den Apparat auch bei hef¬ 
tigem Winde alsbald zur Ruhe bringt, und 
endlich in mehreren Sprachen die Zusicherung 
eines Finderlohns von 50 Mk. für denjenigen. 


der Hülle und Korb an den abholenden Be¬ 
amten unbeschädigt abliefert, das ist die ganze 
Ausrüstung des deutschen Registrierballons 
„Cirrus“. Und sie hat in der That genügt, 
uns aus Höhen bis 18 km wertvolle Kunde 
zuzutragen. 

Einige Worte wären endlich noch zu sagen 
über eine Ballonausrüstung zu einem Unter¬ 
nehmen, das vorläufig noch ohne Beispiel ist, 
aber, falls der erste, nunmehr im nächsten 
Sommer zu erwartende Versuch gelingt, wohl 
bald die Unternehmungslust Anderer zum Nach¬ 
eifern erwecken wird. Wir sprechen von 
Andröe’s Nordpolexpedition im Luftballon. 
Noch hat der Ballon für geographische Forsch¬ 
ungsreisen keine Verwendung gefunden, der 
erste Versuch wird wesentlich darüber ent¬ 
scheiden, ob er sie in Zukunft finden kann. 
Dann würde natürlich die bisherige Ausrüst¬ 
ung einer ganz neuen Platz machen müssen, 
wie es mit Andröe’s Polarballon schon that- 
sächlich der Fall ist. Indessen bewegen sich 
diese Änderungen mehr auf dem Gebiete der 
persönlichen Sicherheit und Wohlfahrt, als der 
Forschungsinstrumente. Die offene Gondel 
macht einem grossen geschlossenen Korbe 
Platz, dessen Plattform beständig zwei der 
teilnehmenden Beobachter aufnimmt, während 
das Innere neben seiner Bestimmung als Pro¬ 
viantraum dem dritten Insassen als Schlaf¬ 
kammer dient. Auch gehört unter die not¬ 
wendigen Requisiten ein Boot und ein Schlit¬ 
ten für den Fall des unfreiwilligen Landens 
oder Strandens. Eigentümliche Verbindungen 
von kleinen Segel- oder Steuerflächen und 
langen, an der Erde schleppenden Leinen oder 
Gurten sollen endlich dem Ballon einen ge¬ 
wissen Grad der Lenkbarkeit geben. Eine 
feststehende, praktisch erfundene Gesamtaus- 
rüstiing, wie sie der meteorologische Forsch¬ 
ungsballon besitzt, wird sich allerdings auch 
für das geographische Luftschiff, falls es Mode 
werden sollte, wohl erst im Laufe der Jahre 
ausbilden. 


Der Erdmagnetismus zur Zeit der Etrusker. 

Die Erde verhält sich bekanntlich wie ein 
Magnet, dessen einer Pol in der Nähe des 
geographischen Nordpols, der andere nicht 
weit vom Südpol liegt; darauf beruht 
das Prinzip des Kompass und damit ist 
zugleich auf die hohe praktische Bedeutung 
des Erdmagnetismus hingewiesen. — Die 
Magnetnadel des Kompass dreht sich in der 
Horizontalebene) hängt man eine Magnetnadel 
so auf, dass sie sich in der verticalen drehen 
kann und zwar so, dass ihre Drehungsebene 
nach dem magnetischen Nordpol weist, so 


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68 


Der Erdmagnetismus zur Zeit der Etrusker. 


wird sie sich in unsern Breiten stark neigen {67") 
und zwar das nordgerichtete Ende nach unten. 
Man nennt diese Neigung— Richt¬ 
ung und Stärke des Erdmagnetismus sind 
Schwankungen unterworfen. Teils sind dies 
täglich sich wiederholende, teils ganz unre¬ 
gelmässige, die mit Erdbeben, vulkanischen 
Ausbrüchen besonders auch mit Nordlichter¬ 
scheinungen in innigem Zusammenhang stehen. 
Ferner sind säkulare Variationen beobachtet, 
regelmässige Änderungen, die in langen Zeit¬ 
räumen vor sich gehen. Nur für die regel¬ 
mässigen täglichen Schwankungen lässt sich 
ein ursächlicher Zusammenhang mit dem 
Gang der Sonne annehmen. Bezüglich aller 
anderen Schwankungen tappt man noch voll¬ 
ständig im Dunkeln. Man sammelt Beobacht¬ 
ungsmaterial über Beobachtungsmaterial, aber 
es harrt noch dessen, der ein allgemein gül¬ 
tiges Naturgesetz findet, dem sich die Einzel¬ 
beobachtungen unterordnen. Ist dies einmal 
gefunden, so wird es wohl möglich sein viele 
besonders meteorologische Erscheinungen lange 
vorauszusagen. Von welchem Einfluss die 
säkularen Variationen des Erdmagnetismus, 
also jene merkwürdige Verschiebung der erd¬ 
magnetischen Pole indirekt auf Klima, vulka¬ 
nische Erscheinungen etc. ist, lässt sich zu¬ 
nächst gar nicht übersehen. 

Unsere Beobachtungsperiode für solch 
langsame Änderungen ist auch noch zu kurz, 
als dass man aus ihr Schlüsse ziehen könnte. 
— Die ersten Messungen der Inclination wur¬ 
den in London 1576 und 1600 gemacht und 
der Vergleich mit den späteren Messungen 
crgiebt in den 2*/4 Jahrhunderten eine Ab¬ 
nahme von 75® auf 65^5’; ähnliches fand man 
an anderen Orten. 

Folgheraiter*) kam nun auf eine höchst 
originelle und geniale Methode zur Berech¬ 
nung der magnetischen Richtung und Inten¬ 
sität/ör alle Zeiten in denen der Mensch nur 
die Uranfänge der Kultur hinter sich hatte. 

Zum Verständnis derselben sei aber noch 
weniges vorausgeschickt: Wenn man eine 
Eisenstange in die Inclinationsrichtung hält, 
wird sie durch den Einfluss des Erdmagne¬ 
tismus magnetisch, besonders wenn man sie 
hämmert, bei senkrecht stehenden, verrosteten 
Eisenstäben kann man ebenfalls fast immer 
Magnetismus nachweisen. Auch Thongegen¬ 
stände, Ziegelsteine, Gefässe etc., die ja im¬ 
mer eisenhaltig sind, werden beim Brennen 
nach der Richtung des Erdmagnetismus mag¬ 
netisiert und behalten diesen Magnetismus nach 
dem Erkalten bei. — Folgheraiter unter¬ 
suchte die Magnetisierung etruskischer Thon- 


*) Rendiconti della R. Accademia dei Lincei 1896 
Ser. 5, Vol. V (2) p. 66—293. 


gefässe aus dem 7. und 8 . Jahrhundert v. Chr. 
und war in der Lage daraus mit erheblicher 
Genauigkeit die Inclination zur damaligen Zeit 
zu bestimmen. Als Resultat ergibt sich, ' dass 
um das 8 . Jahrhundert v. Chr. die magne¬ 
tische Inclination im mittleren Italien ziemlich 
klein war*) und die magnetischen Pole umge¬ 
kehrt gegen heute lagen (d. h. der Südpol nach 
Norden und umgekehrt), dass die Inclination 
vielleicht einige hundert Jahre später sich um 
den IVert O drehte. 

Durch Italien ging also damals der mag¬ 
netische Äquator. Es ist höchst interessant 
zu verfolgen, welche Schwierigkeiten Fol¬ 
gheraiter bei seiner Arbeit zu überwinden 
hatte. 

Zunächst musste er sich fragen, ob nicht 
seine Thongefässe in der langen Zeit eine 
andere Magnetisierung erfahren konnten. Dies 
erwies sich als unbedenklich, denn die Zie¬ 
gelsteine von den Bauten aus den Zeiten der 
römischen Republik und des Kaiserreichs, 
die bis heute in der gleichen Lage geblieben 
sind, zeigten die verschiedensten magnetischen 
Orientierungen. Ebenso zeigten Gefässe aus 
etruskischen Gräbern des 8. Jahrh. v. Chr., 
deren Stellung im Grab genau aufgezeichnet 
worden war, Magnetismus an ganz ungleich 
gerichteten Stellen. 

Um festzustellen mit welcher Genauigkeit 
sich die Inclination aus den alten Thonge- 
fässen bestimmen lasse, stellte sich Folghe¬ 
raiter eine grosse Zahl von Thonobjekten her 
von verschiedenster Form und Grösse, brannte 
sie und machte daran seine Versuche aus 
denen sich zeigte, dass bei Anwendung ge¬ 
wisser Korrekturen und bei Berücksichtigung 
mancher Anomalien, sich die magnetische Axe 
ganz gut nachweisen lasse. 

Weiter musste berücksichtigt werden, welche 
Lage die Objekte seiner Zeit beim Brennen 
im Ofen eingenommen hatten. Es wurden 
also zuächst solche Gegenstände gewählt, die 
■ sicherlich vertikal gestanden hatten, wie z. B. 
die weitgebauchten Weinkrüge (Oinochoai), 
mit ihrem langen Hals und Henkel, die gros¬ 
sen, weiten Thoneimer, Ascheurnen und 
Untersätze von Trinkschalen; letztere Gefässe 
können ebensowohl mit der Mündung, wie 
der Basis nach unten gestanden haben. — 
Kleinere Gegenstände wurden nicht berück¬ 
sichtigt, da sie zum Ausfallen von Lücken 
gedient haben können, also ihre Lage beim 
Brennen ungewiss ist. 

Herrn Folgheraiters Untersuchungen 
erstreckten sich auf Gefässe aus der Villa 


') Die gefundenen Werte ftlr die Neigung der 
magnetischen Axe liegen zwischen 25037* und 2*29* 


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Deutsche Auswanderung nach dem spanischen Amerika. 


69 


Giulia in Rom und von Senator Faina in 
Orvieto. 

Sobald einmal der von Folgheraiter 
eingeschlagene Weg besser bekannt sein wird, 
dürfte die neue Untersuchungsmethode von 
unermesslichem IVert auch jiir den Archäo¬ 
logen werden. Sie wird ein Prüfungsmittel 
für Alter und Abstammung einer grossen 
Zahl von Fundobjekten geben. — Schon 
Folgheraiter hegt auf Grund seiner Unter¬ 
suchungen Zweifel, ob eine Anzahl Objekte, 
die von den Archäologen der gleichen Epoche 
zugeschrieben, auch wirklich gleichaltrig sind. 

B. 


Deutsche Auswanderung nach dem spanischen 
Amerika. 

Da die Vereinigten Staaten seit einigen Jahren 
bestrebt sind, die Einwanderung zu erschwe¬ 
ren, auch die Industrie und Landwirtschaft in der 
Union eine anhaltende und schwierige Krisis durch¬ 
machten, wissen unsere deutschen Landsleute, die 
entschlossen sind, auszuwandern, nicht, wohin sie 
ihre Schritte lenken sollen und fallen deshalb leicht 
gewissenlosen Agenten und Spekulanten in die Hände, 
die sich auf Kosten der Ausw’anderer, deren ferneres 
Schicksal ihnen sehr gleichgültig ist, bereichern 
wollen. 

Im spanischen Amerika kommen die gebildeten, 
regierenden Klassen, die zum Glücke meist frei von 
Fremdenhass sind, nach und nach zu der Erkennt¬ 
nis, dass die erste Pflicht einer guten Regierung 
darin bestehen muss, jene fruchtbaren, schönen, 
dünn bevölkerten Länder zu kolonisieren, zu be¬ 
siedeln, d. h. mit arbeitsfähigen, ehrenhaften Men¬ 
schen der weissen Rasse zu besetzen. Es werden 
also in den verschiedensten Ländern von Süd- und 
Mittel-Amerika Anstrengungen gemacht, einen Teil 
der europäischen Auswanderung an sich zu locken. 
Da man bei verschiedenen Kolonisationsversuchen 
erkannt hat, dass die Deutschen die besten Kolo¬ 
nisten sind, ist man besonders auf die Gewinnung 
deutscher Einwanderer bedacht. 

Alle diese Versuche sind aber leider bisher ver¬ 
gebens gewesen. Nur die italienische Auswanderung 
geht fast ausschliesslich nach den La Plata-Staaten, 
und haben die Italiener zuerst erkannt, dass sie 
nirgends besser prosperieren können als in Argen¬ 
tinien. Die erste, schwere Arbeit haben auch hier 
Deutsche gethan, sie haben den Weizenbau (z. T. 
durch Rosas’ dazu gezwungen) erst in grösserem 
Umfange in Argentinien eingeföhrt, mit Schweizern 
zusammen die ersten Kolonien in Santa F6 be¬ 
gründet und dadurch Argentinien zu einem acker¬ 
bautreibenden Lande ersten Ranges gemacht, die 
allgemeine Kultur des Landes, welches bis Mitte 
der fünfziger Jahre ausschliesslich von der Vieh¬ 
zucht lebte, bedeutend gehoben, es zu einer Korn¬ 
kammer ersten Ranges gemacht. Diese Entwicke¬ 
lung ist erst im Beginne, denn bisher ist nur der 
zwanzigste Teil des anbaufähigen Bodens wirklich 
unter Kultur genommen.*) Unsere Ackerbauer, Tage- 

• S. die Berichte de» Dr. Kaergcr in „Mittign. d. Deutsch. 


löhner und Handwerker, die etwas von der Land¬ 
wirtschaft verstehen und entschlossen sind auszu¬ 
wandern, können sich keine bessere zweite Heimat 
suchen, als Argentinien. Wie es scheint, hat jenes 
Land die lange Kinderkrankheit der amerikanischen 
Republiken, die Periode der ewigen Bürgerkriege 
und grossen Revolutionen, jetzt endlich durchge¬ 
macht und befestigt sich die innere Ruhe und da¬ 
mit die Sicherheit für Person und Eigentum immer 
mehr. Argentinien beginnt bereits seit etwa 6 Jahren 
sich zum Industriestaate auszubilden und findet eine 
kleine Zahl von Handwerkern und Fabrikarbeitern 
in den grossen Städten leicht alle Monat Arbeit. 
Industriellen aller Art, die einiges Kapital besitzen, 
ist gleichfalls zu raten, sich dort oder in Uruguay 
oder Chile zu etablieren. Besonders Chile, das nur 
als Industriestaat gedeihen kann, da die Preise für 
Kupfer und Silber andauernd niedrige bleiben, ist 
bestrebt, durch hohe Zölle, Privilegien und Fach¬ 
schulen die noch sehr unbedeutende Industrie zu 
heben. Chile besitzt Rohmaterialien aller Art, sehr 
grosse Wälder und leidliche Steinkohlen — die in 
Argentinien fehlen — und könnte schon heut einen 
grossen Teil seiner aus Europa bezogenen Industrie- 
Artikel selbst anfertigen, wenn die reichen Chilenen 
es nicht vorzögen, ihr Geld in den Banken zu de¬ 
ponieren, wo sie ohne Mühe und Risiko bisher hohe 
Zinsen und fette Dividenden erhalten haben, weil 
die Regierung eine ganz falsche Finanzpolitik be¬ 
folgte, die Banken in jeder Beziehung unterstützte. 
Diese Banken haben den Fiskus und die ärmere 
Masse des Volkes schwer geschädigt und üben 
einen unheilvollen Einfluss auf die regierenden Kreise 
des Landes aus. — Vor der Auswanderung nach 
den neuen Kolonien (seit Ende 1895) Chile ist 
dringend zu warnen, *) weil es daselbst an Sicher¬ 
heit rtlr Person und Eigentum und an einer guten 
Justiz, welche die Einwanderer gegen den Fremden¬ 
hass der unteren Klassen schützt, fehlt. 

Bei dem mir kurz zugemessenen Raum kann 
ich auf die Vorteile und Mängel der einzelnen Län¬ 
der von Mittel- und Süd-Amerika für deutsche Aus¬ 
wanderer hier nicht näher eingehen. Ich kann nur 
einzelne wichtige Momente hervorheben und auf 
die gute Litteratur über die bisherigen Kolonisations¬ 
versuche verweisen. 

Mexiko hat vor etwa 15 Jahren die Reihe sei¬ 
ner ewigen Revolutionen zum Abschlüsse gebracht 
und zwar hoffentlich für immer. Unter der weisen, 
ehrenhaften und energischen Regierung des Porfirio 
Diaz hat das Land seit jener Zeit gewaltige Fort¬ 
schritte gemacht und nimmt es in finanzieller Bc- 
vziehung die erste Stelle unter den Staaten des 
spanischen Amerika ein. Noch können weite Strecken 
mit Kaffee, Tabak und Weizen bebaut werden. Den 
Kaffee- und Tabakbau mögen aber nur Kapitalisten 
in Angriff nehmen, welche die Plantagen nur be¬ 
aufsichtigen, obgleich auch Europäer in den Kaffee¬ 
plantagen, die sämtlich 1500 bis 3000 Fuss über 
dem Meerespiegel gelegen sind, arbeiten können. 
Das für diese Kulturen geeignete Land ist aber 
bereits ganz im Privatbesitze. 

Landwirtsch.-Gesellsch. 1896 v. Stock ii au und das allerdings 
optimistische Buch von Alois E. Flics». La produccion agricola 
y gatiadera de la Kepublica Argcntina en cl ano 1891. - Huenus 
Aires, La Nacion. 189a. 

*1 S. m. Aufs, in „Dtsch. Geograph. Blatter* (Bremen), 1896 
Bd. XIX, Heft 3. 


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70 


Deutsche Auswanderung nach dem spanischen Amerika. 


Von MitteUAmerika kommen fllr deutsche Aus¬ 
wanderung nur die Teile der Hochebenen von 
Guatemala und Costa-Rica in Betracht, die durch 
die Eisenbahnen mit den Häfen und den Haupt¬ 
städten des Landes verbunden sind. In Guatemala 
nähert sich die grosse Bahn von der Hauptstadt 
nach dem Hafen von Puerto Barrios am Golfe von 
Honduras der Vollendung. *) Ehe wir aber zur 
Auswanderung nach Guatemala und Costa-Rica 
raten können, müssen wir genau wissen, wo die 
Regierung die Kolonisten ansiedeln will und welche 
Bedingungen sie bietet. Betraut sie Private, d. h. 
Spekulationsgesellschaften mit der Besiedelung gros¬ 
ser Parzellen, agitieren die Agenten solcher Gesell¬ 
schaften für die Auswanderung nach ihrem Besitz, 
so ist doppelte Vorsicht geboten. - Bei fast allen 
früheren Kolonisationsversuchen in Mittel-Amerika 
waren Deutsche beteiligt. So bei der belgisch¬ 
deutschen Kolonie Santo Tornas in Guatemala von 
1841—1852,**) an der Mosquitoküste in Honduras 
und Nicaragua ***) und in den Urwäldern des öst¬ 
lichen Tieflandes von Costa-Rica bei Angostura. t) 
Die Gründe, weshalb diese Kolonisationsvcrsuche 
scheiterten, scheitern mussten, sind an den zitirten 
Stellen angegeben. Das Gebiet der Mosquitoküste 
ist ganz besonders ungeeignet für deutsche Aus¬ 
wanderer, weil daselbst Häfen, Verkehrswege, Ar¬ 
beitskräfte fehlen, der Kolonist weder Arzt, noch 
Schule, noch Kirche, noch Richter oder Polizei findet, 
die jammerhaften, schwachen, von ewigen Revo¬ 
lutionen heimgesuchten Regierungen von Honduras 
und Nicaragua nichts für die Kolonien thun können, 
Sicherheit für Person und Eigentum fehlt, das Klima 
einem Deutschen die Arbeit als Ackerbauer unmög¬ 
lich macht etc. Die Regierungen schenken jedem 
Spekulanten, der sich verpflichtet, europäische Ein¬ 
wanderer zu besorgen und durch diese Wege an- 
legen zu lassen, gern in Mosquito grosse Terrains, 
die Niemand kaufen will, und die nur in der Nähe 
schiffbarer Flüsse einen Wert haben. Dringend zu 
warnen ist vor dem offiziellen, überaus optimistischen, 
ganz unwissenschaftlichen Berichte, der vor 50 Jah¬ 
ren von einer deutschen Spezial-Kommission er¬ 
stattet wurde, tt) und der schon vieljUnglück ange¬ 
richtet hat. Bananenbau kann hier in der Nälie ^er 
noch zu schaffenden Häfen nur von kapitalkräftigen 
Plantagen-Gesellschaften betrieben werden. Ich hebe 
diese Thatsachen hervor, da leider schon wieder 
der Versuch gemacht wird, vermögende deutsche 
Bauern nach Mosquitia zu locken ftt) und die Dum¬ 
men leidqr nicht „alle“ werden. — Etwas besser 
war es in der Kolonie Karlstadt §) im südlichen 

*1 Die besten Daten Aber die Bcsehaflciihcit des Landes 
finden sich in Karl Sapper, Gnindzüge der physikal. Geo¬ 
graphie von Guatemala. Gotha, Just. Perthes. 1B94. Ergän*.-Hefl 
113 zu Petcnii. Mittheilungeu. 

**) S. Alex. V. Bulow; Auswanderung und Kolonisation 
im Interesse des deutschen Handels. Berlin 1849. S. 318 fr. 

*’*) S. A. V. B hl ow l. c. S. S. 3458". u. A. Z i m III c r m a n n, 
Kulunialgcschichtl. Studien. Oldenburg u. Leipxig, 1895, 5.3578*. 

t) S. meine Aufsatze in „Das Ausland“, 1883: Ein preus- 
sischcr Kolonisationsversuch in Costa-Rica" und „Deutsche Flot- 
tonstalion in Costa-Rica". 

t+l Bericht Aber die im höchsten Aufträge Sr. Kgl. Hob. des 
Prinzen K.-irl von Preussen bewirkte Untersuchung einiger Teile 
des Mosquitolandes. Berlin, AI. Duncker, 1845. 

tt+l S. die gerade wegen ihrer Seichtheit für ungebildete 
Leser gefthrtiche Broschüre von R. Krämer: Mosquito und 
die Kolonie Ncu-Dortmuud. Dortmund 1896. 

§) S. Zimmermann u. A. v. BAlow I. c. S. 3458*. 


Mosquitia, bei Blufields, bestellt. Hätte damals eine 
gutgeleitete, ehrenhafte und kapitalkräftige Gesell¬ 
schaft brauchbare Kolonisten etwa zehn Jahre lang 
nach Blufields schicken können, so wäre dort unter 
englischem Protektorate (der „König“ war stets 
eine Null, der wahre Regent der englische Konsul) 
sehr wahrscheinlich eine blühende Kolonie von 
Deutschen entstanden. Seit Ende 1894 ist übrigens 
dieses Protektorat aufgehoben und bildet der süd¬ 
liche Teil von Mosquitia ein Departement von Ni¬ 
caragua. Wegen der ewigen Revolutionen verarmen 
Nicaragua und Honduras trotz ihrer Fruchtbarkeit 
und ihrer reichen Minen immer mehr und mehr. 
Ehe nicht eine eiserne Faust in jenen Ländern 
Ordnung schafft, ist vor der Auswanderung nach 
Salvador, Honduras und Nicaragua unbedingt zu 
warnen. 

Kolumbien, Ecuador, Peru und Bolivia sind aus 
den verschiedensten Gründen für deutsche Aus¬ 
wanderer — ausgenommen wenige tüchtige, unter¬ 
nehmende und erfahrene Handwerker und Indu¬ 
strielle mit einigem Vermögen — nicht zu empfehlen, 
vor jeder Kolonisation durch Regierungen oder Ge¬ 
sellschaften in jenen Ländern ist 'zu warnen. Das 
Gleiche gilt für die Guayanas und das ganze nörd¬ 
liche oder mittlere Brasilien. Hier überall ist das 
Klima und der Mangel an Verkehrswegen das 
Haupthindernis für das Gedeihen deutscher Ein¬ 
wanderer. Uber die heutige Lage der Südstaaten 
von Brasilien und ihre Stellung zur deutschen Aus¬ 
wanderung behalte ich mir vor später zu berichten. 

Bisher ist auch nur in Peru der Versuch ge¬ 
macht, eine deutsche Kolonie anzulegen. Sie ist 
erst nach schweren Leiden in neuester Zeit leidlich 
gediehen.*) Es ist möglich, dass später grosse eng¬ 
lische Gesellsciiaften, die weite Gebiete in Peru 
besitzen, einen Teil zu kolonisieren versuchen wer¬ 
den. Diese Gesellschaften der früheren Gläubiger 
von Peru bieten sicher mehr Garantien, als die 
peruanische Regierung oder ein peruanischer Gross¬ 
grundbesitzer. ln Peru wie in Bolivia fehlt es nicht 
an passenden Terrains, die aber erst durch grosse 
Opfer mit den bestellenden Bahnen und Städten in 
Verbindung gebracht werden müssen. Die Regier¬ 
ungen von Ecuador und Bolivia haben übrigens 
bisher keine Versuche gemacht, europäische Kolo¬ 
nisten anzulocken. Wohl ist dies aber demnächst 
von Peru zu befürchten. 

In Paraguay haben die verschiedensten Nationen 
versucht zu kolonisieren. Alle Unternehmungen 
haben mit einem mehr oder weniger grossen Skan¬ 
dale geendet. Die Colonisten verliessen meist sehr 
bald unzufrieden die betr. Kolonie und die Regierung 
hatte vergebens Opfer gebracht und war durch ihre 
bezahlten Agenten und Lobredner, die Paraguay 
als ein Paradies zu schildern wussten, nur kompro¬ 
mittiert. **) Auch die neuesten Versuche von Austra- 

*j S. die wunderbare Geschichte der deutschen Kolonie am 
Fozuzoin: Der Amazonas v. Damian Krcih. v. Schütz.Holzhaiiseii, 
3. Aun., bearb. v. A. Klassert. Freiburg i. Br., HerdePs Ver¬ 
lag, 1695, und: Dr. R. Abendroth, Die Kolonie Poziizo. Dres¬ 
den, Blochmann u. Sohn, 1870. 

•*) S. das fesselnd geschriebene Buch von J ii I. KI i n g b c i 1 : 
EnthOihmgen über die Dr, Beruh. Förster’schc Ansiedelung Neu- 
Gernianieu In Paraguay, Leipzig, Ed. Baldainus, 1889. — Kling¬ 
beil war uud ist ein unpraktischer Mensch, aber ein Biedermann, 
Viele seiner Ausgaben (z. B. über das Klima, den Mangel an Wäl¬ 
dern etc.) sind übertrieben pessimistisch. Was er aber Ober das 
Treiben von Förster und Genossen erzählt, ist sicher richtig und 


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Unsere Industrie-Aussichten in Russland. 


71 


liem und Franzosen sind verunglückt. Das Land 
ist arm, auch fehlt es an Wegen und tüchtigen 
Arbeitern. Der grösste Teil des Bodens ist über¬ 
haupt mehr zur Viehzucht im grossen Stile geeignet 
und wird zu diesem Zwecke mehr und mehr von 
reichen Argentinern aufgekauft. Jetzt endlich scheint 
man sich auch in Deutschland über das „Wunder¬ 
land" besser informiert zu haben, das „Paraguay¬ 
fieber“ ist fast vollständig geschwunden. 

Wer also nach Amerika auswandem will, gehe 
nach Buenos-Aires und erkundige sich dort weiter 
bei den verschiedenen Vereinen, die für die Unter¬ 
kunft von Ackerbauern, Kolonisten, Handwerkern 
und Fabrikarbeitern sorgen. Kapitalkräftigen Per¬ 
sonen und Gesellschaften, die Plantagenbau betrei¬ 
ben wollen, sind Mexiko, Venezuela und Guatemala 
zu empfehlen. In letzterem Lande ist in dieser Bezieh¬ 
ung aber auch nicht mehr viel zu machen, da bereits 
eine grosse Hamburger Gesellschaft, die vorzüglich 
prosperiert, und von der man deshalb wenig hört, 
schon einen grossen Teil des besten Landes auf¬ 
gekauft hat und für die bestehenden älteren Kaffee- 
Plantagen hohe Preise gefordert werden, ln Vene¬ 
zuela liegen näher oder ferner von der Grossen 
Venezuelabahn (Caracas—Valencia), die von Deut¬ 
schen (C. Plock, Ober-Ingenieur) mit deutschem 
Gelde (Diskonto-Gesellschaft) gebaut ist, schöne, 
fruchtbare, gesunde Terrains, die sich z. T. auch 
für deutsche Ackerbauer eignen. Solche Terrains, 
die bereits sämtlich in Privatbesitz sind, müsste 
aber eine deutsche Gesellschaft aufkaufen und dann 
parzelliren. Dr. H. Polakowsky. 


Unsere Industrie • Atissichten ln Russland. 

Die deutschen Grossindustriellen schliessen jetzt 
die besten Geschäfte in Russland, sie haben kaum 
jemals so starke Aussichten auf jahrelange Liefer- 
ungen gehabt und sind dennoch auf diesem ganzen 
Gebiete pessimistisch. Bei unsem rührigsten Eisen- 
und Stalllinteressenten werden fortwährend die schma¬ 
len Ziffern der russischen Roheisenproduktion von 
ehemals und sodann dagegen die von heute ange¬ 
führt. Und immer bleibt der Schluss, dass das 
Zarenreich binnen zehn Jahren sich selbst genügen 
könne und jede ausländische Montanindustrie alsdann 
aus dem Import scheide, ln Wirklichkeit sind aber 
zehn Jahre nur eine kurze Spanne, erstens, um den 
unaufTialtsam wachsenden Bedarf zu befriedigen 
ferner um übereine reichliche Anzahl von genügend 
vorgebildeten Technikern verfügen zu können. Was 
den Bedarf betrifft, so verfolgt Russland nicht allein 
riesenhaft ausgedehnte Eisenbahnpläne, sondern es 
legt sich auch, wie die politischen Ueberraschungen 
des Voijahres zeigen, gleichsam vor die Schwelle 
Ostasiens. Auf diese Weise dürfte der bereits er¬ 
lebten Vermittelung in finanziellen Dingen, auch 
wohl eine Art von ständiger Vermittelung in sol¬ 
chen industriellen Branchen folgen, die, wie z. B. 
Eisenbahnen, Hochöfen, Maschinen, Waffen, Schiffe 
leicht zu Staatsfragen werden können. Unter allen 
Umständen dürfte Russland einen wichtigen Teil 


von vielen Leidensgerahrten .bestatijrt. - S. nuch die Artikel 
von Dr. P, Jordan u. A. im „Export“ (Berlin), 1894. 


dieser Aufgabe mit Hilfe französischen Geldes an 
sich bringen, nachdem u. A. Frankreichs Gesandter 
in Peking eine bisher von anderer europäischer 
Seite noch nicht in den Schatten gestellte, Klugheit 
gezeigt hat. Deutschland wiid also nicht allein mit 
dem russischen, gew’iss sehr grossen Bedarf zu thun 
haben, sondern bald auch mit dem durch Russland 
nur vermittelten. Auch die weitere Frage hinsicht¬ 
lich der raschen Entwickelung der russischen Tech¬ 
nik lässt sich zu Gunsten des Auslandes beantworten. 
Zwar machen die Herren in Petersburg bei Kon- 
zessionierung fremder Werke in Polen oder Süd¬ 
russland, gerade bezüglich der Nationalität nur für 
zehn Jahre Ausnahmebedingungen, aber alsdann 
dürfte es sich schon zeigen, dass der Stab der ein¬ 
heimischen Techniker noch immer' nicht allzu zahl¬ 
reich sein w’ird. Die Schweiz, welche doch heute 
auf der Höhe des Maschinenbaues steht, musste 
als in den 50er Jahren ihre Eisenbahnen entstan¬ 
den, die Ingenieure dazu aus Deutschland nehmen, 
und innerhalb eines Dezenniums war selbst in die¬ 
sem so hochkultivierten Staate der Mangel nicht 
ausgegliclien. Eine ziemliche Uebertreibung wird 
auch in der jetzt aus Fachkreisen oft vernommenen 
Behauptung liegen, dass Russland bis auf grosse 
Dampfmaschinen bereits Alles so vorzüglich her¬ 
stelle, wie wir. Giebt es doch bekanntermassen 
zahlreiche Spezialitäten, die so leicht nicht nach¬ 
fabriziert werden können. Wieder sei hier ein tech¬ 
nisch hochentwickeltes Land, die Union, angeführt. 
Welche jahrelangen Bemühungen widmet man dort 
z. B. der Fabrikation von Weissblech, ohne dass man 
dabei mehr als die Billigkeit erreicht hätte. Die Schön¬ 
heit und die Haltbarkeit des englischen Produkts 
ist unnachahmlich geblieben, weil hier eine alte 
Tradition vom Vater auf den Sohn besteht. Es 
giebt aber noch zwei weitere Umstände gegen das 
baldige Ueberflüssigwerden der Fremdindustrie im 
Osten! Im russischen Verwaltungssystem besteht 
nämlich eine schier unausrottbare Angst vor der 
Verantwortlichkeit. Man sucht daher zumeist nur 
bei alten Firmen von erstem Ruf zu bestellen, denn 
wenn dann z. B. ein Schienenteil springt und ein 
grosses Unglück entsteht, so können die betreffen¬ 
den Beamten sich zunächst mit dem vorzüglichen 
Renomme der Hütte decken, von der jenes Fabrikat 
herrührt. Wichtig wird aber auch die Stellungnahme 
der Zarenregierung selbst, denn sie duldet wohl 
kaum ein gewaltiges Uebergreifen der Industrie. 
Während nämlich der Ackerbau die konservativsten 
Elemente des Staates zu seinen Trägem hat, ruht 
die Industrie naturgemäss auf beweglichen, 
fortschrittlichen und bald nur zu radikalen Menschen. 
Niemals hätten auch die Leiterjeneröstlichen Macht ein 
so umfangreiches Entstehen ihrer eigenen Eisen- 
und Stahlgewerbe gestattet, würde sich die Han¬ 
delsbilanz noch wie früher an der Hand des Ge¬ 
treide-Exportes günstig regeln lassen. Erst als¬ 
dann hat man mit dem Poussieren des Fabrikwesens 
begonnen und auch bald gegenüber der Massen¬ 
arbeit die Hausindustrie sogar mit Hilfe vonBanken- 
Credit zu entwickeln gesucht. Allein heute weiss 
man, dass es mit diesem Abhilfinittel nicht geht 
und lässt die Grossindustrie ruhig ihre weiteren 
Kreise ziehen. Bis dann der Tag kommt, wo die 
Handelsbilanz genügend gesichert erscheint und der 
Fabrikation mit ihren ungebundenen Volksschichten 


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72 


Sprachliche Fragen. 


starke Grenzen gesteckt werden. Dieser bisher kommt, geht, springt, bleibt, seht, sitzt, setzt, pflegt, 
noch immer nicht hinreichend gewürdigte Gesichts* pflückt; bei wendet, haltet, bittet, muss die Scheid¬ 
punkt dürfte den letzten Trost dafür abgeben, dass ung der t gewahrt bleiben. 

deutsche Industrie noch lange in Russland ein Haupt- Dass selbst in der grossstädtischen Presse und 
absatzgebiet haben wird. von namhaften Schriftstellern immer wieder schwache 

Unmittelbare Bezüge finden jetzt vor Allem in Imperative vom Infinitiv starker Verba gebildet wer- 
dem Bedarf für elektro-iechnische Einrichtungen statt, den, ist ein Fehler, den wenigstens die Sünderein¬ 
zu welchen Zw'ecken selbst’ die dortigen Mittelstädte gestehen. Es heisst: tritt, gieb, stirb, bitt{e), nimm, 
vor den grössten Maschinen und den grössten Aus- hilf, stiehl, sitz, schilt; Mehrzahl: tretet, gebt, sterbt, 
gaben nicht’zurückscheuen. Stuttgart • Berg, Augs- bittet, nehmt, helft, stehlt, sizt, scheltet. Die Aus¬ 
burg, Chemnitz liefern trotz ungeheurer von den lassung des e in unbetonten, leicht zusammenzieh- 
Auftraggebern zu tragenden Zölle diese Maschinen, baren Silben hat sich in den letzten Jahrzehnten 
während bei den eigentlichen Anlagen Siemens & schnell Bahn gebrochen; mit Recht, der Vokal war 
Halske einen in Russland schier unzerstörbaren Ruf nur Bindevokal. Es ist richtig: ihr habt, ihr gebt, 
haben. Indessen ist z. B. die Beleuchtimg des Winter- Die zerdehnte Form kann man sich für den Con- 
palastes von Schuckert in Nürnberg ausgefürt w'or- junktiv aufheben. 

den. Ferner werden einige wichtige Handelshäfen 3. Starke Verba und deren Faktiiiva. 

in Bau gegeben, vor Allem der in Wladiwostok. Die Endung der Verba wird recht oft unsicher 
Bereits sind Ingenieure dorthin beordert, um den behandelt und geschrieben. Die Verba auf n: sein, 

Bau von „Embarcoderes“ für Ozeanschiffe in An- thun, gehn, stehn, dürfen nicht zweisilbig sein. Bei 

griff zu nehmen. Eine deutsche Firma (Lutter in den anderen beginnt man, soweit der Stamm auf 

Braunschweig) hat bekanntlich s. Zt. den Hafen von h auslautet (reihn, weihn, ziehn, sehn, nahn, flehn 

Odessa ausgebaut. Auch für Getreide - Elevatoren u. s. w.) oder ehemals mit j oder w schloss (wehn, 

und Herstellung von Fischerei-Anlagen scheint sich baun, knien, drehn, ernenn, streun, zeihn) gleich- 

die Regierung Jetzt besonders zu interessieren. Im falls das e wegzulassen. Dadurch wird der Hiatus 

Vordergründe steht aber natürlich der laufende vermieden und der Volkssprache Rechnung getragen. 

Bedarf für den Weiterbau der Sibirischen Bahn, Der Volkssprache nach werden ja auch die 
deren grosse Kredite für dieses Jahr erst neulich meisten anderen jener Stammverben einsilbig ge- 

festgestellt wuraen. Hierbei ist Deutschland gar nicht sprechen, Mhd. schrieb man schon vam für fahren, 

zu entbehren. Ebenso dürfte die russische Bahn nnd geben, nehmen spricht man mit tönendem 

durch die Mandschurei, erst am 4. des vorigen Schlusskonsonant; doch wird sich die hochdeutsche 

Monats publiziert, zu sehr grossen Bestellungen Schriftsprache noch lange sträuben das durchzu¬ 
führen. Denn es ist im Vertrage ausdrücklich „bestes führen, was die Oberdeutschen In Namen wie Vogl, 

Zubehör des Rohmaterials" vorgesehen, damit alle Seidl, Frankl, Ertl bereits gethan haben. 

Züge der russischen Transbaikal- und Ussuribahn starken Verba werden von Unkundigen gern 

in ihrem vollen Bestände und ohne Verzug weiter- nach der schwachen Konjugation gedrängt, seltner 

befördert werden können. Ebenso kann die neue findet das umgekehrte statt: ich pries,' ich frug 

Bahngesellschaft Kohlenlager und Erzgruben aus- |.jaben bereits Bürgerrecht erlangt. Solche schwache 

beuten, sowie andere Industrien einrichten; was die Präterita und Partizipien sind in einzelnen Fällen ^ 

Russen wohl kaum ohne Hülfe des Auslandes voll- geradezu als falsch zu bezeichnen, wie u. a. 

bringen werden. Lyneäus. erkieste, erkiest. Wenn aber bekannte Schrift- 

- -- Steller Präterita wie erkiesen, gehiessen bilden, so r • 

c hii V. r ebenso fehlerhaft, als wenn Horst Kohl". 

Sprachliche Fragen. einer Besprechung die starke Kijnjugation von 

Von Dr. F. Tetzner. beneiden neben der schwachen nicht kennt. 'y. • v.. 

2. Imperative. Ein Wirrwarr herrscht aber inbezug auf die - 

Die Befehlsform starker Zeitivörfer ist unbedingt starken Verba und deren Faktitiva in den gewöhn- L »^ ‘w ' 

endungslos; es heisst: halt, geh, komm, spring, liehen Presserzeugnissen. Von vielen starken Verben 

bleib, sieh. Die Anhängung eines e oder die An- können aus der Präteritalform mit Hilfe des Umlautes 

fügung eines Apostrophs ist falsch. Freilich tritt (a: ä oder e, u: ü, o: ö, au: äu) schwache gebildet 

schon in mittelhochdeutschen Quellen einmal eine werden, die ursprünglich die Verursachung der im 

falsche Endung auf; wahrscheinlich hat die e-End- Hauptverb bekundeten Thätigkeit andeuten (sitzen: 

ung der schwachen Imperative, fordere, wandle setzen, hangen: hängen, fahren: führen, winden: 

und die der wenigen starken (sitzen, wenden, dringen : drängen, trinken: tränken, sinken: 

bitten) eingewirkt; sicherlich nicht die Verstärkung senken, verderben: verderben, springen: sprengen, 

durch a, die noch in hurra, holla vorliegt. Die Ein- sticken: stecken, bitten: beten, ähnlich noch: biegen; 

Wirkung der starken Form auf die schwache, so beugen, lügen: leugnen, bröchen: brechen, ziemen: 

dass Befehlsformen wie setz, pfleg, pflück, wend, zähmen, wachen: wecken, erbleichen: Wäsche 

entstehen, ist schon deshalb mit Freuden zu be- bleichen). Auseinanderzuhalten sind da dieFoimen 

grüssen, weil dadurch Einheit der Imperativend- des Präteritums und der 2. und 3. Singularis Prä¬ 
ungen undUnterschied von der Endung der ersten Per- sentis: ich verdarb (durch schlechten Umgang),erver- 

son Singularis (ich komme--) hervorgerufen wird. Die derbte (die mit ihm Verkehrenden), ich hange (an 

erste Singularis sollte nie ohne Für\vort und nie der Leiter), ich hänge (den Haken in die Leiter), 

ohne Endung gebraucht werden. Im Plural er hat zu Gott gebetet, er hat Gott gebetei^ du 
sollte auch schriftlich die im Volksmund ungebräuch- kickst in der Stube, du steckst den Knaben in die 
liehe Endung — et wegfallen, so dass es heisst: Stube. 




Mehler, Die Pest. — Kleine Mitteilungen. 


Die Pest. 

Von Dr. mcd. I.. Mehlek, 

In Vorder-Indien rafft zur Zeit die Pest (Beulen¬ 
oder Bubonenpest) Tausende von Menschen hin 
und bei dem gewaltigen Verkehr zwischen Indien 
und Europa ist die Gefahr, dass die Pest auch bei 
uns eingeschleppt wird, nicht ohne Weiteres von 
der Hand zu weisen. Jedenfalls dürfte Einiges über 
das Wesen der Pest gerade jetzt ein gewisses Inter¬ 
esse für sich beanspruchen. 

Galen’s Ausspruch, dass jede Epidemie, die 
grosse Sterblichkeit habe, Pest sei, war im Alter¬ 
tum und Mittelalter massgebend. Heutzutage ver¬ 
steht man unter Pest aber nur jene akute, ausser¬ 
ordentlich tÖtUche Infektionskrankheit, die neben 
den AUgemeinsymptomen charakterisiert ist, durch 
Schwellung ev. Vereiterung von Lymphdrüsen, be¬ 
sonders in der Leistengegend (Bubonenpest, sowie 
durch Bildung von tiefen jauchenden Carbunkeln 
oder Geschwüren. — Während im Mittelalter 
Pestseuche ganz Europa verheerte, ist sie in diesem 
Jahrhundert seit 1841 in Europa nicht mehr aufge¬ 
treten. Auch Afrika ist seit 1844 freigeblieben und 
es scheint die Pest jetzt nur auf Asien, besonders 
China und Indien beschränkt zu sein. Die Pest 
ist eine ausgesprochene Infektionskrankheit, die so¬ 
wohl von Mensch zu Mensch, als auch besonders 
durch Gegenstände, wie Geld, Kleider, Betten u.s.w. 
Übertragen wird. ALs Krankheitserreger will Yersin 
im Sommer 1894 in Hongkong einen spezifischen 
Bacillus entdeckt haben, der sich stets in den ge¬ 
schwollenen Lymphdrüsen in grosser Menge findet. 
Er stellt sich als ein grosser dicker Bacillus ohne 
Eigenbewegung dar, dessen Virulenz 1 An-steckungs- 
fähigkeit) anscheinend Jahre hindurch erhalten blei¬ 
ben kann. Besonders begünstigt wird das Auf¬ 
treten der Pest durch schlechte sanitäre und soziale 
Verhältnisse. Merkwürdigerweise scheinen einige 
Berufsklassen von der Seuche ganz verschont zu 
bleiben, so die Wasserträger, Badediener, Ülträger, 
ul- und Fetthändler. Mä.ssige Wärme in Verbindung 
•mit Feuchtigkeit begünstigt die Ausbreitung der 
Krankheit, trockene Hitze und starke Kälte beein¬ 
trächtigt sie. In Ländern mit eigentlich mopischein 
Klima ist die Pest sehr seiten, hochgelegene, na¬ 
mentlich trockene Plätze sind immun. Was nun 
das klinische Bild betriflt, 'so tritt nach einer In¬ 
kubationszeit*) von 2 bis höchstens 7 Tagen eine 
schwere Störung des Allgemeinbefindens und eine 
ausserordentliche geistige und körperliche Schwäche 
ein. Schon nach kurzer Zeit, oft nach wenigen Stun¬ 
den, wird bei hohem Fieber die Haut trocken, heiss, 
die Zun^e dick belegt, dann rissig trocken, das Be¬ 
wusstsein unter wilden Delirien getrübt, der Puls 
fliegend klein und ehe noch die charakteristischen 
DrOsenschwellungen einsetzen, tritt unter den Er¬ 
scheinungen der Herzlähmung der Tod ein. ln 
anderen Fällen föllt das Fieber ab und während 
die Allgemeinerscheinungen etwas nach assen, schwel¬ 
len die Drüsen der Leistengegend, oft auch der 
Achselhöhle oder des Nackens an. Sie erreichen 
die Grösse eines Hühnereis und gehen häufig in 
Dterung über, was als günstiges Zeichen gilt. Der 
Eiter ist gewöhnlich von jauchiger Beschaffenheit. 
Die Umgebung der befallenen Drüsen wird häufig 
mitergriffen und zerfällt ebenfalls eitrig. Weniger 
konstant als diese „Bubonen“ sind die Carbunkel, 
die am häufigsten an den Beinen oder im Nacken 
auftreten. Bei den schwersten Fällen kommen 
noch kurz vor dem Tode ausgedehnte Blutungen 
unter der Haut vor. - Die Rekonvalescenz be¬ 
ginnt am 6. bis 10. Tage und wird durch Nach- 


*) 2 ieit zwischen Ansteckung bis Auftreten der ersten Krank- 
heitssymptome. 


73 

krankheiten, wne fortdauernde Eiterung, Furunkel¬ 
bildung, Muskelabscesse, Lungenentzündung, pro- 
trahirtes Fieber etc. sehr in die Länge gezogen. 
Eigentliche Rückfälle sollen selten sein. — Der, 
häufigste Ausgang der Erkrankung ist der Tod. 
Gewöhnlich erfolgt er am 3.-5. Tage. Ist der 7. 
Tag überschritten, so scheint die grösste Ge¬ 
fahr vorüber. Die Sterblichkeit ist besonders im 
Anfang einer Epidemie enorm hoch, bis 90 pCt. 
Später fällt sie langsam ab. Der Krankheitsstand (Mor¬ 
biditätrist ebenfalls ausserordentlich hoch und so kann 
es geschehen, dass von der Gesamtbevölkerung 
eines Ortes mehr als die Hälfte an der Pest stirbt. 
— Es verdient noch besonders hervorgehoben zu 
werden, dass der sog. „schwarze Tod'\ jene ge¬ 
waltige Epidemie des 14. Jahrhunderts, welche - 
wie A. Hirsch so treffend schreibt — eines der 
dunkelsten Blätter in der Geschichte des Menschen¬ 
geschlechtes füllt, und deren Namen, noch heute 
in dem Munde des Volker, lebend, die Gemüter mit 
Entsetzen ergreift und das Fürchterlichste in sich 
schliesst, w'as die Menschheit jemals von Seuchen 
gesehen, eine Abart der Pest war. Neben allen 
charakteristischen Merkmalen der Bubonenpest war. 
aber noch eine Lungenaffektion vorhanden. In zahl¬ 
reichen Fällen wurde Blut ausgehustet, was sonst 
bei der Pest selten ist. Auch war die Mortalität 
womöglich noch grösser, und der Tod erfolgte noch 
schneller. -- Eine spezifische Behandlung der Pest 
gab es bis jetzt nicht. Dagegen hat gerade bei der 
Pest die Prophylaxe ausserordentliche Triumphe 
gefeiert. Dass die schlimmste unter den Epidemieen 
aus den zivilisierten Ländern verbannt ist, ist nur 
den streng durchgeführten Absperrungs- und Qua- 
rantäne-Massregeln zu danken. Insbesondere die 
Quarantäne gegen den Orient ist in Zeiten der Pest¬ 
gefahr aufs energischste zu handhaben. Ebenso 
müssen die verseuchten Häuser resp. Ortschaften 
abgeschlossen, Effekten von Erkrankten yerbrannt. 
Erkrankte selbst völlig isoliert werden. -- Aber 
auch bei der spezifischen Behandlung dieser Krank¬ 
heit scheint die moderne Medizin nicht ganz macht¬ 
los bleiben zu sollen. Der Serumtherapie ist .es Vor¬ 
behalten, auch hier vielleicht Resultate zu erzielen, 
wenigstens deutet folgende Thatsache darauf hin: 
Kaninchen, Meerschweinchen und Pferde lassen sich, 
wie Yersin u. A. nachgewiesen haben, gegen die 
deletäre Wirkung des Pestgiftes künstlich immuni¬ 
sieren. Das Serum dieser immunisierten Tiere hat 
nun die Fähigkeit, die Immunität auf normale Indi¬ 
viduen zu übertragen. Auf dieser Thatsache fussend, 
wird es vielleicht gelingen, auch erkrankten Per¬ 
sonen das Antitoxin des Pestgiftes in so wirksamer 
Weise beizubringen, dass das Gift paralysiert wird 
und somit die Erkrankten genesen. 


Kleine Mitteilungen. 

Der menschliche Körper und der elektrische 
Strom. Der Widerstand, den der menschliche Kör¬ 
per dem elektrischen Strome bietet ist in neuester 
^eit von A. Monmerque zu 3000 bis 8000 Wi¬ 
derstandseinheiten (Ohm) besdmmt worden. Gleich¬ 
zeitig fand dieser Forscher, dass ein Gleichstrom 
von 20 Milliampere noch erträglich, ein Wechsel¬ 
strom von derselben Stärke aber schon schmerz¬ 
haft ist. Wechselströmen gegenüber bietet der 
menschliche Körper auch einen geringeren Wider¬ 
stand, so dass schon Wechselströme von geringer 
Spannung, circa 50 Volt, höchst unangenehme Em¬ 
pfindungen hervomifen können. Interessante Ver¬ 
suche über das Verhalten des tierischen und mensch-' 
liehen Körpers gegenüber Wechselströmen von sehr 


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74 


Kleine Mitteilungen. — Sprechsaal. 


hoher Wechselzahl hat A. d’Arsonval angestellt. 
Er brachte kleine Tiere in das Innere einer von 
Strömen hoher Wechselzahl durchflossenen Spule 
und beobachtete durchweg eine bedeutende Zu¬ 
nahme des Verbrennungsprozesses, die sich in einer 
stark beschleunigten Gewichtsabnahme zeigte. Um 
diese Beobachtung hygienisch zu verwenden, wur¬ 
den durch den Körper zweier Diabetiker und eines 
Fettleibigen täglich einige Minuten lang Ströme 
hoher Wechselzahl von 3^0 bis 450 Milüamperemeter 
Stärke geschickt. Der Erfolg war ein befriedigen¬ 
der bei den Diabetikern, dagegen musste bei dem 
Fettleibigen die Behandlung unterbrochen werden, 
weil Atemnot eintrat., Dr. a. g. 


Zwischen dem Kilima-Ndjaro und dem Meru- 
Berge hat kürzlich'Leutnant Merker zwei neue 
Seeen entdeckt, von denen der grössere eine Länge 
von T2 bis 15 Km bei einer Breite von 5 bis 6 Km 
besitzt. Der kleinere See von fast kreisrunder Ge¬ 
stalt hat etwa 4 bis 5 Km. Durchmesser. Beide 
Seen haben leicht salziges Wasser und beherbergen 
eine Unmenge von Flusspferden. Dagegen fehlte 
sonstiges Wild, ausser Nashörnern, fast vollständig; 
auch so grossartiges Vogelleben wie am Momyara- 
See war nicht vorhanden. Dr. E. 


Wirkung des Zinks auf die photographische 
Platte. Der französische Physiker Colson beob¬ 
achtete, dass blankgeschabtes Zink, wenn es 24 
Stunden lang einer Bromsilbergelatineplatte gegen¬ 
übergestellt wird, dieselbe schwärzt. Die Wirkung 
wird nicht aufgehoben, wenn zwischen das Zink 
und die Platte Papier, Holz oder andere Körper in 
ganz dünnen Lagen eingeschaltet werden. Colson 
glaubt, dass die Schwärzung durch die Verdampf¬ 
ung des Zinks bedingt wird. Zinkdampf, der sich 
auf der Platte niederschlägt, muss natürlich das 
Silbersalz zersetzen. Dr a. g. 


Über Einlagerung von Cellulose in Cellulose. 

Bei der Untersuchung verechiedener Wurzeln 
machte Prof. Müller 'Sitzg. d. d. pharinaz. Ges. 
7. I. 97) die Beobachtung, da,ss auf dem Quer¬ 
schnitte der Wurzel von Spiraea filipendula an 
dem äusseren Rande der Endoderwis unregelmäs¬ 
sig zerstreute, stark lichtbrechende, glänzende 
Punkte zu erkennen waren, die er zuerst für Oxa¬ 
latkristalle hielt, die sich aber als eine bisher noch 
nicht beobachtete ganz neue Erscheinung erwiesen. 
Bei näherer Untersuchung zeigte sich nämlich, dass 
sich zwischen verschiedenen Zellen grosse Inter¬ 
cellularräume befanden und dass die um solche 
Hohlräume gelagerten Zellen an ihren Berührungs¬ 
stellen Verdickungen aufwiesen, die sich von einer 
Zellmembran in die andere oder auch in den Inter¬ 
cellularraum hinein fortsetzten und so nervenar- 
tige Stränge bildeten, ln der Mitte derselben war 
auf dem Querschnitt eine scharf begrenzte, kristall¬ 
artige Zeichnung zu beobachten, die sich bei der 
Untersuchung von Längsschnitten als ein aus Cel¬ 
lulose bestehendes, nadelfl'rmiges, biegsames Ge¬ 
bilde erwies. Aus w’elchem Grunde und zu wel¬ 
chem Zweck diese Einlagerung von Cellulose in den 
Zellenwandungcn geschehen ist. konnte Prof. Müller 
nicht erklären. Er glaubt aber, dass diese Erschein¬ 
ung, nachdem einmal darauf aufmerksam gemacht 
w’orden ist, auch in anderen Pflanzenteilen gefunden 
werden wii;d, und hält es nicht für unwahrschein¬ 
lich, dass die spiraligen und ringförmigen Verdicht¬ 
ungen zahlreicher Gefäs.sc demselben Zwecke itire 
Entstehung verdanken. a. 


Wamiebilduog bei der Entfaltung von Blüten. 

Es ist eine längst bekannte Erscheinung, dass bei 
dem Entfalten der Blüten mancher Pflanzen eine 
mehr oder weniger bedeutende Temperaturerhöh¬ 
ung eintritt, welche eine Folge des starken Atmungs¬ 
prozesses in den betreffenden Blüten ist. Bei unserem 
einheimischen Aronstab (Arum maculatum), eine in 
manchen feuchten Wäldern häufig vorkommende 
Pflanze, wurde eine Steigerung der Tempera¬ 
tur um 7—10" C. beobachtet; bei Colocasiaarten 
kommen innerhalb der Blütenscheide Erwärm¬ 
ungen von 30® C. und mehr über die Tenmeratur 
der umgebenden Luft vor. ln neuester Zeit hat 
Kraus die Temperatur bei der Entfaltung des 
Blütenkolbens gewisser Cycadeen untersucht und 
als Maximum der Erhöhung über die Temperatur 
der benachbarten Atmosphäre ii’7" C. gefunden. 
Auch wurde eine gewisse Periode der Erwärmung 
festgestellt: während in der Nacht die Tempera¬ 
tur des Blütenkolbens der der umgebenden Luft 
nahezu gleich war, zeigte sich gegen Morgen eine 
allmähli^e Steigerung der Erwärmung, welche im 
Laufe des Nachmittags ein Maximum erreichte, 
um dann gegen Abend wieder zu sinken. N. 


Noch immer fordert der uralte, anscheinend un¬ 
ausrottbare Glaube an Wenvölfe und Menschentiger 
seine Opfer. So wird neuerdings aus Sierra Leone 
von einem Kannibalenbunde benchtet, der während 
20 Jahre über Hunderten von Unglücklichen das 
Leben gekostet. Wie meist, war es auch hier zu¬ 
nächst ein Geheimbund und zwar unter den Imperi 
auf der Insel Sherbord, die zur Colonie Sierra 
Leone gehört. Es handelte sich insonderheit um 
die Stärkung eines fetischhaften Zaubers, der mit 
Menschenfett von Zeit zu Zeit getränkt werden 
musste. Schliesslich wurde die Sache ruchbar und 
die englischen Behörden griffen energisch ein. Ur¬ 
sprünglich ist hier die mächtige animistische Vor¬ 
stellung wirksam von der Verwandlung der Men¬ 
schen in Tierleiber (was auch z. B. in dem furcht¬ 
baren Glauben an die blutsaugenden Vampyre her¬ 
vortritt), — eine Anschauung, welche sich für die 
Naturvölker, w'elche keine Wesensverschiedenheit 
zwischen Menschen und Tieren kennen, und ausser¬ 
dem einen gewissen sympathetischen Connex mit 
ihnen unterhalten, nur zu begreiflich ist 


Sprechsaal. 

Dr. L. in Z.: Erschlafft und ermüdet ist beim 
Muskel nicht gleichbedeutend. Erschlafft kann ein 
Muskel sein, der nicht gearbeitet hat, also ausgC' 
ruht ist, ebensowohl aber auch ein solcher, der 
ühennässig gearbeitet hat und infolgedessen ermü¬ 
det ist i)aher wird der erschlaffte Muskel bald 
neutral (ev. alkalisch) reagieren, nämlich wenn er 
ausgeruht ist, bald sauer, nämlich, wenn er ermü¬ 
det ist. „Erschlafft“ ist der Gegensatz von contra- 
hiert oder zusainmengezogen. und nicht von aus¬ 
geruht“. E>le Redaktion. 


No. 5 der Umschau wird enthalten: 

Wiedcm.inn. Ein Idialisi auf dem Throne der Pharaonen. — 
Valcnia, Der heutige Stand der Photographie in natarlichen 
Farben, lai-obowski, Das moderne Drama. — Mehler. Die 
Fortsehritte der Medizin im Jahre 1896. - Achelis. Kleidung 
und Sehamgefnhl. - Fernspreoher und elektrische Straaaen- 
bahnen. 


G. Horstmann’s Druckerei. Frankfurt a. M. 


t 


V 


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DIE UMSCHAU 

ÜBERSICHT ÜBER DIE FORTSCHRITTE UND BEWEGUNGEN AUF 
DEM GESAMTGEBIET DER WISSENSCHAFT, TECHNIK, 


wöchentlich eine Nummer. 

Zu beziehen durch 
alle Buchhandlungen und 
Postanstaltcn. 

Postzcitungspi'ci^Iiste No, -jOaia. 

Verlag von: 

H. Bechhold Verlag, Frankfurt a. M. 


LITTERATUR UND KUNST 

herausgcgeben von 

DR. j. h. bechhold 


Neue Ki’üme 19/31. 


Preis vierteljthrlicb 
M. a.50. 

Jahres* Abonnement 
Preis M. 10. — . 

Im Ausland nach Court. 
Verantwortlicher Redakteur: 

Otto Adolf Wolters, Frankfurt a. U. 


JMö 5. I. Jahrg. 


Nachdruck aus dem Inhalt der Zeitschrijt ohne Erlaubnis 
der Redaktion verboten. 


1897. 30. Januar. 


Geistiges Eigentum und moderne Rechts* 
Ordnung. 

Von Privatdozent Dr. jur. Otto Opkt. 

Während dieMehrzahl unserer juristischen 
Grundbegriffe dem römischen Recht ihre Ent¬ 
stehung oder doch ihre Ausgestaltung ver¬ 
dankt, sind die Rechtsinstitute, die unter der 
Bezeichnung des geistigen Eigentums zusam¬ 
mengefasst werden, das litterarisch-artistische 
Urheberrecht und das Erfinderrecht, ausschliess¬ 
lich neuzeitlichen Ursprungs. Die Ursache, 
dass das geistige Eigentum erst in so später 
Zeit ins Rechtsleben Eingang fand, ist wesent¬ 
lich im Mangel einer Verviel/ältigungs- Technik, 
wie er für Altertum und Mittelalter charak¬ 
teristisch, zu suchen. Bevor nicht ein Mittel 
gefunden war, die Produkte der geistigen 
Thätigkeit in unbegrenzten Mengen herzu¬ 
stellen, konnte natürlich auch nicht der Ge¬ 
danke auftauchen, dass dem Urheber des 
Geisteswerks ausschliesslich die Befugnis zu 
dessen Vervielfältigung zustehe, obgleich ihm 
auch schon damals der Ruhm der Autorschaft 
zuerkannt wurde und das Plagiat nicht min¬ 
der heftigem Tadel, als der Gegenwart, 
begegnete. Als aber mit der^i Beginn der Neu¬ 
zeit die Technik auch die Mittel an die Hand 
gab, die Geisteswerke in beliebiger Quantität 
zu reproduzieren, sie unmittelbar, als Ware, 
gewinnbringend zu verwerten, da war auch 
die Geburtsstunde des geistigen Eigentums 
gekommen, indem sich rasch die Anschauung 
Geltung verschaffte, dass dem Urheber nicht 
nur der ehrenvolle Lorbeer des Autorruhms, 
sondern auch der materiell aus dem Geistes¬ 
werk zu ziehen mögliche Gewinn gebühre. 
Schon kurz nach Erfindung der Xylographie 
und der Buchdruckerkunst wurde es üblich, 
Schriftsteller und Künstler durch obrigkeit¬ 
liches Privileg mit dem ausschliesslichen Recht, 
ihre Geisteswerke mechanisch zu reproduzieren, 
auszustatten, allen übrigen dagegen bei schwerer 
Umschau 1897. 


Strafe die Vervielfältigung der so geschützten 
Werke zu untersagen, und was zunächst nur 
im Einzelfall als besondere willkürlich za er¬ 
teilende oder zu versagende Gnade erschien, 
das ging dann bald mit so überzeugender 
Kraft ins allgemeine Rechtsbewusstsein über, 
dass schliesslich ein gesetzliches Recht des 
Urhebers auf Schutz seines geistigen Eigen¬ 
tums anerkannt wurde. 

Die letzten entscheidenden Schritte in 
dieser Richtung fallen für das deutsche Rechts¬ 
gebiet erst in unser Jahrhundert; wenn also 
irgend ein Rechtsgebilde modernen Geist 
atmen, den Ansprüq^en der modernen Rechts¬ 
ordnung Genüge leisten sollte, so dürfte man 
dies vor Allem vom geistigen Eigentum er¬ 
warten, das ja, wie keine zweite Institution, 
.unmittelbar dem Rechtsbewusstsein der Gegen¬ 
wart entsprungen ist. Allein thatsächlich ist 
dies nicht der Fall — wenigstens nicht be¬ 
züglich des litterarisch - artistischen Urheber- 
rechts, dessen augenblickliche Gestaltung sich 
zu den Forderungen der modernen Rechts¬ 
ordnung vielmehr in den ausgesprochensten 
Gegensatz stellt. 

Die Ursache dieser auffallenden Erschein¬ 
ung liegt darin, dass sich das Urheberrecht 
dem Einfluss der die übrigen Rechtsgebiete 
ergreifenden sozialen Tendenz bisher zu ent¬ 
ziehen gewusst hat, so dass gerade diejenige 
Institution, in der man einen Bannerträger 
rechtlichen Fortschritts zu vermuten geneigt 
ist, thatsächlich hinter der allgemeinen Rechts¬ 
entwicklung nachhinkt. 

Die mannigfaltigen Typen, in denen uns 
die verschiedenen Rechtsordnungen der ein¬ 
zelnen Völker oder der einzelnen Perioden 
entgegentreten, lassen sich, von Mischbildun¬ 
gen, in denen jedoch ebenfalls das eine oder 
andere Moment überwiegt, abgesehen, in zwei 
grosse Gruppen sondern. Zur ersten Gruppe 
gehören all jene Rechtsordnungen, in denen 
das Recht nur dem Interesse der Einzelper- 

5 


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Opet, Geistiges Eigentum und moderne Rechtsordnung. 


76 ■ 


sönlichkeit, des Individuums zu dienen be¬ 
stimmt ist, in denen die Einzelpersönlichkeit 
den entscheidenden Faktor bildet, das Recht 
lediglich den Schutz der dem Individuum zu¬ 
kommenden Rechtsgüter bezweckt; als ein 
solches Recht erscheint etwa das römische in 
seiner klassischen Periode, in der mittleren 
Kaiserzeit. Die zweite Gruppe der Rechts¬ 
ordnungen stellt dagegen die Gemeinschaft 
der Rechtsgenossen, die Gesamtheit in den 
Mittelpunkt; zwar erkennen auch diese Rechts¬ 
ordnungen ein Recht des Individuums an, 
aber diesem Recht sind von vornherein be¬ 
stimmte Grenzen gezogen, seine Bethätigung 
darf nicht zu einer Kränkung der der Gesamt¬ 
heit geschuldeten Interessen führen, es muss 
sogar, wenn dies der letzteren förderlich, voll¬ 
kommen weichen; ein Muster dieser zweiten 
Art Rechtsordnung bildet das deutsche Recht 
des Mittelalters. 

Es, ist in jüngster Zeit Mode geworden, 
eine moralische IVertung dieser verschiedenen 
Rechtsordnungstypen vorzunehmen, und dann, 
je nach dem einmal eingenommenen Stand¬ 
punkt , das individualistische römische Recht 
als das egoistische dem sozialen germanischen 
Recht als dem altruistischen mit Tadel gegen- : 
überzustellen, oder auch umgekehrt von der 
hohen Warte des römischen Weltrechts herab 
spottend herabzublicken auf das mit dem hei¬ 
mischen Boden verwachsöne navve Germanen¬ 
recht. Die vorurteilslose wissenschaftliche Be¬ 
trachtung wird keiner dieser Schätzungen zu¬ 
stimmen können; denn es liegt weder im 
Wesen des römischen Rechts der Egoismus, 
noch in dem des deutschen Rechts der Altruis¬ 
mus', weder ist dem Wesen jenes die Naivi¬ 
tät, noch dem Wesen dieses die Universalität 
immanent; beide Rechtsordnungen sind viel¬ 
mehr nur Niederschläge ihrer Zeit, Spiegel-** 
bilder der jeweiligen Wirtschaftsverhältnisse, 
und so erklärt es sich, dass dem individua¬ 
listischen römischen Recht der Kaiserzeit in 
der älteren republikanischen Epoche ein durch¬ 
aus sozial gestaltetes römisches Recht vor¬ 
aufging, dass dem sozialen Recht des deut¬ 
schen Mittelalters mit der Änderung der Pro¬ 
duktionsweisen, der Eröffnung neuer Kon- 
surationswege ein sich immer individualistischer 
ausgestaltendes deutsches Recht folgte. 

Unsere moderne Rechtsordnung hat ihre 
Tendenz jedoch wieder gewechselt; die neuen 
grossen Gesetzgebungswerke haben den in¬ 
dividualistischen Standpunkt in einem steigen¬ 
den Mass aufgegeben und das lange vernach¬ 
lässigte soziale Element mehr in den Vorder¬ 
grund gerückt. Es ergibt sich dies am klarsten 
aus der Wandlung im Inhalt des Sacheigen- 
tumsbegriffs, deren Darstellung auch die 
beste Illustration zum entgegengesetzten Ver¬ 


halten des Begriffs des geistigen Eigentums, 
soweit das litterarisch-artistische Urheberrecht 
in Frage kommt, bieten dürfte. 

Der individualistischen Auffassung nach ist 
der Eigentümer der unumschränkte Herr sei¬ 
ner Sache, mit der er nach freiem Gutdünken 
verfahren darf. Wie er sie selbst beliebig be¬ 
nutzen oder unausgenutzt lassen kann, so kann 
er andererseits jeden anderen von ihrer Be¬ 
nutzung äusschliessen, auch wenn ihm dadurch 
nicht der geringste Nachteil erwüchse, mag 
das Interesse des andern jene Benutzung auch 
noch so dringend erwünscht erscheinen lassen. 

Die moderne Rechtsordnung hat diesen 
Sacheigentumsbegrilf tiefgehenden Beschränk¬ 
ungen unterworfen, am weitgreifendsten durch 
das Institut der Expropriation, das im Inter¬ 
esse der Gesamtheit sogar die vollständige 
Beseitigung des Eigentums zulässt; aber ein¬ 
schneidend genug sind,auch jene Satzungen, 
die dem Eigentümer ein beliebiges Verfahren 
mit seinen Sachen untersagen — etwa das 
an deren Privatbesitzer gerichtete Verbot, his¬ 
torische Denkmäler zu zerstören, gewisse 
Kunstwerke ausser Landes zu verkaufen —, 
oder die den Eigentümer zwingen, auch andere 
Personen am Genüsse seiner Sache teilnehmen 
zu lassen — etwa die Luftsäule über seinem 
Haus einer fremden Telephonleitungzu eröffnen. 

Im Gegensatz hierzu weist das geistige 
Eigentum, soweit es als Urheberrecht auftritt, 
auch noch heute ein ausschliesslich individua¬ 
listisches Gepräge auf. Wie der Sacheigen¬ 
tümer der früheren Zeit, ist der Urheber auch 
nach dem jetzigen Stand der Gesetzgebung 
der unumschränkte Herr seines Geistespro¬ 
dukts, dessen Genuss er nach freiem Belieben 
zugänglich machen oder afusschliessen kann. 
Denn ob sein Werk in neuer Auflage erschei¬ 
nen, ob sein Drama, seine Komposition ihre 
Realisirung durch öffentliche Aufführung fin¬ 
den sollen, das hängt allein vom Ermessen 
des Autors ab, der damit den in seinem Geistes¬ 
produkt gebotenen Bildungsfaktor zum Nach¬ 
teil der Gesamtheit auf beliebig lange Zeit 
ausser Thätigkeit zu setzen für befugt erklärt ist. 

Der Gebrauch dieses Rechts mag freilich 
selten sein; aber undenkbar ist es doch nicht, 
dass ein Schriftsteller, durch eine Änderung 
seiner politischen Ansichten veranlasst, die 
Neuherausgabe eines seiner jetzigen Gesinnung 
widersprechenden Werkes ablehnt, dass ein 
dramatischer Dichter aus persönlicher Ranküne 
gegen die Bewohnerschaft einer bestimmten 
Stadt die Auflführungsgestattung gerade für 
diesen Ort versagt, dass die Erben eines 
Malers die Reproduktion eines allgemein an¬ 
erkannten, ihnen jedoch unsittlich erscheinen¬ 
den Bildes vorzunehmen verbieten. 

Dass derartige Befürchtungen nicht grund- 


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Opet, Geistiges Eigentum und moderne Rechtsordnung. 


77 


los, zeigt sich namentlich in den in jüngster 
Zeit immer energischer auftretenden Versuchen, 
den Charakter des Urheberrechts in noch stei¬ 
gendem Mass antisozial auszubauen, wie sie 
namentlich von Litteraten- und Künstlerkreisen 
unablässig unternommrn werden. 

Dahin gehört vor allem die Forderung 
eines ewigen Urheberrechts, das in einigen 
aussereuropäischen Staaten auch thatsächlich 
bereits zur gesetzlichen Anerkennung gelangt 
ist. Es liegt auf der Hand, dass eine solche 
Gestaltung aus rein faktischen Gründen zur 
Absurdität führen muss. Hätte etwa Horaz 
seine Oden unter der Herrschaft dieses Grund¬ 
satzes gedichtet, so wäre, vorausgesetzt dass 
in der Gesetzgebung keine Veränderung ein¬ 
getreten, eine Neuherausgabe der Horazischen 
Gedichte ausschliesslich den etwaigen Nach¬ 
kommen und Erbfolgern des Horaz Vorbe¬ 
halten, demnach Personen, die durch Jahr¬ 
tausende vom Autor getrennt wären, eine un¬ 
versiegbare Gewinnquelle eröffnet. Ein geist¬ 
reicher Franzose hat nicht mit Unrecht aus 
einer Anerkennung des ewigen Urheberrechts 
die Entstehung litterarischer Majorate gefolgert, 
einer Plutokratie, die noch,unwilliger als jede 
andere würde ertragen werden, da die 
pekuniäre Verwertung der geistigen Grossthat 
der Ahnen die Nachkommen um so verächt¬ 
licher erscheinen Hesse. 

Die Forderung des ewigen Urheberrechts 
steht aber auch mit dem Wesen der litte- 
rarisch-künstlerischen Produktion in schroffem 
Widerspruch. Die geistige Schöpfung darf, 
wenn sie nicht zur Karrikatur ihrer eigent¬ 
lichen Bestimmung herabsinken will, nicht 
des Erwerbs wegen, den der Urheber in ihr 
findet, geschehen, sondern sie muss sich das 
höhere Ziel volkserzieherischer Wirksamkeit 
setzen, das aber nur erreichbar, wenn die 
Benutzung der einzelnen Geisteswerke mög¬ 
lichst von allen Schranken befreit ist, wenn 
einem jeden sich ungehindert der Zugang zu 
ihnen öffnet. Ein ewiges Urheberrecht hätte 
aber grade die umgekehrte Folge: die Be¬ 
nutzung der Geisteswerke wäre ja dann in 
alle Zukunft von der Willkür bestimmter Per¬ 
sonen abhängig, in deren Hand es liegen 
würde, durch Aufstellung beliebiger Beding¬ 
ungen die Wirksamkeit der wichtigsten Bil¬ 
dungsmittel zu erschweren oder ganz auszu- 
schliessen. Schwerlich wäre auch dann, wie 
es die Geltung des zeitlich beschränkten Ur¬ 
heberrechts ermöglicht, der Ärmste im Stande, 
sich in billigen Volksausgaben an der Lektüre 
der klassischen Schriftsteller zu bilden oder 
an den Reproduktionen bildlicher Meister¬ 
werke zu erfreuen. 

Der gesunde Sinn der Gesetzgebung hat 
uns bisher, wenigstens in Europa, vor der 


Anerkennung des ewigen Urheberrechts be¬ 
wahrt; weniger Widerstand hat sich indes 
gegen eine fernere antisoziale Tendenz der 
augenblicklichen Urheberrechtsentwicklung ge¬ 
zeigt, gegen das Bestreben nämlich, die Ver¬ 
wertung einer Geistesschöpfung zur Hervor¬ 
bringung anderer Geisteswerke zu untersagen. 
Dieser Richtung haben wir es zu verdanken, 
wenn die Umschaffung eines Romans zu einem 
Drama als unzulässige Verletzung des Ur¬ 
heberrechts gilt, obwohl das Produkt dieser 
Thätigkeit einer anderen Kunstsphäre als sein 
Original angehört, wenn Parodie und Karri¬ 
katur als Plagiat bestraft werden, obwohl es be- 
grifilich unmöglich ist, dass die in dieser Form 
auftretende Kritik sich nicht unveränderter 
Teile ihrer Vorlage bedient; wenn die Lehre 
aufgestellt werden kann, dass all’ diejenigen 
Geisteswerke, die Verwirklichungen des einem 
anderen Autor vorschwebenden imaginären Bil¬ 
des in einer bestimmten Schöpfung darstellen, 
sich als verbotene Nachbildungen charakteri¬ 
sieren. Gelangt diese Richtung zur unbe¬ 
strittenen Herrschaft, so wird sich schwerlich 
eine Fortbildung in Kunst und Litteratur voll¬ 
ziehen können. Denn eine Geistesschöpfung, 
die sich nicht mehr oder minder an Vorauf¬ 
gegangenes anlehnt, dürfte kaum denkbar 
sein, so dass dann jede geistige Produktion 
ihre Urheber der Verfolgung durch angeblich 
verletzte Autoren aussetzen würde. 

So bietet sich uns denn das merkwürdige 
Schauspiel, dass, während die moderne Rechts¬ 
ordnung sich im Allgemeinen immer mehr mit 
sozialem Inhalt zu erfüllen anschickt, das Ur¬ 
heberrecht eine Steigerung des individualistischen 
Charakters anstrebt. 

Die Ursache dieser abweichenden Ent¬ 
wickelung dürfte darin zu suchen sein, dass 
die Sozialisierung der Rechtsordnung bis jetzt 
im wesentlichen durch materielle Interessen 
veranlasst wurde, dass nur den Besitzern un¬ 
mittelbar reeller Rechtsgüter eine die Allge¬ 
meinheit beiücksichtigende Rechtsausübung 
zur Pflicht gemacht ward, während Rechts¬ 
güter immaterieller Art, die, wie das litterarisch- 
artistische Urheberrecht, dem Gesichtskreis 
der Massen zur Zeit noch fast völlig 
entrückt sind, auch keinen Wunsch nach so¬ 
zialer Ausgestaltung aufkommen Hessen. Diese 
Gleichgültigkeit besteht nicht allen Arten des 
geistigen Eigentums gegenüber: wo auch das 
geistige Eigentum einen unmittelbaren Faktor 
des Wirtschaftslebens bildet — das ist im 
Gebiet des Erfinderrechts der Fall, indem die 
Erfindungen häufig massgebenden Einfluss auf 
den Wechsel der Lebenshaltung ausüben — 
da zeigt auch das Recht des geistigen Eigen¬ 
tumssozialen Charakter: das Patentrecht ge¬ 
währt dem Erfinder kein unumschränktes 

5 * 


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7» 


Mehler, Fortschritte der Medizin. 


Herrschaftsrecht über die Erfindung, sondern 
es zwingt ihn, den Genuss der Erfindung der 
Gesamtheit zukommen zu lassen; wird ihm ein 
angemessenes Gebot gemacht, — und ob es 
angemessen, entscheidet nicht sein, sondern 
staatlicher Wille — so muss der Erfinder 
seine Erfindung auch durch andere hersteilen 
lassen, indem seine unbegründete Weigerung 
der Licenzerteilung mit dem Verlust des Pa¬ 
tentrechts bedroht ist, sein antisoziales Ver¬ 
halten ihn demnach der Vorteile seiner Geistes¬ 
schöpfung beraubt. 

Wird einmal — und dieser Zeitpunkt ist 
vielleicht in eine gar nicht all’ zu ferne Zukunft 
zu setzen — das Interesse der Massen auch 
an den litterarisch-künstlerischen Produktionen 
in intensiver Weise geweckt sein, dann wird 
sich auch das Urheberrecht der sozialen Aus¬ 
gestaltung nicht entziehen können, und sich 
damit dem allgemeinen Charakter der modernen 
Rechtsordnung anpassen. Wie und wann das 
geschehen wird, kann freilich heute noch 
nicht mit einiger Sicherheit beantwortet werden. 
Bedeutungsvolle Anzeichen dürften immerhin 
darin liegen, dass schon jetzt das italienische 
Recht eine Verpflichtung des Autors anerkennt, 
nach Ablauf einer gewissen Frist seit Publi¬ 
kation seines Werkes, dessen Nenherausgcbe 
gegen Gewinnbeteiligung jedem Andern zu 
gestatten, dass die schweizerische Gesetzgebung 
die Veranstaltung dramatischer und musikali¬ 
scher Aufführungen unter Umständen vom 
Willen der Urheber für unabhängig erklärt, 
und dass nach englischem Recht sogar schon 
Expropriationen litterarischer Urheberrechte 
zulässig scheinen. Hat also das Recht dieser 
Kulturvölker schon mit der Umgestaltung des 
Urheberrechts begonnen, dann wird wohl auch 
das deutsche Recht nicht lange mehr zögern, 
das Recht des geistigen Eigentums durch¬ 
greifend mit den sozialen Gedanken der 
modernen Rechtsordnung in Einklang zu .setzen. 


Überblick über die Fortschritte der Medizin 
/ im Jahre 1896. 

Von Dr. raed. L. Mehler. 

Wenn man von der Entdeckung der Rönt* 
genstrahlen. Über deren Verwertbarkeit in der 
Medizin an andrer Stelle ausführlicher be¬ 
richtet werden wird, absieht, haben die medi¬ 
zinischen Disziplinen im Jahre 1896 keine 
epochemachende Entdeckung zu verzeichnen. 
Und das ist auch nicht erstaunlich. Die vor¬ 
hergehenden Jahre haben Schlag auf Schlag 
die fundamentalen Forschungen über Serum, 
Toxine, Antitoxine und Organsäfte gebracht, 
sodass Jahre dazu gehören, alle Ergebnisse 
zu sichten und die Erfolge nachzuprOfen, um 


ein endgültiges Urteil über die neue Ära 
haben zu können. 

In der inneren Medizin, die mit dieser 
neuen Epoche aufgehört hat, das Stiefkind 
der Therapie zu sein, hat man über die Wirk¬ 
samkeit der Serunitherapie bei einer Krank¬ 
heit, der Diphtherie, ein endgültiges Urteil 
fällen können, dank der umfassenden Sammel¬ 
forschung, ‘die das Reich sowohl, wie fast 
alle ärztlichen Gesellschaften angestellt haben. 
Die Gewalt der Zahlen hat sich entschieden 
für die günstige Wirkung des Diphtherie¬ 
serums ausgesprochen. Wenn auch die gün¬ 
stigen Resultate nicht überall gleichmässig 
sind, so sind doch die Zahl der Todesfälle 
an Diphtherie seit Einführung des Heilserums 
überall so erheblich zurückgegangen, dass an 
der spezifischen Heilwirkung des Diphtherie¬ 
serums nicht mehr gezweifelt werden darf. 
Behring, der geniale Inaugurator dieser neuen 
spezifischen Therapie, hat bei der Diphtherie 
nicht Halt gemacht. Sein neues Antitoxin 
gegen den Tetanus (Wundstarrkrampf) hat be¬ 
reits in einzelnen Fällen Heilung erzielt und 
man kann nur hoffen, dass sein stolzes Wort, 
das er auf dem Frankfurter Naturforscher- und 
Arztetag ausgesprochen hat, dass es bald keine 
Todesfälle an Tetanus mehr geben werde, 
sich ebenso bewahrheiten möge, wie seine 
feste Zuversicht , in die Wirkung des Diph¬ 
therieheilserums. Vor nunmehr 100 Jahren 
hat Jenner, dieser selten grosse Arzt, die 
erste Impfung gegen Blattern vollzogen und 
damit die grösste therapeutische That, die 
Millionen von Menschen zum Segen ge¬ 
reicht hat, vollbracht. Die Serumtherapie, als 
Fortsetzung und Beweis der Richtigkeit dessen, 
was Jenner wohl erkannt hat, ist das wür¬ 
digste Denkmal für die erste Impfung vor 100 
Jahren. — Viel zweifelhafter als die Erfolge des 
Heilserums sind die der sog. Organotherapie. 
Bekanntlich besteht diese darin, dass präpa- 
parierte Organe von Tieren gegen Erkrank¬ 
ungen derselben Organe beim Menschen ge¬ 
geben werden. Die ersten, und anscheinend 
auch be.sten Erfolge hat man gesehen, als 
5 r/i/ 7 </</rwsr«präparate bei gewissen Erkrank¬ 
ungen dieser Drüse mit ihren Folgeerschein¬ 
ungen gegeben wurden, ln die räthselhafte 
Wirkung dieser Behandlung hat der leider 
zu früh verstorbene Chemiker Bau mann in 
Freiburg das erste Licht gebracht, dadurch, 
dass er nachwies, dass die Schilddrüse Jod 
enthält. Schon früher sah man Erfolge der 
Jodbehandlung bei Schilddrüsenerkrankungen 
und konnte also den Jodgehalt der verfütter¬ 
ten Schilddrüse als den eigentlich wirksamen 
Faktor ansprechen. Über die Tragweite der 
Entdeckung Baumanns lässt sich heute noch 
nichts Sicheres sagen. Ebensowenig über die 



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Mehler, Fortschritte der Medizin. 


79 


Erfolge der Verfütterung andrer Organe. 
Selbstredend hat sich auch die Spekulation 
dieser Dinge bereits bemächtigt und eine eng¬ 
lische Firma liefert Präparate oder Organe 
des ganzen Körpers, mit Ausnahme von Lunge 
und Herz. 

Auch dieCAirwr^/i? durfte vergangenesjahr ein 
Jubiläum feiern. Vor 50 Jahren wurde in 
Boston die erste Äthernarkose ausgeführt und 
damit die Betäubung bei der Ausführung von 
Operationen eingeführt. An die Stelle von 
Äther trat bald Chloroform, das bisher un¬ 
umschränkt als Narkosenmittel herrschte. Erst 
die letzten Jahre haben versucht, dem Äther 
wieder eine Stelle bei der Narkose einzuräu¬ 
men. Endgültig ist diese Frage noch nicht 
erledigt. Aber eine neue Entdeckung ist be¬ 
stimmt, die Narkose Überhaupt in vielen Fällen 
unnötig zu machen, nämlich die lokale Anaes- 
thesie. Schleich in Berlin hat schon vor 
mehreren Jahren darauf hingewiesen, dass wir 
im Cocain ein vorzügliches Mittel besitzen, 
um subcutan einverleibt, grosse Hautbezirke 
gänzlich unempfindlich zu machen. In derThat 
werden jetzt eine grosse Reihe kleinerer und 
grösserer Operationen unter lokaler Anaesthesie 
gemacht, und damit den Patienten die, wenn 
auch geringe, Gefahr dei; allgemeinen Narkose, 
sei es mit Chloroform, sei es mit Äther, er¬ 
spart. Auf dem Gebiet der speziellen Chirurgie 
ist die unblutige Reposition der angeborenen 
Hüftgelenksverrenkung zu erwähnen. Bis vor 
wenigen Jahren w'ar diese Erkrankung über¬ 
haupt nicht heilbar. Man glaubte mit Stütz- 
^paraten und ähnlichem einigermassen dem 
Übel zu steuern, allein die Erfolge waren fast 
gleich Null. Da haben dann Lorenz in Wien 
und Hoffa in Würzburg gezeigt, dass man 
auf blutigem Wege, d. h. durch eine Ope¬ 
ration wohl imstande wäre, den anormal ge¬ 
lagerten Schenkelkopf an seine normale Stelle 
zu bringen, die verkümmerte Pfanne zu ver- 
grössern und durch geeignete Verbände die 
Norm herzustellen. Bis zu einem gewissen 
Grade gelang dies Verfahren und besonders 
HofFa konnte eine grosse Reihe vorzüglich 
geheilter Fälle veröffentlichen. In diesem Jahre 
nun gelang es Lorenz in Wien ohne Ope¬ 
ration die Einrichtung und die normale Stell¬ 
ung zu erzielen. Sein Verfahren besteht darin, 
dass in der Chloroformnarkose unter geeig¬ 
netem Zug und Druck das luxirte Bein so 
gestellt wird, dass der Schenkelkopf der nor¬ 
malen Pfanne, resp. der Stelle, wo sie nor¬ 
malerweise sein sollte, gegenübersteht. In 
dieser Stellung wird dann ein Gipsverband 
angelegt und einige Monate liegen gelassen. 
Sein Verfahren hat sich allerwärts vorzüglich 
bewährt und viele Kinder sind Dank ihm, 


dem traurigen Geschick als Krüppel durch die 
Welt zu hinken, entgangen. 

In der Gynäkologie ist auf die chirurgische 
Periode der letzten Jahre ein gewisser Rück¬ 
schlag erfolgt. Manche Operation, die als 
segensreich und ungefährlich angesehen und 
ausgeführt wurde, hat der späteren objektiveren 
Kritik nicht Stand halten können. Insbesondere 
ist dies der Fall bei der Fixirung der rück¬ 
wärts verlagerten Gebärmutter. Einer ihrer 
eifrigsten Verfechter, Mackenrodt in Berlin, 
musste zugeben, dass diese Operation bei späte¬ 
ren Schwangerschaften höchst schwierige, selbst 
lebensgefährliche Complicationen schaffen 
könne. 

In der Augenheilkunde ist in jüngster Zeit 
die Operation der Kurzsichtigkeit höherer Grade 
Gegenstand lebhaften wissenschaftlichen Strei¬ 
tes gewesen. Diese Operation besteht darin, 
dass aus dem kurzsichtigen Auge die Linse 
entfernt wird. Wenngleich die augenblick¬ 
lichen Erfolge nicht abzuleugnen sind, so 
müssen erst die nächsten Jahre entscheiden, 
ob das operierte Auge nicht doch mehr ge¬ 
schädigt w'urde, als der augenblickliche Erfolg 
wert war. 

ln der Dermatologie war dieses Jahr eine 
Krankheit Gegenstand lebhafter Erörterung, 
von der man schon seit langer Zeit überhaupt 
nichts mehr gehört hatte, nämlich die Lepra 
- ■ der Aussatz. Es wird zur Zeit überhaupt 
nicht viele Ärzte geben, die einen echten Aus¬ 
satzfall gesehen haben. Nur an den grössten 
Universitäten, wo ein grosses Zusammenströ¬ 
men von Patienten aller Art stattfindet, findet 
sich manchmal ein zugereister Leprafall, der 
dann das riiedizinische Interesse auf kurze 
Zeit verlangt. Nun waren in diesem Jahre in 
Ostpreussen mehrere Aussatzfälle aufgetaucht, 
sogar in Charlottenburg wareine echte Lepra¬ 
kranke „entdeckt“ worden, sodass die Gefahr 
einer erneuten Verseuchung Deutschlands mit 
Aussatz bereits besprochen wurde. Bekannt¬ 
lich ist der Aussatz eine chronische Infektions¬ 
krankheit, deren Erreger, der Lrprabactllus, 
seit langem bekannt ist und die nach einem 
im allgemeinen sehr langwierigen und von 
schweren lokalen und allgemeinen Krankheits¬ 
erscheinungen begleiteten Verlauf fast stets 
zum Tode führt und nur ganz ausnahmsweise 
in Heilung übergeht. - Je nachdem nun die 
Erscheinungen die Haut und Schleimhaut oder 
die Nerven betrifft, unterscheidet man zwei 
Formen; jedoch vermischen sich sehr häufig 
beide Formen. — Bei der Lepra tuberosa 
(Knoten-Aussatz) entstehen auf der Haut, be¬ 
sonders im Gesicht, dicke derbe Knoten, die 
dem Gesicht eine ganz charakteristische Ent¬ 
stellung geben. Ebenso entstehen auf den 
Schleimhäuten in Mund, Nase, Kehlkopf etc. 


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8o 


Wiedemann, Ein Reformator auf dem Throne der Pharaonen. 


derbe Infiltrate. Bei der zweiten Form, der 
nervösen, schwindet die Muskulatur überall, 
während fast die ganze Haut unempfindlich wird. 
In den Händen und Füssen kommt es bald 
zu schwerer Geschwürsbildung, wobei eine Ver¬ 
dickung der peripheren Nerven deutlich wahr¬ 
nehmbar ist. — Die Krankheit war schon 
mehrere Tausend Jahre vor Christi Geburt 
bekannt; sie breitete sich im Laufe der Jahr¬ 
hunderte immer mehr aus und war im Mittel- 
alter mit die grösste Geissei der Menschheit. 
Durch ausserordentlich grausame Absperrung 
der Leprösen von den Gesunden gelang es 
dann die Krankheit bei uns wenigstens nahe¬ 
zu zum Verlöschen zu bringen. — Auch heute 
noch ist die strengste Isolierung derartiger 
Patienten das einzige rationelle Mittel zur Ver¬ 
hütung weiterer Verschleppung; t\x\ Heilmittel 
kennen wir nicht. Selbstredend wurden jene 
wenigen, oben erwähnten Fälle, sofort isoliert 
und eine Verbreitung des Aussatzes ist bei 
uns einstweilen nicht zu befürchten. 

In der Rhinologie hat man den Erkrank¬ 
ungen der Nebenhöhlen der Nase, also der 
Kieferhöhle und der Stirnbeinhöhle grössere 
Aufmerksamkeit geschenkt. Entzündungen und 
Eiterungen in diesen Höhlen sind sehr quä¬ 
lend für die davon Betroffenen und können 
durch Ableitung auf das Gehirn schwere Ge¬ 
fahren mit sich bringen. Die operative Er¬ 
öffnung der erkrankten Höhle, Entfernung des 
Eiters u. s. w. bringt grosse Erleichterung. 
Zur vollständigen Heilung allerdings ist viel 
Zeit, manchmal Jahre erforderlich. 

Schliesslich sei noch darauf hingewiesen, 
dass die Irrenheilkunde infolge der Enthüllun¬ 
gen in dem Alexandriner-Prozess immer ener¬ 
gischer die Forderung aufgestellt hat, dass 
die Irrenpflege nur in ärztliche Hände gelegt 
werde. Die geistliche Pflege ist stets beein¬ 
flusst von der Lehre, dass Geisteskrankheit 
Einfluss einer dämonischen Macht sei und die 
Folge davon wird dann auch stets sein, den 
Dämon mit mehr oder minder energischen 
Mitteln aus dem Besessenen heraustreiben zu 
wollen. Sicherlich wird die Gesetzgebung sich 
auch hiermit befassen und dadurch noch manche 
Schäden entfernen. 

So sind denn die Fortschritte der Medizin 
im Jahre 1896 allenthalben nicht gering ge¬ 
wesen und die stattliche Anzahl Vorträge auf 
dem Frankfurter Naturforscher- und Ärztetag 
hat gezeigt, dass das wissenschaftliche Leben 
ausserordentlich thätig ist, und in allen Dis- 
ciplinen in den nächsten Jahren reiche Früchte 
zu zeitigen verspricht. 


Ein Reformator auf dem Throne 
der Pharaonen. 

Amenophis IV. und seine Zeit. 

Von Professor Dr. A.Wi edeM ann. 

Die Geschichte des alten Ägyptens ist im 
Allgemeinen in äusserer wie in innerer Be¬ 
ziehung abwechslungsarm verlaufen. Nach 
aussen hin verhinderten die natürlichen Gren¬ 
zen des Landes, die Wüsten im Osten und 
Westen, das Meer im Norden, die Schmalheit 
des Nilthaies irri Süden, den Einfall grösserer 
Völkerschwärmc. Wenn je ein fremder Stamm 
vorübergehend Ägypten eroberte, — ein Er¬ 
eignis, welches drei- oder viermal im Ver¬ 
laufe der 4 Jahrtausende, welche die ägyp¬ 
tische Geschichte umspannt, cintrat, — so 
war dieser regelmässig an Zahl so schwach, 
dass er schnell im nationalen Ägyptertum 
aufging, ohne dieses wesentlich umzugestalten. 
Und in innerer Beziehung hat der durch und 
durch konservative Sinn des alten Ägypters, 
der mit ängstlicher Scheu an dem Bestehen¬ 
den festhielt, mochte es auch noch so ver¬ 
altet sein, das Auftreten und vor Allem das 
Herrschendwerden neuer Ideen verhindert, 
fremden Einflüssen das Eindringen schwer, 
wenn nicht unmöglich zu machen gesucht. 

Wenn dies nicht in vollem Masse ge¬ 
lungen und ausländische Einflüsse auf Ägyp¬ 
ten eingewirkt haben, so hat der Ägypter 
sie nur schwer und gewissermassen wider¬ 
willig angenommen, etwa so wie der Chinese 
jetzt den Errungenschaften der abendländischen 
Kulturen gegenüber verfährt. Nur einmal in 
allen den Jahrtausenden, von denen die In¬ 
schriften Ägyptens zu berichten wissen, ist 
der Versuch gemacht worden, diesen 
Prozess zu beschleunigen, mit einem 
Schlage im Nilthale alles das Grosse, 
Schöne, Wertvolle einzubürgern, was 
die Nachbarnationen in Kunst, In¬ 
dustrie, Religion gewonnen hatten. 
Ein Monarch war es, der diesen Gedanken 
systematisch auszuführen suchte, AmenophisIV. 
Zwar sind seine Bestrebungen, die etwa in 
das Jahr 1450 v. Chr. fallen, nur kurze Zeit 
von Erfolg gekrönt gewesen, der konservative 
Sinn seiner Unterthanen blieb seinen Neuer¬ 
ungen abhold, wenige Jahre nach seinem Tode 
brach sein Werk wieder zusammen. Aber 
das thut der Grösse der idealistischen Ab¬ 
sichten des Königs keinen Abbruch. Als der 
erste Herrscher, der die Bedeutung fremder 
Kulturen auch für das eigene Volk erkannte, 
dessen Blick über die engen Grenzen des an¬ 
gestammten Reiches hinausreichte, der ver¬ 
suchte, international im besten Sinne des 
Wortes zu sein, der zugleich die ausgepräg- 
testeTlndividualität unter allen bisher bekann- 



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Wiedemann, Ein Reformator auf dem Throne der Pharaonen. 


8i 


ten Pharaonen besitzt, darf Amenophis IV 
Anspruch darauf erheben, auch über die fach¬ 
männischen Kreise hinaus Interesse zu be¬ 
sitzen. 

Um die Mitte des 3. Jahrtausends v. Chr. 
war es einem räuberischen asiatischen Stamme 
gelungen, von Osten her in das Nilthal ein¬ 
zudringen, das durch innereWirren geschwächte 
Land zu erobern, die einheimische Herrscher¬ 
familie zu stürzen und einen der Seinigen 
auf den Thron zu setzen. Unter dem Namen 
Hyksos „Hirtenkönig“ beherrschten er und 
seine Nachkommen mehrere Jahrhunderte lang 
das Reich. Anfangs waren sie strenge, bar¬ 
barische Zwingherren; allmählich aber nahmen 
sie ägyptische Sitte an und waren von ein¬ 
heimischen Pharaonen kaum zu unterscheiden. 
Nur eines trennte sie wesentlich von ihren 
Unterthanen, die Religion. Sie verehrten als 
Hauptgott den Suteh, einen Gott des Krie¬ 
ges und Herrn des Himmels, den die Ägyp¬ 
ter ihrem Gotte Set verglichen, dem Gotte 
der Mächte der Finsternis und des Bösen, 
der nach einer alten Legende den gütigen 
Gott Osiris, den Begründer der ägyptischen 
Kultur, den ersten menschenähnlichen Gott- 
König des Landes ermordet hatte, um an 
seine Stelle treten zu können. 
j^ijDieser religiöse Zwiespalt zwischen Herr¬ 
scher und Volk führte zum Aufstande der 
Unterworfenen. Die Fürsten von El Kab, 
einem kleinen Orte im Süden des Landes, 
erhoben sich; das übrige Ägypten schloss 
sich ihnen an, in langdauernden Kämpfen 
wurden die Hyksos besiegt und ihrer Krone 
beraubt. Eine neue einheimische Dynastie trat 
an ihre Stelle und bestieg etwa im Jahre 1650 
V. Chr. den Thron der Pharaonen. Es war 
dies die 18. Dynastie seit der Gründung des 
Reiches, die thatkräftigste und begabteste 
Herrscherfamilie, die Ägypten überhaupt be¬ 
sessen hat. Ihre Residenz war Theben in 
Oberägypten, eine Stadt, welche unter ihnen 
einen schnellen Aufschwung nahm und wür¬ 
dig der ältesten Hauptstadt des Landes, dem 
unterägyptischen Memphis, zur Seite trat. Ihr 
Ruhm und Name drang bald bis hinüber über 
das Meer und selbst im fernen Hellenenlande 
wusste man zu erzählen von Theben, 

„Wo reich die Wohnungen sind an Besitztum. 
Hundert hat sie der ThoP, und es ziehen 200 aus 
jedem 

Rüstige Männer zum Streit, mit Rossen und Ge¬ 
schirren." 

Den Mittelpunkt der Stadt bildete der 
Tempel ihres Hauptgottes, des Amon-Rä, der 
in dieser Periode als Sonnengott verehrt ward, 
als eine menschlich gedachte Gestalt, welche 
die ganze Welt, Erde und Himmel, Menschen 
und Götter, beherrschte und vor allem ver¬ 
mittelst der Sonne die Irdischen seine Macht 


und sei^ne Güte empfinden Hess. Er hatte in 
dem Kampfe mit den Hyksos seine Anhänger 
zum Siege geführt, und hierdurch gezeigt, 
dass er der Mächtigste der Götter war. So 
war es nur natürlich, dass die Ägypter sich 
ihm dankbar bewiesen. Seine Wohnung, der 
Tempel von Karnak, war das grösste und 
prächtigste Heiligtum des Landes; reiche 
Gaben an Gold, Silber, Edelsteinen, wertvollen 
Hölzern u. s. f. häuften sich in ihm an, Fel¬ 
der und Äcker wurden ihm geschenkt, ganze 
Städte, sogar solche im Auslande, ihm ver¬ 
liehen, von jedem Kriege das Beste der Beute 
ihm heimgebracht. Tausende von Sklaven und 
Hörigen dienten ihm, eigene Truppen be¬ 
schützten den Tempel, der mit all seinem 
Zubehör — und darin liegt seine Hauptbe¬ 
deutung für die Entwicklung Ägyptens, eine 
geschlossene Einheit bildete, unabhängig vom 
Könige und vom Staate; eine Unabhängig¬ 
keit, die noch dadurch gesteigert wurde, dass 
der Tempel und sein gesamter Besitz für 
steuerfrei galt. 

An der Spitze des Heiligtums stand der 
erste Prophet des Amon, eine Persönlichkeit, 
die in Folge des Ansehens und Reichtums 
des Tempels eine der ersten Stellungen im 
Staate einnahm, mit der die Könige stets 
rechnen mussten. Dies war nicht leicht; der 
König besass weder das Ernennungs- noch 
das Absetzungsrecht der Priester, und diese 
strebten, was vor Allem bedenklich war, stets 
danach, und erreichten es gelegentlich auch, 
dass ihre Stellung, wenn auch nicht recht¬ 
lich, so doch thatsächlich, eine erbliche wurde. 
Die naturgemässe Folge dieses Zustandes 
musste ein Gegensatz zwischen Königtum und 
Priestertum sein, ein Gegensatz, der so lange 
für die Krone ungefährlich blieb, als kräftige 
Monarchen den Thron inne hatten, in dem 
Augenblicke aber äusserst folgenschwer ward, 
in dem die Krone auf schwächliche Fürsten 
überging. Der Kampf hat, um dies gleich hier 
zu erwähnen, nach etwa soojähriger Dauer da¬ 
mit geendet, dass um 1100 v. Chr. die Ober¬ 
priester die Könige stürzten und selbst den 
Thron des Landes bestiegen, freilich nicht 
zu dessen Glück, denn die Zeit dieser Priester¬ 
könige ist die des tiefsten Verfalls der ägyp¬ 
tischen Macht nach jeder Richtung hin. 

So weit war die Macht der Amon-Priester 
unter der 18. Dynastie, der Amenophis IV. an¬ 
gehört, noch nicht gediehen, aber ihr Ein¬ 
fluss war bereits ein hoch bedeutender, dem 
man, wie der Verlauf der Reformbewegung 
des Königs uns beweisen wird, nicht ungestraft 
entgegentreten konnte; der Bruch mit dem 
Amon-Kulte, den dieserKönig wagte,be¬ 
siegelte den Untergang seiner Bestreb¬ 
ungen. — An einen solchen Bruch haben die 


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82 


Wiedemann, Ein Reformator auf dkm Throne der Pharaonen. 


ersten Herrscher der i8. Dynastie noch nicht 
gedacht. Sie fühlten sich als treue Diener des 
Gottes, den sie vor der Schlacht anriefen, der 
ihnen im Kampfe persönlich zur Seite stand, 
und dem nach errungenem Siege in erster 
Linie ihr Dank galt. Er war ein kriegerischer 
Gott geworden, und es waren kampfesmutige 
Fürsten, die ihm dienten und die das Schwer¬ 
gewicht ihrer Herrschaft meist alle nach aussen 
verlegten und eine Eroberungspolitik ver¬ 
folgten. Unter Thutmosis 1 . wurde ganz Syrien 
durchzogen und tributpflichtig gemacht, erst 
an der Grenze Mesopotamiens machten die 
ägyptischen Truppen Halt, am Euphrat ward 
eine Siegesstele errichtet, welche die Ost¬ 
grenze des Reiches bezeichnen sollte. Es war 
damit der Punkt gewonnen, über den nach 
dieser Richtung hin die ägyptische Macht nie 
hinausgelangt ist, den sie auch nur kurze 
Zeit zu behaupten vermocht hat. 

Bereits in den letzten Jahren Thutmosis 1 
oder doch kurz nach seinem Tode gingen 
alle asiatischen Eroberungen verloren. 

Dass dem so war, lag vor allem an dem 
landschaftlichen Charakter der Gegenden, 
in denen man zu kämpfen hatte. Syrien ist, 
besonders in seinen südlichen Teilen, in Pa¬ 
lästina und dem inneren Phönizien und Phi- 
listäa, eine wildzerrissene Gebirgsgegend. 
Auf steilen Felsen liegen die Städte, schwer 
zugänglich und leicht zu verteidigen. 

Mühsam musste Ort um Ort erobert werden, 
und kaum war man abgezogen, so empörten 
sich die Bewohner und das Spiel begann von 
Neuem. Nicht einmal die Zerstörung der 
Umwallungen brachte Nutzen, denn den na¬ 
türlichen Schutz, den die Abstürze und Fel¬ 
sen den Städten darboten, konnte man nicht 
vernichten. 

Unter diesen Umständen verfielen die 
Pharaonen auf einen eigenartigen Ausweg um 
Einfällen fremder Stämme vorzubeugen, Ab¬ 
fälle eigener Unterthanen zu erschweren; 
einen Ausweg, der kulturhistorisch bedeut¬ 
same Früchte zeitigen sollte. Sie gingen mit 
fremden Fürstengeschlechtern Eheverbind¬ 
ungen ein. — Am Anfänge der i8. Dynastie 
sind diese Zweckehen verhältnismässig selten, 
dann aber werden sie schnell immer häufiger 
um sich unter Thutmosis III. mit seinen Nach¬ 
folgern zu einem vollkommenen Systeme aus¬ 
zubilden. Dabei gehen freilich, und dies ist 
nicht ohne Interesse, nur selten ägyptische 
Prinzessinnen in das fremde Land, um mit 
dortigen Herrschern sich zu vermählen, weit 
häufiger nimmt der Pharao ein fremdes Fürs¬ 
tenkind in seinem Hause auf. 

Der Umgang mit diesen fremdländischen 
Fürstentöchtern musste ganz unmerklich bei 
den Königen das starre ägyptische Empfinden 


mildern, ihnen fremde Anschauungen und 
Gedankenkreise näher bringen. Und dies ge¬ 
schah um so mehr als die Prinzessinnen 
nicht allein kamen, sondern umgeben von 
einem ganzen Hofstaate von Dienern. So 
wird beispielsweise berichtet, dass eine Prin¬ 
zessin Kilukipa, die Tochter des Fürsten 
Satarna von Neharina in Ober-Syrien, als sie 
Amenophis 111 ., dem Urenkel Thutmosis III., 
als Gattin zugeschickt wurde, 312 Frauen 
ihrer Umgebung aus ihrer Heimat mit sich 
brachte. Durch solche fremden Elemente 
wurden König und Hof einer internationalen 
Denkweise zugeführt, während das Volk von 
diesen Einflüssen unberührt blieb, und so 
entwickelte sich in den zwei Jahrhunderten, 
welche von der Hyksosunterwerfung bis auf 
Amenophis IV. verflossen, ein ähnlicher Ge¬ 
gensatz zwischen König und Volk, wie er 
unter den Hyksos selbst bestanden hatte. Das 
Volk war auf gleicher Stufe stehen geblieben, 
während der Herrscher und seine Umgebung 
sich allmählich weiter entwickelt, in ihrem 
Denken, vor allem auch im religiösen Em¬ 
pfinden eine freiere, aber eben darum un¬ 
ägyptische Richtung genommen hatten. Ein 
Konflikt stand bevor, und er brach aus, so¬ 
bald ein energischer Herrscher das Zepter 
ergriff, der Idealismus genug besass, um seine 
Anschauungsweise, die er als die bessere und 
höhere ansah, auch seinem Volke zugänglich 
zu machen. Dieser Herrscher war der Nach¬ 
folger und Schwiegersohn des obengenannten 
Amenophis III., Amenophis IV. 

Auf Grund welcher Rechtsansprüche der 
König den Thron bestieg, ist nicht bekannt. 
Die Inschriften bekennen, dass seine Gattin 
fürstlichen Stammes war, er selbst nennt seinen 
Vorgänger 'kaum je seinen Vater. Und selbst, 
wenn er dies öfters thäte, wie er von anderen 
Fürsten meist als Sohn Amenophis III. be¬ 
zeichnet wird, so würde dies wenig besagen. 
Die Pharaonen nennen ihre Vorgänger ihre 
Väter und Ahnen in demselben Sinne, wie 
etwa moderne Herrscher sich Brüder und 
Vettern nennen; es sind solche Bezeichnungen 
nur ehrenvolle Freundschafts- und Achtungs¬ 
beweise, nichts weiter. Und besonders in 
Ägypten musste dies der Fall sein, denn hier 
gilt der König Überhaupt nicht als Sohn eines 
menschlichen Vaters. Ein Gott selbst, der 
Sonnengott Rä oder in der uns beschäftigen¬ 
den Zeit dessen Nebenform Amon-Rä stieg 
auf die Erde hinab, um ihm Vater zu werden; 
der Gemahl seiner Mutter, der Königin, ist 
nur dem Namen nach sein Vater, in Wahr¬ 
heit ist es der Gott, und daher haben die 
Pharaonen zu allen Zeiten grosses Gewicht 
auf ihre mütterliche Abstammung gelegt. 

Mag aber Amenophis IV. aus königlichem 


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83 


Die Beziehung zwischen dem Farbstoff des Blutes und der Blätter. 


Gesclilechte stammen oder nicht, mag sein 
Thronrecht auf eigenem Erbrecht beruhen 
oder nur durch seine Gemahlin ihm in die 
Ehe mitgebracht worden sein, das Eine zeigen 
die Denkmäler aber, dass er zunächst seine 
Herrschaft ganz im Sinne seiner Vorgänger 
ausübte. Er trug den Namen Amenophis, 
d. h. „Gabe des Amon", den schon 3 seiner 
Vorgänger geführt hatten und gab sich da¬ 
durch als Anhänger dieses Gottes zu er¬ 
kennen. Als Zusatz zu dem Namen nahm 
er den Titel an „der Gott, der Herrscher 
von Theben“, zum Beweis, dass er in der 
alten Reichshauptstadt weiter das Zepter zu 
schwingen gedachte. In dem Tempel zu 
Soleb in Nubien, den sein Vorgänger begonnen 
hatte und dessen Bau er weiter führte, sieht 
man ihn die althergebrachten Götter ver¬ 
ehren, wobei er selbst mit den üblichen 
Kronen geschmückt und mit den Gesichts- 
zügen dargestellt erscheint, welche seit alters / 
als die für einen Pharao charakteristischen / 
galten. Denn in Ägypten gab es, wie für den 
Gott, so auch für den König einen feststehen¬ 
den Typus, den er zeigen musste, wollte er 
als Herrscher erkannt werden. Er musste 
etwa 18 Jahre alt aussehen, mittelgross sein, 
ein rundliches Gesicht, eine leicht gebogene 
Nase, fleischige Backen, ein für unser Gefühl 
zu hoch sitzendes Ohr haben. Wenn er in 
Wahrheit anders gestaltet war, so kümmerte 
sich der ägyptische Künstler nicht um solchen 
Irrtum der Natur, er bildete den König nach 
dem alten, verhältnismässig nur wenige indi¬ 
viduelle Abänderungen gestattenden Schema 
und hat dies auch bei Amenophis IV. am 
Anfänge seiner Regierung gethan. Diese 
Bildnisse des Herrschers können also nicht 
zum Belege dafür dienen, dass er seinen 
Vorgängern thatsächlich ähnlich war, aber 
sie bewiesen, dass er ihnen ähnlich sein 
so///e, dass er zunächst nicht den Versuch 
machte, mit der althergebrachten Sitte in der 
künstlerischen Darstellung seines Ichs zu 
brechen, so wenig als er dies anfangs in 
religiöser Beziehung thun zu wollen schien. 

Allein, dieser friedliche Zustand dauerte 
nicht lange. Im Verlauf seines vierten oder 
fünften Regierungsjahres reifte in Amenophis IV 
die Erkenntnis, dass die Götter, die er bis¬ 
her verehrt hatte, nicht die wahren Götter 
seien, dass es eine andere himmlische Ge¬ 
stalt gebe, die höhere, ja die einzig und al¬ 
lein Verehrung verdiene. Diese Gottheit war 
die Sonnenscheibe, wie die Ägypter 

dieselbe nennen. Und zwar ist es der Him¬ 
melskörper selbst, nicht eine in ihm weilende, 
in ihm sich bethätigende, oder menschge¬ 
dachte Gottheit, wie es die sonstigen ägyp¬ 
tischen Sonnengötter sind. — Nie wird Aten 


in menschlicher oder tierischer Gestalt vor¬ 
geführt. Stets ist es eine etwa kreisrunde 
Scheibe, von der nach der Erde zu Strahlen 
ausgehen, deren unterer Abschluss durch Hände 
gebildet wird. Mit diesen Händen reicht 
Aten seinen Verehrern das Zeichen des Lebens 
und andere wertvolle Besitze dar. — Woher 
Amenophis diese Gottheit entnahm, wird 
nirgends berichtet. Altägyptisch war sie nicht 
und ebenso wenig äthiopisch, aber auch bei 
den Semiten, von denen man sie gern hat 
herleiten wollen, lässt sich thatsächlich keine 
entsprechende Gestalt nachweisen. So wäre 
es denn sehr wohl möglich, dass sie aus 
Libyen herstammte, von wo in der damaligen 
Zeit Ägypten überhaupt zahlreiche Anreg¬ 
ungen empfangen hat. 

(Schluss folgt.) 

/ -- 

Die Beziehung zwischen dem Farbstoff des 
Blutes und der Blätter, 

Je genauer man die Zusammensetzung des 
Chlorophyll, jenes Farbstoffs, der den höheren 
Pßanzen, den Blattpflanzen, ihr Grün verleiht, 
und dem Hämoglobin, dem roten Farbstoff des 
Blutes höherer Tiere, kennen lernt, um so 
mehr gewinnt man die Überzeugung, dass die 
beiden Stoffe chemisch nahe miteinander ver¬ 
wandt sind, dass sie die Abkömmlinge einer 
gemeinsamen Stammsubstam, dass sie aus der 
gleichen Muttersubstanz gebildet sind. Dies 
ist um so bemerkenswerter, als ihre Funktion 
eine ganz verschiedene ist: Das ver¬ 

mittelt die Ernährung der Pßanzen durch 
Reduktion der von den Blättern aus der Luft 
aufgenommenen Kohlensäure in kompliziertere 
organische Pflanzennahrungsstoffe unter Ab¬ 
scheidung von Sauerstoff. — Das Hämoglobin 
hingegen vermittelt die Atmung, d. h. die Oxy¬ 
dation der organischen Substanz, indem es in 
den Lungen Sauerstoff aufnimmt und diesen 
in die Gewebe führt. An den • bedeutungs¬ 
vollen Untersuchungen über die Zusammen¬ 
setzung des Chloroplu'll und Hämoglobin 
sind besonders die Chemiker Marchlewski 
und Nencki beteiligt. — In seiner neuesten 
Untersuch\ing •) knüpft Nencki an die Be¬ 
ziehung der beiden Stoffe eine interessante Be¬ 
trachtung, die wir hier ziemlich wörtlich wie¬ 
dergeben : 

„Die Entdeckung**) von Schunck und 
M a r c h 1 e w s k i ist für die biologische Chemie 
deshalb von so kapitaler Bedeutung,*weil sie 
uns einen Einblick in die entfernteste Per- 
gangenheit der Entwickelungsgeschichte organi- 

•) Ber. d. ehern. Ges. XXIX. No. r 8 . 

**) Nämlich die nahe chemische Verwandtschaft 
von Blatt- und Blutfarbstoff, 


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84 


Die Beziehung zwischen dem Farbstoff des Blutes und der Blätter. 


sierter Wesen gestattet und auf die Stamm' 
verivandtschaft der so verschiedenen Organis¬ 
men, wie der pflanzliche und tierische sind, 
hinweist. Die Theorie Darwins über die 
Entstehung der Arten ist wesentlich auf Ver¬ 
änderlichkeit der Formen unter verschiedenen 
Lebensbedingungen im Kampfe ums Dasein 
begründet. Die Verschiedenheit der Organis¬ 
men aber ist nicht allein durch die Form und 
den Bau der Organe, sondern auch dyrch die 
chemischen Verbindungen, aus welchen die 
lebendigen Zellen bestehen, bedingt. Von der 
Natur dieser Verbindungen hängt der Modus 
des Stoffwechsels ab, und je nach dem Stoff¬ 
wechsel richtet sich die Gestalt der Zellen 
und ihre Differenzierung zu einzelnen Or¬ 
ganen. Mit anderen Worten, die Form der 
Zellkomplexe, welche die einzelnen Organe 
bilden, wird beeinflusst von dem Stoffwechsel, 
an welchen sich die einzelnen Organismen je 
nach den äusseren Lebensbedingungen im 
Kampfe ums Dasein, anpassen. Parallel mit 
der Änderung der Lebensbedingungen ändert 
sich nicht nur die Form, sondern gleichzeitig 
auch die chemische Zusammensetzung der 
Zellen und ihr Stoffwechsel. Ein tieferes Ver¬ 
ständnis der Entwickelungsgeschichte der Or¬ 
ganismen ist daher nicht allein vom Vergleich 
der Formen, sondern auch vom Vergleich der 
chemischen Zusammensetzung des Zellleibes 
und des Stoffwechsels zu erwarten. Von die¬ 
sem Gesichtspunkte aus ist die Entdeckung 
von Schunck und Marchlewski, dass 
der Blatt- und Blutfarbstoff, welche so ver¬ 
schiedene Funktion haben, stammverwandt 
sind, von ganz hervorragender Bedeutung. 

Dank der intensiven bakteriologischen Un¬ 
tersuchung der letzten zwei Dezennien sind 
unsere Kenntnisse über die einzelligen Orga¬ 
nismen und ihren Stoffwechsel wesentlich ge¬ 
fördert, wodurch auch die Lebenserscheinun¬ 
gen der pflanzlichen und der tierischen Or¬ 
ganismen uns in einem neuen Lichte erscheinen. 
Durch die Untersuchungen von S. Wino- 
gradsky wissen wir, dass die chlorophyll¬ 
losen Nitritbakterien*) nur aus Kohlensäure, 
Ammoniak und anorganischen Salzen komplexe 
organische Verbindungen aufbauen, wachsen 
und sich vermehren. Es findet' hier, gleich¬ 
wie in grünen Pflanzen, eine Reduktion der 
Kohlensäure und Bildung organischer Sub¬ 
stanz statt. Der Unterschied besteht nur darin, 
dass der Sauerstoff nicht gasförmig entweicht, 
sondern das Ammoniak von der Nitritbakterie 
zu salpetriger Säure oxydirt wird. Eine An¬ 
zahl anderer Spaltpilze ernährt und vermehrt 
sich, wenn ihnen Ammoniaksalze verhältnis- 

*) Kommen im Erdboden vor; ihre Thätigkeit 
ist für die Ertragst'ähigkeit des Bodens von grösster 
Bedeutung. 


massig einfach zusammengesetzter Säuren, wie 
Äpfelsäure, Weinsäure, Zitronensäure oder 
Kohlenhydrate als Nahrung geboten werden. 
Andere Spaltpilze ernähren sich ähnlich den 
tierischen Organismen von komplexen Eiweiss¬ 
substanzen, wobei sie den zur Oxydation 
nötigen Sauerstoff entweder aus der Luft oder 
aus dem Nährsubstrat selbst entnehmen. 

Wir finden bei diesen Chlorophyll- und hä¬ 
moglobinlosen Organismen die grösste Mannig¬ 
faltigkeit im Stoffwechsel, einerseits nach dem 
Typus der pflanzlichen, andererseits nach dem 
Typus der tierischen Organismen, mit allen 
möglichen Zwischenformen, unter welchen die 
Anaörobiose *) — das charakteristische Kenn¬ 
zeichen aller ächten Gährungen — mit die 
interessanteste Form des Stoffwechsels ist. 
Hervorheben möchte ich noch, dass die che¬ 
mische Zusammensetzung der Leibessubstanz 
dieser Organismen nicht allein bei verschie¬ 
denen Spezies sehr verschieden ist, sondern 
auch bei einer und derselben Spezies, je 
nach den verschiedenen äusseren Lebensbe¬ 
dingungen, sehr variiert. Auch ist in keiner 
Klasse der organischen Wesen der Wechsel 
der Form so gross, als wie bei diesen so¬ 
genannten niederen Organismen. Ich erinnere 
nur z. B. an das von Szpilman studierte 
verschiedene Wachstum der Milzbrandbazillen 
in verschiedenen Gasen; an das von Koch 
entdeckte Auswachsen dieser Bazillen zu 
sporenführenden Mycelßlden und an den aspo- 
rogenen Milzbrand von Roux. Solcher Bei¬ 
spiele gibt es hunderte. Sie zeigen alle, dass 
die Bildung neuer Arten hier viel leichter 
stattfindet, als wie bei den in späteren Zeit¬ 
perioden entstandenen, komplizierter gebauten 
Organismen. Wir haben Grund anzunehmen, 
dass diese Lebewesen, welche relativ mit den 
einfachsten Mitteln die organische Materie aus 
Kohlensäure, Wasser und Ammoniak auf¬ 
bauen, mit zu den ältesteten Bewohnern un¬ 
serer Erde gehören. 

Es ist interessant zu sehen, wie die pflanz¬ 
lichen Organismen eines besonderen Stoffes, 
nämlich des Chlorophylls, bedürfen, um unter 
Mitwirkung der Sonnenstrahlen die Kohlen¬ 
säure in Stärke umzuwandeln. Aus der Mutter- 
Substanz des Chlorophylls entsteht dann in 
einer viel späteren Periode im Tierkörper der 
Blutfarbstoff, dessen Funktion eine viel be¬ 
schränktere ist, da er nur dazu dient, den 
Luftsauerstoff locker zu binden und ihn den 
Zellen der einzelnen Organe zu überbringen. 

Das Chlorophyll ist übrigens nicht nur 
den Pflanzen eigen. Wir finden es bei vielen 
Protozoen**) und niederen Tieren. Bekanntlich 

*) Leben von Organismen unter Abschluss der 
Luft. 

•‘) Die niedersten Tiere. 


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Die Beziehung zwischen dem Farbstoff des Blutes und der Blätter. 


85 


fand K. Brandt bezüglich der in zahlreichen 
Protozoen, einigen Coelenteraten*) sowie meh* 
reren Planarien*) abgelagerten chlorophyll¬ 
haltigen Körper, dass dieselben nicht von dem 
Tiere selbst erzeugt sind, sondern als besondere 
Organismen, einzellige Algen, aufgefasst wer¬ 
den müssen, die morphologisch und physio¬ 
logisch unabhängig von ihren Wirthtieren 
sind. Die grünen Zellen solcher Tiere besitzen 
die Fähigkeit, nach dem Tode ihres Wirtes 
in isoliertem Zustande fortzuleben. Brandt 
nennt diese Algen Zoochlorellen. Sie ernähren 
ihren Wirt vollständig. Wenn der Wirt wenig 
oder gar keine Zoochlorellen enthält, so er¬ 
nährt er sich als echtes Tier durch Aufnahme 
organischer Stoffe. Sobald die Wirte genü¬ 
gende Mengen dieser grünen Algen enthalten, 
dann ernähren sie sich vermöge derselben, 
wie echte Pflanzen, durch Assimilation von 
anorganischen Körpern. Brandt folgert da¬ 
raus, dass die grünen Körper der Tiere ihrer 
physiologischen Bedeutung nach den Chloro¬ 
phyllkörnern der Pflanzen entsprechen, wäh¬ 
rend sie in morphologischer Hinsicht von den¬ 
selben scharf zu unterscheiden sind. 

Die Untersuchungen Brandt’s wurden 
von anderen Forschern wie: Geza Entz, 
G. Kessler, O. Hamann, P. A. Daugeard 
und Remy Saint-Loup bestätigt. Dagegen 
bemerkt Th. W. Engelmanh ,**)dass er schon 
vor vielen Jahren grüne Vorticellinen***) auf¬ 
gefunden habe, welche nicht durch Chloro¬ 
phyllkörner geförbt, sondern diffus grün waren, 
und zwar war der Farbstoff auf die Cuticulat) 
und subcuticulare Schicht beschränkt. 
Engelmann konnte nachweisen, dass diese 
Vorticellinen durch ihren diffus verteilten, 
nach mikrochemischen Reaktionen höchst 
wahrscheinlich mit Chlorophyll identischen 
Farbstoff ini Lichte Sauerstoff produzieren, 
woraus hervorgeht, dass es unzweifelhaft auch 
Tiere gibt, welche mittels eines an ihr eigenes 
lebendiges Protoplasma gebundenen, von Chlo¬ 
rophyll nicht unterscheidbaren Farbstoffs im 
Lichte wie grüne Pflanzen Kohlensäure, zu assi¬ 
milieren vermögen. Nach den späteren Unter¬ 
suchungen Engelmanns gibt es auch Bak¬ 
terien, von ihm Purpurbakterien genannt, deren 
Protoplasma durch einen roten Farbstoff, das 
Bakteriopurpurin, diffus gefärbt ist, welche 
ähnlich wie die grünen Pflanzen im Lichte 
Sauerstoff ausscheiden. Die Sauerstoffausschei¬ 
dung ist absolut gebunden an die Gegenwart 
des Bakteriopurpurins im Protoplasma und ist 

*) Niedere Tiere von etwas komplizierterem 
Bau, als die Protozoen. 

**} Pflüger’s Archiv Bd. 32, 1883. 

***) eine niedere Tierklasse. 

t) Die äussere verhärtete Schicht der Zelle; 
unter diesen liegen die subcuticularm Schichten. 


Entwickelung, Wachstum und Vermehrung der 
Purpurbakterien auf die Dauer nur im Lichte 
möglich. 

IVie es chlorophylllose Pflanzen, so giebt 
es bekanntlich im Tierreiche ganze Klassen, 
die kein rotes Blut haben. Bei den Insekten, 
wo die Luft in den Tracheen den ganzen 
Körper durchdringt, ist der Sauerstoffüber- 
trüger überflüssig. Das Blut des Rückenge- 
fässes ist farblos und enthält in grosser Zahl 
farblose Körperchen. Bei den Coelenteraten 
Ascidien *) und acephalen Mollusken **) 
finden wir statt roten Blutes eine farblose 
Flüssigkeit, mehr oder weniger gelöste Ei¬ 
weissstoffe und zellige Elemente enthaltend. 
Bei vielen Cephalopoden **), Gastropoden t) 
und Crustaceen ü*) enthalten die Blutgefässe 
einen farbigen Eiweisskörper, der an der Luft 
bläulich wird, -- das Hämocyanin — und 
welchem Körper respiratorische Bedeutung 
zugeschrieben wird. Über seine Zusammen- 
sammensetzung, sowie über die Zusammen¬ 
setzung des von Ray-Lankester bei einigen 
Anneliden •Pj“}') aufgefundenen Chlorocruocins 
wissen wir trotz der Analysen und Formeln 
von Griffiths so gut wie gar nichts. Von 
Mac Munn wurde \n d^v Perivisceralflüssig¬ 
keit von Echinus§) noch ein anderer respira¬ 
torischer Farbstoff gefunden, den er Echi- 
nochrom nennt. Erst bei den Würmern und 
bei allen Wirbeltieren finden wir rotes, hä¬ 
moglobinhaltiges Blut. 

So weit wir die Rolle der roten Blutzellen 
kennen, ist ihre Aufgabe eine recht beschränkte. 
Sie besorgen den Transport des Sauerstoffs 
zu den Geweben, während die Aufgabe der 
weissen Blutzellen der Transport der in tie¬ 
rischen Säften unlöslichen Nahrungsstoffe und 
anderer Substanzen, wie Fett, einzelne Farb¬ 
stoffe, Fremdkörper, Bakterien u. s. w. an 
bestimmte Orte ist. Je höher und differenzierter 
ein Organismus ist, um so grösser ist die 
Arbeitsteilung zwischen den verschiedenen, 
den Organismus zusammensetzenden zelHgen 
Elementen. 

Aus dem Mitgeteilten geht also hervor, 
dass es in der organischen Welt zahlreiche 
Beispiele gibt, wonach die Reduktion der 
Kohlensäure zu organischer Materie und die 
Oxydation der letzteren zu Kohlensäure ohne 
Chlorophyll resp. Hämoglobin geschieht; dass 
ferner bei den extremen Repräsentanten des 
Pflanzenreichs, den Blattpflanzen, und anderer¬ 
seits den rotes Blut führenden Tieren aus 
einer und derselben Muttersubstanz einerseits 


*) Muscheltiere. **) Tintenfische, t) Schnecken, 
tt) Krebsen. 

ttt) Ringelw^ünner. §) ein Seeigel. 


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86 


Quillinc, Dkr Silberschatz von Boscoreale. 


das Chlorophyll, andererseits das Hämoglobin 
aufgebaut werden. Es wäre zu verfrüht, allzu 
weite Konsequenzen aus diesen Thatsachen 
zu ziehen. Ich hielt es aber ftir zweckmässig, 
dieselben hier anzudeuten, um die Aufmerk¬ 
samkeit der Chemiker auf dieses wichtige 
Forschungsgebiet zu lenken. Sowohl das Hä¬ 
moglobin, wie das Chlorophyll-Molekül sind 
ziemlich weit abgebaut worden, und auf den 
Abbau eines Moleküls wird bekanntlich bei 
den Chemikern der Wunsch nach seiner Syn¬ 
these*) bald rege. Dass dabei eine Reihe 
neuer Gesichtspunkte sich eröffnen wird, ist 
selbstverständlich.“ b. 


X Der Silberschatz von Boscoreale. 

Unter den zahlreichen antiken Kunstgegenständen, 
welche im Kaufe der letztvergangenen Jahre teils 
systematische Ausgrabungen teils zufällige Funde 
zu Tage förderten, steht mit im Vordergründe des 
allgemeinen Interesses der Silberschafz von 
Boscoreale, benannt nach seinem Fundorte, einem 
kleinen Städtchen in der Nähe von Pompeji. Als 
daselbst der Besitzer eines Grundstückes im Herbste' 
1894 seine Wirtschaftsräume freilegen wollte, sties.s 
man im Fortgang der Arbeiten auf das Skelett eines 
Mannes, der auf der Flucht vor dem Vesuvausbruch 
des Jahres 79 n. Chr., w’elcher Boscoreale gleich 
Pompeji in Asche legte, zusammengebrochen 
war. Er hatte offenbar sein Baargeld und seine 
Wertsachen retten wollen, denn rings um das mit 
dem Gesicht gegen die Erde gekehrte Skelett lagen 
über tausend Goldmünzen (aus der Zeit de.s 
Augustus bis Vespasianus, c. 79 n. Chr.l, die Hände 
hielten Armbänder und eine goldene Kette gefasst 
und in einer Nische war der Silberschatz nieder¬ 
gelegt ” nahe an too Gefässe und Geräte, das 
ganze in ein Stück Zeug verj>ackt, von dem sich 
an einzelnen Gefässen das Gew’ebe noch angeklebt 
erhalten hat. 

Dieser Silberschatz wurde bald nach seiner Ent¬ 
deckung von dem Baron Edmund von Rothschild 
für eine halbe Million angekaull. Es kann wohl för 
einen modernen Liebhaber kaum eine reizvollere 
Erwerbung geben, als die der Sammlung eines an¬ 
tiken Liebhabers, wie sie in diesem Funde vorliegt. 
Aber Herr von Rothschild hat den Schatz nicht 
für sich behalten, sondern dem Louvre zum Ge¬ 
schenk gemacht. Damit hat das französische National¬ 
museum eine Kostbarkeit gewonnen, wie sie ähnlich 
reich und wertvoll bisher nur zwei Sammlungen, 
das Cabinet des medailles in dem sog. Schatze von 
Bemay und das Antiquarium des Berliner Muscunts 
in dem Hildesheimer Silberfunde besassen. Indessen 
giebt von diesen Funden keiner das, was der Fund 
von Boscoreale bietet, ein grosses ge.schlossenes 
Ensemble in seinem ganzen Umfange, wie es der 
einstige Besitzer zusammengebracht hatte. Diese 
Vollständigkeit macht den neuen Schatz doppelt 
kostbar. 

Die Hauptmasse desselben besteht, wie bei dem 

*) Aufbau, künstliche Herstellung. 


HUdesheimer Silberfund, aus Tafelgeschirr, Ge¬ 
brauchsgerät und kostbareren Gefässen. Das Tafel¬ 
geschirr besteht aus Ober 90 Stücken von den 
einfachsten bis zu den prunkreichsten. Gut die 
Hälfte davon sind eigentliche Gebrauchsgegenstände, 
sie haben fast den ganzen grösseren Teil des 
Schatzes gebildet, der nachträglich hinzuerworben 
wurde, nachdem zuerst 41 Stücke nach Paris ge¬ 
langt waren. 

Da sind Casserolle, glatt, mit leichten Blätter¬ 
ornamenten auf den Schnabelgriffen, andere 
reicher verziert, so eines von kräftig ausladender 
Form mit cannellurenartiger Riefelung und einem 
schmalen Streifen dazwischen, der mit Muscheln, 
Fischen und Schnecken besetzt ist. Kleine Näpfe 
und Schälchen sind von Rankenwerk umsponnen. 
Zwei kleine rechteckige Tablets, von leichten Pal¬ 
metten umrahmt, stehen auf kurzem, in Form eines 
umgekehrten Bechers gestaltetem Fuss. Eine Schale 
ist in Form einer Muschel gebildet, Blätter und 
Rankenwerk verzieren einen Schöpflöffel u. s. w. 

Während diese GefUsse als Essgeschirr dienten, 
wurden zum Trinken, besonders bei Gelagen, Becher 
und Kannen verwendet, deren im Schatze von 
Boscoreale nicht weniger als zehn Paare enthalten 
sind. Zwei Kannen von schlanker Form zeigen 
Figurenschmuck (Opferszenen etc.), zwei Becher 
sind mit Stillleben verziert: Erlegtes Wild, ein 
Schwein, ein Spanferkel, Geflügel, Früchte, Gemüse, 
Küchenmesser, Gefösse und Körbe liegen in pit- 
tore.sker Anordnung nebeneinander. Die Bilder 
zweier anderer Becher schildern das Familienleben 
der Störche: Auf knorrigem Geäst haben die Tiere 
ihre Nester gebaut. Leichte Zweige ranken sich 
ringsum empor und im Laub sitzen kleine Vögel 
und zw'itschem ihre Lieder. Im Nest hockt die 
Storchmutter mit ihrer Brut, die Kleinen fütternd, 
andere Störche fliegen ab und zu und bringen er¬ 
beutete Nahrung heim. Aber bei diesem Zusam¬ 
menleben geht es nicht immer friedlich zu, ein Storch 
sucht dem anderen die Beute — eine Heuschrecke 
— aus dem Schnabel zu reissen; es gelingt ihm und 
galant überreicht er den Fang der Storchmutter, 
während der besiegte Nebenbuhler, ärgerlich zurück¬ 
blickend, abzieht. Für Trinkgeschirr liegt natürlich 
ferner die Verwendung bacchischer Symbole sehr 
nahe; so finden wir trunkene Satyrn dargestellt, 
kleine weinfidele Eroten lassen ihren Uebermut an 
Löwen und Elephanten aus u. a. m. 

Von ganz besonderem Interesse hinsichtlich des 
Motives seines Figurenschmuckes ist schliesslich ein 
weiteres Becherpaar mit einer bis jetzt ganz einzig 
dastehenden Darstellung: Die bedeutendsten Philo¬ 
sophen und Dichter des Altertums als Skelette, 
zwischen denen kleinere Gerippe, Masken und im 
leeren Raum die sie mit Namen bezeichnenden In¬ 
schriften eingestreut sind. Da sehen wir Zenon 
und k'pikur, Sophokles und Moschion, Euripides etc. 
Den Sinn der ganzen Darstellung lässt eine Inschrift 
erkenen, welche in Uebersetzung etwa unserem 
bekannten Studentenlied gleichlautet: 

„Weg mit den Grillen und Sorgen 


Komme was kommen mag 
Heute ist auch ein Tag, 
Heute ist heut.“ 


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Aisinman, Naphta-Feuerung. 


87 


„Wer hätte — ruft F. Winter aus, dessen gleich¬ 
betiteltem treniichem Aufsatz im archäolog. Jahrbuch 
Bd. XI, 2 diese Mitteilung entnommen ist — »wer 
hätte, bevor diese Becher ans Licht traten, geglaubt, 
von Phantasien Holbeins und Shakespeares eine 
Vorahnung in der Antike zu finden? 

Da mir zufällig ein aus Südrussland stammendes, 
im Privatbesitz befindliches Tongefäss bekannt ist, 
welches - in Metallnachahmung: grüne Glasur 
an Stelle der Bronze etc. — ein Analogon zu den 
Silberbechem aus Boscoreale bildet, indem es einen 
geradezu holbeinisch anmutendenden veritablen 
Totentanz darstellt, so war ich mir dieser eigentüm¬ 
lichen Thatsache, die nunmehr durch den neuen 
Fund eine unumstössliche Bestätigung erfährt, schon 
länger bewusst; sie ist gewiss seltsam und merk¬ 
würdig genug. 

Hervorragende Prachtstücke des Fundes von 
Boscoreale bilden dann endlich vier Schalen mit 
hoch gearbeiteten Reliefs in der Mitte, die — aus 
einer dünnen Silberplatte herausgetrieben — auf 
^ Innenfläche aufgelöthet waren, aller Wahr¬ 
scheinlichkeit nach Dekorationsstücke und nicht zum 
Gebrauch als Trinkgefässe bestimmt; einige davon 
zeigen römische Portraitbüsten, die wir leider nicht 
mehr mit Sicherheit identifizieren können, eine aber 
zeigt das Brustbild einer üppigen Frauengestalt, 
die einen Elephantenkopf auf ihrem Haupte 
trägt, in der Linken ein Füllhorn, rechts eine 
Schlange hält und um Brust und Schultern von 
einer ganzen Anzahl solcher Attribute umgeben ist, 
welche sonst Ihr bestimmte Gottheiten charakter¬ 
istisch sind. 

Fs muss dahingestellt bleiben, ob wir in dieser 
Figur thatsächlich, wie französische Forscher und 
Winter meinen, die Stadtgöttin von Alexandrien 
zu erkennen haben und nicht vielmehr die Personi- 
fication eines Landes, besonders Afrikas, welches 
in ähnlicher Weise häufig auf gleichzeitigen Münzen 
erscheint. 

Keinesfalls aber dürfen wir, selbst wenn es die 
Stadtgöttin von Alexandrien wäre, daraus schliessen, 
dass die Schale nun auch in Alexandria entstanden 
sein müsse,- es fällt auch dafür nicht ins Gewicht, dass 
„die Skelettbecher mit ihren bizarren Darstellungen, 
ihrer Vereinigung berühmter griechischer Dichter 
und Philosophen und ihren griechischen Sprüchen 
ganz von Jilexandrianischem Geiste erfüllt sind“, 
denn dieses Gepräge trägt bekanntlich aus nahe¬ 
liegenden Gründen die ganze pompejanische Kunst. 
Dass die grosse Masse der Gefässe von Boscoreale 
einheimischen Werkstätten entstammt, steht unbe¬ 
streitbar fest; sie werden sämtlich, wenn auch zu 
verschiedenen Zeiten, doch an einem Orte ent¬ 
standen sein. — — 

„Es ist ein seltenes Glück, das diesen Schatz 
uns aufbewahrt und wiedergegeben hat, eine Fülle 
von Schönheit ist hier neu erschlossen“ und die in 
Vorbereitung begriffene französische Praclitpubli- 
kation verspricht auch uns in Deutschland ein reiches 
Mass neuer Belehrung und Anregung. -- 

I)r. Q u 11. L t N o. 


Naphta ■ Feuerung. *) 

Von Dr. S. Aisinman. 

Das Problem, Naphta und seine Produkte als 
Feuerungsmaterialzu verwerten, wurde zuerst Ende 
der 50er Jahre (unseres Jahrhunderts) mit Ernst in 
Angriff genommen, als die Aufschliessung uner¬ 
schöpflicher Naphta-Quellen in Amerika und Russ¬ 
land die industrielle Verwendung des flüssigen Brenn¬ 
materials praktisch-aktuell machte. 

Die fieberhafte Thätigkeit in der Erbohrung neuer 
Erdölquellen führte schliesslich zur Entwertung des 
Rohöls; die Preise sanken ungemein. Dazu gesellte 
sich die Ohnmächtigkeit der jungen Industrie, diesen 
enormen Naturreichtum zu bewältigen, und das un¬ 
geheure Quantum von Rückständen (Ostatki), welche 
die Petroleumfabrikation gab, wurde für den In¬ 
dustriellen zur förmlichen Last. 

Alle diese Momente mussten mit Notwendigkeit 
beim .Techniker den Gedanken wachrufen, diese 
brachliegende Kraft dienstbar zu machen. 

Zuerst stellten die Amerikaner die industrielle 
Verwertung des neuen Feuerungsmaterials auf eine 
rationelle Basis. Schon die ersten Versuche zeigten 
ihnen die enormen Vorteile des Naphta vor allen 
anderen Heizstoffen. Der Heizeffekt war wesentlich 
höher; ein Volumen Naphta lieferte ca. dreimal so 
viel Arbeit, als das gleiche Volumen Kohle. Das 
Naphta hinterliess beim Verbrennen keine Ueber- 
reste, während beim Verbrennen der Kohle eine 
erhebliche Menge von Asche Testierte, die ein 
öfteres Reinigen der Roste notwendig machte; die 
Regulierung der flüssigen Heizung war viel leichter 
und bequemer als das Aufwerfen der Kohle und 
des Holzes; die Dampfbildung gieg bei der Naphta- 
feuerung schneller vor sich u. a. m. 

In Russland wurden die Versuche von Schau 
und Linton erst im Jahre 1864 bekannt. Anfäng¬ 
lich warf sich die Industrie im Kaukasus auf die 
„ewigen Gase“, die in grossen Quantitäten durch 
Erdri.sse entströmen. Justus Liebig liess die erste 
technische Anlage im Kaukasus durch seinen As¬ 
sistenten Moldenhauer bei dem Baron Wrangel 
ausführen. Damals schrieb man das Jahr 1858. Drei 
Jahre später sehen wir bereits die grosse Paraftin- 
fabrik von Witte Kir (Asphalt neuerer Bildung) 
als Brennmaterial verw'enden. 

Der hohe Preis dieses Produktes führte dann 
zum Versuch, die Residuen mit Dung gemischt als 
Briquets für die P'euerung zu vervv’enden. Von da 
war nur ein Schritt zum Brennen reiner Residuen. 

Die wissenschaftliche Untersuchung des Naphta 
und seiner Produkte fand erst viel später statt. Zu¬ 
nächst war es die reine Empirie, welche die ganze 
Naphtaindustrie beherrschte. So sehr erschwert die 
komplizierte Natur dieses Materials das Studium, 
dass auch jetzt noch, wo das Rohöl als Beleuch- 
tungs-, Heizungs- und Sohmiermaterial eine emi¬ 
nente Rolle in unserem kulturellen und wirtschaft¬ 
lichen Leben spielt, kein gen^ender theoretischer 
Aufschluss über seine Beschaf^nheit gegeben ist. 

Es ist darum nur zu erklärlich, dass die ersten 
Bakuer Pioniere über das Gebiet der primitivsten 
Versuche nicht hinauskamen. Unermüdlich auf die¬ 
sem Gebiete war Schpakowski, der eine ganze 
Reihe von Versuchen angestellt hat. 

Im Jahre 1868 schickte die Bakuer Firma „Kau¬ 
kasus und Merkur“ ihren Mechaniker Lenz nach 
nach dem Auslande, um die Fortschritte auf dem 
Gebiete der Feuerung mit flüssigen Brennmaterialien 
zu studieren. Nach seiner Rückkehr legte Lenz eine 
ganze Reihe von Feuerungsanlagen an: in Astrachan 
und dann in Baku. 

ln der zweiten Hälfte der 70er Jahre nahm 


*) Chem. Rundschau. Dez. 1896, S. 105. 


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88 


Sprachliche Fragen. 


L. E. Nobel energisch die Aufgabe der Naphta- 
Teuerung für verschiedenartige Oefen auf und ver¬ 
schaffte damit diesem Brennmaterial eine sichere 
Zukunft. 

Die drei Namen Schpakowski, Lenz- und 
Nobel sind eng mit der Entwicklungsgeschichte 
der Naphtafeuerung in Russland verknüpft. 

In Amerika nahm der anfängliche Eifer für das 
Problem bald ab. Erst in der letzten Zeit, mit dem 
Aufschliessen der Rohölgebiete in Ohio, die ein 
besseres Material für Heizzwecke als zur Petroleum- 
fabrikation liefern, wurde das Interesse an der 
Naphtafeuerung wieder neu belebt. Andere euro- 
äische Länder haben sich an der Bearbeitung der 
rage mehr theoretisch als praktisch beteiligt. 


Sprachliche Fragen. 

Von Dr. F. Tf.tzner. 

4. Ahfciliiitgsstrichi-, Aftosirophi', .‘lnführnngssln'che. 

Die ältesten deutschen Schriftstücke teilten ab, 
wenn die Zeile aus war. Hätten wir den löblichen 
Gebrauch noch, so würde den Schülern viel Kopf¬ 
zerbrechen, den Lehrern mancher Aerger, den Set¬ 
zern hübsche Zeit erspart. Die beste Regel wäre 
die: Angefangene Worte schreibt man bis ans Zei- 
Icnende, so dass noch ein Abteilungsstrich • gemacht 
werden kann. Dann wäre die lächerliche Zertren- 
nung in Sprach- oder Sprechsilben abgethan. 

Der Abteilungsstrich ist sehr gut als Bindestrich 
zu verwenden. Schwäbisch-Bayrische Hochebene, 
Kopf- und Handarbeit. Den Doppelsti'ich kann 
man Ihr folgende Wortbildungen aufsparen und 
dabei zugleich ein oft behandeltes Problem aufs 
einfachste lösen: Carl-Heine»Strasse, Paul-Fleming= 
Denkmal, Deutsch-Südwest Afrika. 

Das unglücklichste Zeichen der deutschen Schrift 
ist das Apostroph, die alten deutschen Schriftwerke 
kennens nicht und man könnte es auch heutigen 
1 ages überhaupt vermeiden. Zulässig ist es nur um 
Verwechselungen zu vermeiden, namentlich zur Un¬ 
terscheidung des Präsens, des abgekürzten Präteri¬ 
tums in Gedichten; entdeckter = entdeckte er, muss von 
entdeckt er unterschieden werden. Aber entdeckter ist 
eine lieber zu unterla.ssende Verstümmelung. Wenn 
man überall da, wo ein Vokal oder Consonant aus¬ 
gefallen ist, Apostrophe machen wollte, so be¬ 
stünden fast alle unsere Worte aus ziemlich so viel 
Aposti'ophcn als Buchstaben. Völlig verkehrt sind 
aber die Apostrophe am Ende der Imperative: 
gieb, nimm, sieh, hilf u. s. w. Und setzt man gar 
bei komme ein solches Zeichen, so hat man den 
Imperativ in die erste Singularis Präsentis verwan¬ 
delt .und das kurze Telegramm „Komme" kann 
seine Auferstehung feiern. Wie viel man sich Mühe 
gibt, solche sprachliche Fragen zu verstehen, lehrt 
gerade dies Telegramm, das ein Mann seiner Frau 
sandte, und die nun nicht wusste, ob sie kommen 
sollte oder er kommen wollte. Ich habe diese 1890 
auftauchende Geschichte sofort sprachlich in der 
Leipziger Zeitung behandelt. Vor Jahresfrist las 
ich eine neue Novelle Rosegger.s, die genau den¬ 
selben Stoff darstellte, kurz darauf ein Gedicht 
gleichen Inhalts. 

Weniger, doch noch genug, Missbrauch treibt 
man mit den AnlÜhrimgsstrichen. Manche setzen 
immer die Ueberschrift, andere jede einzelne Zeile 


einer wörtlichen Rede, viele ganz beliebige Lieb¬ 
lingsworte des Volks oder des Einzelnen ohne Not 
in Gänsehäkchen. Wozu? Sie sollen doch nichts 
anderes als Citate und wörtliche Reden kenntlich 
machen, und darauf ist auch nur der Gebrauch der 
AnfOhrungsstriche zu beschränken. Werden aber 
zwei Personen redend eingeführt, so sollte bei der 
Rede der ersten Person ein Häkchen, bei jener der 
zweiten zwei Häkchen gebraucht werden, Vi'enn die 
Person nicht selbst zuvor bezeichnet ist, was ja bei 
Dreien stets, bei Zweien meist geschehen muss. 

,Hast Du das Schloss gesehen?' „Wohl hab ich 
das Schloss gesehen.“ 

Die meisten gesetzlichen Bestimmungen über 
unsere Rechtschreibung enthalten die Regel, in 
deutscher Schrift alle Accente zu vermeiden. Die 
Mahnung scheint mit Unrecht in den Wind geschla¬ 
gen zu werden. Wir haben nicht die Pflicht auf 
tschechische und polnische Worte Accente zu setzen 
oder neue Buchstaben einzuführen, aber an erster 
Stelle mussten die betreffenden Behörden selbst 
anfangen in slavischen und litauischen Namen bei¬ 
spielsweise die Laute sch und tsch allgemein statt 
der hie und da Üblichen ss und cz einzuführen. 
Welche Irrtümer sich aus solchen Unsicherheiten 
herleiten, beweist beispielsweise der Volksname 
der Kaschuben, die der slavischen Schreibweise 
Kassuben wegen sich in Kafsuben verwandelt haben 
und von den Gebildeten meist auch heute noch so 
genannt werden, zu einer Zeit wo die Kaschubei 
in Hinterpommem bereits ziemlich germanisiert ist. 


Betrachtungen und kleine Mitteilungen. 

Kleidung und Schamgefühl. Wie wir in unseren 
gewöhnlichen Urteilen meist durch sehr enge cultur- 
historische Schranken und Voraussetzungen geleitet 
werden, zeigt in sehr auffälliger Weise das land¬ 
läufige Kriterium der Kleidung, das wir an das 
Vorhandensein sittlicher Gefühle zu legen pflegen. 
Nacktheit ist in den Augen des Durchschnitts¬ 
menschen der Gipfel äusserster Frivolität und Scham¬ 
losigkeit. Auch hier hat erst die vergleichende 
Völkerkunde unseren Blick geschärft,, indem sie zu¬ 
nächst auf die völlig unbestrittene Thatsache hin¬ 
wies, dass an und lüi’ sich beide Momente völlig 
unabhängig von einander sind. Die schon aus 
klimatischen Gründen sorgfältig eingehOllten Kam- 
tschadalen und Alöutcnbewohner fröhnenden ärgsten 
sittlichen Ausschreitungen, während, z. B. die bis aut 
kleine Ornamente völlig nackten brasilianischen 
Waldindianer von solchen Excessen nichts wissen 
und ein harmloses unschuldige.s Völkchen sind. 
Abgesehen sodann vom Klima spielt Sitte und Mode 
(beide sind auch völkerpsychologisch zu scheiden) 
eine grosse Rolle in dieser Beziehung. Die isla¬ 
mitische Verschleierung des Gesichtes für die Frauen 
(die freilich auch in Afrika sonst weit verbreitet 
ist,) oder die Verhüllung des Nabels bei den Sa- 
moanern, des Fusscs bei den Chinesen u. s. w. sind 
derartige Belege, die sich beliebig vermehren licssen. 
Das, was vielfach übrigens für unsere Auffassung 
an der Kleidung Sache des aesthctischen Gefühls 
ist, wird für die Naturvölker (schon aus Mangel an 
Stoff) durch die Tätowirung ersetzt, für die tropischen 


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Kleine Mitteilungen. 


89 


und subtropischen Gegenden der Beginn einer pri¬ 
mitiven Kleidung. Insofern ist freilich ein mittelbarer 
Zusammenhang zwischen der Bekleidung und Sitt¬ 
lichkeit zu erkennen, als die verheirateten Frauen 
vielfach (durchaus nicht immer) eine Verhüllung 
anlegen, um nicht durch ihre geschlechtlichen Reize 
die Eifersucht und Begehrlichkeit fremder Männer 
zu erregen, eine Vorsichtsmassregel, die selbsti-edend 
beim männlichen Geschlecht kaum vorkommt. Hier 
finden sich umgekehrt öfter mancherlei groteske 
Ornamente zum Zeichen der vollendeten Pubertät, 
wie sie noch jüngst v. d. S t e i n e n unter den central¬ 
brasilianischen Waldindianern sah. Npch viel eigen¬ 
artiger ist, was derselbe Reisende dort beobachtete, 
nämlich, dass trotz aller Abwesenheit unseres 
europäischen Schamgefühls und aller Frivolität, die 
etwa auf eine Zersetzung hätte schliessen lassen 
können, sich ein sehr intensiv entwickeltes Schick¬ 
lichkeitsgefühl beim Essen zeigte; als äusserster 
Grad einer gegen Brauch und Sitte verstossenden 
Schamlosigkeit galt daselbst das gemeinschaftliche 
E^sen, wahrend Jeder seine Mahlzeit für sich, ohne 
sich den Blicken Anderer auszusetzen, verzehrte. 
Es war für die braven Bakairi gerade zu unan¬ 
ständig, sich mit Anderen zu einer grossen Wirths- 
tafel hinzusetzen, wie sie es nach ihren ganzen 
Vorstellungen nicht begreifen konnten, was denn in 
der völligen Nacktheit Anstössiges sein sollte. Wie 
wenig aber von einem, dem ganzen Menschen¬ 
geschlecht in gleicher Stärke und in derselben 
Richtung sich bethätigenden angeborenen Schamge¬ 
fühl die Rede sein kann, mag nur noch durch den fast 
komischen Zug veranschaulicht werden, dass die 
besagten Indianer - falls sie strohgeflochtene An¬ 
züge verwendeten, wie z. B. bei Tanzfesten - auf 
diesen Kleidungsstücken die Geschlechtsteile gross 
und deutlich anbrachten. Das giebt zu denken und 
lehrt uns vor allen Dingen, wollen wir uns nicht 
mit blossen Vermutungen begnügen, unter Entäusser- 
ung unserer specifischen Kulturempfindungen die 
fraglichen Erscheinungen in ihrer relativen Bedingt¬ 
heit psychologisch zu erfassen. 

Th. Achelis. 

• 

Fernsprecher und elektrische Strassenbahnen. 

In den elektrischen Strassenbahnen mit oberirdischer 
Stromzuführung und RückJeitung des Stromes durch 
die Schienen — wie sie wegen ihrer geringen An¬ 
lagekosten immer mehr zur Einführung gelangen -- 
ist dem Femsprechbetriebe ein schlimmer Feind er¬ 
wachsen. Die zur Strassenbahnzentrale zurück- 
fliessenden Starkströme halten sich nicht ausschliess¬ 
lich an den Schienen, sie irren von denselben ab 
und gelangen zum Teil in die Fernsprechanlagen, 
bei denen, soweit es sich nicht um Stadt- zu Stadt- 
leitungen handelt, bisher ausschliesslich die Erde 
zur StromrQckleitung benutzt wird. Wenn auch nur 
geringe Strassenbahn-Zweigströme durch die Erd¬ 
leitungen nach den Femsprechstellen aufsteigen, so 
machen sie sich wegen der grossen Empfindlichkeit 
der Fernsprechapparate doch als summendes oder 
pfeifendes Geräusch bemerkbar, welches die Sprech¬ 
verständigung mehr oder minder beeinträchtigt und 
sogar unmöglich macht. 

Da die Strassenbahnschienen nicht so verlegt 
werden können, dass sie unter allen Witterungs- 
verh^tnissen, namentlich bei feuchtem Wetter, voll- 
s^dig von der Erde isoliert sind, lässt sich das 
Uebertreten von Strassenbahnströmen in das Erd¬ 
reich nicht femhalten. Es ist deshalb zunächst an ' 


die Telegraphen-Verwaltung das Ansuchen gestellt 
vvorden, auf die Mitbenutzung der Erde zu ver¬ 
zichten und für alle Femsprechstellen metallische 
Hin- und Rückleitungen anzulegen. Abgesehen von 
den erheblichen Kosten würden durch das An¬ 
wachsen der Zahl der oberirdischen Leitungen auf 
das doppelte ernste Schwierigkeiten mit den Be¬ 
sitzern derjenigen Häuser entstehen, auf welchen 
sich Fernsprechgestänge befinden. Ausserdem müss¬ 
ten die kostspieligen technischen Einrichtungen der 
Fernsprech-Vennittelungsämter, deren System auf 
der Mitbenutzung der Erde aufgebaut ist, durch 
neue Einrichtungen ersetzt werden. Die Kosten für 
alle diese Massnahmen wären in Deutschland den 
Strassenbahn-Verwaltungen zur Last gefallen, da 
eine später hergestellte elektrische Anl^e nach den 
Bestimmungen im § 12 des Reichsgesetzes vom 
12. April 1892 die Kosten für möglichste Verhütung 
von Störungen in den bestehenden Anlagen zu tra¬ 
gen hat. 

Eine beide Teile gleich befriedigende Lösung ist 
neuerdings durch Herstellung gemeinsamer Rück- 
leihtMgen für melirere Femsprechstellen erzielt wor¬ 
den. Zur Rückleitung der in Fernsprechleitungen 
fliessenden Ströme wdrd für die zu einem Linien¬ 
zuge JDrahtschwarmel vereinigten Leitungen eine 
gemeinsame Rückleitung aus stärkerem Bronzedrahte 
als die Fernsprechleitungen angelegt, und jede ein¬ 
zelne Sprechstelle statt an die Erde an die gemein¬ 
same Kückleitung angeschlossen. Die von den 
Strassenbahnschienen abirrenden Ströme können nicht 
in die Rückleitung gelangen, da die letztere in ihrer 
ganzen Ausdehnung ebenso w’ie die Femsprech- 
leitungen auf Porzellanisolatoren geführt ist. ln ge¬ 
wissem Umfange schützt die Rückleitung die Fern¬ 
sprechanlagen auch gegen die in geringerem 
Maasse störende mduktorische Beeinfluraung durch 
die Strassenbahnströme, da die in der Femsprech- 
leitung und die in der Rückleitung induzierten Ströme 
sich nahezu aufheben. 

Um aber durchgreifende Änderungen der Fem- 
sprech-Vermittelungsämter zu vermeiden, und um 
' ferner Fernsprechleitungen mit gemeinsamer Rück¬ 
leitung und solche ohne Rückleitung — wie sie in 
einem grossen Fernsprechnetze Vorkommen werden 
— mit einander verbinden zu können, sind die Rück¬ 
leitungen im Vermittelungsamte nicht weder an die 
einzelnen Fernsprechleitxmgen geführt, sondern an 
die Erde gelegt. Das Gmndprinzip des Betriebes 
der urbanen Fernsprechleitungen (Hinleitung des 
Stromes auf metallischem Wege und Rückleitung 
durch die Erde) ist bei Anwendung gemeinsamer 
Rückleitungen also nicht aufgegeben worden. Der 
Weg durch die Erde wird nur auf eine möglichst 
kurze Strecke, und zwar auf ein Gebiet beschränkt, 
in welches Strassenbahnströme nicht gelangen. 

Die Kosten für die gemeinsamen Rückleitungen 
stellen sich weit geringer als die Air Herstellung 
besonderer ROckleitungen bei sämtlichen Anschlüssen 
aufzuw'endenden Beträge. Die auf den Fernsprech- 
Vermiltelungsämtern zur Erde geführten, für eine 
grössere Anzahl von Femsprechstellen gemeinsam 
angelegten Rückleitungen bilden ein wirksames und 
dabei verhältnismässig w'enig kostspieliges Mittel, 
um die den Femsprechanlagen aus dem Betriebe 
der elektrischen Strassenbahnen erwachsenden Stö¬ 
rungen fernzuhalten. Martens. 

* 

Die Versorgung von London mit Meerwasser. 
Schon vor mehreren Jahren ist der Gedanke auf¬ 
getaucht, das zum Sprengen der Strassen und zum 
Löschen bei Feuersbrünsten in London erforderliche 
Wasser dem Meere zu entnehmen. 

Neuere Mitteilungen über dieses der Verwirklichung 
anscheinend entgegengehende Projekt finden sich 


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Klfine Mitteilungen. 


90 

in den „Memoires de la Societe des Jngenieurs 
civils“. Nach einer Aufstellung von Franck 
G r i e r s o n würde bei Verwendung von Meerwasser 
in London für oben genannte Zwecke täglich ein 
Volumen von 40000 bis 45000 cbm. erforderlich 
sein. Die Entnahme müsste an einer Stelle statt¬ 
finden, wo das Wasser möglichst rein ist und es 
wird hierzu der zwischen Brighton und Worthing 
an der Südküste Englands gelegene Ort Lancnig 
vorgeschlagen. Dort wird das VVasser zunächst in 
ein Bassin mit einem Fassungsraum von45000cbm 
geleitet, dessen Grund ungefähr 3m unter dem Meeres¬ 
spiegel liegt. An der Seite dieses Bassins aufgestelite 
Hebemaschinen drücken dann das Wasser in ein bei 
Steyning auf dem Gipfel eines benachbarten Hügels 
liegendes Reservoir. Diese Maschinen sind die ein¬ 
zigen, welche für die Verteilung des Wassers zu 
beschaft'en sein würden. Das Reservoir liegt unge¬ 
fähr 150 m über dem Meeresspiegel und fasst eben¬ 
falls 45000 cbm. Das Wasser fliesst nun durch eigene 
Schwere in ein bei Kpsom 60 m über dem Meeres- 
^iegel liegendes drittes Reservoir von demselben 
Fassungsraum wie das letztgenannte und aus diesem, 
immer noch durch eigene Sclnvere, nach London, 
wo es unter einem Druck zur Verteilung gelangt, 
welcher höher liegt als derjenige in den Leitungen 
der meisten dortigen Was.serversorgungs- Gesell¬ 
schaften. 

Die erste Stadt, welche vor mehr als 4ojahren 
Meerwasser zum Sprengen der Strassen verwendete, 
war Ryde; es folgten Tynemouth iin Jahre 1872 
und später Barrow - in Furnes.s, Birkenhead, Fal- 
mouth, Harwich, Plymouth, Portsmouth und andere 
Städte. 

Die Erfahrungen haben überall gezeigt, dass das 
Meerwasser für Sprengzweckc weit vorteilhafter zu 
verwenden ist als SOsswasser. Dasselbe hält die 
Strassen während einer längeren Zeit feucht, ohne 
Schmutz zu erzeugen, es härtet den Makadam und 
bildet eine Art Kruste über demselben, welche Stauh- 
bildungen verhütet. Namentlich auch bei IIolz- 
pflasterungen ist eine Sprengung mit Meervvasser 
zu empfehlen. Dasselbe verzögert hier die Auflösung 
fäulniserregender Substanzen und verhütet die Ent¬ 
stehung von Dünsten, über welche das Publikum 
bei derartigen Pflasterungen stets zu klagen hat. 

Die Ausgaben bei Verwendung von Meerwasser 
zu Sprengzwecken in London werden sich jeden¬ 
falls etwas niedriger stellen als derjenigen bisher, 
da der tägliche Verbrauch auf ungefähr die Hälfte 
des jetzigen hcrabsinken wird. In demselben Ver¬ 
hältnis werden aber auch Sprengwagen und Pferde 
w’eniger erforderlich sein, als vordem; ausserdem 
kommen die Strassen in einen besseren Zustand 
und erfordern geringere Kosten zu ihrer Unter¬ 
haltung. Dies hat sich wenigstens überall da her- 
ausgcstellt, wo Meerwasser zum Sprengen dei- 
Strassen V’crwendung gefunden hat. Ausserdem 
lassen sich auch in der lieissen Jahreszeit, wo ge¬ 
wöhnlich Mangel an .Süsswasser herrscht, die Strassen 
stets genügend bewässern. 

Zum Spülen von Gassen, Kloaken ii. dgl. hat 
sich die V'crwcndung von Seewasser, besonders in 
hygienischer 1 linsicht, ebenfalls als sehr zweckmässig 
erwiesen. Kevue iudiistrklk-. 17. Oct. 1896. 

• • 

Bemerkenswertes aus dem Militär-Etat 97 98. 

i) In erster Linie stehen die Mehrforderungen 
bezw. Änderungen im Etat in Folge der durch 
Gesetz vom 3. August 1896, betr. die Friedens¬ 
präsenzstärke des deutschen Heeres, vorzunehmen¬ 
den Utnii’omUKii^ il'-r 4. fliixlbhliaiaiUom in l 'oll- 
botatHonf. Hiernach sind neu verlangt fürPreussen; 


16 Infanterie-Brigadestäbe, 33 Infanterie-Regiments 
Stäbe und 66 Infanteriebataillone; dagegen fallen 
133 Halbbataillone fort. [Baiern errichtet 10, Sachsen 
6, Württemberg 4 Vollbataillone.] 

2) Die bisher bei 3 Armeekorps errichteten 
MfUhreitcr- Dvtachemmls haben sich gut bewährt; 
es werden daher solche für 2 weitere Armeekorps 
angefordert. — 

3) Nachdem sich das Fahrrad bei der Infanterie 
jetzt eingebürgert hat, wird nunmehr auch eine 
Summe ausgeworfen zur Ausrüstung mit demselben 
ftlr die Pionierbataillone, und zwar soll jede Kom¬ 
pagnie ein Lern- und ein Kriegsfahrrad erhalten; 
ferner soll die Militär-Telegraphenschule mit 2 Lern- 
und 2 Kriegsfahrrädern ausgerüstet werden. — 

4) Die noch fehlenden ly Divisionsarztstellen 
sollen geschaffen werden. 

51 Weite Aufstellung von 2 Bespannungs • Ab¬ 
teilungen für die Fussartillerie (bis jetzt 4 vorhanden.) 

6| Erhöhung der Stärke des Lehr- Infanterie- 
Bataillons währen der Monate April - September, 
um die Ausbildung der Mannschaften in ungefähr 
kriegstarken Verbänden bewirken zu können. — 

7) Beschaffung neuer Kavallerie ■ Patrouillen- 
Apparate. 

Dieser Apparat, mit welchem die Kavallerie- 
Regimenter und die Pionier - Detachements der 
Kavallerie - Divisionen ausgerüstet werden sollen, 
befähigt die Kavallerie-Patrouillen in kürzester Zeit 
und wo es irgend möglich, eine Telegraphenleitung 
zu legen, (z. B. im Vorbeireiten im Galopp den 
Draht von der Lanze abwickelnd und über Bäume 
werfend), überall den Anschluss an vorhandene 
Leitungen bewerkstelligen und schliesslich feindliche 
Depeschen von der Leitung abfangen zu können. 
Letzteres wird durch die Herstellung der Verbin¬ 
dung zwischen Leitung und Apparat vermittelst 
eines silbernen Drahts bewirkt, da Silber ein besserer 
Leiter der Elektrizität ist, als Kupfer oder Stahl. 
Die Zeichen des Morse-Apparats werden durch ein 
Telephon übertragen. Dadurch, dass bei dem neuen 
Kavallerie • Telegraph die einzelnen Teile durch 
Reiter getragen werden können, und somit ein 
Packpferd entbehrlich wird, sind die Patrouillen 
unabhängiger vom Gelände und freier in ihrer 
Bewegung. 

• « 

Hugo Gylddn. Einen weiteren schweren Ver¬ 
lust hat die astronom. Wissenschaft im Laufe des 
Winters zu beklagen gehabt. Es starb am 9. Nov. 
des vor. Jahres auf der Sternwarte zu Stockholm 
deren Direktor Johann August Hugo Gylden, 
ein Mann, der sich namenüicli um die theoretische 
Astronomie, um die Berechnung der Planeten- und 
Ko/netenbahnen und die bei diesen Arbeiten eine 
grosse Rolle spielenden sogen. Störungen bedeu¬ 
tendes Verdienst erworben hat. — Wie dem ihm 
kurz vorhergegangenenTisseraud*) war auch ihm 
nur ein kurzes Dasein beschieden, er hat dasselbe 
aber für seine Wissenschaft in hohem Grade frucht¬ 
bringend zu nützen verstanden. Geboren 1841 
am 29. Mai zu Helsingfors, **) erhielt er in seiner 
Vaterstadt seine Bildung zunächst im Elternhause 
und sodann an der dortigen Universität. 1860 pro- 

*) Vgl. No. i der Umschau. 

**) Naclifolecudo Daten sind im Wesentlichen einem Nekro¬ 
loge von Karl Bohlin, einem seiner letzten Schiller, entaom- 
men. Astr, Nachr. Nu. 3388. 


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Kleine Mitteilungen. 


91 


movierte er zum Magister der Philosophie und be¬ 
gab sich sodann 1861—62 nach Gotha und Leipzig, 
um namentlich bei ftansen seine Studien zu ver¬ 
tiefen. 1863 wurde er Dozent der Astronomie und 
Doktor in Helsingfors. Um dieselbe Zeit ging er an 
die Sternwarte nach Pulkowa bei St. Petersburg 
und verblieb dort bis 1871, bis er als Mitglied der 
Akademie und Direktor der Sternwarte nach Stock¬ 
holm berufen wurde. Hier wirkte er sowohl in rein 
wissenschaftlicher Thätigkeit als auch vielfach durch 
die Einführung junger Astronomen in seine Ideen 
der Berechnungsmethoden der Bahnen der Himmels¬ 
körper. Mehrere seiner damaligen Schüler befinden 
sich schon heute in angesehenen Stellungen und 
haben seine Theorien weiter ausgebaut und ihnen 
rechnerische Form* gegeben. Einen Ruf als 
Direktor an die Sternwarte nach Göttingen als 
Klinkerfues’ Nachfolger lehnte er aber auf speziellen 
Wunsch seines Königs ab und verblieb fortan, reich¬ 
lich von der Freigebigkeit seines Monarchen in 
seinen wissenschafUichen Bestrebungen unterstützt, 
in Stockholm. Hauptarbeiten Gylden’s sind seine 
Untersuchungen über die Refraktion und die Kon¬ 
stitution der Atmosphäre, w’elche er in. Pulkowa 
z%vecks genauer Reduktion der dortigen Meridian¬ 
beobachtungen ausführte. Sodann folgt die bekannte 
geschichtliche Darstellung der „Grundlehren der 
Astronomie“, welche in deutscher Uebersetzung 
(Lpzg. 1877) weit bekannt ist. Seine Untersuchun¬ 
gen Ober die Störungstheorien sind meist niederge¬ 
legt in: „Studien auf dem Gebiete der Störungs¬ 
theorie“: in den Publikationen der Stockholmer Stern¬ 
warte „jaktta gelser och undersökningar anstälda 
p 4 Stockolms Observatorium“ und in „Undersökningar 
af theorien för himlakroppamas rörelser 1—Ul.-1881 - 
82. — Gylden war Mitglied vieler gelehrter Gesell¬ 
schaften, so auch eine Reihe von Jahren Vorsitzen¬ 
der des Vorstandes der „Astronomischen Gesell¬ 
schaft“, bis ihn seine zunehmende Kränklichkeit 
zwang, im vorigen Jahre von diesem Amte zuröck- 

zutreten. Dr. a. 

• « 

• 

Der bisherige Observator an der Kgl, Sternwarte 
zu Königsberg i. P. Prof. J. Franz ist als Er¬ 
satz für den emerit. Prof. G. G a 11 e als Direktor der 
Sternwarte und Professor der Astronomie an die Uni¬ 
versität Breslau berufen worden. Prof Franz 
hat sich in letzter Zeit namentlich um die scharfe 
Beobachtung der Mondposition verdient gemacht, 
indem er für einen Punkt, auf dessen Oberfläche 
die verschiedenen Stellungen desselben gegen das 
scheinbare Mondzentrum ableitete. Dr. a. 


Planet Mars. Vor einigen Wochen befand sich 
der Planet Mars in der Verbindungslinie Sonne 
Erde, d. h. er war in Opposition und deshalb von 
der Erde in geringstem Abstande. Diese Stellungen 
sind natürlich immer die günstigsten für eine Beob¬ 
achtung der physischen Beschaffenheit seiner Ober¬ 
fläche. Wenn auch bis jetzt noch nicht viel über 
die diesjährigen Resultate bekannt geworden ist, 
so dürfte doch eine Beobachtung von Interesse sein, 
welche der italienische Astronom C e r u 11 i und Dr. 
Lohse in Potsdam gleichmässig gemacht haben; 
es betrifft diese die Lage des südlichen Polarflecks 
des Mars, der einen der beiden Calotten vom Po¬ 
lareis und Schnee, w’elche die Pole des Mars eben¬ 
so umgeben wie die der Erde. — In Nr. 3393 d. Astr. 
Nachr. teilen beide Beobachter mit, dass für den einen 
dieser Flecke der Mittelpunkt desselben eine konstante 
Lage habe, und dass er nach fast völligem Ver¬ 
schwinden desselben im Jahre 189a wieder in der 
Nähe dieses Punktes sich gebildet nabe. —• Dieser 
Mittelpunkt fällt aber nun durchaus nicht mit dem 


aus den Fleckenbeobachtungen abgeleiteten geo¬ 
metrischen Pol d. h. dem &ide der Umdrehungs¬ 
achse zusammen, sondern liegt auf einer areo- 
graphischen Breite von etwa 84«. Es ist also mög¬ 
lich, dass auch auf dem Mars Strömungen oder 
ähnliche Einflüsse wirksam sind, die wie auf der 
Erde den Kältepol gegen den Rotationspol um einen 
erheblichen Betrag verschieben. Dr. a. 


Obwohl wir uns in der bekannten ii jährigen 
Sonnenflecken - Periode keineswegs zur Zeit des 
Maximums dieser Erscheinungen befinden, ist in der 
ersten Hältfte des Januar ein Sonnenflecken sicht¬ 
bar gewesen, welcher sich durch besonders grosse 
Dimensionen auszeichnete und an welchen sich noch 
eine Gruppe kleinerer Flecken anschloss. Am 
2. Januar zeigten sich nach dem Bericht eines Be¬ 
obachters die ersten Spuren dieses Fleckens in einem 
feinen Strichelchen, von welchem in nordwestlicher 
Richtung helle Sonnenfackeln standen. Nachdem 
der Flecken einige Tage später in seiner ganzen 
Ausdehnung sichtbar geworden war, gelang es ohne 
Mühe, ihn sogar mit blossem Auge wahrzunehmen. 
Es geht schon hieraus hervor, über welch’ mächtige 
Fläche er sich ausdehnte. Man muss sich dieselbe 
etwa 5 mal grösser als die gesamte Oberfläche 
unserer Erde vorstellen. Eben wegen dieser be¬ 
sonderen Grösse ist aber ziemlich sicher zu erwarten, 
dass der Flecken, welcher sich zur Zeit bereits auf 
der von uns abgewendeten Seite der Sonne befindet, 
noch bestehen wird, wenn dieselbe eine Rotation 
vollendet hat. 

Da der Flecken am 2. bis ,3. Januar am Ostrand 
der Sonne auftauchte, so wird er am 30. bis 31. 
Januar uns ebendortselbst wieder sichtbar w’erden. 
Mancher Leser dürfte deshalb Gelegenheit nehmen, 
sich von der Wiederkehr dieses Fleckens zu über¬ 
zeugen. Es wird dabei für den Beschauer, welchem 
ein kleines Fernrohr zu Gebote steht, interessant 
sein, die Gestalt desselben mit dem Bilde zu ver¬ 
gleichen, das wir in der nächsten Nummer bringen 
werden, um zu prüfen, ob und wie der Flecken in¬ 
zwischen seine Gestalt verändert hat. Solche Ver¬ 
änderungen sind oft sehr erheblich und sie vollziehen 
sich zuweilen sehr schnell im Verlaufe weniger 
Stunden und geben uns so ein Bild von den unge¬ 
heuren Kräften, welche auf der Sonne wirken. 

Wie bereits erwähnt, sind wir in der Lage, in 
der nächsten Nummer eine Originalaufnahmc des 
Sonnenfleckens vom 3. Januar d. J. zu bringen, 
dem sich ein kurzer Aufsatz über die Natur der 
Sonnenflecken nebst Abbildung eines Spektrums 
anschliessen wird. Dr. a. Schwassmank. 


Der bisher so sehr vernachlässigten Knnene- 
mündnng im deufschsndivestofrikanisclien Schutzge¬ 
biet scheint nach den Reiseberichten des Dr. jur. Es¬ 
ser für die Zukunft eine bessere Rolle beschieden zu 
sein. Der Reisende fand, dass die bisherigen Kar¬ 
ten den thatsächlichen Verhältnissen wenig ent¬ 
sprechen. So finden sich auf dem rechten Ufer 
an der KunenemOndung auf allen Karten Höhen 
von 750 und 925 ni, während in Wirklichkeit Dünen 
und ein Plateau von höchstens 30 m vorhanden sind. 
Weiter sollen an der Mündung zwei Katarakte, 
der eine sogar von 40 m Höhe vorhanden sein, 
während in Wirklichkeit nur ein Fall von knapp 
2 m Höhe sich vorfindet. Auch die Küste ist viel¬ 
fach auf den Karten falsch, und Dr. Esser glaubt, 
dass die von ihm südlich der KunenemOndung aul¬ 
gefundene Bai alle Bedingungen für einen Hafen, 
an dem der nördliche Teil des Schutzgebietes be¬ 
kanntlich noch Mangel leidet, erfüllt. Der Kunene 


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92 


Kleine Mitteilungen. 


mit seinem vorzüglichen Trinkwasser ist leicht in 
wenigen Stunden zu erreichen, und es ist auf die¬ 
sem Flusse auch bequem in’s Innere zu gelangen, 
wo bekanntlich südöstlich desselben ein reiches, 
schönes und gesundes Land sich ausbreitet. Dr. E. 


Eine bedeutungsvolle Entdeckung auf dem 
Gebiete der Botanik. Aus Tokio gelangte eine 
Mitteilung über eine Entdeckung auf dem Gebiete 
der Botanik zu uns, welche .-nicht nur Botaniker 
von Fach, sondern die gesamte gebildete Welt auf 
das Lebhafteste interessieren wird, da dadurch die 
D a r w i n’sche Lehre von der allmählichen Entwickel¬ 
ung der Arten einen neuen Beleg erhält. 

Zwischen den sogenannten blütenlosen Pflanzen 
(Kryptogamen) und den Blütenpflanzen (Phanero- 
gamen) gab es bisher kein Bindeglied, indem die 
Art und Weise des Befruchtungsvorganges eine 
scharfe Grenze zwischen diesen beiden grossen 
Pflanzengruppen zog. Teilweise schon bei den 
Algen, insbesondere aber bei den höchsten Kryp¬ 
togamen, den Moosen und Famen, wird die ruhende 
Eizelle durch bewegliche, männliche Samenkörper¬ 
chen fSpermatozoideni befruchtet. Bei den Blüten¬ 
pflanzen, auf deren tiefster Stufe die Cycadeen und 
Coniferen stehen, gelangen nach unseren bisherigen 
Erfahrungen die Pollenkörnbr (der Blütenstaub der 
Staubgefassse, welche die männlichen Organe dar¬ 
stellen) auf die Narbe des Stempels (des weiblichen 
I Organs), wachsen zu Schläuchen aus, welche bis 
zu den Eichen Vordringen und die Befruchtung 
derselben bewirken. Nach einer im „Botanischen 

Centralblalt“ vom Januar 1897 enthaltenen vorläu¬ 
figen Mitteilung Ikeno’s, Prof, am botanischen In¬ 
stitut der Agricultur-Abteilung zu Tokio, hat bereits 
Ende 1896 L. Hirase die Spermatozoiden bei einem 
zu den Nadelhölzern gehörigen, in unseren Anlagen 
niz-h« i’'”’Tne, Ginj?ko eenannt, 

' k ..liu ucu geueicn, uuss hier die 

Befruchtung in analoger Weise^ wie bei den höhe¬ 
ren Kryptogamen vor sich geht. Bald darauf fand 
Ikeno ’dje Spermatozoiden einer Cycadee (Cycas 
revoluta), wdche öfters in unseren Gewächshäusern 
kultiviert wird. fEs sei daran erinnert, dass die 
Blätter einer Cycasart nicht selten bei Begräbnissen 
fälschlich als ^almenblälter Verwendung finden.) 
Mit diesen Entdeckungen sind höchstinteressante 
Uebergänge zwischen jenen beiden grossen, bereits 
von Linne aufgestellten, bisher getrennten Pflanzen¬ 
gruppen sichergestellt worden. n. 


Die Internationale geologische Karte von 
Europa. Der internationale Geologen-Congress 
zu Bologna im Jahre 1881 hatte die Herausgabe 
einer neuen grossen geologischen Karte von Europa 
im Masstab i: 1500 000 beschlossen und die Aus¬ 
führung derselben den beiden damals an der Spitze 
der Preussischen geologischen Landesanstalt stehen¬ 
den Herren Begrisch und Hauchecorne über¬ 
tragen. Für die in 49 Blatt zerlegte, ausser Europa 
auch noch die Mittelmeerländer umfassende Karte 
wurde nach den neuesten und zuverlässigsten Kar¬ 
tenaufnahmen eine neue topographische Grundlage 
hergestellt, die z. Z. für den weitaus grössten Teil 
der Karte vollendet ist. Im Jahre 1894 ist die erste 
Lieferung dieses grossartigen Werkes erschienen, 
welche in 6 Blättern das nördliche Deutschland mit 
Hollan^ Belgien und Nord-Frankreich, den süd¬ 
lichen Teil von Dänemark und Schweden, West- 
Russland und Ndr.-Österreich, sowie Island und 
Teile von Grönland zur Darstellung brachte. In der 
Januar-Sitzung der deutschen geologischen Gesell¬ 
schaft legte Geh. Oberbergrat ßr. Ha uc hcco rne 


nunmehr die soeben vollendete zweite Lieferung 
vor, welche in 5 Blättern Spanien, Portugal, den 
grösseren Teil von Frankreich,'Corsica, Sardinien, 
das mittlere Italien, sowie die Küstengebiete von 
Tunis, Algier und Marocco umfasst. Die Karte er¬ 
scheint im Verlage von Dietrich Reimer in Ber¬ 
lin; der in Anbetracht des Umfanges ausserordent¬ 
lich billige Preis des Kartenwerkes (110 M.) ist da¬ 
durch ermöglicht worden, dass die sämtlichen betei¬ 
ligten Regierungen sich zur Abnahme einer be¬ 
stimmten Anzahl von Exemplaren verpflichtet haben, 
und durch diese staatlichen Abonnementsbeträge 
der grössere Teil des zur Herstellung der Karte 
erforderlichen Kapitales aufgebracht wird, sowie 
dadurch, dass sämtliche wissenschaftlichen und 
techniscn-zeichnerischen Arbeiten zur Herstellung 
der Stich- und Druckvorlagen, Korrekturen etc. durch 
die Kartendirektion d. i. die Leitung der preussischen 
geologischen Landesanstalt kostenlos geleistet 
werden. r. m. 


Die neuen englischen Kohlenlager. Eine grosse 
Aufregung herrscht in der englischen Presse. In 
ATr«/', der-im Süd-Osten gelegenen Grafschaft, die 
vom Kanal begrenzt wird, sind Kohlenlager von 
grösster Dimension gefunden worden. Schon sieht 
die englische Phantasie die idyllische, ländlich schöne 
Gegend in einlndustriegebietumgewandell,derAcker- 
bauer wird zum Grubenarbeiter und aus dem präch¬ 
tig gelegenen kleinen Hafen Dover entwickelt sich 
ein zweites Newcastle. — Doch halten wir uns an 
Thatsächliches, indem wir dem „Daily Telegraph“ 
die erforderlichen Daten entnehmen. 

Die Bohrversuche nahmen ihren Ausgang von 
dem zwischen England und Frankreich geplanten 
Tunnel. F. Brady, der Chefingenieur der Gesell¬ 
schaft, veranlasste diese, nachdem das Tunnelpro- 
jekt aufgegeben werden musste) nach Kohlen zu 

g -aben. ln der Nähe von Dover wurden diese 
ohrungen vorgenommen und nach etwas über vier 
Jahren wurden in einer Tiefe von ca. 350 m die 
ersten Kohlen gefunden. Man ging mit dem Bohrer 
bis zu ca. 660 m, wo man auf ein Kohlenlager von 
Ober einem Meter Mächtigkeit’stiess; zwischen dem 
obersten und untersten Lager passierte man noch 
14 weitere Lager, deren Mächtigkeit zwischen einem 
halben und einem Meter schwankt. — Man ging 
sogleich daran, Schächte zu graben, von denen der 
eine ausgemauerte bereits ca. 100 m, der andere 
ca. 70 m erreicht hat; kontraktlich müssen sie bis 
zu dem untersten und mächtigsten Lager geführt 
werden. Das ist recht tief, doch hat man in wigland 
wesentlich längere Schächte und in Mons in Bellen 
holt man Kohlen sogar aus ca. 1100 m Tiefe. Die 
Kohle wird als gut geschildert und man nimmt auch 
eine erhebliche Ausdehnung der Lager an. Natür¬ 
lich hat sich die Spekulation der Sache bemächtigt 
und stellt es als sicher hin, dass mindestens die 
ganze Grafschaft Kent auf mächtigen Kohlenlagern 
ruht; thatsächlich aber ist ausser dem vorhin er¬ 
wähnten noch kein weiteres Bohrloch zur UAter- 
suchung der Ausdehnung angelegt. b. 


No. 6 der Umschau wird enthalten; 

Jacobowski. Das moderne Drama. — Dessau, Was sind Rtet- 
l^enstrahlcQ. — Sonncnfleckea. Mit Abbildung der letzten Er¬ 
scheinungen im Januar nach Originalaufnahrae. — Wicdemaiui, 
Ein Reformator auf dem Throne der Pharaonen. (SchluM). — 
Freiherr von Stwigel, Die deutschen Kolonien. 


G. Horatmann's Druckerei Fraokfiirt a. M. 


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DIE UMSCHAU 


ÜBERSICHT Ober die Fortschritte und Bewegungen auf 
DEM GESAMTGEBIET DER WISSENSCHAFT, TECHNIK, 
LITTERATUR UND KUNST ■ 

heraiisgcgeben von 

DR. J. H. BECHHOLD 


Wöchentlich eine Nummer. 

Zu beziehen durch 
alle Buchhandhiugen und 
PosUnstaltcD. 

Postzeitungsprcisliste No. 7331 a. 

Verlag von: 

U. Bechhold Verlag, Frankfurt a. M. 


Neue Krame 19/31. 


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Preis M. la —. 

Im Ausland nach Conrs. 
Verantwortlicher Redakteur: 

Otto Adolf Wolters, Frankfurt a. M. 


Ms ^ L Jahrg. 


Nachdruck aus dm Initalt der Zeitschrift ohne Erlaubnis 
der Redaktion verboten. 


1897. 6. Februar. 


Was sind die Röntgenstrahlen? 

/ Von Dr. Berkharu Dessau. 

Ein Jahr ist seit Röntgens Entdeckung 
verstrichen. Noch frisch in aller Erinnerung 
ist die, für ein wissenschaftliches Ereignis 
beispiellose, Erregung, welche die zuerst von 
der Tagespresse verbreitete Nachricht von 
den neuen Strahlen in den weiten Kreisen 
des Publikums hervorrief. Die Thatsache, 
dass es Strahlen gebe, welche das Gewebe 
der tierischen Muskeln ebenso ungehindert 
zu passieren schienen, wie das Sonnenlicht 
die Fenster unserer Wohnungen, und welche 
nur vor der dichteren Materie der Knochen 
Halt machten, war zu wunderbar; denn diese 
Thatsache eröffnete, im Verein mit der pho¬ 
tographischen oder der Fluoreszenz-Wirkung 
der neuen Strahlen, mit einem Schlage einen 
ungeahnten Einblick in die Tiefen des leben¬ 
den Organismus. Den Physiker freilich durfte 
die geschilderte Thatsache nicht allzu sehr 
in Staunen versetzen. Er brauchte sich nur 
zu erinnern, dass ja das, was wir Licht 
nennen, und was uns durch unser Auge ein 
Bild der Aussenwelt vermittelt, in der Strah¬ 
lung der Sonne und anderer leuchtender 
Körper nur einen ziemlich bescheidenen Platz 
einnimmt. Die Ätherschwingungen, durch 
welche sich diese Strahlung ausbreitet, wer¬ 
den von unserem Auge nur wahrgenommen, 
wenn ihre Periode innerhalb bestimmter recht 
enger Grenzen eingeschlossen ist; der grös¬ 
sere Teil der bezeichneten Strahlung aber be¬ 
steht in langsameren oder rascheren Schwing¬ 
ungen und gerade die rascheren Schwingungen 
der sogenannten ultravioletten Strahlen, welche 
die photographische Platte besonders kräftig 
beeinflussen, sind auch im Stande, dünne 
Silberschichten, welche für unser Auge voll¬ 
kommen undurchsichtig sind, frei zu durch¬ 
dringen. Dass es Strahlen gebe, für welche 
auch eine Anzahl anderer, für uns undurch- 

Umachau 1897. 


sichtiger Materien — und unter diesen das 
tierische Muskelgewebe — transparent seien, 
konnte also nicht allzu wunderbar erscheinen. 
Die Ausnützung dieser Thatsache wurde denn 
auch den daran zunächst interessierten Krei¬ 
sen der Mediziner und Physiologen überlas¬ 
sen, während die Physiker danach trachteten, 
einerseits die Methoden zur Gewinnung der 
neuen Strahlen praktisch zu verbessern, ande¬ 
rerseits in den Mechanismus ihrer Entstehung 
und ihre intime Natur einen Einblick zu ge¬ 
winnen. Ein Jahr ist bei dieser Arbeit zahl¬ 
reicher Forscher verstrichen und viel interes¬ 
santes Material ist dabei gewonnen worden; 
und wenn auch die grundlegende Frage, 
was eigentlich die Röntgenstrahlen seien, 
noch nicht definitiv beantwortet ist, so lässt 
sich doch wenigstens von den vorgeschlagenen 
Theorien die eine als wahrscheinlicher, die 
andere als minder wahrscheinlich bezeichnen. 
Eine Darstellung derselben kann daher nicht 
als verfrüht gelten; von den Eigenschaften der 
neuen Strahlen werden wir dabei nur die¬ 
jenigen zu erwähnen haben, welche für die 
Erkenntnis der Natur derselben von Bedeut¬ 
ung sind; dagegen wird es geraten sein, 
zunächst auf die Entstehung dieser Strahlen 
und ihren Zusammenhang mit anderen Er¬ 
scheinungen, also auf die Elektrizitätsentlad¬ 
ung in Gasen, einen Blick zu werfen. 

Elektrische Entladu ngenzwischenzwei 
durch Luft oder ein anderes Gas von einan¬ 
der getrennten Leitern geschehen bekanntlich 
je nach dem Drucke des Gases in sehr ver¬ 
schiedener Weise. Steht das Gas unter At¬ 
mosphärendruck-und endigen die Leiter nicht 
in Spitzen, so bedarf die Entladung bedeu¬ 
tender Spannungen und vollzieht sich in Ge¬ 
stalt des elektrischen Funkens, dessen Bahn 
dem Auge als eine leuchtende Linie oder eine 
Verzweigung solcher Linien erscheint. Mit 
abnehmendem Druck des Gases sinkt auch 
die erforderliche Spannung, während die Bahn 



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94 


Dessau, Was sind die Röntgenstrahlen? 


der Entladung sich immer mehr verbreitert; 
ist der Raum, in welchen die Elektroden 
— das sind die die Entladung vermittelnden 
Leiter ~ eingeschlossen sind, bis etw’a auf 
den fausendsten Teil einer Atmosphäre aus¬ 
gepumpt, so ist überhaupt keine Bahn der 
Entladung mehr erkenntlich, sondern der 
ganze Gasinhalt des Gefässes leuchtet mit 
einer Farbe, welche je nach der Art des Ga¬ 
ses und anderen Umständen variiert; nur die 
negative Elektrode, die Kathode, erscheint 
von einem dunklen Raume umgeben. Bei 
fortschreitender Verdünnung gewinnt dieser 
dunkle Raum immer mehr an Ausdehnung 
auf Kosten des leuchtenden Teiles; er erreicht, 
wenn der Druck bis etwa auf den hundert¬ 
tausendsten oder millionsten Teil der Atmos¬ 
phäre gesunken ist, den der Kathode gegen¬ 
überstehenden Teil der Glaswandung des Re¬ 
zipienten und dann tritt eine neue Erschein¬ 
ung auf; die Glaswandung beginnt mit grün¬ 
lich gelbem Lichte zu leuchten, zu fluores¬ 
zieren. (Als Fluoreszenz oder Phosphores¬ 
zenz bezeichnet man bekanntlich die That- 
sache, dass gewisse Körper, wenn sie vom 
Tageslicht oder anderen Strahlen getroften 
werden, ein eigenes, von der Farbe der er¬ 
regenden Strahlen verschiedenes Licht aus¬ 
senden ; den ersteren Namen pflegt man dann 
anzuwenden, wenn das Leuchten nur so lange 
wie auch die erregende Ursache anhält, den 
letzteren, wenn es dieselbe mehr oder minder 
lange überdauert; doch sind beide Erschein¬ 
ungen keinesfalls wesentlich von einander 
verschieden). Treibt man endlich die Ver¬ 
dünnung des Gases nocli weiter, so gewahrt 
man, dass die Entladung wieder schwieriger 
wird und schliesslich, w'enn ihr kein anderer 
Weg geboten ist, ganz ausbleibt; der voll¬ 
kommen leere Raum ist ein Isolator. 

Uns interessiert hier namentlich das vor¬ 
letzte, durch die Fluoreszenz des Glases cha¬ 
rakterisierte Stadium der Entladungen, w'elches 
unter anderen von Crookes zum Gegen¬ 
stand eingehender Untersuchungen gemacht 
worden ist. Dass nicht der elektrische Strom 
als solcher es sein kann, welcher die Fluo¬ 
reszenz des Glases hervorruft, ist ohne wei¬ 
teres klar, da dieser seinen Weg gewiss von 
einer Elektrode zur anderen nimmt, während 
das Leuchten des Glases, wo auch immer 
die positive Elektrode, die Anode, sich be¬ 
finden mag, entweder auf die der Kathode 
gegenüberliegenden Teile der Wandung be¬ 
schränkt ist oder dieselbe vollständig umfasst. 
Vielmehr lässt der Schatten, den im Entlad¬ 
ungsraume befindliche Gegenstände auf die 
Wandung werfen, und ebenso auch das 
schwache Leuchten des Gasinhaltes selbst 
an seiner Begrenzung erkennen, dass das 


diese Wirkungen hervorrufendc Agens aus¬ 
schliesslich von der Oberfläche der Kathode, 
und zwar von allen Punkten derselben senk¬ 
recht zu dieser und in gerader Richtung 
ausgeht. Nach Crookes besteht dieses Agens 
in den im Entladungsraume noch vorhandenen 
Gasmolekülen, die infolge ihrer verhältnis¬ 
mässig geringen Anzahl beträchtliche gerade 
Strecken zurücklegen können, ehe sie durch 
Kollision mit anderen Molekülen eine Ab¬ 
lenkung erfahren; bei ihrer Berührung mit^ 
der Kathode erhalten sie von dieser eine 
elektrische Ladung und werden dann natür¬ 
lich alsbald heftig fortgeschleudcrt; erst von 
der Glaswand werden sie aufgehalten, erzeu¬ 
gen aber in derselben durch ihr Aufprallen 
Schwingungen, welche sich uns in der ge¬ 
schilderten Fluoreszenz kundgeben. Crookes 
bezeichnete diesen Zustand des Gases in der 
Entladungsröhre als „strahlende Materie", 
eine Art vierten Aggregatzustandes; heute 
dagegen zieht man den Namen „Kathoden¬ 
strahlen“ vor, welcher keine bestimmte An¬ 
schauung in Betreff der Ursache des Vor¬ 
ganges einschliesst. 

Eine solche Vorsicht wmrde notwendig, 
seitdem man Thatsachen kennen lernte, die 
mit der älteren Auffassung nur schwer oder 
nicht vereinbar waren. Bis vor wenigen Jahren 
wusste man von den geschilderten Strahlen 
nur, dass sic eine Anzahl Körper zum Fluo¬ 
reszieren bringen — weit stärker als das 
Licht, welches z. B. in dem Glase gar keine 
derartige Wirkung hervorruft; dass sie gleich¬ 
zeitig die von ihnen getroffenen Köper er¬ 
wärmen und mitunter sogar in Glut ver¬ 
setzen können; dass sie durch Annäherung 
eines Magneten von ihrer geradlinigen Bahn 
abgclenkt werden und dass zwei benachbarte 
Strahlen einander abstossen. Im Jahre 1893 
jedoch benützte Lcnard eine Beobachtung 
von Heinrich Hertz, wonach dünne Alumi¬ 
niumblättchen die Kathodenstrahlen (auch wir 
wollen diesen Namen adoptieren) passieren 
lassen, um dieselben durch ein solches Blätt¬ 
chen, womit eine kleine Öffnung in der Wand¬ 
ung der Entladungsröhre hinreichend luft¬ 
dicht verschlossen war, aus ihrem Entsteh¬ 
ungsraume in eine andere Umgebung treten 
zu lassen. Er konnte so die geradlinige 
Fortpflanzung besonders scharf und auf be¬ 
trächtliche Strecken in einem Raum verfolgen, 
dessen Gasinhalt so weit verdünnt war, dass 
er keine elektrische Entladungen mehr gestat¬ 
tete, also auch den Strahlen keine Entstehung 
hätte gewähren können. Er fand gleichzei¬ 
tig, dass es verschiedenerlei Kathodenstrah¬ 
len gebe, die sich hinsichtlich der Grösse 
ihrer Ablenkung durch den Magneten unter¬ 
scheiden und deshalb durch den letzteren, 


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Dessau, Was sind die Röntgenstrahlen? 


95 


ähnlich wie zusammengesetzte Lichtstrahlen 
durch das Prisma, in eine Art von Spektrum 
zerlegt werden; dass die Fortpflanzung der 
Kathodenstrahlen auch bei geringerer Ver¬ 
dünnung des Gases, ja selbst in Luft von 
Atmosphärendruck, vor sich geht, wenn sie 
auch hier mehr den Charakter einer Aus¬ 
breitung nach allen Richtungen, nach Art 
der Lichtstrahlen in einem trüben Medium, 
annimmt; und dass auch eine Anzahl fester 
Substanzen dem Fortschreiten der Kathoden¬ 
strahlen kein absolutes Hindernis entgegen¬ 
stelle; die Durchlässigkeit dieser letzteren 
scheine im umgekehrten Verhältnis zu ihrer 
Dichte zu stehen. Lenard beobachtete ferner, 
dass die Kathodenstrahlen stark photographisch 
wirken und dass ein von ihnen getroffener, 
mit Elektrizität geladener Leiter seine Lad¬ 
ung rasch verliert. 

Weitaus am wichtigsten für uns ist jedoch 
ihre Beziehung zu den Röntgenstrajilen. Die 
Entdeckungsgeschichte der letzteren wollen 
wir hier nicht wiederholen — sie ist ja ge¬ 
nugsam bekannt; nur erwähnt sei, dass E. 
Wie Jemann mit seinen „Entladungsstrah¬ 
len“, welche beim Überschlagen elektrischer 
Funken auftreten und welche manche Eigen¬ 
schaften der Röntgenstrahlen zu besitzen 
scheinen, die Entdeckung der letzteren wohl 
am nächsten gestreift hat. Wir erinnern 
daran, dass Röntgenstrahlen überall da ent¬ 
stehen, wo Kathodenstrahlen feste Körper 
treffen, wenn auch die letzteren nicht in 
gleichem Masse für die Emission dieser Strah¬ 
len befähigt sind; einige Substanzen, die 
unter dem Einflüsse der Kathodenstrahlen 
stark fluoreszieren, senden gar keine oder 
nur schwache Kathodenstrahlen aus, während 
bei anderen Substanzen gerade das Entgegen¬ 
gesetzte der Fall ist. Zu den letzteren ge¬ 
hört 'das Platin, welches auch der Erhitzung 
durch die Kathodenstrahlen am besten Wider¬ 
stand leistet; aus dem einen wie dem anderen 
Grunde gewähren die sogenannten Focus- 
Röhren, in welchen die Kathodenstrahlen 
auf eine kleine Platinfläche konzentriert wer¬ 
den, eine besonders intensive und dabei eng 
begrenzte Quelle von Röntgenstrahlen. 

Mit den Kathodenstrahlen teilen die Rönt¬ 
genstrahlen die Fähigkeit der Fluoreszenzer¬ 
regung, die photographische Wirkung und 
die geradlinige Fortpflanzung, welch letztere 
auch in Luft bei Atmosphärendruck ohne 
merkliche Absorption oder Zerstreuung vor 
sich geht. Die Durchlässigkeit fester Mater¬ 
ialien für die Röntgenstrahlen steht anschei¬ 
nend im umgekehrten Verhältnis ihrer Dichte; 
Blei und Platin sind nahezu undurchlässig, 
Aluminium und organische Substanzen, wie 
Holz und die Muskelfasern, sind in hohem 


Grade durchlässig. Doch scheint es, wie 
verschiedene Kathodenstrahlen, so auch ver¬ 
schiedene Arten von Röntgenstrahlen zu 
geben, für die ein und dasselbe Material eine 
ungleiche Transparenz besitzt. Mit den Ka¬ 
thodenstrahlen teilen die Röntgenstrahlen 
ferner die Fähigkeit der Entladung mit Elek¬ 
trizität behafteter Leiter; sie entladen einen 
solchen Leiter sogar dann, wenn sie nicht 
ihn selbst, sondern nur die ihn umgebende 
Luft treffen. Die letztere wird durch die 
Röntgenstrahlen vorübergehend zu einem 
Leiter der Elektrizität, welcher sie den Ab¬ 
fluss in die Erde vermittelt; und dieser 
Zustand erhält sich auch noch für einige Zeit, 
nachdem die Strahlen bereits erloschen sind. 

Reflektiert und gebrochen nach Art der 
Lichtstrahlen werden die Röntgenstrahlen 
nicht; ebenso wenig konnte eine Polarisation 
derselben, nach Art derjenigen, die das Licht 
beim Durchgang durch einen Turmalinkrys- 
tall erfährt, mit Sicherheit konstatiert werden. 
Auch werden sie, ungleich den Kathoden¬ 
strahlen, durch den Magneten nicht von 
ihrer geradlinigen Bahn abgelenkt. 

Welche Auffassung können wir uns nun 
nach dem Gesagten von den Kathodenstrah¬ 
len und den Röntgenstrahlen bilden? Die 
Crooke’sche Auffassung der ersteren schien 
nach Lenard’s Versuchen so gut wie abge- 
than; man konnte anscheinend nur noch an 
Ätherschwingungen denken, denn diese 
mögen sich recht wohl durch ein dünnes 
Metallblättchen fortpflanzen, während man sich 
dies von materiellen Teilchen, seien sie auch 
von der Grösse der Gasmoleküle, nur schwer 
vorzustellen vermag. Dafür wird allerdings 
die Ablenkung von Ätherschwingungen durch 
den Magneten schwer begreiflich, wäh¬ 
rend sie sich für materielle, mit Elektrizität 
geladene Teilchen sozusagen von selbst ver¬ 
steht, da solche Teilchen, wenn sie in Be¬ 
wegung begriffen sind, sich ganz wie elek¬ 
trische Ströme verhalten müssen. Es ist auch 
nicht zu leugnen, dass die Crookes’sche Auf¬ 
fassung neuerdings wieder erheblich an Ter¬ 
rain gewonnen hat. J. J. 1 homson suchte 
die Fortpflanzungsgeschwindigkeit der Katho¬ 
denstrahlen zu bestimmen und fand dieselbe 
zu 200 Kilometer pro Sekunde, was zwar für 
die Bewegung von Gasmolekülen sehr hoch, 
ftlr die Ausbreitung von Ätherschwingungen 
jedenfalls viel zu niedrig erscheint. Freilich 
beruht die von Thomson gefundene Zahl auf der 
Messung des Zeitunterschiedes in dem Auf¬ 
leuchten zweier, mit fluoreszierenden Stoffen 
bedeckter Schirme, die nach einander von 
den Strahlen getroffen werden; und dieser 
Zeitunterschied kann ebenso gut daher rüh¬ 
ren, dass die Strahlen auf ihrem Wege vom 

6 * 


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96 


Dessau, Was sind die Röntgenstrahlen? 


ersten zum zweiten Schirme durch die Luft 
teilweise absorbiert werden und deshalb länger 
gebrauchen, um den zweiten Schirm zum 
Leuchten zu bringen. Der Thomson’sche 
Versuch kann deshalb weder für die eine 
noch für die andere Auffassung als beweis¬ 
kräftig gelten; aber ebensowenig stichhaltig 
ist im Grunde auch der von den Anhängern 
der Ätherbewegung gegen die ältere Theorie 
erhobene Einwand, dass eine metallische 
Scheidewand, die trotz ihrer geringen Dicke 
doch thatsächlich den Entstehungsraum der 
Kathodenstrahlenluftdicht abschliesse, materi¬ 
ellen Molekülen unmöglich freien Durchgang 
gewähren könne. Dieser Einwand, sagen 
wir, ist nicht stichhaltig, denn die Kathoden¬ 
strahlen brauchen auch nach der Crookes’schen 
Auffassung nicht aus ganzen Molekülen zu 
bestehen, sondern diese können durch elek¬ 
trische Kräfte in einzelne Atome gespalten 
sein (darauf deutet auch der Vorgang der 
Zerstreuung elektrischer Ladungen); und dass 
solche Atome in dünnen Metallblättchen kein 
Hindernis ihrer Bewegung finden, ist durch 
anderweitige Versuche von L. Arons zum 
mindesten sehr wahrscheinlich gemacht. 

Schliesslich hat J. Per rin bewiesen, dass 
die Kathodenstrahlen wenigstens innerhalb 
ihres Entstehungsraumes mit einer thatsäch- 
lichen Bewegung elektrisch geladener Materie 
einhergehen. Es ist bekannt, dass ein elek¬ 
trisch geladener Körper, mag es nun ein 
Leiter oder ein Nichtleiter sein, der in das 
Innere eines Metallgehäuses gebracht wird, 
auf der Aussenfläche des letzteren durch In¬ 
fluenz eine mit der eigenen gleichnamigen 
Ladung erzeugt; und so konnte auch Perrin, 
indem er die Kathodenstrahlen in ein in der 
Entladungsröhre befindliches Metallgehäuse 
treten Hess, auf der Aussenfläche des letzteren 
eine negative Ladung nachweisen. Die Ka¬ 
thodenstrahlen können also nichts anderes, 
als negativ geladene Körper sein. 

Dagegen ist es gar nicht notwendig, dass 
die Lenardstrahlen — das sind die Kathoden¬ 
strahlen ausserhalb des Entstehungsraumes — 
wirklich die direkte Fortsetzung der Strahlen 
innerhalb der Röhre bilden. Wir können 
uns ebensogut vorstellen, dass die Kathoden¬ 
strahlen das dünne Metallblättchen gar nicht 
passieren, sondern lediglich durch ihren Auf¬ 
prall auf die eine Seite des Blättchens auf 
der anderen Seite desselben einen völlig 
analogen Vorgang erwecken, mag dieser nun 
in einer Bewegung geladener Moleküle, also 
in sogenannten Konvektionsströmungen, oder 
in Schwingungen im Sinne L e n a r d’s bestehen. 
So manches Argument zu Gunsten des letzteren 
würde damit verständlicher, so mancher Ein¬ 
wand hinfällig. Dazu kommt dann allerdings 


noch, dass ein Teil der von Lenard beo¬ 
bachteten Erscheinungen unzweifelhaft auf 
Rechnung wirklicher Röntgenstrahlen zu setzen 
ist, die ja bei seinen Versuchsanordnungen 
ebensogut wie beim Experimentieren mit 
eigens zu diesem Zwecke gefertigten Röntgen¬ 
röhren entstanden sein müssen. 

Manche Physiker indessen wollen zwischen 
Kathodenstrahlen und Röntgenstrahlen über¬ 
haupt keinen prinzipiellen Unterschied gelten 
lassen, weil bereits innerhalb der Entladungs¬ 
röhre auch Strahlen vorhanden seien, die 
nicht durch den Magneten abgelenkt werden, 
also nicht als Kathodenstrahlen im ur¬ 
sprünglichen Sinne gelten können, während 
sie andererseits die wichtigsten Eigenschaften 
der Röntgenstrahlen besitzen. Diese letzteren 
seien mithin ganz einfach Kathodenstrahlen, 
die ihre Ladung auf irgend welche Weise 
verloren haben; und so will auch Lafay den 
Röntgenstrahlen, indem er sie ein mit Elek¬ 
trizität geladenes Metallblättchen passieren 
lies, die verlorene Ladung und damit auch 
die Ablenkbarkeit durch den Magneten wieder¬ 
gegeben haben. Indessen ist dieser Versuch 
auch einer anderen Deutung fähig; an¬ 
dererseits darf es nicht Wunder nehmen, wenn 
wir an den Mechanismus der Entstehung der 
Röntgenstrahlen denken, dass diese letzteren 
bereits innerhalb der Entladungsröhre auf- 
treten. Ihre spezifische Verschiedenheit von 
den Kathodenstrahlen wird dadurch nicht an¬ 
getastet; denn für die materielle Natur der 
Kathodenstrahlen spricht doch die Mehrzahl 
der Argumente, die wir kennen gelernt haben, 
während ebenso gewichtige Gründe, wie wir 
sehen werden, die Auffassung der Röntgen¬ 
strahlen als einer Art von Aetherbewegungen 
unterstützen. 

Die Natur dieser Bewegungen ist damit 
zunächst noch unbestimmt; es können un¬ 
periodische Wirbelbewegungen sein, wie dies 
Michelson annimmt, oder periodische Be¬ 
wegungen, das heisst, Aetherschwingungen, 
die wiederum longitudinaler oder transversaler 
Art sein können. Zur Erläuterung sei hier 
bemerkt, dass bei Schwingungsbewegungen 
die Fortpflanzung des Bewegungszustandes 
von der Bewegung des einzelnen Teilchens 
wohl zu unterscheiden ist; die letztere kann 
in derselben Richtung stattfinden, in welcher 
auch die Bewegung von Teilchen zu Teilchen 
sich ausbreitet; dann haben wir longitudinale 
Schwingungen — ein Fall, den z. B. die 
Schallschwingungen in Luft repräsentieren — 
oder aber die Bewegung des Teilchens und 
die Richtung der Ausbreitung des Zustandes 
stehen senkrecht zu einander; es sind trans¬ 
versale Schwingungen. Letztere finden z. B. 
bei der Ausbreitung von Wellen auf einer 


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Dessau, Was sind die Röntgenstrahlen? 


97 


Wasseroberfläche statt, denn diese Ausbreitung 
erfolgt in horizontaler Richtung, während jedes 
einzelne Wasserteilchen, wie sich leicht nach- 
weisen lässt, im wesentlichen auf- und abwärts 
schwingt. Durch transversale Schwingungen 
pflanzt sich auch das Licht fort; die Wellen¬ 
länge (d. h. die Distanz, auf welche sich der 
Bewegungszustand während einer Schwingung 
eines Teilchens ausbreitet) beträgt fOr das 
sichtbare Licht, je nach der Farbe, in Luft 
etwa 800 bis 400 Millionstel eines Millimeters, 
während die sogenannten dunklen Wärme¬ 
strahlen Wellenlängen bis zu 2000, die ultra¬ 
violetten Strahlen solche von nur 300 Milli¬ 
onsteln eines Millimeters besitzen. Auch für 
die Röntgenstrahlen wurde die Bestimmung 
der Wellenlänge versucht, aber erst neuerdings 
ist sie Fomm gelungen, welcher 14 Millionstel 
eines Millimeters fand. Damit ist die Schwin¬ 
gungsnatur der Röntgenstrahlen festgestellt; 
immer noch aber können es longitudinale 
oder transversale Schwingungen sein. Trans¬ 
versale Schwingungen nun müssen senkrecht 
zur Richtung des Strahles, im übrigen aber 
können sie in jeder beliebigen Richtung 
stattfinden; sind sämtliche Schwingungen zu 
einander parallel, also auf eine einzige Ebene 
beschränkt, so heisst der Strahl polarisiert. 
Die Lichtstrahlen erlangen diese Eigenschaft 
vornehmlich beim Durchgang durch gewisse 
Krystalle; bei den Röntgenstrahlen dagegen 
hat die Polarisation bis jetzt nicht gelingen 
wollen und man war deshalb geneigt, ihren 
Schwingungszustand für longitudinal zu halten. 
Für seine transversale Natur spricht aber 
gleichwohl die Verwandtschaft der Röntgen¬ 
strahlen mit den jüngst von Becquerel 
entdeckten Strahlen. 

Diese, Strahlen, welche für unser Auge 
unsichtbar sind, gehen von Schwefelzink, von 
Uransalzen, von metallischem Uran und von 
einer Anzahl anderer Substanzen nach vorher¬ 
gängiger Belichtung, mitunter auch ohne eine 
solche, aus, manchmal vereint mit der ge¬ 
wöhnlichen Fluoreszenz, manchmal ohne diese. 
Mit den Röntgenstrahlen teilen diese Becquerel’- 
schen Strahlen die Fähigkeit, undurchsichtige 
Medien zu passieren, photographisch zu wirken 
und elektrische Ladungen zu zerstreuen; gleich 
den Röntgenstrahlen werden sie nicht durch 
den Magneten abgelenkt. Da sie aber gleich 
den gewöhnlichen Lichtstrahlen reflektiert, 
gebrochen und polarisiert werden, so muss 
man sie für transversale Aetherschwingungen 
halten, die sich von den sichtbaren Licht¬ 
schwingungen nur durch ihre Wellenlänge 
unterscheiden — die letztere ist wahrscheinlich 
noch geringer als diejenige der ultravioletten 
Strahlen, man hat es also gewissermassen mit 
ultra-ultravioletten Strahlen zu thun — und 


ihre offenbare Verwandtschaft mit den Röntgen- 
strahlen führt dann dazu, auch diese für trans¬ 
versale Schwingungen, und zwar für solche 
von noch geringerer Wellenlänge anzusehen. 

Zu erklären bleibt dann nur noch das 
Fehlen einer Polarisation, einer Reflexion und 
Brechung der Röntgenstrahlen. Allein auch 
dies bietet keine sonderliche Schwierigkeit, 
wenn wir uns vorzustellen suchen, wie diese 
Erscheinungen beim gewöhnlichen Lichte zu 
Stande kommen. Die Brechung des Lichtes 
z. B. beim Übergang von Luft in Glas rührt 
daher, dass das Licht im Glase sich langsamer 
fortpflanzt als in Luft oder im freien Aether; 
und diese Verzögerung wiederum rührt daher, 
dass die Lichtschwingungen zwar auch inner¬ 
halb des Glases zunächst durch den Alles 
durchdringenden Aether fortgepflanzt werden, 
dass dieser aber auch notwendig die ponder- 
ablen Moleküle mit in Schwingungen versetzen 
muss und dass seine eigene Bewegung hier¬ 
von in Mitleidenschaft gezogen wird. Je kürzer 
die Wellen, desto stärker macht sich im 
allgemeinen dieser Einfluss der ponderablen 
Materie geltend, desto grösser ist also der 
sogenannte Brechungsexponent. Aber doch 
nur bis zu einer gewissen Grenze; ganz kurze 
Wellen, deren Länge im Vergleich zu den 
Dimensionen der Moleküle gewissermassen 
verschwindet, haben die Möglichkeit, lediglich 
den Aether in den Zwischenräumen der Mole¬ 
küle für ihre ‘Fortpflanzung zu benutzen und 
für diese hört dann wiederum jede Reflexion 
.und Brechung auf; alle Substanzen sind für 
sie gleich durchlässig und die ponderable 
Materie wirkt auf sie höchstens wie ein trübes 
Medium auf das Licht, nämlich durch un¬ 
regelmässige Zerstreuung. Analoge Über¬ 
legungen ergeben, dass für solch kurze Wellen 
auch eine Polarisation, welche ebenfalls von 
einer Einwirkung der ponderablen Materie 
herrührt, nicht stattfinden kann. 

• Man sieht, es ist ganz das Verhalten, 
welches die Röntgenstrahlen darbieten; und 
die Auffassung der letzteren als Aether¬ 
schwingungen von sehr grosser Rapidität oder 
sehr kurzer Wellenlänge kann demnach pro¬ 
visorisch als die richtige acceptiert werden. 
Aber doch nur provisorisch, 'gewissermassen 
als ein Führer bei weiteren Untersuchungen. 
Denn auf einem von so vielen Forschern 
bearbeiteten Gebiete kann jeder Tag neue 
Thatsachen, neue Überraschungen bringen. 


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98 


Wiedemann, Ein Reformator auf dem Throne der Pharaonen. 


X Ein Reformator auf dem Throne 
der Pharaonen. 

Amenophis IV. und seine Zeit. 

Von Professor Dr. A. W i e i> e m a n n. 

(Schluss.) 

Seinem neuen Gotte zu Ehren änderte 
der König seinen Namen; nicht mehr als 
Amenophis, als „Amons Gabe" Hess er sich 
bezeichnen, sondern als Chu* oder Achu-n- 
aten, als „Glanz des Aten“. Freilich gingen 
Gottes- und Namensänderung nicht mit einem 
Schlage vor sich. Einzelne Denkmäler zeigen 
den König als Amenophis den Aten verehrend, 
während andere in als Chu-n-aten den alten 
Gedanken huldigend vorführen. 

Das ägyptische Priestertum hätte dem 
Könige kaum grosse Schwierigkeiten entgegen¬ 
gesetzt, hätte er sich damit begnügt, seinen 
Gott mit in die Reihe der alten Landesgöttcr 
aufzunehmen, haben sie doch nicht lange 
nachher ruhig die semitischen Gottheiten Baal, 
Astarte und andere, ihren Göttern zugesellt. 
Allein der König wollte mehr. Nicht neben 
anderen Göttern sollte man Aten anrufen, er 
sollte der alleinige Gott im Lande werden 
und hur den Sonnengöttern sollte weiter Ver¬ 
ehrung zuteil werden, die es sich gefallen 
Hessen, in ihrer Wesenheit mit Aten zu ver¬ 
schmelzen. Solches Verlangen musste bei 
der Priesterschaft starken Widerspruch her- 
vorrufen. Wir haben gesehen, wie mächtig 
und reich im Verlaufe der letzten beiden 
Jahrhunderte die Priester des thebanischen 
Amon geworden waren. Jetzt forderte man 
von ihnen, den Gott, der ihnen alles, was 
sie bcsassen, verschafft hatte, aufzugeben 
und damit .selbst die Grundlage ihres An¬ 
sehens zu untergraben. Sie gingen begreif¬ 
licherweise nicht darauf ein, und als der 
König versuchte, neben dem Tempel des 
Amon in Theben seinem Gotte ein Heilig¬ 
tum zu errichten, entbrannte ein Kampf, über 
dessen Verlauf im Einzelnen die Inschriften 
freilich bisher nichts zu berichten gewusst 
haben. Aber sein Ausgang ist bekannt. Der 
König verliess die alte Residenz und grün¬ 
dete sich mehr im Norden, in Mittelägypten, 
bei dem heutigen Trümmcrhügel Teil el Amarna, 
eine neue Hauptstadt, die er ganz dem neuen 
, Gotte weihte und auch nach ihm Chut-aten 
„die Stätte des Erglänzens des Aten“ be¬ 
nannte. Zugleich begann er einen Vertilg¬ 
ungskrieg gegen den Gott Amon, in dem er 
den Hauptfeind seines Gottes sah. An den 
Tempelwänden, in den Grabinschriften, auf 
Totenstelen Hess er seinen Namen ausmei- 
seln, sogar in seinen eigenen Inschriften der 
ersten Zeit, als er noch Amenophis hiess, 
wurde im Königsnamen das Amen getilgt 


und gelegentlich auch der ganze Name durch 
den neuen Chu-n-aten ersetzt. 

Trotz dieses energischen Vorgehens hat 
der König nicht den Erfolg errungen, den er 
erträumte. Negativ vermochte er an den ver¬ 
schiedensten Orten, besonders zu Theben, 
Amons Namen ausmeisseln zu lassen, positiv 
konnte er die Bewohner nicht zwingen, seinen 
Gott anzunehmen. Nur an sehr wenigen 
Orten finden sich im Nilthale Überreste von 
Denkmälern, die dem Aten-Glauben gewid¬ 
met waren, und wo sie auftreten, wie in 
Theben, Memphis, HeliopoHs, schienen sie 
wenig umfangreich gewesen zu sein. Eigent¬ 
lich sind es nur die Reste der neuen Haupt¬ 
stadt bei Teil el Amarna gewesen, die der 
Nachwelt einen Einblick in Chu-n-atens ^erk 
und in sein Streben ermöglicht haben. 

Zum Glücke ist an dieser Haiiptstätte von 
Chu-n-atens Werken verhältnismässig viel 
erhalten geblieben. Zwar w'ard nach dem 
Aufgeben der Reformidee, nach dem Tode 
Amenophis IV., dieser Mittelpunkt seiner 
Wirksamkeit verlassen und mit barbarischer 
Wut zerstört, die Säulen gestürzt, die Wände 
abgetragen, ihre Steinblöcke zur Errichtung 
anderer Denkmäler weithin durch Ägypten 
verschleppt, die Statuen zerschmettert, alles 
Wertvolle geraubt. Aber trotzdem blieb vieles 
Hegen und, da die Stätte in den seither ver- 
flos.senen drei und einhalb Jahrtausenden nie 
wieder besiedelt worden ist, haben die mo¬ 
dernen Forscher, an ihrer Spitze Lepsiusund 
vor allem Flinders Petrie, Ägyptens Schlie- 
mann, noch so viel vorgefunden, dass eine 
Feststellung der Pläne des Königspalastes 
und der wichtigsten sonstigen Gebäude, 
eine Untersuchung der Kulturreste der Stadt, 
ihrer Werkstätten, ihrer Schutthaufen, ihrer 
Scherbenhügel, möglich war. Und ausser 
den Stadtresten fanden sich die freilich gröss¬ 
tenteils unvollendeten Gräber ihrer ange¬ 
sehensten Bewohner, darunter das des Königs 
Chu-n-aten selbst, und lehrten durch ihre 
Darstellungen und Inschriften den Aten-Kiilt 
in seinen Einzelheiten kennen. 

Dabei ergibt es sich, dass der neue Kult 
sich im Grossen und Ganzen ebenso abspielte, 
wie der altägyptische. Der Gottheit werden 
die altüblichen Opfer dargebracht, wenn man 
auch unblutige Gaben, Blumen, Salben und 
ähnliches mehr bevorzugte, als es sonst der 
Fall war. Die Gottesfeste bestanden, wie 
sonst, aus feierlichen Umzügen in und bei 
dem Tempel, an denen der König und seine 
Familie Teil zu nehmen pflegten. Dabei 
wurde ein Hymnus gesungen, der Aten, 
seine Macht und Güte pries. Dieser Hym¬ 
nus bildete den Mittelpunkt der Atenverehr- 
ung, er findet sich in fast jedem Grabe die- 




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WlEDKMANN, ElN REFORMATOR AUF DEM ThRONE DER PHARAONEN. 


99 


ser Zeit aufgezeichnet. Dabei sind die Grund¬ 
gedanken und die Fassung der wichtigsten 
Sätze stets dieselben, im Einzelnen aber finden 
sich in der Gruppierung der Worte und be¬ 
sonders in dfir Länge des Ganzen mancher¬ 
lei Verschiedenheiten. DenText selbst bildet 
eine der poetischsten Kompositionen, welche 
aus dem ägyptischen Altertume erhalten ge- 
bliebfen sind; unter Fortlassung von Wieder¬ 
holungen und unwesentlichen oder schwerer 
verständlichen Sätzen, lautet sein Beginn in 
der besten uns überkommenen Fassung fol- 
gendermassen: „Schön gehst Du auf am 

Horizonte des Himmels, oh Aten, der Du 
lebst und der Du 


ergrünen, die Vögel fliegen aus ihren Nestern 
und breiten aus ihre Schwingen, indem sie 
Dich preisen. Die Vierfüssler eilen dahin, 
die Vögel leben. Du gingst auf für sie. Die 
Barken fahren stromauf und stromab, die 
Fische steigen an die Oberfläche Dir ent¬ 
gegen, Deine Strahlen durchdringen das Welt¬ 
meer“, u. s. f. 

Wenn man diesen Hymnus liest, so fällt 
unwillkürlich die Ähnlichkeit auf, welche seine 
Fassung und einzelne seiner Gedanken mit 
den Psalmen darbieten. Bei der Fassung ist 
die Gleichheit hier, wie auch sonst in der 
altäg3^ptischen Poesie, oft eine vollkommene. 

Bei den Gedanken 


derBeginn des Le¬ 
bens bist. Wenn 
Du aufgehst am 
östlichen Hori¬ 
zonte, dann erfül¬ 
lest Du jegliches 
Land mit Deinen 
Schönheiten. Mild 
blickend bist Du, 
gross und strah¬ 
lend, hoch erhöht 
über die Erde. 
Deine Strahlen 
umfassen alle Lan¬ 
de. . .. Wenn Du 
untergehst am 
westlichen Hori¬ 
zonte, dann ist die 
Erde in Finsternis, 
vergleichbar ei¬ 
nem Toten. Die 
Wesen ruhen in 
ihren Behausun¬ 
gen, verhüllten 
Hauptes; keines 
erblickt mehr sei- 
nenGenossen. Die 
Löwen kommen 
aus ihren Höhlen, 
die Reptile ste¬ 
chen. Die Nacht 
verfinstert sich. 



Darstellung aus einem Grabe in Teil el Amarna. 
Amenophis IV. mit Gemahlin und Töchtern der strahlenden 
Sonne durch Darbringung von Opferspenden huldigend. 

(Aus „Meycr-Dümichen, Geschichte des alten Aeg:3’ptcns“.) 


aber darf man 
nicht vergessen, 
dass der jüdische 
Sänger, wenn er 
die Sonne als ei¬ 
nen jungen Hel¬ 
den rühmt und 
hod> erhebt, in 
ihr nur eines der 
Werkzeuge sieht, 
durch welche Gott 
seiner Allmacht 
Ausdruckverleiht, 
dass der ägyp¬ 
tische Dichter da¬ 
gegen in derSonne 
die Gottheit selber 
sieht und dem ent¬ 
sprechend auch 
seinem Preise 
höheren Schwung 
zu verleihen ge¬ 
neigt ist. — Im 
Grossen und Gan¬ 
zen ähnelt die 
Passungdes Aten- 
Hymnus der der 
übrigen ägypti¬ 
schen Sonnen¬ 
hymnen ; nur da¬ 
rin unterscheidet 
er sich prinzipiell 


die Erde versinkt in Schweigen, denn ihr 
Schöpfer ging unter an seinem Horizonte. 

Hell wird die Erde; wenn Du aufgehst 
am Horizonte und strahlst als Aten am Tage, 
dann weicht die Finsternis. Du sendest aus 
Deine Strahlen und die Welt ist voll Freude 
jeglichen Tag. Die Wesen erwachen, sie 
erheben sich, Du hast sie aufgerichtet, sie 
reinigen ihre Glieder, sie ergreifen ihre Klei¬ 
der und erheben lobpreisend ihre Hände, da 
Du erleuchtest die ganze Erde. Jedes Wesen 


von ihnen allen, dass Aten an Stelle all der 
anderen in solchen Texten sonst auftretenden 
Gottheiten getreten ist. 

Ebenso wie Chu-n-aten und seine Theo¬ 
logen hier verfuhren, indem sie die alte Form 
bewahrten, aber Aten als Gottheit an die 
Stelle der sonstigen Gestalten des Pantheons 
einführten, handelten sie auch den übrigen 
bis dahin üblichen Äusserungen des religiösen 
Lebens gegenüber. 

Die Theologen Chu-n-atens haben den ge- 


verrichtet seine Arbeit, das Vieh ruht sich schicktesten Weg eingeschlagen, um dem 
aus auf seiner Weide, Bäume und Pflanzen | Volke den neuen Glauben annehmbar erschei- 




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Wiedemann, Ein Reformator auf dem Throne der Pharaonen. 



nen zu lassen. Sie ha¬ 
ben die alten Formen, 
an denen das Herz 
des Volkes hing, ge¬ 
schont, und nur durch 
leichte Änderungen, 
durch Umarbeitungder 
Formeln, danach ge¬ 
trachtet, Aten gewisser- 
massen einzuschmug¬ 
geln. An der Mache 
lag es nicht, wenn der 
Gott keinen Boden ge¬ 
wonnen, es lag an der 
Ucbermacht, welche 
den alten Göttern ihre 
Jahrtausende alteHerr- 
schaft bei dem konser¬ 
vativen Sinne der 
Ägypter verleihen 
Kön%^ C/m-n-a/m. musste, und an dem fest- 
Konventionelle Portrait- geschlossenen Kreise 
Statue. der Priesterkollegien, 

Aus „Meyer • Dflniichcn Gc- welche den neuen Gott, 
,.chich..<lc,.I.enÄKyp.c».-.) 

darum feindlich gegenüberstand, nicht auf- 
kommen lassen wollten. 

Schon diese Religionsreform allein, lässt 
Bmenophis IV. als einen der kühnsten Neuerer 
in der ägyptischen Geschichte erscheinen. 
Aber sie steht nicht vereinzelt da. Zugleich 
mit ihrer Einführung suchte der Herrscher 
auch auf andern Gebieten umgestaltend zu 
wirken, und zwar vor allem auf dem Gebiete 
der Kunst und des damit Hand in Hand 
gehenden Kunstgewerbes. 

Von dieser künstlerischen Bestrebung des 
Königs ward zunächst sein eigenes Bildnis 
betroffen. Wir haben gesehen, dass er sich 
am Anfänge seiner Regierung nach dem alten 
äg^’^ptischen Königsschema darstellen Hess 
und demzufolge in seinem Äusseren, w'ie in 
der Kleidung und im Schmuck seiner Vor¬ 
gänger auf dem Throne glich, ohne dass 
dieses Aussehen Rückschlüsse auf die that- 
sächliche Gestalt des Herrschers gestattet 
hätte. Zugleich mit der Religionsreform 
ändert sich dieses königliche Bild. Der Un¬ 
terkiefer schiebt sich nach vorn, das Knie 
wird etwas herabhängend gebildet, die Stirn 
tritt schräg zurück und um dies recht greif¬ 
bar zu machen, setzt der König die Kronen 
nicht mehr in etwa vertikaler Richtung auf 
das Haupt, wie es früher üblich war, sondern 
schräg nach hinten. Tiefe Falten durchfurchen 
das magere Gesicht, während quer über den 
Körper Fettwülste verlaufen und der Bauch 
auffallend vorsteht und etwas herabhängt. 
Arme und Beine sind mager und affenartig 
lang. Als Kleidung trägt der Herrscher zu¬ 


nächst ein gefaltetes, aber eng anliegendes 
Gewand, welches den Oberkörper nackt zu 
lassen pflegt. Das hat seinen guten Grund. 
König und Königin hatten auf Brust und 
Arme die Namen ihres Gottes sich eingraben 
lassen und legten Wert darauf, dass auch 
jedermann dies neue Zeichen ihrer Ergeben¬ 
heit an die himmlische Macht erblickte. Die¬ 
ses Tätowieren, welches derart Chu-n-aten 
beliebte, ist auch nach anderer Richtung hin 
beachtenswert. In Ägypten ist es niemals 
üblich gewesen, wohl aber ist bekannt, dass 
es eine libysche Sitte war und dass die 
Libyer es liebten, den Namen ihrer Göttin 
Neith auf ihren Körper einzugraben. Es liegt 
hier also wieder eine Andeutung dafür vor,, 
dass bei Chu-n-atens Reformen libysche Ein- 
ffüsse mit im Spiele waren. 

Ausser Armen und Oberköq^er sind bei 
dem Herrscher die Beine nackend gelassen; 
um dem Leib läuft ein breiter, gelegentlich 
in schwere Längsfalten gelegter Schurz, an 
den Füssen sind Sandalen befnstigt. Noch 
dürftiger ist die Bekleidung der Königin. 
Nach den Bildern trug sie ausser Sandalen 
nur eine Art langen Mantel, der unter der 
Brust vorn zusammengebunden und in schma¬ 
len Streifen über den Oberarmen befestigt 
war. Derselbe war sonst vorn offen und 
zeigte so die Körperformen von der Brust 
an abwärts bis zu den Füssen, während er 
nach hinten und den Seiten hin in langen 
Falten herabhing. 

Anfangs treten die Eigenthümlichkeiten in 
der Abbildung des Herrscherpaares, die wir 
eben kurz charakterisierten, nur bescheiden 
auf. Allmälig aber werden sie immer stärker 
betont, so dass Chu-n-aten und seine Ge- 



Ko/>/ Om-n-olens. 

Relief in realistischer Auffassung. 

(Aus „Meycr-DUmichco, Geschichte des alten Ägypteus.) 


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Wiedemann, Ein Reformator auf dem Throne der Pharaonen. 


mahlin zuletzt wie völlige Karrikaturen er¬ 
scheinen und nicht nur für uns, sondern auch 
für das altägyptische Gefühl abschreckend 
hässlich gebildet werden. 

Man hat sich vielfach die Frage vorgelegt, 
warum sich Chu-n-aten so darstellen Hess, 
hat gemeint, er sei eine Frau gewesen, ob¬ 
wohl es nach anderweitigen Erfahrungen nicht 
gerade sehr wahrscheinlich erscheinen muss, 
dass eine Dame in besonders hässlicher Ge¬ 
stalt ihr Bildniss auf die Nachwelt bringen 
wollte. Andere haben vermutet, die Dar- 
stellungsweisse beruhe auf religiösen Gründen, 
ohne freilich irgend welchen Anhalt für eine 
solche Erklärung aus den Denkmälern bei- 
bringen zu können. Der eigentlich nächst- 
liegende Gedanke, dass der König so aus¬ 
sah, wie er im Bilde^ erscheint, ist den Ge¬ 
lehrten zu allerletzt gekommen. Und doch 
war er der richtige. Freilich sind wir nicht 
in der Lage, hierfür auf die Mumie des Kö¬ 
nigs hinzuweisen, die einen Vergleich zwischen 
Bild und Körper ermöglichte, wie wir ihn 
bei anderen ägyptischen Herrschern älterer 
und jüngerer Zeit, dank der Entdeckung des 
Massengrabes ägyptischer Pharaonen bei 
D6r el bahari durchzuführdh vermögen. Das 
Grab Chu-n-atens hat sich zwar bei Teil el 
Amarna gefunden, allein es war ausgeraubt, 
alles Vernichtbare zerschlagen, der Sarg er¬ 
brochen, die Mumie verschwunden. Dafür 
liegt ein anderes Belegstück vor, welches 
Chu-n-atens Züge in authentischer Weise vor¬ 
führt, seine Totenmaske. 

Dieselbe ward von Petrie in Teil el Amarna 
gefunden, wo sie als Vorlage für die Künst¬ 
ler, die die Usebtis, die Diener für das Jen¬ 
seits, für den König herzustellen hatten, zu 
dienen bestimmt war. Sie zeigt die eigenar¬ 
tigen Züge des Herrschers, die aus den 
Reliefs und Statuen wohl bekannt sind, in 
der etwas gemilderten Weise, wie sie nach 
dem Tode zu erw'arten waren, sonst aber 
durchaus klar und unverkennbar. Sie beweist 
damit, dass der König gewünscht hat, so 
dargestellt zu werden, wie er wirklich aus¬ 
sah, dass er das alte Königsschema der Na¬ 
turwahrheit zuliebe aufgegeben hatte. 

Bemerkenswert ist bei dieser Darstellung 
eins und dies erklärt es, warum man so spät 
erst erkannte, dass realistische Bestrebungen 
dem veränderten Königsbilde zu Grunde liegen. 
In den Darstellungen dieser Zeit erscheinen 
nicht nur die Familienmitglieder Chu-n-atens, 
sondern auch zahlreiche andere Ägypter, 
hoch und niedrig,, ihm möglichst ähnlich ge¬ 
bildet. Dass dem so ist, beruht auf der 
Auffassung, welche der alte Ägypter von der 
Loyalität hegte, die man dem regierenden 
Pharao schuldete. Wenn in neuerer Zeit 


der treue Unterthan gern seine Kinder nach 
dem herrschenden Monarchen nennt, so ging 
der ebenso fühlende Ägypter weiter. Nicht 
nur gab er seinen Nachkommen den Namen 
des Herrschers, er Hess gerne $ie und sich 
selbst mit dessen Zügen darstellen und war 
stets bereit, sein Bildnis zu ändern, wenn er 
hoffen durfte, sich dadurch bei Hofe in bes¬ 
serem Lichte erscheinen zu lassen. 

„Rückkehr zur Natur“, Aufgabe des alt¬ 
hergebrachten Schemas“ waren demnach die 
Schlagworte, welche die Änderung des Königs¬ 
bildes veranlassten. Sie sind in allen künst¬ 
lerischen Bestrebungen des Herrschers in 
gleichem Masse bestimmend gewesen. 

Achtzehn Jahre hatte Chu-n-aten den 
Thron inne gehabt, als ihn der Tod ereilte, 
er hinterliess keinen Sohn, während ihm sie¬ 
ben Töchter geboren worden waren. Schon 
bei Lebzeiten hatte er einen seiner Schwie¬ 
gersöhne zum Mitregenten erhoben, derselbe 
folgte ihm nach kurzer Regierung in das 
Grab. Und nun begann die Reaktion der 
altägyptischen Götter. Schnell folgten sich 
einige Herrscher, welche teils als Amons 
Diener, teils als Verehrer des Aten auftreten, 
bis zuletzt Amon siegreich blieb. Chu-n- 
atens Residenz ward verlassen, seine Tempel 
hier und im übrigen Ägypten zerstört, aus 
ihren Blöcken errichteten die Herrscher Bau¬ 
werke für die alten Götter, besonders für den 
Hauptgegner des Königs, für Amon. In etwa 
30 Jahren hat sich die ganze Episode des 
reformatorischen Königs abgespielt. Sein Ver¬ 
such, das alte Ägypten aus seinem verknö¬ 
cherten Zustande herauszureissen, ihm durch 
Zuführung frischer Gedanken und Anreg¬ 
ungen aus dem Auslande neues Leben ein- 
zuflössen, war gescheitert. In seinem idealisti¬ 
schen Sinne hatte er die Macht der Gewohn¬ 
heit, die Kraft der alten Religion und ihrer 
Priester unterschätzt. Fast ein Jahrtausend 
hat es gedauert, ehe der Versuch erneuert 
ward; es geschah, als die Psammetichischen- 
Könige im 7. Jahrhunderte v. Chr. Ägypten 
dem griechischen Handel, den hellenischen 
Einflüssen öffneten. Wieder war der Wider¬ 
stand des alten Ägyptertumes ein hartnäckiger; 
Jahrhunderte lang dauerte der Kampf. Aber 
der Ausgang war ein anderer als einst in 
der Zeit Chu-n-atens. Diesmal siegte der 
fremde Geist; griechisches Können, griechischer 
Glaube und griechische Kunst hielten im Nil- 
thale ihren Einzug. Aber für Ägypten kam 
ihr Einfluss zu spät. Allzulange hatte das 
Ägyptertum in seiner alten Schablone gelebt. 
Als das Fremde wirklich kam, war Ägypten 
nicht mehr fähig, sich vimzugestalten und das 
Neue zu ertragen. Unter Amenophis IV. 
wäre dies noch möglich gewesen, jetzt war 


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102 


Bkrg, Dhutschk LfiTKu.Mi;uGi;scH(cirn; nr.s 19. Jahkuundi'rts. 


die Zeit hierfür vorbei. Das Eindringen des 
Griechentums bezeichnet den Untergang des 
alten Ägyptertunis. 


Deutsche Litteraturgeschichte 
des 19. Jahrhunderts. 

(Die*) Erscheinungen des Jahres 1896). 

Von Leo Berg. 

Das Elend der Kritik in Deutschland verr.lt 
.sich am meisten in den litteraturgcschichtlichen 
Erzeugnissen. Reporter und andere Unberu¬ 
fene sind die Grossmeister der Kritik, nicht 
nur in der Presse, sondern auch in der Huch- 
Litteratur. 

Vor mir liegt ein Stoss von Büchern, 
Heften und Broschüren, eine kleine Bibliothek, 
die alle Gegenstände der Littcratur die.ses 
Jahrhunderts behandeln, — und noch ist die 
Littcratur des Jahres nicht vollständig vertreten. 
Ein Gesamtbericlit über einen Zeitabschnitt, 
zumal, wenn man erst zum Schluss desselben 
den Auftrag erhält, muss naturgemäss lücken¬ 
haft ausfallen. Ander allgemeinen Charakteristik 
werden die fehlenden Werke nichts ändern; 
im Einzelnen verlangt jede Erscheinung ihre 
selbständige Beleuchtung. Ich schicke das 
voraus, damit man nicht Jeden Autor der 
unten besprochenen Schriften unter diesen 
einleiit'ude.H Sätzen mit resümiert hält. A’ls 
Leitfaden nehme ich die Chronologie der 
behandelten Dichter, die Werke allgemeineren 
Inhalts eröfthen naturgemäss den Reigen. 

Der einzige, der wenigstens einen Zweig 
der deutschen Litteratur durch das ganze Jahr- 
liundert verfolgt, ist Karl Basse, in der 
Einleitung seiner Lyriker-Anthologie „N-.aere 
äeuisehe Lyrik“. Seine Übersicht über die 
Entwickelung der modernen Lyrik, ist 
eine der erfreulichsten, oder genauer gesagt, 
der w'cniger unerfreulichen Arbeiten kritisch- 
historischen Inhalts aus jüngster Zeit. Eine Ge¬ 
schichte der deutschen Lyrik im 19. Jahrhundert 
ist es aber nicht. Den Prozess im Grossen 
begreift Busse nicht, weil er viel zu einseitig ist 
und befangen an den Vorurteilen zünftiger Litte¬ 
raturgeschichte hängt. Er gerät in die Manier 
gewisser Litteratur-Historiker, die statt zu be¬ 
weisen, darzustellen oder zu analysieren, überall 
anspielen, oder wie ein Litteratur-Professor tref¬ 
fend gesagt hat, „die den wissenschaftliclien 
Apparatspielen lassen“. Manche Litteraturhisto- 
riker bilden sich ein, wenn .sie z. B. der Bio¬ 
graphie eines Dichters einen national-ökonom¬ 
ischen Anhang über die wirtschaftlichen Ver- 

*) Die genauen Titel der hier besprochenen 
Bücher sind in der Rubrik „Eingegangcne neue 
Bücher“ in No. 1,5 zu finden. 


hältnisse zur Stunde seiner Geburt in seinem 
Vaterlandc geben, dann hätten sie ihn aus seinem 
Milieu heraus erklärt. Ehemals berechnete man 
das Horoskop. Das war eben so geistreich, min¬ 
destens „bewies es“ eben so viel. Busse 
spielt z. B. überall auf die politischen Ver¬ 
hältnisse an, giebt kurze Resumes über den 
Gang der Philosophie. Aber w'as beweist das 
für die Lyrik? Oder glaubt er wirklich, Kant, 
Eichte, Hegel hätten ernsthaft Einfluss gehabt 
auf die deutsche Lyrik, gerade auf die Lyrik. 
Den einzigen Fall aber, bei dem man das ernst¬ 
haft sagen könnte, nämlich Heine, versteht 
Busse nicht. Damit erledigt sich diese Seite 
seiner Ausführungen. Eine Geschichte der Lyrik 
schreiben, heisst eine Geschichte der Leiden¬ 
schaften und Gemütsstimmungen schreiben; 
und wer dem Italischen der Meereswogen 
folgen will, der soll nicht auf die Gipfel der 
Berge klettern. — Geschrieben i.st die Skizze 
reizend, im Einzelnen enthält sie viel F'eines, 
aber auch viel Einseitiges und Thörichtes. 
Busse geht von Göthe aus und glaubt die 
ganze Lyrik des Jahrhunderts von ihm be¬ 
herrscht ; abgesehen davon, dass das nicht 
wahr ist, er meint auch nicht einmal den ganzen 
Göthe. Die Littefaturhistoriker, — wenn sie 
Göthe sagen, meinen sie immer Schiller; 
Busse meint — Martin Greif, auf den jeden¬ 
falls seine Ästhetik der Lyrik eher passt, als 
auf Göthe. Mit dem ist es heute schon, wie 
mit dem lieben Gott, jeder denkt sich etwas 
anderes unter ihm. Das Schlimmste ist, dass 
Busse gerade die stärksten Talente nach 
Göthe, (Heine, Lenau, Keller) schmachvoll 
verhudelt. Mit Heine geht cs ihm wie den 
meisten: er blamiert sich, so oft er von ihm 
spricht. Das kommt davon, wenn man sich 
die Psychologie der Antisemiten zu nutze macht. 
Dergleichen hat doch Karl Busse wahrlich 
nicht nötig. Ich liebe die Keckheit, mit der 
er es wagt, seine Einseitigkeit zum Massstab 
der Kritik zu machen und seinen jungen Ruhm 
zu gefährden. Aber seine Einseitigkeit wird 
mehr und mehr auch Engseitigkeit. Die 
Zünftigkeit hat es ihm angethan. Hoffentlich 
befreit er sich noch von ihr. Er hat den Mut 
gehabt, durch seine Kritik, sich zahllose Feinde 
zu machen, er zeige sich ihnen auch gewaciisen. 

Ein einzelnes Thema der Lyrik verfolgt 
Dr. Jos. Scherer: „Die Kaiseriäee des deut¬ 
schen Volkes in Liedern seiner Dichter seit 
dem Jahre iSob. Die Schrift ist ein Neudruck 
und stand schon im Jahre 1871 im Oster- 
programm des Arnsberger Gymnasiums. Sie 
ist ansprechend geschrieben und giebt in der 
Kürze eine Übersicht über die historische und 
poetische Entwickelung der Kaiseridee, aber 
ohne riefe, Psychologie und historische Er¬ 
kenntnis. Das Heftchen enthält nur eine Be- 


V 


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Berg, Deutsche Litteraturcesciuchte des 19. Jahrhunderts. 


I03 


sprechung, Analyse und Anführung bekannter 
Lieder, die von Barbarossas Erwachen singen. 
Das religiöse und politische Moment der 
Sache bleibt ohne genügende Erklärung. Ver¬ 
gessen wir heute nicht, dass man noch vor 50 
Jahren ein Revolutionär war, wenn man vom 
KyfFhäuser redete. In solchen Sagen revo¬ 
lutioniert ein Volk im Geheimen, und es bleibt 
erst einer späteren Zeit Vorbehalten, sie ba¬ 
nal zu deuten. Eine Lösung im Sinne der 
Sache hat das Jahr 1871 nicht gegeben, dass 
das Reich brachte, aber mit Ausschluss Öster¬ 
reichs, und auch nicht im volkstümlichen Sinne. 

Die übrigen zusammenfassenden Werke 
wenden sich gleich der modernen Bewegung 
zu. Der Professor Eugen Wolff (Kiel), spricht 
über „Die bleibenden Ergebnisse der neueren 
litterarischen Bewegung in Deutschland “ Unter 
den Litterarhistorikern ist Eugen Wolff der 
Komiker. Er will die moderne Litteratur 
wissenschaftlich erklären. Das thut er, indem 
er historische Analogien aufweist. Man sieht, 
Jeder nimmt seine Beweise, wo er sie her¬ 
bekommt. Ein Unsinn wird nicht vernünftig, 
weil er gestern schon vorgekommen ist. Dabei 
verfällt er immer auf das Banalste, wo er nicht 
mit hochtönender Phraseologie auskommt. 
Will er das Recht eines charakterisierenden 
Realismus verteidigen, so kommt das in seiner 
Sprache so heraus: „Das ursprünglich germa¬ 
nische Kunstprinzip hat damit neue und um¬ 
fassendere , siegreich vordringende Geltung 
gewonnen“. Damit ist es denn gesagt. Erbe¬ 
gründet das auf S. 9: ,jDer Löwe brüllt anders 
als die Katze miaut“. Überhaupt ist so ziemlich 
alles, was Wolff von litterarischer Entwicke¬ 
lung begriffen hat, die „Frontänderung gegen 
die Antike“ wie er geschmackvoll sagt, und 
dass wir an Charakteristik über die Griechen 
„/f/wawsgeschritten" sind. Otto Ludwig und 
G. Keller haben die Reihe der modernen 
„Gestaltendichter“ in der Prosa-Dichtung er¬ 
öffnet. H. v. Kleists Michael Kohlhaas 
existirt nicht mehr. C. F. Meyer soll der Bis¬ 
marck des Romanes sein. Von satirischer Pole¬ 
mik hält E. Wolff nichts, (deshalb hat er auch ein 
Buch Über Heine geschrieben). Er selbst kulti¬ 
viert den geschwollenen Entrüstungs- resp. Be¬ 
geisterungsstyl: „Zwar verwahre ich mich aus¬ 
drücklich gegen irgend eine Gemeinschaft, mit 
denen, die heute im Lande herumgehen und für 
einen Schiller nur mitleidiges Lächeln übrig ha¬ 
ben.“ Was das nur für Leute sein mögen, die 
im Lande herumgehen? Sollten vielleicht 
Handlungsreisende gemeint sein? Er ver¬ 
gisst überhaupt nie seine gute Gesinnung an 
den Tag zu legen. Mit Nietzsche ist nicht 
recht was anzufangen. Ist jemand überdies 
zum Propheten der Zukunftsmoral ungeeigneter 
als ein Philosoph, der „mit dem zunehmenden 


Bewusstsein schuf, in den Wahnsinn hinein¬ 
zuwachsen?" Abgesehen von der Rohheit, 
der man in Bezug auf Nietzsche überall 
begegnet, wie denkt sich wohl E. Wolff 
das mit zunehmendem Bewusstsein Hinein¬ 
wachsen in den Wahnsinn? Kinderwachsen 
in die Kleider der grösseren Geschwister 
hinein. Dass man auch in den Wahnsinn 
hineinwächst, und noch mit zunehmendem Be¬ 
wusstsein, ist eine Erfindung Eugen Wolffs 
der u. a. auch die Lou-Andreas-Salomö, 
Nietzsches kritisch überlegene „geistige“ Bio¬ 
graphin nennt. Nun, körperliche Biographen 
haben wir doch bis jetzt noch nicht gehabt! 
Herr Wolff meinte vermutlich damit die 
Darstellerin der geistigen Genesis des Philo¬ 
sophen, im Gegensätze zu Andern, die nur 
Materialien zur äusseren Lebensgeschichte 
liefern. IVenn er sich überhaupt etwas dabei 
gedacht hat. Im Allgemeinen ist seine Methode, 
die zusammenaddierende, die in einer stän¬ 
digen Spekulation über das Gewinn- und Ver¬ 
lust-Konto dessen besteht, was er die Moderne 
nennt. Die vorliegende Schrift klingt wie ein 
schlecht stilisirtes Geschäftsprogramm. Zu die¬ 
ser oberflächlichen VielschreibereP) hätte 
früher ein Professor so leicht nicht den Mut 
gehabt. Auch das ist ein Aufschwung unse¬ 
rer so vielgepriesenen Zeit. 

Geschmackvoller wohl und vornehmer als 
Herr Eugen Wolff, dem die Litteratur- 
geschichte eine Quelle für Festreden ist über 
das Thema: „Wie herrlich weit wir's doch 
gebracht“ — ernster auch, aber nicht tiefer 
und fast noch unkritischer ist: Bcrthold 
Litzmann, (Prof, in Bonn), dessen Vorträge 
über „Das deutsche Drama in den litter¬ 
arischen Bewegungen der Gegenwart nun 
in 3. Auflage vorliegen. Ansprechend ist die 
grosse Liebe mit der Wildenbruch, Hauptmann 
und Sudermann behandelt werden. Aber, im 
Ganzen und Grossen, steht in dem dicken 
Bande kaum etwas, was nicht im Feuilleton 
einer besseren Zeitung auch über sie zu finden 
wäre. Litzmann ist nur sorgfältiger, aber auch 
langweiliger als ein gewöhnlicher Durch¬ 
schnitts-Journalist. Theodor Wolff vom Ber¬ 
liner Tageblatt ist jedenfalls geistreicher und 
munterer. Wir Philologen müssen uns um 
die moderne Litteratur bekümmern, sonst ver¬ 
kommt sie. Welche Ehre für die Modernen, 
wenn wir über sie Vorträge halten und Bücher 
schreiben. Zeigen wir, wie sich die Sache 

*) Von Eug. Wolff erschien in diesem Jahre auch 
eine „Geschichte der deutschen Litteratur der Ge¬ 
genwart“, die mir indessen bei diesem Berichte 
nicht vqriag. Wie weit ich, sie aus Berichten ken¬ 
nen gelernt habe und ihren Verfasser Oberhaupt 
kenne, würde ich kaum eine Veranlassung gefunden 
haben, von seiner Thätigkeit ein wesenüich ande¬ 
res Bild zu entwerfen. 


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Berg, Deutsche Litteraturgesciiichte des 19. Jahrhunderts. 


T04 


entwickelt hat. Entwickeln heisst begründen, 
das ist die Logik der Historiker. Bei dem 
Worte Entwickelung kommt sich männiglich, 
ob Laie oder Zünftiger, ganz wunderlich vor, 
dem nebelts träumerisch ums Herz, jenem 
gelehrt um den Kopf. Auch Litzmann glaubt, 
was Eugen Wolff glaubt: „Die Geister sind 
erwacht". Der eigentliche Held, also sozu* 
sagen der Übergeist seines Buches, heisst — 
Ernst V. Wildenbruch. Dessen Heldenlied 
„Vionville", das viel Begeisterung mit viel 
Geschmacklosigkeit vereint, kann Litzmann an 
homerische Bilder erinnern. Meine Herren 
wir haben viel an Überschätzung und eins¬ 
eitiger Bewunderung der Alten gesündigt und 
damit den Modernen oft geschadet. Aber, 
ein Wort unter uns, wir wollen es jetzt mass- 
voll im Gegenteil treiben, sonst merkt es das 
Volk, und wir kommen um unseren Kredit. 

Auch darf man sich über einige Moderne, die 
wirklich einmal etwas sind, auch, wenn sie als 
Juden, Franzosen oder Norweger vollauf unsere 
Verachtung verdienen, nicht so blamieren, 
wie Litzmann über Jacques Offenbach auf 
S. 40., über Heine auf S. 66, über Zola auf 
S. 140, über Ibsen S. 141 ff. u. a. Über 
den Stärke-Grad des Pulsschlages nationalen 
Empfindens, will ich mit Einem nicht rechten, 
der so national ist, dass sogar seine Privat¬ 
schicksale immer Zusammengehen mit den 
nationalen, (wie Litzmann in der Einleitung 
sehr rührend erzählt.) Aber dass Wilden¬ 
bruch von Natur über eine ungleich grössere 
dramatische Begabung verfügte, als alle Deut¬ 
schen seit Schillers und Kleists Tagen (S. T19), 
das ist doch wohl nur so gesagt, wie man so 
etwas sagt. Denn wir erinnern uns vielleicht 
noch in Augenblicken stillen Nachdenkens 
eines gewissen Hebbel, vielleicht auch eines 
Anzengruber, um von so fragwürdigen 
Revolutionären wie Gutzkow und Büchner 
zu schweigen. Früher blamierte man sich ge¬ 
wöhnlich nur, wenn auf die Modernen die Rede 
kam; heut ist Wielands Muse schon „wider¬ 
wärtig lüstern“ (S. 134), eines Mannes, 
welcher vielleicht das vernünftigste Buch ge¬ 
schrieben hat, das wir in der deutschen Bel¬ 
letristik besitzen. Aber das kommt davon, 
wenn man die gute Gesinnung und den 
Patriotismus zur ultima ratio der litterarischen 
Kritik macht. Diese wohlerzogenen Litteratur- 
jünglinge bilden sich ein, sie verstehen 
etwas von historischer Entwickelung, wenn 
sie sittsam erröten, so oft die Dinge beim 
rechten Namen genannt werden. Litzmann 
weiss auch, womit sich der Dichter und wo¬ 
mit sich der Strafrichter zu beschäftigen hat. 
Der Skandinavismus ist ihm eben so verhasst 
und gefährlich wie das Galliertum. Die Ibsen- 
Begeisterung ist ihm nur wieder ein Zeichen 


von äusserem Mangel an nationalem Selbst 
gefühl. Die Verhöhnung jeder gesunden 
Empfindung „verbittet er sich mit allen Natur¬ 
lauten der Entrüstung“, (Was sind das für 
Laute?), „denn es giebt Dinge, an die nun 
einmal nicht gerührt werden darf“ (S. 157.) 
Hauptmann wird da trotz seinem krassen Na¬ 
turalismus über Ibsen gestellt, wenigstens ist 
er ein Deutscher. Nur politisch muss er uns 
nicht kommen. Aus den „Webern“ spricht für 
Litzmann nur der Socialdemokrat. (Welch 
ein Gehör!) Unter Sudermanns Dramen steht 
ihm am höchsten die „Heimat“, gerade darauf 
legt er Gewicht, im Interesse der Zukunft 
unseres Dramas, dass hier endlich einmal tech¬ 
nisches Können und Tiefe der Empfindung (!) 
der Bedeutung des Inhalts (!) in einem mo¬ 
dernen Drama ebenbürtig sind. Ein tiefes 
Problem ist gelöst. (204,5.) — Das durchaus 
unreife Werk, das nichts als die Wohlan¬ 
ständigkeit, den Patriotismus und den Ttitel 
des Verfassers für sich hat, das langweilig 
und breitgeschwätzig sich vor uns hinstellt, 
hat in kurzer Zeit drei Auflagen erlebt. 
Man sieht, wo man die Deutschen packen 
muss, wenn man sie für die Litteratur inte¬ 
ressieren will. Nicht einmal gute Analysen 
finden wir, wohl aber scenenlange Zitate, 
die einen nicht kleinen Teil des Buches aus¬ 
füllen. Das Alles ist Reporterei und so¬ 
gar schlechte Reporterei, die dadurch nichts 
Anderes wird, weil der Autor die Geschmack¬ 
losigkeithat, auf jeder dritten Seite seine anstän¬ 
digen und patriotischen Gesinnungen zu betonen 
und vor albernen Urteilen nicht einmal bei 
Wieland zurückschreckt. Moral- und Na- 
tional-Trompeterei macht sich heute breit über 
die alte und die neue Welt. 

„Das moderne realistisch-naturalistische 
Drama im Lichte des Christentums“ zeigt ein 
Pfarrer namens Robert Krebs. Sein Standpunkt 
ist, wie zu erwarten, der christliche. Warum 
auch nicht? Er ist wahrlich wieder naiver 
noch reaktionärer, als der der zünftigen Littera- 
turhistoriker. Die Schrift ist in manchen Stücken 
ganz vernünftig, vor Allem erfreut das Be¬ 
mühen, eine Litteratur, die doch aus einer ganz 
anderen Weltanschauung heraus entstanden 
ist, als der des Verfassers zu verstehen, mit 
dem die Modernen aber nur zuweilen durch 
doppelte Negation übereinstimmen. Für einen 
Pastor ist die Bemerkung, dass selbst Christus 
nur ein Kind seiner Zeit gewesen sei, schon die 
Äusserung von geistiger Freiheit. Das Be¬ 
mühen der modernen Pastoren um das geistige 
Leben und die wirtschaftliche Besserung des 
Volkes muss man überall schätzen, wo es 
aus reinen Interesse geschieht; und ein Pastor 
hat eben so gut das Recht, sich einmal die 
moderne Litteratur daraufhin anzusehen, wie 


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Berg, Deutsche Litteraturgeschichte des 19. Jahrhunderts. 


10 ^ 


weit sie den religiösen Bedürfnissen entspricht, 
als ein Professor daraufhin, wie weit sie sich 
historisch rechtfertigen lässt. Nur dass die 
moderne Litteratur das alles gar nichts angeht. 
Krebs versucht nach Möglichkeit Ibsen, Haupt* 
mann, Sudermann gerecht zu werden. Am 
wenigsten versteht er Ibsen, sein Geschmack 
ist nicht schlechter, als der Litzmanns, denn 
am höchsten steht ihm „Sudermanns Heimat". 
Magda hat hier schon etwas von Dr. Faust. 
Im allgemeinen ist die Schrift sehr naiv. 
„Wir sollen eigentlich nach jedem Theater¬ 
besuch als bessere Menschen jiach Hause 
gehen". Wozu dichteten sie den überhaupt. 
Darin liegt eigentlich eine grosse Skepsis 
gegen die sittliche Macht der Kirche. Die 
Modernen predigen die Umkehrung aller Sitt¬ 
lichkeit, andererseits aber, wenn die Dichter 
sittlich werden, und das thun sie auch zu¬ 
weilen, traut er ihrer Wirkung doch nicht: 
„Es wird deshalb nicht um ein Kind weniger 
gezeugt.“ Die Analysen sind sehr ungeschickt. 
Im Grunde, meint Krebs, huldigen die drei 
Dichter der theistischen Weltanschauung, wo¬ 
von man übrigens recht wenig merkt. In der 
Hauptsache kommt es dem Pfarrer auf etwas 
anderes an: wie werden die Pfarrer von den 
modernen Dichtern behandelt? Offenbar besser 
als von den älteren, nur einige, wie z. B. 
Anzengruber ausgenommen, doch der lebte, 
zur Beruhigung sei es gesagt, in katholischen 
Ländern; aber längst nicht so gut, wie zu 
wünschen wäre. Am besten freilich geht’s 
ihnen noch in der „Heimat“. Und dieweil 
männiglich heute Standesinteressen vertritt, 
soll auch diese kritische Ratio nicht fehlen. 

Über die „modernen Dichter •Abende'^ Karl 
Henckells lässt sich nur ein Wort der Ent¬ 
schuldigung sagen. Der Autor macht keinen 
Anspruch, ernst genommen zu werden, wie 
er selbst im Vorworte gesteht, nur drückt er 
sich positiv aus und will „harmlos“ genom¬ 
men werden. Henckel schwafelt einem sehr 
naiven Publikum etwas von moderner Litte¬ 
ratur vor, verteidigt sich und seine Freunde, 
macht sich jeden Erfolg zu eigen, nimmt 
Nietzsche unter die Jungdeutschen auf und 
giebt viele Zitate, die ebenso kritisch und 
geschmackvoll gewählt sind, wie die Aus¬ 
führungen in Prosa, die er darum macht. 

Es giebt gegenwärtig etwa eine Million 
Schriftsteller in der Welt, taxiere ich, auf 
20 Kulturländer je 50,000 gerechnet. Da 
ist natürlich jede Klasse Mensch vertreten, 
vom König bis zum Bettler, vom Pas¬ 
tor bis zum Verbrecher, vom Wickelkind 
bis zum ältesten Greise, vom Bankier bis 
zum Arbeiter, jeder Stand, jede Rasse, jedes 
Geschlecht, jedes Alter. Das hat sein Gutes. 
Zuweilen soll eines davon seine litterarische 


und geistige Beachtung erweisen, nehmen wir 
an, der achtbare Stand der Klempner, der 
Brillenschleifer oder Schuster. 

Nun wird in den Kürschners aller Län¬ 
der nachgeschnüffelt, welcher Schriftsteller 
ist gerade Klempner, Brillenschleifer oder 
Schuster; auch müssen die Konversations¬ 
lexika herhalten, man entsinnt sich plötzlich 
eines Spinoza, welcher ja auch schliess¬ 
lich nichts war als ein Brillenschleifer, 
oder eines Hans Sachs, welcher Schuster 
war und Poet erst — dazu. Und jedem 
Stande geschieht so sein Recht. Es komme 
Einer und sage, er stände nicht auf der Höhe 
der Intelligenz, Humanität und Wissenschaft. 
Wir wandeln alle auf der Menschheit Höhen. 
Da es sich aber gerade um den Emanzipa¬ 
tionskampf der Frau handelt, setzt sich Max 
Osborn hin und sammelt „Die Frauen in 
der Litteratur und der Presse.“ Die Frauen 
— das ist nämlich sehr einfach: erstens 
haben sie das Recht auf die Litteratur, das 
ist jetzt erwiesen, und mehr als die Männer 
blamieren sie sich schliesslich im allgemeinen 
auch nicht; zweitens hatten sie ja bisher gar 
nicht die Möglichkeit, ihre Anlagen zu ent¬ 
falten. (Anmerkung: Die Frauen sind niemals 
so unterdrückt gewesen wie manche Stände 
und Rassen, z. B. die Sklaven des Altertums 
und die Juden des Mittelalters, mindestens 
waren sie niemals so verachtet; aber dennoch 
gab es Sklaven und Juden, die sich die 
Möglichkeit eben nahmen, ihre Anlagen zu 
entfalten; ganz abgesehen davon, dass es nie 
einen Stand, eine Klasse von Menschen ge¬ 
geben hat, die so viel freie Zeit zu dem 
Geschäft gehabt hätten, als wenigstens ein 
Teil der Frauen). Drittens aber, die Frauen 
haben schon alles mögliche geleistet. Und 
nun gehts los: gewöhnlich beginnts mit der 
Sappho; Osborn als guter Deutscher fängt 
mit der Rhoswitha an. Na, und heute erst! 
Neben Klara Mundt z. B. und Helene 
V. Hülsen lächelt uns das freundliche Auge 
der Louise v. Francois an (ich bitte, 
meine Herren, keine Koketterie in der Litte- 
raturgeschichtel). „Da ist" Helene Böhlau, 
„ferner“ die Baronin v. Suttner, die sich mit 
Emilie Mataja und Ossib Schubin in 
Österreich „um die" Ebner-Eschenbach 
„gruppiert". H ermine Vi 1 linger „sei nicht 
vergessen“, mit „auch", „ferner", „ebenfalls", 
geht es dann den ganzen Litteraturkalender 
durch. Louise Hensel ist dann (wann?) 
die religiöse Dichterin der katholisierenden 
Romantik. Als letzte Zeugin vergangener Zeit 
ist Hedwig V. Olfers „dahingegangen". Was 
Osborn unter „dramatischer Frauenarbeit“ 
versteht, weiss ich nicht, Spass gemacht aber 
hat mir folgendes Plaidoyer für weibliche Jour- 


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>io6 


Unsere deutschen Schiffsgesellschaften. 


nalisten: „Der echte Feuilletonstil in seiner 
harmlosen Schwatzhaftigkeit, die lose Art der 
Komposition, die leichte Oberflächlichkeit, die 
geradezu verlangt werden muss, sie wird die 
Frauen, die die Feder führen können, (das kann 
ja wohl jede, die keine wunde Hand hat), locken “. 
So wird ein Laster zur Tugend. Aber, Herr 
Dr., Sie sind ja selbst Journalist. Besitzen 
Sie auch diese Eigenschaften alle? Haben 
Sie sie nicht, dann sind Sie durch sich selbst 
verurteilt. Haben Sie sie aber, so sind Sie 
es durch Andere. — Bei all dem Geschwafel 
um die Frauenrechte in der Litteratur, thun 
Einem nur die paar wirklichen Talente unter 
den Frauen leid, die jetzt, und in dieser Be¬ 
leuchtung, auch nur Frauen sind, während 
man sie bisher noch ftir Schriftsteller, und 
im Ausnahmsfalle sogar, für Geister nahm. 
Erst müssen 10,000 Frauen in die Höhe ge¬ 
lobt werden, und dann sollen sie auch noch 
was beweisen. Und alle, auch die talent¬ 
vollen, gelten nicht mehr, weil sie Talent 
haben, sondern weil sie Frauen sind. Es 
geht mit ihnen, wie mit den Kutschern, welche 
Opernsänger wurden. Das ist ja eben das 
merkwürdige. Für Kutscher singen sie im¬ 
merhin gut genug. Wären sie nur Sänger 
und hätten was Tüchtiges gelernt, dann wär’s 
kein Kunststück, dann wär’s eben ihr Beruf. 
Kunst ist, was man nicht kann, denn wenn 
mans kann, ist es ja keine Kunst mehr. Diese 
berühmte Definition scheint mir, ist auch das 
ästhetische Glaubensbekenntnis des Herrn Dr. 
Osborn. — 

Einen rein praktischen Zweck hat das 
Sammelbuch „Das liUerarische Berlin''' von 
Gust. Dahms, das als Nachschlagebuch 
gute Dienste leistet und ausserdem, das an¬ 
genehme mit dem nützlichen verbindend, den 
Berliner Litteratur- und Zeitungsgrössen, ohne 
Ansehen der Partei, des Geschlechts, des 
Alters und des Talents, das Vergnügen bietet, 
sich im Konterfei zu erblicken. 

(Schluss folgt.; 


Unsere deutschen Schiffsgesellschaften. 

Zwei Umstände haben in letzter Zeit wieder die 
allgemeine Aufmerksamkeit auf unsere SchiflTahrts- 
Verhältnisse gelenkt — die ungewöhnlich langen 
Reichstagsberatungen über die Subvention des Nord¬ 
deutschen Lloyd und der Hamburger Hafenstrike, 
dessen Andauer ebenfalls kaum für möglich ge¬ 
halten wurde. Zumeist begnügen sich die Ferner- 
stehenden bei uns mit dem recht billigen patriotischen 
Stolz auf Deutschlands Handelsflotte, deren Bilder 
in allen illustrierten Blättern prangen und deren 
sonstige Beschreibung sogar die Spalten der Tages¬ 
presse zu füllen pflegen. Allein gerade dieses be¬ 
ständige Rühmen sollte eigentlich auffallen, indem 
keine andere Art von Transportunternehmen sich 
so rastlos abmüht, im Gedächtnis des Publikums 
einen festen Platz zu behaupten. Indessen so kost¬ 


spielig dies Alles auch ist, noch ganz ungerechnet 
der zahllosen Festlichkeiten und Freifahrten, von 
denen auf jenen stolzen Damplem so oft zu lesen 
ist, — die Gesellschaften wissen, ja berechnen doch 
ganz genau, was sie in dieser Hinsicht thun. Man 
sagt sich nämlich, dass sowohl die bekannten Rund¬ 
reisen im Mittelländischen Meer, nach dem Nord- 
kap etc.), als der blosse Ausflugsverkehr zwischen der 
Union und Europa erst im Anfang ihrer Entwickel¬ 
ung stehen und dass ein richtiges Hinlenken auf 
diese Bildungs- und Studienreisen eine so unüber¬ 
sehbare Ausdehnung des Personenverkehrs ermög¬ 
lichen könnte, wie wir ihn durch die Eisenbahnen — 
natürlich immer in vergrössertem Massstabe — be¬ 
reits besitzen. Diese Inaussichtnahme löst auch das 
Geheimnis, weshalb unsere ersten Schiffsgesell¬ 
schaften verhältnismässig irüh u. A. in Genua ihre 
Unieii unterhalten. Es handelt dabei weniger um die 
italienischen Reisenden, als um die deutschen und 
amerikanischen. Besonders von den Letzteren nimmt 
man an, dass ihre Zahl sehr rasch staunenswert stei¬ 
gen würde, sobald man ihnen die ruhigere Fahrt via 
Lissabon und Genua in ausgiebiger Weise zu bieten 
vermöchte, wobei dann noch die Naturschönheiten 
eines Teiles des Mittelländischen Meeres und sodann 
von Italien selbst, mächtige Anziehungspunktezu bilden 
hätten. Alle solche Erw^ungen sehen wie sehr 
lernliegend aus, da ja die Zeit gewiss noch nicht 
gekommen scheint, wo Europa gleichsam nur noch 
das Bildungs- und Vergnügungslokal der neuen 
Welt vorstellt (wie Griechenland einst für Rom), 
wälirend dann in Amerika das eigentliche Geschälts¬ 
ieben pulsieren würde. Allein ein ausserordentlich 
starker Anfang steht bei der wachsenden Verfeiner¬ 
ung der Bevölkerung der Union unzweifelhaft in 
greifbarer Aussicht. Es giebt ja auch andere Län¬ 
der, nach denen vorübergehend der bessere Per¬ 
sonenverkehr rapide zunimmt. Ich erinnere hier nur 
an Transvaal, dessen Minen-Finanzierungen noch vor 
wenigen Jahren veranlasst hatten, dass alle Kap- 
dampfer für viele Fahrten hinaus ihre ersten und 
zweiten Kajüten im Voraus belegt sahen. Jeden- 
tälls wird also die Personenbeförderung zu einem 
ganz neuen Faktor in den Gewinn-Konten unserer 
Dampfergesellscharten werden. Und zwar insofern, 
als die Zahl der Passagiere so gross und noch 
grösser, als die der Auswanderer im Zwischendeck 
werden dürfte, zugleich aber im Gegensatz zu 
dem Massencharakter der Auswanderer, in jeder 
einzelnen Person einen vorteilbringenden Preis zum 
Ausdruck bringt. 

Was nun den G ü t e r verkehr betrifft, so ist die 
Aufgabe, den Austausch zwischen fernen Erdteilen 
zu vermitteln gewiss eine sehr hohe, aber vom 
Idealismus lassen sicli keine Dividenden bezahlen. 
Heute, wo die so scharfe Waren-Konkurrenz für 
die Kalkulation kaum etw’as anderes als die 
Frachtenfragc übrig gelassen hat, werden trotz aller 
Ringbildungen die 'i arife immer reduziert werden 
müssen. In dieser Beziehung giebt die ganzenorme 
Verbilligung der amerikanischen Getreidetransporte 
in nur wenigen Jahren den unwiderleglichsten Beweis. 
Ja die grossen Kaufloute in sonst unzugänglichen 
Ländern verzichten auch heute darauf, sich noch 
wie einst, ihre Speicher und Lager vorbereitend zu 
füllen, da die rasche Verkehrsgclegenheit ihnen je 
nach Bedarf Vieles bringen kann. Die unfreiwillige 
Spekulation jener Händler, das Risiko zu umfang¬ 
reicher Vorräte, würde aber noch jetzt auf sich 
genommen werden müssen, wenn nicht die vielen 
kleinen 'Transporte ^statt früher einiger grossen) 
durch die starke Herabsetzung der Tarife ihren 
Kostenausgleich mehr als genügend finden müssten. 

Ausserdem verändern sich die Richtungen der 
Ausfuhren und Bezüge nicht immer So bedächtig, dass 


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Betrachtungen und 


die alten Schiffsgesellschaften sofort Anpassung 
nehmen können. Wer hat z. H. noch vor Kurzem 
an einen Getreide- und Mehlexport von Uregon 
und Kalifornien nach Ostasien gedacht, anstatt west- 
wäiTs nach Kuropa. Und ähnlich wird es auch nach 
Fertigstellung eines vielgenannten Kanals mit einem 
starken Prozentsatz des argentinischen Getreide¬ 
exports werden. Welche Verketirsumwälzungen 
stehen durch die Ausdehnung der Canadian Pacific- 
Bahn bevor, sowie durch die nicht mehr zu ferne 
Sibirische und Ostchinedsche Bahn. Allerdings darf 
man bei Allem, was Russisch ist, getrost zwischen 
derjenigen Schnelligkeit unterscheiden, welche auf 
dem Papiere steht und welche in Wirklichkeit vor¬ 
handen sein wird. 

Die Veränderungen des Produktenbedarfs sprechen 
ebenfalls ein kräftiges Wort mit! Man denke an 
das künstliche Indigo, das vielleicht bald das echte 
ersetzen dürfte und somit zahllose Dampfer ent- 
behrlich machen könnte. Ferner an das Sclbständig- 
werden der Textilindustrien in der Union und in 
Japan, an die Eisen- und Hüttenw’erke, welche in 
Russland reihenweise entstehen. Auf der andern 
Seite haben wir allerdings in Jahren Aussicht, auch 
von sonstigen passiven Ländern Rohstofl'e und 
Waren zu beziehen. Unsere Schiffe werden einst 
Roheisen aus der Uition zu uns bringen, vielleicht 
auch Kokes, wie neueste Ofl'erten von Amerika 
nach Belgien beweisen und Spanien dürfte uns statt 
seiner Eisenerze später die fertige Ware senden, da 
es mit Hilfe seiner Kohlen seine Erze selbst ver¬ 
hütten kann. Die Veränderungen in der Güterver- 
schiffung sind denn auch von jeher gewaltig ge¬ 
wesen. So bezog im Jahre 1851 Hamburg von 
England für M. 176 Millionen Waaren, im Jahre 
18 & für M. 359 Millionen, in 1871 lilr M. 514 Mil¬ 
lionen und von da an geht es derartig rückwärts, 
dass die Jahre 1891-95 eine Durchschnittsziffer 
von nur M. 391 Milhonen ergeben. Damit ist nach¬ 
gewiesen, dass Hamburg als Vorort des deutsclien 
Handels die englische Vermittlung bei Weitem nicht 
mehr wie früher in Anspruch nimmt, sondern Dank 
nationalem Warenkredit und Scltifisbau seine Bezieh¬ 
ungen nach den Ursprungsländern selbst ausser¬ 
ordentlich ausgedehnt hat. Indem also jetzt unsere 
Schiffe weniger im Kanal und bei Weitem mehr auf 
dem Ozean schwimmen, ergiebt sich auch eine Ver¬ 
stärkung des Schutzes durch unsere Marine mit 
Notwendigkeit. Eine Zusammenstellung unserer 
Schiffsgesellschaften bleibt immer unvollkommen, 
weil sichtbar eigentlich nur die Aktienunternehmen 
werden, wir aber ausserdem noch eine sehr bedeu¬ 
tende Zahl von Rhederfirmen besitzen, von denen 
nicht wenige so mächtig wie Aktiengesellschaften 
selbst sind; dies umsomehr, als sic bei neuen Fahrten 
in der Lage sind Parten (Anteile) auszugeben. Nament¬ 
lich sei hier angcfülirt: die Hamburg-Amerikanische 
Packetfahrt, die jetzt ihr Aktienkapital vermehrt, 
der Norddeutsche Lloyd in Bremen, in dessen 
Aktien sich auch ein hohes spekulatives Interesse 
entwickelt hat, die neue Stettiner Dampfcrgesell- 
schal't etc. ln Hamburg bestehen dann noch die 
Asiatische Küstenfahrt, die Chinesische Küstenfahrt, 
die Dampfschiff-Rhedcrci von 1889, die Deutsch- 
australische Gesellschaft, der Kosmos, die Deutsche 
Dampfsclüff-Rhederei, die Levantelinie, die üst- 
afrika-Linie, die Calciitta-Linic (welche demnächst 
einer Veränderung entgegensicht), die Hamburg- 
Pacific- und die Hamburg-Südamerikani.sche Linie. 
Natürlich sind damit die Schifisuntcrnehmeii vor 
Allem nach den europäischen Häfen in Nord und 
Süd noch keineswegs erschöpft. Von den Scehäl’cn 
wie Köln und ähnlichen Neiicrstelumgeii kann heule 
noch nichts gesagt werden. 

Als sicher erscheint, dass eine nicht zu theure 


KLEINE Mitteilungen. 


Hafenarbeit die Grundbedingung des deutschen 
Schiffswesens bleibt, w'obei freilich Viele meinen, 
dass ein gutes und modernes Verhältnis zwischen 
Rheder und Schaucrleuten nur durch eine selbst¬ 
ständige Arbeiterorganisation mit angebahnt werden 

f^äün. Lynccus. 


Betrachtungen und kleine Mitteilungen. 

Die Widalsche Probe zur Erkennung des Typhus 
abdominalis (Unterleibstyphus). 

Im vorigen Jahre hat der französische Arzt 
Widal eine geniale Methode angegeben, um 
den Unterleibs-'lyphus, dessen Diagnose unter Um¬ 
ständen recht grosse bchwierigkeiten machen kann, 
bereits in den ersten Tagen mit fast absoluter 
Sicherheit feststcllen zu können. — Seine Methode 
beruht auf folgender Thatsache: Man hat die Be¬ 
obachtung gemacht, dass das Serum von Tieren, 
die man künstlich durch Einimpfen von Typh^- 
bazillen gegen Typhus immunisiert hat, die i-ahig- 
keit besitzt, den '1 yphusbazillus resp. dessen Culturen 
in eigentümlicher Weise zu beeinflussen; die 
Mikroorganismen werden unbeweglich, ballen sich 
zusammen und sinken in scholligen Haufen allmählich 
zu Boden, während die Nälirflüssigkeit sich zu¬ 
sehends klärt. Diese Substanzen des immunen 
Serums, die diese Fälligkeit besitzen, hat Grub er 
als Agglutinine bezeichnet. Derartige Agglutinine 
besitzen ausser Typhusserum nur nocii Cholera- und 
Pyocyaneus*)-Serum. — Widal hat nun nachge- 
wiesen, dass das Serum an Typhus erkrankter 
Menschen schon in den ersten Tagen der Erkrankung 
eine specifische agglutmirende Einwirkung auf 
Typhusbazillen besitze. Versetzt man nämlich einen 
1 rupfen einer 24 Stunden alten Bouilloncultur des 
Typhusbazillus mit Serum Typhuskranker und 
untersucht dann unter dem Mikroskop am hängen¬ 
den Tropfen, so sieht man, dass die Bazillen unbe¬ 
weglich werden und sicli zu dichten Klumpen 
zusanimenbaflen. Auch dem unbewaflheten Auge 
kann man die Probe auf folgende y\rt sichtbar machen. 
Man mischt jm Reagcnsgla.s eine bereits fertige 
Typhusbouillonculiur mit einigen Tropfen Typhus¬ 
serum. Schon nach wenigen Stunden klärt sich 
dann die vorher gleichinässig trübe Flüssigkeit und 
iin Bodensatz las.sen sich dann die Typhusstäbchen 
m dichten Massen nachwcisen. — Diese Widalsche 
Typhusreaktion gewinnt noch dadurch besonders 
an Wert, dass sie bereits in den ersten 'l'agen der 
Erkrankung anwendbar ist. — Von den deutschen For¬ 
schern widmet der Hallenser Hygieniker Fraenkel 
in der No. 3 der deutschen med. Wochenschrift 
der Widalschen Entdeckung einen längeren Aufsatz, 
in welchem er den Wert der Reaktion betont und 
daraufhinweist, dass dadurch zugleich ein klassischer 
Beweis geliefert sei dafür, dass der von Ebert 
& Gaffky gefundene Bazillus auch thatsächlich 
der Erreger des Typhus abdominalis sei. — 

Dr. Mt«LEK. 

« • 

• 

Die Röntgen’schea Strahlen und die Pflanzen. 
Bald nacn dem Bekanntwerden der Entdeckung 
RöiUgen’s wurde die naheliegende Frage aufge- 
worleii, ob die X-Strahlen in gleidier Weise, wie 
das Sunnciiliciil, als Reiz auf die Pflanzen einwirken 
und dieselben zu Bewegungen veranlassen, wie wir 
sie an unseren Zioimcrpllanzen beobachten können, 
welche sich bekanntlich bei einseitiger Beleuchtung 
begierig dem Fenster zukehren. Die angestellten. 

Aus Eitcrbaktcrieu. 




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Betrachtungen und kleine Mitteilungen. 


lo8 


allerdings sehr spärlichen Versuche ergaben bisher 
ein negatives Resultat. Dass im Sonnenlichte keine 
Röntgen-Strahlen Vorkommen, dass also die Pflan¬ 
zen nicht etwa unter dem Einflüsse von Sonnen¬ 
strahlen und X-Strahlen wachsen, ^ht aus Ver¬ 
suchen N. J. C. Müllers hervor. ^ liess Son¬ 
nenlicht auf mehrfach treppenförmig über einander 
liegendes, photographisches Papier einwirken und 
bemerkte) dass dasselbe nur in dünnen Lagen vom 
Lichte angegriffen wird; bei dicker Lagerung bleiben 
mehrere Schichten des Papiers vollständig -unver¬ 
ändert. Das könnte nicht der Fall sein, wenn X- 
Strahlen im Sonnenlichte vorhanden wären. Was 
das Durchdringen der Pflanzenteile von den Rönt¬ 
gen-Strahlen anbelangt, so hat Hinterberger 
gefunden, dass wenig saftige Früchte mit grossen 
Hohlräumen den inneren Bau deutlich erkennen 
lassen; Scheidewände und Samen heben sich scharf 
ab; so bei Hülsenfrüchten, Akelei n. a. Sehr dicke 
Knospen und fleischige Früchte sind jedoch für X- 
Strahlen nur wenig durchlässig. n. 

• * 

• 

Linde’s Apparat zur Herstellung flüssiger Luft. 

Das äusserst einfache Verfahren zur Verflüssigung 
der Luft nach Professor Linde erweckt allgemein 
das regste Interesse. Besonders die Industrie baut 
darauf grosse Hoffnungen. 

Das Prinzip des Linde’schen Verfahrens ist 
folgendes: Komprimiert man Luft und lässt darauf 
mit dem Druck nach, so dehnt sich die Luft unter 
Abkühlung wieder aus. Diese abgekühlte Luft wird 
wieder zusammengepresst^und bei Aufhebung des 
Drucks erhält man eine noch kältere Luft. Dies 


[ setzt man so lange fort, bis eine Temperatur er¬ 
reicht ist, unter der die Luft flüssig wird. 

In nachstehender Skizze (nach dem B. L. A.) 
zeigt Fig. I eine schematische Darstellung des Kreis- 
lauls. K ist die Pumpe, die die Luft in das Rohr 
B presst, sie passiert den „Gegenstromapparat" G, 
dehnt sich, nachdem sie das Ventil V passiert hat, 
in S aus, streicht abgekühlt wieder durch den Gegen¬ 
stromapparat und gelangt mit wesentlich niedrigerer 
Temperatur wieder in die Pumpe K, die sie von 
Neuem nach B presst. 

Man wird jetzt leicht den wirklichen Apparat 
Fig. II verstehen. M ist der Motor zum Betrieb 
der Pumpe L. Diese presst die Luft in die Flasche 
L, von wo aus sie in einen kühlen Raum U gelangt, 
um die stets vorhandene Feuchtigkeit abzuscheiden. 
Durch die Kompression war die Luft erhitzt worden, 
sie wird deshalb durch Wasser abgekühlt und 
gelangt dann in den Gegenstromapparat Ge. Auf 
Fig. II erkennt man die Schlangenröhre: eine engere 
Kupferröhre steckt in einer weiteren. Die Luft 
durchströmt zunächst die innere Röhre; am unteren 
Ende, nachdem sie das Ventil passiert hat, kann sie 
sich ausdehnen und strömt infolgedessen abgekühlt 
durch die weitere äussere Röhre zurück nach der 
Pumpe, von wo aus der Kreislauf von neuem be¬ 
ginnt. Bei H ist ein Ablassventil und ein sogen. 
Dewar’sches Glasgefäss in dem sich die flüssige 
Luft sammelt; dasselbe ist doppelwandig, zwischen 
den beiden Glaswänden ist die Luft ausgepumpt. 
Bringt man einen Tropfen Quecksilber in die Luft¬ 
leere, so verdunstet er und schlägt sich als Spiegel 
an der kalten innerer Glasw’and nieder. Diese Ein- 
richtimg dient zum Schutz gegen die Aussenwärmc. 



Linde’s Apparat zur Herstellung flüssiger Luft. 


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Kleine Mitteilungen. 


io9 


Dies das Prinzip des Apparats. Es würde zu weit 
führen sonstige technisch sehr geschickte Details 
anzugeben. — Die Verflüssigung der Luft erfolgt 
unter gewöhnlichem Atmosphärendruck bei — 1910. 
Sie stellt eine hellblaue durch feste Kohlensäureflocken 
milchige Flüssigkeit dar. Durch gewöhnliches Fil¬ 
terpapier filtriert wird sie klar. In offenen Gefässen 
verdampft sie nur relativ langsam. Diese Flüssig¬ 
keit enthält Stickstoff und Sauerstoff in einem ganz 
anderen Verhältnis als die atmosphärische Luft. 
Während nämlich bei letzterer auf i Teil Sauer¬ 
stoff ca. 4 Teile Stickstoff kommen, kommen bei 
flüssiger Luft 2 Teile Sauerstoff auf einen Teil Stick¬ 
stoff. Durch fractionierte Destillation lässt sich die¬ 
ser Sauerstoffgehalt noch weiter anreichern. — Der 
Linde’sche Apparat bietet somit ein vorzügliches 
Mittel, ziemlich reinen Sauerstoff herzustellen und 
eröffnen sich damit insbesondere der chemischen 
Industrie neue Aussichten. In wieweit die Medizin 
davon Nutzen ziehen wird, bleibt abzuwarten. Den 
Hauptanteil nimmt natürlich die Kälteindustrie. In 
Amerika will man sogar schon Apparate bauen zur 
Abkohlung der Zimmer zur Sommerzeit. — Für 
die technische Verwendung im Grossen spricht die 
Billigkeit des Verfahrens. Der Erfinder glaubt für 
nur 10 Pfennige 5 Kubikmeter Luft verflüssigen zu 
können, die also einen Kubikmeter Sauerstoff ent¬ 
halten. Bisher kostete i Kubikmeter Sauerstoff in 
stählernen Bomben komprimiert M. 10.— b. 

9 

* • 

Das Dezemberheft 1896 des „Geographical 
Journal“ bringt zum erstenmale eine genauere karte 
Ober die Resultate der Jackson-Harmsworth-Polar- 
Expedition nach Franz-Josefsland während der 
Jahre i894'96. Dadurch, dass ausser den von die¬ 
ser Expemtion festgestellten Kostenlinien auch die¬ 
jenigen der früheren Forscher (namentlich P a y e r’s) 
in schwacher Kontur eingetragen sind, wird erst 
die Bedeutung der Jacksomschen Forschungen recht 
ersichtlich. Zugleich ist durch vielfache Anstell¬ 
ung astronomischer Beobachtungen für die genaue 
Fixierung besonders wichtiger Punkte Sorge ge¬ 
tragen worden. Vorläufig ist die Karte noch auf 
den Meridian von Kap Flora (Northbrook-Insel) be¬ 
zogen worden, welche nach den bereits durch Jack¬ 
son ausgeführten Beobachtungen 490 47* io*‘ östl. 
von Green, lieg^ Jedoch beal^ichtigt Jackson noch 
eine längere Reihe von Beobachtungen zur genauen 
Festlegung dieses wichtigen Punktes auszuführen. 



Zur besseren Orientierung der Leser möge die bei¬ 
stehende Kartenskizze dienen. Dr. e. 


Einfluss Röntgenstrahlen auf chemische 
Vorgänge. Unter dem Einfluss der X-Strahlen ver¬ 


liert ein elektrisierter Körper rasch seine Ladung. 
Da andererseits die Jonen*) eine grosse Rolle in 
den chemischen Reaktionen spielen, so konnte man 
einen starken Einfluss der Röntgenstrahlen auf che¬ 
mische Vorgänge erwarten. A. von Hemptinne**) 
stellte eine Anzahl Versuche zur Klärung der Frage 
an: unter der Einwirkung von X-Strahlen unter¬ 
suchte er die elektrolytische Leitfähigkeit von Lös¬ 
ungen, lichtempfindlichen Substanzen, wie Chlor¬ 
wasserstoffknallgas, Kohlenoxyd und Chlor, kam je¬ 
doch zu einem negativen Resultat. b. 

« • 

* 

Einen sehr interessanten Einblick ja die Ent¬ 
wickelung der elektrischen Bahnen in Deutschland 
gewährt folgende Zusammenstellung. 

Es betrug die Anzahl der Städte mit elektrischen 


Bahnen: 

bis Ende 1891.3 

«1893. 5 

,, 1893.II 

„ »1894 .20 

« 1895. 34 

bis I. August 1896.42 


In weiteren 32 Städten waren im August 
elektrische Bahnen im Bau begriffen oder definitiv 
beschlossen. Die gesamte Streckenlänge der fertig- 
gestellten Bahnen betrug am i. August 18^ 
583 km und die der im Bau begriffenen 730 km. 

(Elektrolechnische Zeitachi^.» 


Denjenigen, die öfters den Fernsprecher zu be¬ 
nutzen gezwungen sind und mit dem Empfänger 
am Ohr auf irgend eine Auskunft warten, wird es 
wohl aufgefallen sein, wie häufig man vom Amte 
aus durch die Frage: „Sprechen Sie noch“, unter¬ 
brochen wird. Obgleich diese Störungen ja im 
Grunde genommen sehr gering sind, werden sie 
doch unangenehm empfunden. Um diesem Uebel 
abzuhelfen, und auch den Beamten ihre Thätigkeit 
zu erleichtern, wurde neulich, wie „l’Industrie 
Electrique“ meldet, eine sehr sinnreiche Einrichtung in 
Worcester getroffen. Sobald nämlich jemand das 
Amt anruft, flammt eine Lampe auf, die bis zur Her¬ 
stellung des Anschlusses durcn den Beamten brennt. 
So lange die Abonnenten sich unterhalten, bezw. 
den Empf^ger nicht auf den dazu bestimmten 
Hacken aufgehängt haben, sind die Lampen dunkel 
und fangen erst wieder an zu brennen, nachdem 
die Empfänger an dem für sie bestimmten Platz 
angebracht sind. Hat der Beamte die Verbindung 
gelöst, so löschen die Lampen wieder aus. Der 
Vortheil dieser Einrichtung ist leicht ersichtlich, 
wenn man bedenkt, dass in sehr vielen Fällen das 
übliche Schlusszeichen aus Versehen oder Nach¬ 
lässigkeit nicht gegeben wird; der Beamte also nicht 
wissen kann, ob die Verbindung frei ist und, falls 
er kein Gespräch hört, gezw’ungen ist, anzufragen, 
ob dasselbe bereits beendet. Dem Sprechenden 
wird somit eine Belästigung, dem Beamten Arbeit 
erspart. s- 

• 

Ein elsässisches Dialektwörterhuch, mit Unter¬ 
stützung der deutschen Verwaltung herausgegeben 
von Prof. Dr. Martin und H. Lienhart in 
Strassburg, wird um Ostern zu erscheinen beginnen. 
Wie an dem von Prof. To bl er redigierten 


•) Jonen sind die elektrisch geladenen Teile, in welche die 
Molekeln gewisser Körper (Eleklroljtc», zumal bei der Lösung 
In Wasser, zerfallen und zwischen denen sich die meisten che¬ 
mischen Reaktionen mit kurzem Verlauf abspielen. 

••) Zeitschr. f. phys. Chemie XXI. 3. 


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HO 


Kleine Mitteilungen. 


Schweizerischen Idiotikon, so wird auch an dieser 
sehr umfangreich geplanten Sammlung des elsässi* 
sehen Wortschatzes eine grosse Anzahl von ger¬ 
manistisch geschulten Fachleuten, wie von gebilde¬ 
ten Männern des praktischen Lebens (namentlich 
Lehrer) mitarbeiten, die in unmittelbarem, lebendigem 
Verkehr mit dem Volke stehen. Für die innere 
Krärtigimg und Vertiefung unseres deutschen Volks¬ 
tums m den Reichslanden ist der Wert dieses echt 
’ vaterländischen Unternehmens gar nicht hoch ge¬ 
nug anzuschlagen. Die französische Regierung hatte 
bekanntlich die deutsche Sprache im Llsass längst 
auf den Aussterbeetat gesetzt und namentlich in 
den letzten Jahren vor 1870 den Vemichtungs- 
kampf nicht ohne Geschick und Erfolg geftihrL 
Trotzdem das Deutsche aus dem amtlichen Ge¬ 
schäftsverkehr völlig verbannt wurde, hielt aber die 
Bevölkerung, namentlich auf dem platten Lande, 
mit echt alemannischer Zähigkeit an der deutschen 
Muttersprache fest und bildete ihren Sprachschatz 
in so eigenartiger Form aus, dass die vergleichende 
Sprachforschung selten so viel aufschlussreiche Be¬ 
obachtungen anstellen konnte wie hier. Nun aber, 
durch den immer mehr ausgleichenden Einfluss der 
Volksschule und infolge der steigenden Einwander- 
gerät der lange unangetastet erhaltene hei¬ 
mische Sprachschatz allmählich in Gefahr, sich all¬ 
zusehr mit dem Hochdeutschen zu vermischen, und 
deshalb war es ein Gebot der Notwendigkeit, jetzt 
alles zu sammeln und einheitlich zusammenzustellen, 
was noch zu retten war. Der Name des Heraus¬ 
gebers und die seiner Mitarbeiter bürgen dafür, dass 
liier ein Werk zustande kommen wird, das sich 
neben Schmollers klassisch dastehendem „Bayer¬ 
ischen Wörterbuch“ und T o b l e r s „Schweizerischen 
Idiotikon“ würdig behaupten kann. - Bei der 
Durchsicht der ersten Druckbogen fällt dem his¬ 
torisch gebildeten Philologen angenehm auf, dass 
auch die alten Schriftsteller elsässisclier Sprache, 
Geiler v. Kaisersberg, Murner, Dasypodius, Mosche- 
rosch u. a. reichlich herbeigezogen sind. Dr. d. 

• 

• * 

Georg Steinhausen in Jena, der Verfasser 
der rühmlichst bekannten „Geschichte des deutschen 
Briefes“, bereitet eine umfassende Veröffentlichung 
von äeu/sc/ien Privaibriefen aus dem 14. und ij. 
Jahrhundert vor. Dr. D. 

• 

* • 

Ueber den neuentdeckien See Faguibine bei Tim- 
buktu, der in einer Spalte oder Depression liegt 
und keinesfalls mit den auf unsern Karten bisher 
genau angegebenen Ueberschweinmungsseen des 
Niger verweoiselt werden darf, liegen jetzt genauere 
Nachrichten Und auch eine Karte imMasstabeinooooo 
von Vuillot vor, die bei A. Challamel in Paris 
erschienen ist. Darnach erstreckt sich der See von 
^36’ W. L, V. Paris bis 6'-28’. Sein nördlichster 
Punkt liegt in N. Br., während ein nach Sü¬ 

den sich ansetzender Seearm bis i6 ’2^’ herabreicht. 
Seine übrige Breite schwankt zwischen 5 bis 20 Km. 
Etwa ein Dutzend Inseln liegen in dem See, deren 
grösste Taguilam mit Port Aube ist Die Tiefe 
beträgt 40 m, und die Ufer sind steilwandig. Merk¬ 
würdig ist nur die so späte Entdeckung eines Sees 
von solcher Ausdehnung in einer immerhin viel 
und von den besten Reisenden wie H. Barth und 
O. Lenz besuchten Gegend. Nach Bluzet kann 
Lenz s. Zl nur w’enige hundert Meter an dem See 
vorübermarschiert sein. Dr. e. 

• « 

Dr. Hermann Hager f. Am 24. Januar d. J. 
starb Hager, wohl der populärste unter den neueren 
Pharmazeuten. Er wurde am 3. Januar i8t6 in 


Berlin geboren und widmete sich von seinem 16. 
Lebensjahre ab der Pharmazie. Besonders verdient 
machte er sich durch Herausgabe der „Pharmazeu¬ 
tischen Zentralhalle“, durch die Begründung des 
^Pharmazeutischen Kalender“, sein „Kommentar zur 
rharmacopoeaGennanica“(um d. Zustandekommen 
er s. bes. Verdienste erworben hatte) und das „Hand¬ 
buch d. pharmazeutischen Praxis“ (8 Auf!.). Es würde 
zu weit führen, wollten wir alle seine praktischen 
Arbeiten anführen, die er in Form fachwissenschaft¬ 
licher Aufsätze veröffentlichte. - Erwähnt sei nur 
eine Publikation und ein Ereignis, das ihn aus der 
Verborgenheit herauszog: Er hatte nämlich im Jahre 
1840 Viehsalz chemisch untersucht und auf Grund des¬ 
sen eine Anleitung zur Verwendung desselben für Sei¬ 
fensieder und Fleischhauer in einem schlesischen Blatt 
veröffentlicht Als er bald darauf in Perleberg in 
Condition stand, verbreitete sich daselbst die Nach¬ 
richt, dass er von den Behörden gesucht werde. 
Das bedeutete zu jener Zeit nichts gutes und Hager 
erschrak nicht wenig, als eines Tages ein Herr in 
Uniform in die Apotheke trat, nach ihm frug und 
ihn mit den Worten ansprach: „Die Regierung sucht 
Sie schon seit längerer Zeit“. Da der Herr Steuer¬ 
rat, es war ein solcher, den Schrecken des jungen 
Mannes bemerkte, fügte er lächelnd hinzu: „Er¬ 
schrecken Sie nicht, denn die Sache ist für Sie 
sehr ehrenvoll. Jener Artikel hatte nämlich die 
Aufmerteamkeit der Behörden auf Hager gelenkt 
und man frug ihn um Rat über die zw'eckmässigste 
Methode zur Denaturierung von Viehsalz. Hager 
empfahl gepulverte Enzianwurzel oder Wermuth- 
kraut und thatsächlich werden noch heute in Preus- 
sen diese Bittermittel statt des sonst üblichen roten 
Bolus zur Denaturierung des Viehsalzes verwendet 
— Dass Hager nicht einseitig war zeigt sich in der 
Veröffentlichung eines Büchlein über „Wetter und 
Witterung“, eines „Cosmos diluvialis oder „Die Sünd- 
flut, eine historische Wahrheit", und einer „Anleit¬ 
ung zum Schachspiel". Auch soll er sehr nette Ge¬ 
dichte gemacht haben. Das war aber in den jünge¬ 
ren Jahren 1 b. 


Sprechsäal. 

Geehrter Herr Redakteur! Es würde mich freuen, 
wenn Herr Dr. T e t z n e r auch ein kräftiges Wort 
gegen den Missbrauch sprechen möchte, der mit 
den Worten „«A“ und „mie" getrieben wird. Nach 
der Entwickelung der deutschen Sprache steht „a/s“ 
nach einem Komparativ, „wie" aber nach einem 
Vergleich. — Es ist gutes Deutsch zu sagen: „A 
ist grösser ah ß“ und „A ist ebensogross wie B“. 
Statt dessen hört man in den Berliner Salons und 
leider auch in vielen Berliner Zeitungen beständig 
Redewendungen, wie: „A ist grösser wie B, oder 
A ist ebensogross ah B. — Für ein sprachlich ge¬ 
schultes Ohr sind dies Ohrfeigen. — Es gibt nur 
einzelne Ausnahmen, wie z. B. in der Redeform 
„sowohl — ah auch" — aber sonst sollte man gegen 
diese Verschlechterung der Sprache Front machen. 

Hochachtungsvoll 

Dr. J., Berlin. 

Wir haben Herrn Dr. T e t z n e r gebeten, die 
Frage zu behandeln. Die Red. 


No. 7 der Umschaa wird eathaltcn: 

Freiherr von Stengel, Die deutschen Kolonien. — Berg, Deutsche 
Litteraturgcschichte des 19. Jahrhunderts iSchluss.) - France, 
Das Land der lebenden Fossilien. - Sonnenllecken. Mit Ab¬ 
bildung der jüngsten Erscheinungen. - Winkler, Die Entdeck¬ 
ung neuer Elemente und damit zusammenhängende Fragen. 


G. Horstmann’e Druck^ei. Frankfurt a. M. 


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DIE UMSCHAU 

ÜBERSICHT ÜBER DIE FORTSCHRITTE UND BEWEGUNGEN AUF 
DEM GESAMTGEBIET DER WISSENSCHAFT, TECHNIK, 

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Verantwortlicher Redakteur: 

Otto Adolf Wolters, Frankfurt a. BL 


Mft T ToV»»-/-r Nachdruck aus dem Inhal ! der Zeilschrift ohne Erlatd>nis -r n 17 

J\2 7 . 1. Jdnrg. der Redaktion verboten . ^^ 91 ' ^ 3 * rcDrUar. 


Die deutschen Kolonien.*) 

Von Prof. Karl Freiherr von Stengel. 

Jedes kräftige Volk strebt nach Ausdeh¬ 
nung seiner Herrschaft und seines politischen 
und wirtschaftlichen Einflusses, sei es in der 
Form der Eroberung oder der friedlichen 
Kolonisation, d. h. der Gründung von Nieder¬ 
lassungen und Ansiedelungen ausserhalb des 
von ihm bereits in Besitz genommenen und 
politisch beherrschten Gebiets. Es war da¬ 
her eine ganz naturgem'ässe Erscheinung, dass 
nach der. Entdeckung von Amerika und der 
Aufündui^ des - Seewegs nach Indien dioi 
massgebenden Seemächte der damaligen Zeit, 
Spanien, Portugal, Holland, Frankreich und 
England mit einander wetteiferten, möglichst 
viel von den neuentdeckten, bezw. gewisser- 
massen wieder entdeckten Ländern unter ihre 
Herrschaft und ihren politischen und wirt¬ 
schaftlichen Einfluss zu bringen. 

Deutschland war von diesem Wettbewerb 
ausgeschlossen, denn es war im Zeitalter der 
grossen Entdeckungen und der Gründung von 
Kolonien in der neuen Welt, politisch ohn¬ 
mächtig und in verschiedene grössere und 
kleinere, mehr oder minder selbständige 
Territorien zerrissen, denen die Möglich¬ 
keit fehlte, eine aktive Kolonialpolitik zu 
treiben. Allerdings machte in der zweiten 
Hälfte des 17. Jahrhunderts der weitblickende 
Grosse Kurfürst, der die Bedeutung von „See¬ 
fahrt und Handlung“ zur Hebung seines durch 
den dreissigjährigen Krieg zerrütteten Landes 
sehr wohl erkannte und auch die notwendige 
Entschlossenheit besass, einen Versuch aktiver 
Kolonialpolitik, indem er namentlich in Afrika 
am Golf von Guinea einige Besitzungen er¬ 
warb ; allein der Versuch misslang und musste ' 
misslingen, weil Brandenburg-Preussen für 

*) Dieser Einführung wird eine Reihe von Auf¬ 
sätzen Ober die einzcbien deutschen Kolonial^ebiete 
folgen. Die Redaktion. 

Umschau 1897. 


sich allein nicht die Kraft hatte, eine erfolg¬ 
reiche Kolonialpolitik zu betreiben, und es in 
den übrigen Teilen des deutschen Reichs, 
insbesondere bei den Hansastädten, deren 
Flotten ehedem das Meer beherrschten, die 
nötige Unterstützung nicht fand. 

Dass auch in den späteren Zeiten des heil. 
Römischen Reiches und in den Zeiten des 
Bundestags an eine deutsche Kolonialpolitik 
nicht gedacht werden .konnte, bedarf keiner 
besonderen Hervorhebung. 

Sobald jedoch die Zusammenfassung der 
wirtschaftlichen und politischen Kräfte Deutsch¬ 
lands in dem bundesstaatlich organisierten 
deutschen Reiche erfolgt war, trat mit einer 
gewissen Notwendigkeit das Verlangen nach 
dem Erwerbe deutscher Kolonien auf, in wel¬ 
chen die deutsche Industrie ein erweitertes 
Absatzgebiet und die überschüssige Bevölke¬ 
rung wenigstens teilweise Unterkunft finden 
können. In der That gelang es vom Jahre 
1884 ab in wenig Jahren in Afrika und in 
der Südsee ausgedehnte Landstrecken zu er¬ 
werben, die insgesammt einen Flächenraum 
raum von ca. 2*/* Mill. Quadrat-Kilometer 
umfassen. 

Die einzelnen deutschen Schutzgebiete 
sind: i) das südwestafrikanische Schutzgebiet, 
welches einen Flächenraum von mehr als 
800,000 Quadrat-Kilometer hat; 2) Kamerun 
an der Bjafrabai, etwa 495,000 Quadrat-Kilo¬ 
meter gross; 3) das an der Sklaven¬ 

küste, einige tausend Quadrat-Kilometer um¬ 
fassend; 4) Deutsch-Ostafrika, das einen Um¬ 
fang von 995,000 Quadrat-Kilometer hat; 5) 
das Gebiet der Neu-Guinea-Kompagnie, etwa 
250,000 Quadrat-Kilometer gross; 6) das 
Schutzgebiet der Marsohall Brown und Pro- 
vidence-Jnscln, dessen Umfang etwa 400 Qua¬ 
drat-Kilometer beträgt.*) 

*) Zum Vergleiche bemerken wir, dass Deutsch¬ 
land einen Flächenraum von 540,483 Quadrat-Kilo¬ 
meter besitzt. 

7 


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II 2 


V. Stengel, Die deutschen Kolonien. 


Die Abgrenzung der deutschen Schutzge¬ 
biete ist durch eine Anzahl von Verträgen 
erfolgt, welche das Reich mit England, Frank¬ 
reich und Portugal abgeschlossen hat; nur 
das Hinterland von Togo (die Nordgrenze) 
ist noch nicht bestimmt abgegrenzt. 

Die Schutzgebiete sind rechtlich betrachtet 
überseeische Besitzungen, welche der Souve- 
ränetät des deutschen Reiches unterworfen 
sind, so dass dasselbe in diesen Gebieten die 
gesetzgebende, richterliche und vollziehende 
Gewalt auszuüben befugt ist. Zu beachten ist 
jedoch, dass wenn auch die Schutzgebiete 
grundsätzlich der Souveränetät des deutschen 
Reichs unterstehen, dasselbe doch noch keines¬ 
wegs von den weiten Gebieten, welche in¬ 
haltlich der erwähnten Abmachungen mit Eng¬ 
land, Frankreich und Portugal seinem Ein¬ 
flüsse überlassen worden sind, vollkommen 
Besitz ergriffen hat. Insoweit dies noch nicht 
geschehen ist, fallen die betreffenden Gebiete 
unter den Begriff der Interessensphären. Unter 
Interessensphären versteht man aber im mo¬ 
dernen Kolonialrecht auf Grund von Verein¬ 
barungen der beteiligten Kolonialmächte ab¬ 
gegrenzte Gebiete, innerhalb deren ein Staat 
ausschliesslich berechtigt ist, seine koloniale 
Herrschaft zu begründen. Aufgabe des Reichs 
ist es nun, durch Schaffung staatlicher Ein¬ 
richtungen, die seinem Einflüsse überlassenen 
Gebiete nach und nach vollkommen seiner 
staatlichen Herrschaft zu unterwerfen. 

Die staatsrechtliche Stellung der deutschen 
Schutzgebiete und ihre Verfassung ist zunächst 
geregelt worden durch das Reichsgesetz vom 
17. April 1886 und die dazu gehörige No¬ 
velle vom 15. März 1888. Dieses Gesetz hat 
u. A. die Rechtspflege in den Schutzgebie¬ 
ten eingehend geordnet; seine Hauptbedeu¬ 
tung liegt aber darin, dass durch dasselbe 
die Ausübung der dem Reiche über die 
Schutzgebiete zustehenden Hoheitsrechte 
der sog. Schutzgewalt ■— dem Kaiser zur 
Ausübung in der gleichen Weise übertragen 
wurde, wie ihm auch die Ausübung der Staats¬ 
gewalt in Elsass-Lothringen im Namen des 
Reichs zusteht. Der Kaiser ist bei Ausübung 
der Schutzgewalt an die Mitwirkung des 
Bundesraths und Reichstags nur insoweit ge¬ 
bunden, als dies durch Gesetz z. B. in Be¬ 
zug auf die Rechtspflege und die Feststellung 
des Budgets der Schutzgebiete ausdrücklich 
bestimmt ist. Im Übrigen kann der Kaiser 
allein durch Verordnung die Angelegenheiten 
der Schutzgebiete, namentlich auch die Ver¬ 
hältnisse der Eingeborenen regeln. Das ist 
auch bereits im weitem Umfange geschehen, 
so dass in allen Schutzgebieten eine geord¬ 
nete Rechtsprechung und Verwaltung besteht, 
wenn dieselbe auch begreiflich noch nicht so 


ausgebildet ist, wie im Reichsinlande und noch 
nicht alle Landstrecken umfasst, welche zu 
den deutschen Schutzgebieten resp. Interessen¬ 
sphären gehören. 

Unterstützt wird der Kaiser bei Ausübung 
der Regierung der Schutzgebiete durch den 
Reichskanzler, bezw. das Auswärtige Amt des 
Reichs und die in demselben seit dem i. April 
1890 bestehende Kolonial-Abteilung, der in 
dem durch den Allerh. Erlass vom 10. Okt. 
1890 geschaffenen „Kolonialrath“ ein sach¬ 
verständiger Beirat an die Seite gesetzt ist. 
An der Spitze der einzelnen Schutzgebiete 
stehen Kaiserliche Beamte mit dem Titel 
Gouverneur, Landeshauptmann oder Commis- 
sar, denen für die verschiedenen Verwaltungs¬ 
zweige die nötigen Beamten beigegeben sind. 

Eine eigentümliche Stellung nimmt das 
Schutzgebiet der Neu-Guinea'Kompagnie ein. 
Durch Kaiserl. Schutzbrief vom 17. Mai 1885 
wurde nämlich dieser Kolonialgesellschaft die. 
Ausübung der Landeshoheit in dem von ihr 
erworbenen Gebiete übertragen. Infolge dessen 
wird die Regierung und Verwaltung in diesem 
Gebiete durch die Organe und Beamten der 
Neu-Guinea-Kompagnie auf deren Kosten, je¬ 
doch unter Oberaufsicht tier Kaiserl. Regier¬ 
ung gehandhabt. Es ist jedoch im Werke, 
diese Sonderstellung des Gebietes der Neu- 
Guinea-Gesellschaft zu beseitigen und das¬ 
selbe ebenso wie die übrigen Schutzgebiete 
durch Kaiserl. Beamte verwalten zu lassen. 

Nachdem die Abgrenzung der deutschen 
Schutzgebiete gegenüber den Kolonien und 
Interessensphären anderer Staaten in der 
Hauptsache erfolgt ist, und auch die Grund¬ 
lagen staatlicher Organisation und Verwaltung 
in allen Schutzgebieten bereits gelegt sind, 
so handelt es sich nunmehr darum, die deut¬ 
schen Schutzgebiete der Kultur zu erschliessen 
und für das Reich und seine Angehörigen 
nutzbar zu machen. In dieser Beziehung lie¬ 
gen allerdings die Verhältnisse nicht so gün¬ 
stig, wie sie seiner Zeit für England lagen. 
Als Deutschland im Jahre 1884 daran ging, 
Kolonien zu erwerben, fand sich eben nur 
noch wenig völkerrechtlich herrenloses Land 
vor, das in der gemässigten Zone gelegen, 
zur Anlegung von Ackerbau- und Ansiedel¬ 
ungs-Kolonien geeignet war, während Eng¬ 
land die Möglichkeit besass, weite in der ge¬ 
mässigten Zone gelegene Landstrecken in 
Nordamerika und Australien in Besitz zu 
nehmen und daselbst Ansiedelungs-Kolonien 
zu gründen. Die deutschen Kolonien liegen 
zum grössten Teil in tropischen und sub¬ 
tropischen Landstrichen, in denen eine starke 
Einwanderung von Europäern aus klimatischen 
Gründen ausgeschlossen erscheint. Immerhin 
sind in den deutschen Kolonien beträchtliche 


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Berg, Deutsche Litteraturgeschichte des 19. Jahrhunderts. 


Strecken in Südostafrika und in Ostafrika so 
beschaffen, dass daselbst Ackerbau-Kolonien 
angelegt werden können und sicherlich wer¬ 
den im Laufe der Zeit viele tausende von 
Deutschen in den Schutzgebieten Unterkunft 
finden, wenn auch der Strom der deutschen 
Auswanderung sich nicht vollständig in die 
deutschen Kolonien leiten lassen wird. Vor 
Allem hat sich gezeigt, dass Südwestafrika, 
das anfänglich ziemlich gering geschätzt wor¬ 
den ist, zur Ansiedelung von deutschen Aus¬ 
wanderern durchaus geeignet ist. Das Klima 
ist vortrefllich, die eingeborenen Volksstämme 
sind wenig zahlreich und bewohnen nur einen 
geringen Teil .des Landes, das ausgedehnte, 
zur Viehzucht verwendbare Weidegründe be¬ 
sitzt und auch dem Ackerbau stehen jeden¬ 
falls in den Flussthälern und in denjenigen 
Strecken, in denen durch Bewässerungsein¬ 
richtungen für die nötige Feuchtigkeit wäh¬ 
rend des ganzen Jahres gesorgt werden kann, 
keine unüberwindlichen Hindernisse entgegen. 

Aber auch insoferne die deutschen Schutz¬ 
gebiete lediglich als Handels- und Plantagen- 
Kolonien in Betracht kommen, sind sie wert¬ 
voll, denn sie werden mehr und mehr Deutsch¬ 
land hinsichtlich des Bezugs der sog. Kolonial- 
waaren von der Einfuhr aus fremden Kolonien 
unabhängig machen. Ebenso sind sie feste 
Stützpunkte für den deutschen Handel und 
werden sie sich im Laufe der Zeit zu Ab¬ 
satzgebieten für die deutsche Industrie ent¬ 
wickeln. 

Dass sich die wirtschaftlichen und sonstigen 
Vorteile des Kolonialbesitzes bisher für Deutsch¬ 
land erst in geringem Masse fühlbar gemacht 
haben, hat seinen Grund zunächst darin, dass 
Deutschland erst seit nicht viel mehr als 
einem Jahrzehnt im Besitz von Kolonien ist, 
und sich die wirtschaftliche Entwickelung der 
deutschen Schutzgebiete durchweg in den 
allerersten Anfängen befindet. Dazu kommt 
aber noch, dass die deutsche Kolonialpolitik, 
namentlich im Beginne, teils infolge eines 
kurzsichtigen Doktrinarismus, teils infolge 
mangelnden nationalen Sinnes in vielen Kreisen 
Widerspruch gefunden hat und dass die deut¬ 
schen Kapitalisten, denen der Besitz deut¬ 
scher Kolonien etwas Ungewohntes, man möchte 
fast sagen. Unheimliches war, nui ungern 
daran gegangen sind und noch daran gehen, 
ihr Geld in kolonialen Unternehmungen an¬ 
zulegen, sondern es vielfach vorzogen, es in 
allerlei exotischen Werten zu verlieren. 

Endlich ist nicht zu verkennen, dass wie 
schon Bismarck nur mit einem gewissen Zögern 
die Bahn der Kolonialpolitik betreten hat, in 
der Ära Caprivi die Reichsregierung leider 
nicht das nötige Interesse für die Kolonien 


I13 


gezeigt hat, um das Privatkapital zu kolonialen 
Unternehmungen zu ermuntern. 

Unleugbar ist in dieser Beziehung in den 
letzten Jahren eine Wendung zum Bessern 
eingetreten. Wenn es auch gegenwärtig leider 
innerhalb und ausserhalb des Reichstags noch 
genug kurzsichtige Kolonialgegner gibt, so 
denkt doch weder der Reichstag, noch die 
Reichsregierung daran, etwa die Kolonien 
wieder aufzugeben, sondern man ist nicht 
blos entschlossen, das Erworbene festzuhalten, 
sondern auch die Entwickelung der deutschen 
Kolonien möglichst zu fördern und zu unter¬ 
stützen. Infolge dessen wendet sich auch das 
deutsche Privatkapital etwas mehr den wirt¬ 
schaftlichen Unternehmungen in den deutschen 
Kolonien zu, und wird das umsomehr thun, 
je mehr die Einsicht in den Wert und die 
Bedeutung des Kolonialbesitzes sich verbreitet 
und vertieft. Es kommt dabei zu berücksich¬ 
tigen, dass der Besitz von Kolonien den 
geistigen, politischen und wirtschaftlichen Ge¬ 
sichtskreis eines Volkes erweitert und seine 
Initiative in Bezug auf wirtschaftliche Thätig* 
keit erhöht. Hätte sich der Gesichtskreis des 
deutschen Volkes unter den traurigen wirt¬ 
schaftlichen und politischen Zuständen, unter 
denen es Jahrhunderte lang - lebte, nicht so 
verengt, so hätte die deutsche Kolonialpolitik 
wohl nicht so viel Gegner gelinden, als es 
der Fall war. Das deutsche Volk muss eben 
erst lernen, Einrichtungen zu schätzen, deren 
Wert von anderen Völkern längst erkannt 
ist. Wir müssen in dieser Beziehung mit 
einer gewissen Beschämung auf Frankreich 
sehen, wo die energische Kolonialpolitik, die 
seit Jahrzehnten dort betrieben wird, allent¬ 
halben Unterstützung und Interesse findet. 
Freilich war es auch der Franzose Leroy 
Beaulieu, der den Satz aussprach: „Le 
peuple qui colonise le plus, est le premier du 
monde, s’il n’est pas aujourdhui, il sera de- 
main." 


Deutsche Litteraturgeschichte 
des 19. Jahrhunderts. 

(Die*) Erscheinungen des Jahres 1896). 

Von Leo Berg. 

(Fortsetzung.) 

Etwas wertvoller sind im allgemeinen die 
Monographien Über einzelne Dichter. 

Die Studie freilich , die Professor 
Hermann Conrad *) Heinrich v. Kleist 
als „Mensch und Dichter'* widmet, steht 
nicht sehr hoch, weder an Inhalt noch an 

*) Conrad, Hermann. Heinrich v. Kleist als 
Mensch und Dichter. 8" (40 S.) 1896. Berlin. H. 
Walther. 80 Pfg. 

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Berg, Deutsche Litteraturgeschichte des 19. Jahrhunderts. 


114 


Form. In gewisser Beziehung ist Kleist noch 
immer der revolutionärste Dichter: er ist der 
eigentliche Vater des Realismus, »n den Pro¬ 
blemen und den Charakteren war er der 
kühnste Dichter, den wir gehabt haben (seine 
grössten Nachfolger, z. B. Hebbel und Otto 
Lud wi g haben ihm als ihrem Grossmeister ge¬ 
huldigt; im Auslande freilich ist er nie hei¬ 
misch geworden und kann er nie verstanden 
werden, dazu ist er zu rasse-echt); zugleich ist 
er einer der merkwürdigsten und trotz seiner 
Schroffheit der liebenswürdigsten Dichter, die 
wir besitzen. Aber nun ist er Klassiker ge¬ 
worden, ein guter Patriot war er auch, er 
ist jedenfalls das glänzendste Beispiel dafür, 
dass Patriotismus und dichterische Grösse 
sich nicht widersprechen müssen. Profes¬ 
sor Conrad ist viel zu naiv, um das Kleist- 
Problem zu verstehen. Kleist ist der grösste 
Selbst-Widerspruch, den man sich innerhalb 
einer Individualität denken kann, ein gerade¬ 
zu abstrakter und schroffer Selbst-Widerspruch. 
Die Litteraturhistoriker, die sich einbil¬ 
den, Widersprüche erklären zu können, in¬ 
dem sie sie auf eine scheinbare Einheit zu¬ 
rückführen, meist freilich, indem sie ver¬ 
wischen, befinden sich auf einem Abwege 
mit ihren Kleist-Erklärungen. Conrad be¬ 
hauptet, heut hätte Kleist leicht eine Unter¬ 
kunft, in der „üppig entwickelten Publizistik" 
einerr Stützpunkt gefunden, er, der zum Jour¬ 
nalisten nicht getaugt hat und gewiss zu 
keinem modernen. Einen Kleist muss man 
begreifen, und nicht entschuldigen. Nicht 
einmal an seine Krankheit glaubt Conrad. 
Eine ganz merkwürdige Dichterpsycho- 
logie muss haben, wer inbezug auf Kleist 
schreiben kann; „Jedenfalls ist der Satz von 
unerschütterlicher Festigkeit, dass nur aus 
gesundem Geiste so grosse und gesunde 
Thaten hervorgehen können “ (S.21). DasUrteils- 
vermögen des Verfassers ist aber noch eigen¬ 
artiger. „Penthesilia“ und „Amphitryon" glaubt 
er als „Übergangs- und Versuchs-Stücke über¬ 
gehen zu können". Das gewaltigste und das 
reinste Stück Poesie, das wir überhaupt be¬ 
sitzen! Eine so urwüchsige Komödie wie 
„Der zerbrochene Krug“ wird neben Lessings 
„Minna v. Barnhelm“ als klassisch bezeichnet, 
diesem Lustspiele von unüberwindlicher Lang¬ 
weiligkeit (man definiert vielleicht den Lit¬ 
teraturhistoriker als die für Langeweile un¬ 
empfindliche Spezies Mensch). Über den 
„Prinzen v. Homburg“ hat Conrad eine Hypo¬ 
these, die er für neu hält, wiewohl sie schon 
von anderen aufgestcllt ist (ich glaube auch 
von Bulthaupt): nämlich dass es dem Kur¬ 
fürsten nicht ernst mit dem Todesurteile sei, 
und dieser nur eine erzieherische Absicht mit 
ihm habe. Ich halte die Hypothese aber für 


grundfalsch; sie ist ein lehrsames Zeichen für 
die Verkennung des Dichters, ganz abgesehen 
davon, dass das ganze Drama an packender 
Wirkung verlieren müsste, wenn die Rolle in 
diesem Sinne gespielt würde. Im Lustspiele, 
bei Shakespeare, findet sich dergleichen. Dem 
Drama, zumal wenn es so nahe an die Tragödie 
streift, fehlte der dramatische Nerv, wenn es 
statt eines inneren Kampfes nur eine er¬ 
zieherische Idee zur Darstellung brächte, so- 
dass die Furcht vor dem Ernste der Situation 
gar nicht aufkäme. — Übrigens muss Kleist 
durchaus auch ein Prophet der neuen Reichs¬ 
herrlichkeit sein, so will es die Psychologie 
der nationalen Gelehrten. Das Gegenteil ist der 
Fall. Kleist war vollständig verzweifelt über 
Preussens Schicksal, er hielt Napoleon für 
unüberwindlich, gerade daher sein furchtbarer 
Hass, sein Attentatsplan, gesetzt auch, es 
wäre nur beim Gedanken geblieben. Gerade 
seine persönliche Grösse ahnte auch die Grösse 
des Gegners. — 

In Jubiläumsjahren der Dichter erscheinen 
stets einige Monographien über sie. Die er¬ 
freulichste Gabe dieses Jahres ist die Ge¬ 
dächtnisschrift zum 100. Geburtstage Karl 
Immermanns,*) ein Sammelbuch von 6 Auf¬ 
sätzen: Immermann als deutscher Patriot 

wird von O. H. Geffcken charakterisiert, 
zwar, wie gewöhnlich, von einem posthis¬ 
torischen Standpunkte > aus, sehr einseitig, 
aber mit liebevollem Eingehen auf die Denk¬ 
ungsart und den Entwicklungsgang des Dich¬ 
ters, ansprechend und gut geschrieben. Eine 
sehr tüchtige Studie widmet R. Fellner 
Immermann als Dramaturg. Wir erhalten ein 
lehrreiches Stück deutscher Theatergeschichte, 
das zugleich auch eines der wenigen von 
Bedeutung ist, bei denen das Theater mit 
der Kunst etwas zu thun hatte. Von Immer¬ 
manns Werken finden das reizende ko¬ 
mische Epos „Tulifäntchen", und die Romane 
„Epigonen" und „Münchhausen" eingehende 
und liebevolle Monographien, bei denen aller¬ 
dings der philologische Kleinkram überwiegt. 
Typisch ist Rieh. M. Meyer der erst mit 
einer sehr tüchtigen und erkenntnisreichen 
Kritik Immermanns einsetzt, den aber schliess¬ 
lich die Manie der Quellenforschung von 
einer Thorheit zur anderen treibt. Jedes 
Wort in „Tulifäntchen“ ruft Erinnerungen 
in dem belesenen Verfasser wach: Der Reif¬ 
rock, der gesehen drei Menschenalter z. B. 
an den Nestor in Schillers „Siegesfest“. Eine 

*) I mm er mann, Karl. Eine Gedächtnisschrift 
zum 100. Geburtstage des Dichters. Mit Beiträgen 
von R. Fellner, J. Geffcken, O. H. Geffcken, R. M. 
Meyer u. Fr. Schultess. Mit einem Portrait Jmmer- 
manns in Photogravüre und einer Lichtdrucktafel. 
8* (VII 220 S.) 1^6. Hamburg und Leipzig. Ver¬ 
lag von Leopold Voss. M. 6.-. 


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Berg, Deutsche Litteraturgeschichte des 19. Jahrhunderts. 


Anspielung auf die „schlafmütigen Herren“, 
bezieht sich auf den König Tutu im „Baro¬ 
metermacher“ oder auf Fouqu^ oder auf 
Wallenstein, der einen langen Schlaf zu thun 
gedenkt. Denn auf irgend etwas muss sie 
doch gehen! Ein Wort wie: „Du bist mein 
Vater“ wird wohl durch Raimund eingegeben 
sein, bei dem es einmal heisst: „Ich bin 
Dein Vater Zephises“. Die Scene, in der 
sich der Sohn vom Vater losreist, ist .freilich 
durch die Fabel gegeben, aber das soll 
uns nicht abhalten, auf Parallelen hinzuwei¬ 
sen, die, man kann ja nicht wissen, sich viel¬ 
leicht doch als die Quellen für diese Stelle er¬ 
weisen. Wenn es bei Immermann heisst, 
„Die Mauern sind wie Stahl geschliffen“, 
kann Meyer nicht unterlassen hinzuzüsetzen: 
„Der Stahl ist eben sprichwörtlich für die 
Verbindung von Festigkeit und Elastizität“, 
wofür dann eine Reihe Htterarischer Belege 
beigegeben werden. Ja, es ist etwas Schönes 
um die Gewissenhaftigkeit! Mit solchen Mit¬ 
telchen beweist z. B. Bormann, dass 
Shakespeare von Bacon erfunden sei. 
Wie diese Herren sich wohl den dichterischen 
Prozess vorstellen! Herrn Meyer ist das 
nämlich alles bitterer Ernst, er hält das für 
richtige Plagiate, mindestens für doli even¬ 
tuales und sieht eine gerechte Strafe darin, 
dass nachher andere wieder Immermann be- 
mopst haben. Im Kampfe zwischen’.Imraer*' 
mann und Platen steht er auf dessen Seite, 
der für ihn nicht nur der grössere Künstler, 
sondern auch das reichere Talent ist. — Der 
Aufsatz von Friedrich Schultess über die 
Zeitgeschichte und die Zeitgenossen in Im¬ 
mermanns »Epigonen' bietet reiches historisches 
und litterarisches Material; die Beiträge zur 
Entstehungsgeschichte des „Münchhausen“ von 
Johannes Geffcken geben einen früheren 
Entwurfdes Dichters. DerselbeVerfasser entwirft 
zum Schluss ein ansprechendes Bild Marian¬ 
nens, der Gattin des Dichters. — Im ganzen 
ist dies Werk, trotz vieler Schrullen und 
Einseitigkeiten, ein verdienstliches Unterneh¬ 
men. Der Band ist geschmückt durch eine 
ausgezeichnete Porträt-Photogravure und eine 
Lichtdrucktafel. — 

Über Immermann’s Altersgenossin An¬ 
nette von Droste - Hülshoff, deren 100. 
Geburtstag ebenfalls in diesen Tagen gefeiert 
wurde, ist eine ganze Serie von Monogra- 
phieen erschienen, von denen mir zwei vor- 
Hegen. Die eine davon besteht ausschliess¬ 
lich aus Texterklärungen, etwa der Art: 
Droste-Hülshoff: „Das Auge sinkt, die Sinne 
wollen scheiden", Oberlehrer Dr. Jos. 
Riehemann*): „Beim Eintritt der Nacht 

•) Riehemann, Jos. Erläuternde Bemerkungen 
zu Annette v. Droste-Hülshoffs Dichtungen. Zum 




schliesst sich das Auge des Müden, und im 
Schlafe verlässt ihn die Besinnung (die Sinne); 
oder: D. H: „So will ich denn mit Beben 
an deine Prüfung gehen“, J. R. „Sinn: Ich 
w'ill, wenn auch „mit Beben“, die von Gott 
über mich verhängte Prüfung geduldig ertra¬ 
gen“. Ja, die Dichterin muss doch wohl 
sehr dunkel sein! — Die andere Schrift über 
„A. V, Droste-Hülshoff im Kreise ihrer Verwand¬ 
ten und Freunde'* von Jos. IVormstair) ist ein 
leidlicher Zeitungsartikel, ohne Originalität, 
und bietet auch an Material nichts Neues. 
Der Wert der Schrift besteht in den zahl¬ 
reichen Bildern, die uns wenigstens äusserlich 
in den Kreis der Dichterin einführen. — 

Von historischem Wert ist die Briefsamm¬ 
lung, die Herwegh's Sohn aus dem Nach¬ 
lasse seines Vaters herausgegeben hat.**) Der 
Band enthält Briefe von und an Bakunin, 
Prutz, Blum, Hecker, Carl Vogt, Ar¬ 
nold Rüge, Marx und vielen anderen litte- 
rarischen und politischen Berühmtheiten, die 
hier als blutige Revolutionäre erscheinen. 
Der Briefwechsel datiert von der Zeit um 
1848. Die interessantesten Briefe sind noch die 
von Bakunin, der proklamiert: „Wir brauchen 
etwas anderes: Sturm und Leben und eine 
neue gesetzlose und darum freie Welt“. Im 
allgemeinen sind die politischen Deklamationen 
doch etwas leer, ungefähr wie Herwegh’s 
Gedichte: pathetische Phraseologie, Übertrag¬ 
ung aschgrauer Abstraktion auf das praktische 
Leben. Etwas anderes war auch die Revo¬ 
lution nicht, deren Niederwerfung wieder nichts 
war als die Übertölpelung des Gedankens 
durch die That. Das hat auch Herwegh 
empfunden, der sich in Paris, wie er an 
seine Braut schreibt, „zu einem Kampfe gegen 
das bestehende spiritualistische Wesen und 
Unwesen rüsten will“, ln dem Briefwechsel 
des Brautpaares ist am interessantesten, was 
sich auf den Verkehr mit den revolutionären 
Polen und deren Verfolgungen, Haft und 
Prozess bezieht. Der Band enthält noch Auf¬ 
rufe, Gedichte und einen Neudruck der heut 
verschollenen „Geschichte der deutschen de¬ 
mokratischen Legion aus Paris von einer 
Hochverräterin“, (Emma Herwegh), deren Be¬ 
deutung für unsere Zeit der Sohn sehr Über¬ 
schätzt. Wert kann die ziemlich langweilige 
Darstellung nur für den Spezialisten haben. 
Sie ist ohne Leidenschaft und Originalität, 

hundertjährigen Geburtstage der Dichterin. 4® (84 
S.) i 80 . Osnabrück. Schöningh. Mk. 1.30. 

*) Wormstall, Jos. Annette v. Droste-Hüls¬ 
hoff im Kreise ihrer Verwandten und Freunde. Mit 
50 Illustrationen. 1897. Münster. Regensberg’sche 
Buchhandlung und Buchdruckerei. (B. Theissing). 
Mk. 1.50. 

**) Paris, Leipzig, München. Verlag von Alb. 
Langen. 


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Berg, Deutsche Litteraturgeschichte des 19. Jahrhunderts. 


116 


ohne deshalb sachlich und objektiv zu sein, 
und sie ermüdet durch die kunstlose Wie¬ 
dergabe von Zeitereignisen und Zeitäusser¬ 
ungen. — 

Der unglückliche Sänger Heinrich Leut- 
hold hat in dem Hamburger Schriftsteller 
Ad. Wilh. Ernst*) seinen Panegyriker ge¬ 
funden. Die vorliegende Schrift, die zweite 
über den Dichter, handelt von dem Übersetzer. 
Die Schrift ist mit grosser Liebe geschrieben 
und bringt verdienstliche Mitteilungen über 
den Anteil Leuthold’s an der mit Gei bei 
zusammen herausgegebenen französische An¬ 
thologie (5 Bücher französischer Lyrik vom 
Zeitalter der Revolution bis auf unsere Tage 
in Übersetzungen, Stuttgart 1862). Ernst ftihrt 
den Nachweis, dass der überwiegende Anteil 
an der Übersetzung Leuthold zufällt und ver¬ 
ficht' ausserdem die Ansicht, dass, wo von 
beiden Dichtern zwei Varianten existieren, stets 
die Leuthold'sche die feinere und er der bes¬ 
sere Übersetzer sei. Das halte ich nicht im¬ 
mer für richtig: Geibel hatte die leichtere 
Diktion und naivere Phantasie, während Leut¬ 
hold’s Stil zuweilen etwas abgezogenes und 
müdes hat^ er war mehr Bildungs-Dichter als 
Geibel. Übrigens ist Ernst nicht ungerecht 
gegen diesen, seine Panegyrik ist auch nicht 
aufdringlich. Ausserdem enthält der Band 
neue Übersetzungen Leuthold's aus dem Eng¬ 
lischen, Ungarischen, Italienischen, unter denen 
sich Meisterstücke von feinsinniger Übertrag¬ 
ung befinden (z. B. einiges von Bur ns). Die 
litterarischen Essays von Leuthold sind klar ge¬ 
schrieben, aber zurückhaltend in der Charak¬ 
teristik, etwas akademisch, wie für Enzyklo¬ 
pädien bestimmt, wo alle auf gleichem Raume 
und mit gleichen Ausdrücken geschrieben sein 
müssen; die Zusammenstellung des Materials 
ist. immer klar und übersichtlich, im einzelnen 
finden sich feine Bemerkungen; aber der Ge¬ 
genstand des Artikels tritt Einem niemals 
näher. Sehr ungerecht beurteilt er Saint^. 
Beuve, den er nicht begreift oder doch nur 
als seinen kritischen Gegensatz. — Im ganzen 
sind die Bemühungen des Verfassers wohl 
geeignet, das Interesse für den viel zu wenig 
gekannten Dichter, der einer unserer besten 
Verskünstler und reinsten Lyriker war, neu 
zu beleben. — 

Von den Dichtern der älteren Generation 
haben Vischer, Hamerling und Riehl 
eingehende Monographieen erhalten. J. G. 
Oswald**) charakterisiert hübsch den lange 

*) Ernst, Adolf Wilhelm. Neue Beiträge zu 
Heinrich Leuthold’s DichterporträL Mit 49 Origi- 
nalQbersetzungen und mit litteratuihistorischen Auf¬ 
sätzen Leuthold’s. 8“ (124 S.) 1897. Hamburg. Con¬ 
rad Kloss. 

••) Oswald, J. G. Friedrich Theoder Vischer 


Zeit allzu ausschliesslich als Ästhetiker ge¬ 
schätzten Verfasser von ,,Auch Einer" als 
Dichter, dessen originale Züge ganz gut ge¬ 
zeichnet werden. — Feiner aber verlährt der 
Professor Ludwig Schädel*) in der geist¬ 
reichen und scharfsinnigen Analyse W. H. 
V. Riehts*), des reichen und feinsinnigen 
Novellisten, der meines Wissens eine so liebe¬ 
volle Studie bisher noch nicht gefunden hat. 
Eingehen kann ich auf Einzelnheiten nicht 
ohne mich in Weitläufigkeiten zu verlieren. 
Vieles Hesse sich bestreiten und manches 
müsste wegen seiner allzugrossen Naivetät 
angemerkt werden, so z. B. auf S. 47 die 
merkwürdige Äusserung, Göthe sei der Er¬ 
finder des Dämonischen. Erfinder des Dä¬ 
monischen! Welch'' eine Psychologie und 
welch eine Terminologie! Ganz abgesehen 
von der Ästhetik, die zu dergleichen führt. 
— 'Eine sehr unnötige Publikation scheint 
mir die Herausgabe der ersten poetischen Ver¬ 
suche Hanterling’s von Dr. Michael Maria 
Rabenlechner**) zu sein. Ganz abgesehen von 
der naiven Überschätzung dieses marklosen 
Poeten im allgemeinen! Von diesen Jugend¬ 
versuchen verdiente auch keiner ans Tages¬ 
licht gezogen zu werden. Es sind dilettan¬ 
tische Reimereien, die für die Begabung des 
dichtenden Knaben ein erfreuliches Zeugnis 
geben, durch deren Veröffentlichung man 
dem schon sehr zweifelhaft gewordenen Nach¬ 
ruhme des Dichters aber kaum einen Nutzen 
gestiftet hat. Für Hamerling - Spezialisten 
mag die Schrift von Interesse sein. — 

Es gibt heute kaum einen deutschen Dich¬ 
ter, Ober den so viel zusaramengeschrieben, 
und an dessen Ruhm so eifrig gearbeitet wird, 
als den Lyriker Martin Greif, über den 
schon eine kleine Bibliothek existiert. Ich 
sage „den Lyriker“; es giebt aber auch Kri¬ 
tiker, die behaupten. Greif sei Dramatiker, 
und sogar von „shakespearehafter Grösse“ re¬ 
den. „Wie Hamerling die Palme als Epiker des 
Nero, so gebührt sie Greif ah Dramatiker'*, 
meint Dr. S.M.Premp**) der einen „ Fcr^Mc/i 

als Dichter. 8® (38 S.) 1896. Hamburg. Verlags¬ 
anstalt und Druckerei, vorm. Richter. 80 Pfg. 

•) Schädel, Ludwig. W. H. v. Riehl, der 
Poet der deutschen Novelle, nftt einem Nachwort 
über seine „Religiösen Studien eines Weltkindes“. 
{Zeitfragen des christl. Volkslebens. Herausgegeben 
v. E. Frhr. v. Ungem-Sternberg und Prof. II. Dietz. 
Heft 159, Band XXI 7). 8' 1896. Stuttgart. Belser. 
Mk. I.—. 

**) Rabenlechner, Dr. Mich. Maria. Die ers¬ 
ten poetischen Versuche llamerling’s. (Sammlung 
eemeinverst. w’issenschaftl. Vorträge. N. F. 11 . Ser., 
Heft 245). 1896. Hamburg. Verlagsanstalt und 

Druckerei A.-G. (vorm. J. F. Richter.) 50 Pfg. 

***) Prem, S.M. Martin Greif. Versucn zu einer 
Geschichte seines Lebens u. Dichtens mit besonderer 
Rücksicht auf seine Dramen. 2. durchgesehene und 
erg. Aufl. 8® (219 S.) 1895. Leipzig. Renger. Mk. 3. 


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France, Das Land der lebenden Fossilien. 


117 


zu einer Geschichte seines Lebens und Dich¬ 
tens mit besonderer Rücksicht auf seine Dra¬ 
men'^ veröffentlicht hat. Und damit hat er 
vollständig Recht. Hamerling als Epiker und 
Greif als Dramatiker, man kann keinen besse¬ 
ren Vergleich finden: Beiden fehlt das Wesent- 
liche, jenem die Naivetät, diesem die Un¬ 
mittelbarkeit der Darstellung, beide sind sie 
5/««//Vr/^/ir««s/tffcÄ/^r,Rechenmeisterpoetischer 
Wirkung. Schon die Stoffe und Helden cha¬ 
rakterisieren den Dramatiker Greif, seinen 
dramatischen Indifferentismus. Greif hat die 
Sprache der Leidenschaft bei anderen Dich¬ 
tern gelernt und überträgt sie auf fremde 
Stoffe, die man nicht seltsamer und unge¬ 
schickter aufsuchen kann. Hinterher be¬ 
haupten dann die Kritiker, er übertreffe seine 
Vorbilder, sowohl Schiller als Shakespeare, 
mindestens gemahnt irgend eine Scene an So¬ 
phokles’ „Elektra“ (das ist aber gerade das 
Unglück, dass Leute wie Greif statt zu packen/| 
„ermahnen“!), und „Meisterstücke von einer 
Kühnheit, wie kaum Shakespeare sie aufweist“, 
muss man schon bei diesen Panegyrikern als 
nicht so ernst mit in den Kauf nehmen. — 
Bedauerlicher ist, dass durch diese kompro¬ 
mittierende Überschätzung des- Dramatikers 
Greif auch sein Ansehen als Lyriker gefähr¬ 
det wird. Zwar, meine ich, dass auch der 
masslos überschätzt wird, und die Greif-Manie 
einiger Ästhetiker nicht ganz ungefährlich ist, 
insofern man von ihm aus ganz neue Poetiken 
und lyrische Kriterien schaffen möchte. Und 
das ist es, was seinen Ruhm umwerfen wird. 
Greif ist arm, und wir erleben abermals das 
lächerliche Schauspiel (genau wie bei den 
Realisten), dass, was er nicht kann, ein andrer 
nicht darf: dass er sich einzurichten versteht, 
ist ein Zeichen geistiger Ökonomie, aber die 
gilt nicht für andere. Jedesmal, wenn ihm 
die Gedanken ausgehen, entsteht seine be¬ 
rühmte lyrische Stimmung, die, zwar künst¬ 
lerisch echt, aber doch nur negativ, ein 
Zeichen von Ohnmacht ist. Andere Lyriker 
haben Flügel, Greif hat die Kunst, sich zur 
rechten Zeit ausgleiten zu lassen, sodass er 
zuweilen die ähnlichen Wirkungen erregt, die 
Stimmung des Unendlichen, das lyrische Ver- 
lorensein im Welträume, das Abenddämmer¬ 
ungs-Bewusstsein. — Nicht die sehr unkritische 
Schrift von Prem hätte diese Ausführung ver¬ 
anlasst; die heute in gewissen Kreisen üblich 
gewordene grenzenlose Überschätzung Greifs 
\erdiente längst eine energische Zurück¬ 
weisung. ~ 

Der vor wenigen Jahren verstorbene sozial¬ 
demokratische Dichter Johannes Wedde fand 
in Alb. Steck **) seinen Biographen und 

**) Hamburg. Verlag von Hermann GrOning. 


Paneg)Tiker. Die Broschüre kann eine grosse 
Vorstellung von ihrem Helden nicht erwecken. 
W. war ein braver Mann mit unklarem Idealis-' 
mus, der sich die Welt auf triviale Weise 
erklärte, eigentlich mehr zurechtlegte, der 
wenigstens in den Zitaten des Biographen 
weder geistige noch dichterische Eigenart 
verrät, wohl aber bei leichtem Verstalent Ge¬ 
schmacklosigkeiten ohne Scheu vorbringt. 
Freilich mit den üblichen Parteidichtern darf 
man ihn nicht verwechseln, wenigstens war 
es ein Mann von Talent, der sich in Poesie 
und Prosa ausdrücken konnte und nicht auf 
den Unterstützungs-Phrasen-Fonds der Partei 
angewiesen war. — 

(Schluss folgt.) 


T 

/ 

Das Land der lebenden Fossilien. 

Von Prof. R. Frai»c£. 

Man hat Australien den „unwirtlichsten“ 
aller Continente genannt, und ein Erdteil, wo die 
kühnsten und besten der Forschungsreisenden, 
ein Leichhardt ein Burke oder Becker vor 
Hunger und Durst umgekommen sind, und 
über dessen grössten Teil sich oft jahrelang 
nur immer der blaue Himmel eines regenlosen 
Klimas wölbt, verdient wohl mit Recht diese 
Bezeichnung. Dem ist es auch hauptsächlich 
zuzuschreiben, dass dieser Continent in noch 
so Vielem eine terra incognita geblieben ist, 
obschon seine Kenntnis für die naturwissen¬ 
schaftliche Erforschung der Organismenwelt 
unseres Erdballs von grösster Wichtigkeit ist. 

Dieser Weltteil, den erst die Neuzeit ent¬ 
deckte, liegt seit vielen Jahrtausenden einsam 
und isoliert im Weltmeere, und so wurde die 
Entwickelung seines organischen Lebens in 
keinerlei Weise beeinflusst. Infolge dessen 
konnte sie teils ganz neue originelle Bahnen 
einschlagen, andererseits dagegen blieb hier 
die älteste und einfachste Formenentwickelung 
zahlreicher Tiergruppen bis in die Gegenwart 
erhalten. 

Das Land der eierlegenden Säugetiere, der 
Lungenfische und Beuteltiere hat von jeher 
für den Zoologen Interesse gehabt, welches 
auch neuerdings in einer Reihe wissenschaft¬ 
licher Expeditionen prägnanten Ausdruck fand. 

Unter den neuesten zoologischen Werken 
nimmt die Schilderung eines mehrjährigen 
Aufenthaltes eines deutschen Zoologen, 
Richard Semon's an den Küsten Poly¬ 
nesiens einen hervorragenden Platz ein. An 
der Hand dieser eingehenden Forschungen er¬ 
öffnet sich uns ein besseres Übersichtliches 
Verständnis der Eigenart und Bedeutung der 
australischen Fauna im grossen Haushalte 
der Natur, als es bisher möglich war. 


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Francs, Das Land der lebenden Fossilien. 


118 


Dies verdient um so mehr Interesse, als 
die Tierwelt Australiens einen ganz eigen¬ 
artigen Charakter trägt, welcher von dem 
Europas und der übrigen Weltteile total ver¬ 
schieden ist. Dem Forscher bietet sich dort 
ein ganz fremdes Bild, fasst alles ist ihm 
neu, denn nicht nur die Arten, sondern auch 
die Gattungen, ja sogar die Familien sind 
andere. 

Die Entwickelungsgeschichte der Tiere lässt 
uns einen tiefen Einblick in die allmähliche 
Steigerung der Compliciertheit der Organi¬ 
sation gewinnen und erlaubt Schlüsse auf die 
einstige Existenz primitiver und einfacher 
gebauter Stammformen, welche gegenwärtig 
schon ausgestorben sind. Nur in isolierten, 
gleichsam von der Zeit vergessenen Winkeln 
der Erdoberfläche erhielten sich noch die 
Epigonen jener einstigen Urtiere. 

In den tiefsten Abgründen des Meeres, 
wohin nie ein Strahl belebenden Lichtes fällt, 
existiert noch eine Gruppe solcher Wesen: ur- 
weltlich geformte Polypen, phantastische Fische, 
Seesterne und Seelilien, wie wir solche sonst 
nur als Versteinerungen längstentschwundener 
Erdepochen kennen. Es ist dies jene Tier¬ 
genossenschaft, welche unter dem Namen 
abyssale Fauna zusammengefasst wird. Die 
Tierwelt Australiens bietet das Pendant die¬ 
ser eigenartigen Erscheinung und darum hat 
man diesen Continent auch treffend „das Land 
der lebenden Fossilien" genannt. 

„Dort kommen noch heute Geschöpfe vor, 
die sonst auf der ganzen übrigen Erde längst 
ausgestorben sind, wie z. B. die Beuteltiere, 
die ausser Australien, nur noch in Amerika 
in einer Familie überleben, die eierlegenden 
Säugetiere, die ganz auf Australien beschränkt 
sind, oder der Lungenfisch Ceratodus, der in 
vergangenen Erdepochen auf der ganzen Erde 
zu finden war“, sagt hierüber R. Semon 
in seinem schon obenerwähnten Werke,*) das 
grösstenteils auch die Quelle der weiteren 
Ausführungen dieser Zeilen ist. 

Von welcher Wichtigkeit aber die möglichst 
eingehende Kenntnis der Organisation und 
Entwickelungsgeschichte jener Wesen ist, 
braucht wohl nicht weiter erörtert zu werden, 
stellen doch diese Geschöpfe den natürlichen 
Übergang zwischen den grossen Gruppen der 
Tierwelt her und helfen dadurch die Lücken 
in der allgemeinen grossen Entwickelungs¬ 
geschichte der Fauna unserer Erde auszufüllen. 

Der nach dem australischen Forscher 

*) Rieh. Semon. Im australischen Busch und 
an den Küsten des Korallenmeercs. Reiseerlebnisse 
und Beobachtungen eines Naturforschers in Australien, 
Neu-Guinea und den Molukken. Leipzig, Engelmann. 
1896. 8" (XVI u. 569 S.) Mit 4 Karten und 85 Ab¬ 
bildungen. Preis Mk. 15.- . 


Förster benannte Fisch Ceratodus Forsteri 
stellt ein Bindeglied zwischen Fischen und 
Amphibien dar und giebt durch seine Existenz 
den Beweiss, dass die Amphibien von den 
Fischen abstammen und nur höher entwickelte 
Formen derselben sind; die eierlegenden 
Säugetiere vermitteln den Übergang zu den 
Reptilien, welche sich bekanntlich durch weich- 
schalige Eier vermehren, und ermöglichen 
uns so die Entwdckelungsreihe von den 
Schlangen bis zu den hochorganisierten Men¬ 
schenaffen ziemlich vollständig zu verfolgen. 

Die Kenntnis all' dieser hochinteressanten 
Tiere zeigte aber bis in die letzten Tage gar 
arge Mängel; ausser der Thatsache der Ex¬ 
istenz und des Eierlegens wussten wir kaum 
etwas nennenswertes Über die eierlegenden 
Säugetiere zu sagen, die Entwickelung des 
Lungenfisches war in tiefes Dunkel gehüllt, 
und auch die Kenntnis der Anatomie und 
Entwickelung der Beuteltiere war in keiner 
Weise befriedigend. Um so dankenswerter 
erscheinen daher die Bestrebungen Semon’s, 
der den Schwerpunkt seiner Thätigkeit auf 
die Erforschung der wunderbaren Wirbeltier¬ 
fauna Australiens und auf die Lösung der ob¬ 
erwähnten Probleme legte. Und das seine 
Bestrebungen von Erfolg gekrönt waren, ver¬ 
leiht ihnen eine weitreichende Bedeutung und 
Wichtigkeit, denn durch seine Ergebnisse 
wurde eine klaffende Lücke des zoologischen 
Wissens ausgefüllt. 

Besonderes Interese beansprucht das in 
seinem Buche eingehend beschriebene Schnabel¬ 
tier (Orniihorrynchtis anatinus), ein Bürger der 
australischen Fauna, welcher durch zahlreiche 
Eigentümlichkeiten seiner Organisation einzig 
in der Thierwelt dasteht. 

Ein Mittelding zwischen Reptil und Vier- 
füssler, mutet dieses absonderliche Biber-artige 
Wassertier mit dem hornigen Entenschnabel 
höchst fremdartig an. 

Semon beobachtete seine Lebensweise 
ziemlich eingehend und ergänzte die Mittei¬ 
lungen anderer Forscher, namentlich des 
Engländers Ben nett. 

Ornithorrynchus lebt an den Ufern der 
australischen Flüsse in selbstgegrabencn Höh¬ 
len, die zwei Zugänge besitzen, von denen 
sich der eine unter, der andere über dem 
Wasserspiegel befindet. Hier verbringen die 
lichtscheuen Tiere den grössten Teil des Tages, 
aber im Sommerschlafe auch ganze Tage der 
trockenen Jahreszeit. 

Semon traf sie meist zur Zeit der Däm¬ 
merung im Schlamme umherwühlend und mit 
dem platten Entenschnabel nach Muscheln, 
Schnecken, Insektenlarven und Würmern 
gründelnd. Dieser Schnabel ist eine erst im 
Laufe der Entwickelung auftretende, soge- 


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Franck, Das Land dfr lkbkndkn Fossilien. 


119 




nannte sekundäre Erscheinung, denn die jungen 
Tiere haben sowohl im Ober* wie im Unter¬ 
kiefer acht flache, mit Höckern besetzte Zähne, 
die sich jedoch alsbald abnutzen und ganz 
ausfalien. 

Das Schnabeltier 
stellt so ziemlich 
die älteste und am 
meisten an die Ur¬ 
welt erinnernde 
Form der Säuge¬ 
tiere, einen wahren 
Ursäuger {Proto- 
thcrion) vor, wel¬ 
cher in vielem noch 
mit den Reptilien 
übereinstimmt. 

Hierauf weist 
hauptsächlich die 
Thatsache, dass es 


Kerbtieren aller Art, die sie mit der rüssel- 
förmigen Schnauze aus ihren Verstecken auf¬ 
stöbern; die Hauptnahrung bilden aber, wie 
schon der Name andeutet, die Ameisen. 

Semon wandte seine Aufmerksamkeit auch 


sich durch Eier 
vermehrt, worin es nur noch mit dem 
Ameisenigel Echidna übereinstimmt. Diese 
zwei Ursäuger sind heute die einzigen leb¬ 
enden Vertreter einer grossen Tiergruppe, 
die im Mittelalter der Erdgeschichte, in 
der Trias, der Kreide und dem unteren 
Tertiär auch Deutschland und Europa massen¬ 
haft bevölkerten. Alle verwandten Formen 
sind seitdem ausgestorben, neuartige Tiere 
und Geschlechter verdrängten sie, und jetzt 
sind diese zwei, die letzten eines unterge¬ 
gangenen Volkes. Es ist nur mehr die Frage 
einer relativ kurzen Zeit, wann auch sie vom 
Erdboden verschwinden und aus der Reihe 
der lebenden Geschlechter getilgt werden. 

Über den schon erwähnten zweiten Ver¬ 
treter der Kloakentiere (Monotremata) finden 
wir in Semon ’s 
Buch auch viel 
des Neuen und des 
Interessanten. 

Das Studium 
des australischen 
Ameisen ■ Igels 
(Echidmi aculea- 
la), der in sei- 
nemÄussern ziem¬ 
lich an den Haus¬ 
igel Europa’s und 
das Stachel¬ 
schwein erinnert, 
ist dadurch recht 
erschwert, dass 
das Tier nur die 
unzugänglichsten wilden Felscngegenden und 
Urwälder bewohnt und ebenso tagscheu wie 
das Schnabeltier ist. 

Nachts durchstreifen die Ameisenigel den 
Urwald auf der Suche nach Würmern und 


Das Schnabeltier {Ornithorrj’nchus anatinus). 

Aus „Semon. Im :\ustralischcn Busch und an den KClsten des Korallenmceres.“ 


dem Studium der geistigen Fähigkeiten der 
Ursäuger zu und-fand die überraschende That¬ 
sache, dass das Gehirn speziell des Ameisen¬ 
igels, für ein, auf der Stufenleiter der Säuge¬ 
tiere so niedrig stehendes Geschöpf, auffallend 
gross sei, und sich auch als merkwürdig 
kompliziert erweist. 

Am interessantesten ist jedoch die Fort- 
pflanzungsw'eise und die Brutpflege, welche 
die Echidnen ihren Jungen angedeihen lassen. 

Das Echidna-YA misst um die Zeit, in der 
cs abgelegt wird, ca. 15 mm; die Mutter be¬ 
fördert das einzige Ei mit ihrer Schnauze in 
den Beutel am Unterleibe, der sich zur Zeit 
der Brunst entwickelt. Dort wächst der in 
die lederartige Eihülle eingeschlossene Embryo 
bis zu einer Länge von ca. 15 mm, dann 


Der australische Ameisenicel (Echidna aculeata). 

Semon, Im Australischen Busch und an den Kosten des Korallenineeres“. 

sprengt er seine Schale^und liegt frei in dem 
Beutel, wo er die dort abgeschiedene Milch 
aufleckt. In dem Stadium, in welchem die 
Stacheln, das Schutzkleid der Ameisenigel 
hervorbrechen, beginnen die Jungen endlich 


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120 


France, Das Land der lebenden Fossilien. 


ihr selbständiges Leben, welches aber in der 
ersten Zeit noch immer unter der Controlle 
der Mutter steht, die wiederholt zu ihren 
Sprösslingen zurückkehrt, sie wieder in ihren 
Beutel aufnimmt und säugt. 

Semon verdanken wir auch die Kennt¬ 
nis der interessanten Thatsache, dass die 
Körpertemperatur von Echidna in viel weiteren 
Grenzen schwankt, als die der höheren Säuge 
tiere, so dass die Monotremen auch in dieser 
physiologischen Beziehung ein Bindeglied 
zwischen wechselwarmen Reptilien und dauer¬ 
warmen Säugetieren darstellen. 

Weniger neues dagegen lieferten die 
Forschungsergebnisse des Jahres 1896 in 
Bezug auf die eigentlichen Beuteltiere, 
welche in überraschend mannigfaltiger Aus¬ 
bildung den „Scrub^' und die Wälder 
Australiens bevölkern, unter ihnen voran das 
grosse Känguruh (Macropus ruftis), das all¬ 
gemein als das Charaktertier Australiens gilt. 

Die Zahl der Känguruhs nimmt stetig und 
rasch ab, da die australischen Squatters in 
ihnen Konkurrenten ihres Viehes auf der 
Weide sehen und diese armen, friedsamen 
Geschöpfe systematisch ausrotten. Dies ge¬ 
lingt umso leichter, als diese harmlosen Tiere 
als Schutz einzig auf die Flucht angewiesen 
sind und fast gar kein wirksames Verteidig¬ 
ungsmittel haben. Interesant ist die neuestens 
beobachtete Thatsache, dass das Känguruh, 
wenn es scharf verfolgt wird, ähnlich wie 
manche Beuteltiere, lieber seine eigenen 
Jungen opfert und sie aus dem Beutel heraus¬ 
streift, nur, um seinen Verfolgern leichter 
entgehen zu können, ein Mangel an mütter¬ 
licher Liebe, der unter höheren Tieren ziemlich 
vereinzelt dasteht. 

Ausser den Monotremen und Beuteltieren 
besitzt Australien, strenge genommen, kein 
einziges einheimisches Säugetier, denn der 
„Dingo‘^ genannte wilde Hund, ist kein Ur¬ 


einwohner des Landes, kein Autochthone, 
sondern ein verwilderter Haushund, der un¬ 
zweifelhaft von der schwarzen Urbevölkerung 
bei ihrer Einwanderung in Australien mitge¬ 
bracht wurde und nun so massenhaft vorkommt, 
dass er manche grösere Raubbeuteltiere im 
Kampfe ums Dasein verdrängte und ihr Aus¬ 
sterben bewirkte. 

Die Vogelwelt Australiens bietet zwar viel 
des Interessanten und besitzt manche seltsame 
Form, wie den Emu oder den Kasuar, die 
Strausse des jüngsten Erdteiles, aber sie ruft 
unser besonderes Interesse nicht wach, da sie 
sich nicht durch spezielle wichtige Eigenheiten 
auszeichnet. Unter den Vögeln hat zwar jeder 
eine Eigentümlichkeit, durch welche er sich 
von seinen Stammgenossen in den übrigen 
Faunengebieten unterscheidet. Australien ist 
eben im vollsten Sinne des Wortes eine neue 
andere Welt, von welcher Semon mit Hu¬ 
mor sagt: „Ein wunderbares Land in der 
That. Die Säugetiere legen Eier, die Kuckucke 
sehen aus wie die Fasanen und die Eulen 
rufen Kuckuck!“ 

Eines der absonderlichsten Tiere, aber 
weil wenig auffällig, auch wenig und ungenau 
gekannt ist der schon Eingangs erwähne 
Lungenfisch Ceratodus Forsteri, den Semon 
recht eingehend, studierte und dessen Natur¬ 
geschichte erst jetzt vollständiger und von 
vielen, mit unterlaufenenlrrtümern befreit wurde. 

Dieses Tier bewohnte in früheren Zeit¬ 
räumen die ganze Erde, und seine Zahnreste 
fand man in allen Weltteilen. Jetzt aber ist 
er allein auf Australien beschränkt und auch 
da findet man Ceratodus nur in den Flüssen 
Burnett und Mary. 

Schon in seinem Äussern erinnert er an 
die ungeschlachten Ungetüme der Vorwelt. 
Der plumpe Körper ist walzenförmig und mit 
grossen, regelmässigen|,l hornigen Schuppen 
bedeckt. 

Meist liegt er un¬ 
beweglich undver- 
graben zwischen 
dem Wurzelwerk 
und den üppig 
wuchernden Was¬ 
serpflanzen der 
Flussufer, wo er 
auch seine Nahr¬ 
ung findet. Er ist 
nicht, wie bisher 
angenommen wur¬ 
de, ausdrücklich 
Vegetarianer, son¬ 
dern bevorzugt — 
wie Semon 
nachweist — ge¬ 
rade animalische 



Der Lungenfisch (Ceratodus Forsteri). 

AUS „SemoQ, Itn'australischeii Busch und au den Küsten des Korallentnccres.“ 


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Winkler, Die Entdeckung neuer Elemente. 


I2I 


Nahrung. Die grünen Algenbüschel nimmt 
er nur den, zwischen den Algenfäden leben¬ 
den Krebschen, Würmern und Schnecken zu 
Liebe auf. Ein anderer weitverbreiteter Irr¬ 
tum ist, dass der Lungenfisch an das Land 
gehe und sich im Sommer in den Schlamm 
eingrabe. Wie sich nun herausstellt, sind 
diese Behauptungen durch oberflächliche und 
ungenaue Beobachtungen ent 3 &ndene Märchen. 

Dieses absonderliche Wesen ist ein ethter 
rechter Süsswasserbewohner, welcher auf dem 
Festlande, trotz seiner Lunge nicht zu leben 
vermag. 

Das charakteristische an ihm ist eine 
Schwimmblase, die ihrem Bau und ihrer Ge- 
fässversorgung nach, schon in eine Art Lunge 
umgewandelt ist und auch als solche benützt 
wird. Der Fisch kommt, wie newestens be¬ 
obachtet wurde, alle 30 — 40 Minuten an die 
Oberfläche des Wassers und nimmt dort mit 
grossem Geräusch neue Luft auf. Zugleich 
aber atmet er noch mit seinen Kiemen. 

Auch Ceratodus, der übrigens in Afrika 
Verwandte hat, ist ein Bindeglied, oder wie 
der englische Fachausdruck lautet, ein „»«'5- 
sing link** zwischen zwei grossen Tiergruppen. 

Er vermehrt sich durch Eier, die er in 
das Wasser zwischen Pflanzen ablegt, und 
die denen der Amphibien (Molche, Kröten 
und Frösche) auffallend ähneln. 

Auch in seiner Entwickelung zeigt er nach 
Semon’s Untersuchungen mit den Amphibien 
viel mehr Übereinstimmung, als mit den 
übrigen Fischen. 

Die neusten Forschungen über die Tier¬ 
welt Australiens enthüllen uns zugleich die 
Geschichte jenes Weltteiles. Der „jüngste“ 
erweist sich als der „älteste“ Weltteil, der 
nicht Schritt hielt mit der Entwickelung und 
Vervollkommnung der übrigen Welt. Vor 
unzähligen Jahrtausenden war auch die Tier¬ 
welt Australiens auf der Höhe der Zeit, in 
jenen Tagen da die Monotremen und Beutel¬ 
tiere die einzigen Säugetiere der Erde waren. 

Aus diesen gingen in der alten Welt und 
in Amerika vollkommenere, höher entwickelte, 
sogenannte placentale Säugetiere hervor, welche 
an der langen Kette der Generationen, sich 
unter der Einwirkung der klimatischen und 
orographischen Verhältnisse zu der Vielge¬ 
staltigkeit und der Vollkommenheit der heutigen 
Säugetiere entwickelten. Je höher aber die 
placentalen Nachkommen auf der Stufenleiter 
der Entwickelung emporklommen, desto mehr 
unterdrückten sie die primitiveren einstigen 
Genossen, die sich auf ein immer kleineres 
Gebiet zurückziehen mussten, und im geolo¬ 
gischen Heute nur noch auf Australien be¬ 
schränkt sind. Diese wichtige Erkenntnis ist 
von allgemeiner Bedeutung und rechtfertigt 


nachträglich zur Genüge jenes intensive In¬ 
teresse, welches die Wissenschaft jüngst der von 
so abstraktem Werte scheinenden Erforschung 
Australiens zuwandte. 


Clemens Winkler, Die Entdeckung neuer 
Elemente und damit zusammenhängende 
Fragen. 

(Ber. d. d. ehern. Gesellschaft vom 25. i. 97.) 

ClemensWinklerist selbst Bahnbrecher 
auf genanntem Gebiet (das Element Germaniutn 
verdankt ihm seine Entdeckung) und sein Rück¬ 
blick auf die Entdeckung chemischer Elemente 
in den letzten 25 Jahren verdient umso mehr 
Beachtung, als er die hohe Bedeutung solcher 
Untersuchungen für die allgemeine Natur¬ 
erkenntnis darlegt. 

Während wir von vielen Himmelskörpern 
uns ein ziemlich klares Bild ihrer Durch¬ 
schnittsbeschaffenheit zu machen vermögen,*) 
kennen wir von unserer Erde nur die Ober¬ 
fläche. Diese muss sich von dem Erdinnern 
ganz wesentlich unterscheiden, denn das mitt¬ 
lere spezifische Gewicht der Erdkruste (bis 
zu einer Tiefe von 16 km unter dem Meeres¬ 
spiegel) beträgt ca. 2,5, während das spezifische 
Gewicht der ganzen Erde 5,58, also mehr 
als doppelt so gross ist. Die Hälfte dieser 
Kruste besteht, wenn wir die Atmosphäre 
hinzurechnen, aus Sauerstoff; die andere Hälfte 
setzt sich zu einem Viertel aus Silicium,**) 
zum andern Viertel aus den übrigen Elemen¬ 
ten zusammen. Diejenigen Elemente, die uns 
im Leben am häufigsten begegnen, wie Was¬ 
serstoff, Kohlenstoff, Stickstoff etc. sind im 
Verhältnis zu der ganzen Erdmasse in ver¬ 
schwindend kleiner Menge vorhanden, denn 
sie kommen in grösseren Tiefen fast nicht 
mehr vor. Noch viel spärlicher sind natürlich 
diejenigen Elemente vertreten, die wir schon 
als selten zu bezeichnen gew’öhnt sind, unter 
anderen auch die Schwermetalle Gold, Silber, 
Blei. Diese werden bei Tiefbohrungen nie¬ 
mals zu Tage gefördert, ebensowvnig finden 
sich seltene Elemente in dem Auswurf von 
Vulkanen. Man hat daher die Vermutung auf¬ 
gestellt, da«s sie entweder aus dem Welten¬ 
raum zugewandert seien, oder sich an der 
Oberfläche der Erde neugebildet haben müss¬ 
ten. Beide Voraussetzungen entbehren jedoch 
der Bestätigung durch die Thatsachen. Weder 
die bisher beobachteten Meteorite, noch der 
von Nordenskiöld auf den Schneefeldern 
der Polarmeere gesammelte kosmische Staub 

*) Vgl. „Umschau" No. i: Die Astrophysik und 
ihre Methoden von W. Huggins. 

**) Dem Element der Kieselsäure (Quarz). 


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122 


Winkler, Die Entdeckung neuer Elemente. 


enthalten fremde Elemente. Ebensowenig ist 
die Neubildung oder Umwandlung eines ein¬ 
fachen Stoffes bisher jemals beoachtet wor¬ 
den. Bei dem geologischen Alter unseres 
Planeten wäre sie auch höchst unwahrschein¬ 
lich. Vielmehr darf man wohl annehmen, dass 
diejenigen Elemente, welche sich an der Ober¬ 
fläche befinden, durch ihren Aggregatzustand 
von Anfang an dorthin gedrängt worden sind 
und unter dem Einflüsse der Sonnenwärmc 
im Lauf unaufhörlicher Veränderungen durch 
die atmosphärischen Niederschläge sich all¬ 
mählich nach ihrem spezifischen Gewicht ge¬ 
sondert, oder, wie bei den Metallen, in cha¬ 
rakteristischen Verbindungen angehäuft haben. 
Auf diese Weise wurden sie der Betrachtung 
und wissenschaftlichen Beobachtung zugäng¬ 
licher und bei der steigenden Vervollkomm¬ 
nung unserer Untersuchungsmethoden wuchs 
ihre Zahl in den letzten Dezennien bedeutend 
an. Unter der Hand eines Moissa^tbot die 
schon von Davy angewandte Elektrolyse ein 
geeignetes Mittel dar, um neue ungeteilte 
Stoffe*) aus ihren Verbindungen zu lösen und 
einfach darzustellen. Sodann führte die Spek¬ 
tralanalyse zu der Kenntnis einer ganzen 
Reihe von Elementen, nicht blos unserer 
Erde, sondern auch anderer Himmelskörper. 
Auch auf praktischem Gebiet wurden in dieser 
Beziehung Erfolge erzielt. So stellte der Er¬ 
finder des Gasglühlichts, Auer, bei der 
Untersuchung seltener Mineralerden, wie sie 
zur Herstellung von Glühkörpern benutzt 
werden, aus dem Didynt zwei einfache Kör¬ 
per dar. 

Mendelejeff gelangte 1869 durch eine 
Kette höchst scharfsinniger Schlüsse zu der 
theoretischen Überzeugung, dass es gewisse 
Elemente geben müsse, die zwar noch nicht 
bekannt seien, aber jederzeit entdeckt werden 
könnten. Wenn man nämlich die Elemente 
nach ihrem Atomgewicht ordnet, so zeigt 
sich, dass eine mit annähernd gleichen Ab¬ 
ständen fortlaufende Zahlenreihe entsteht, ihre 
physikalischen und chemischen Eigenschaften 
dagegen sich periodisch verändern. Diese 
Erscheinung nennt man das Gesetz der Pe- 
riodicität. Im Vertrauen auf dieses natürliche 
S3’steni dei* Elemente, nahm Mendelejeff an, 
dass an den Stellen, wo die Zahlenreihe 
Lücken aufweist, Elemente fehlten, die man 
nur zu finden und einzuschalten habe. Dem¬ 
nach prophezeite er mit grosser Sicherheit 
das Atomgewicht und die physikalischen Ei¬ 
genschaften. dreier hypothetischer Elemente, 
die er Ekabor, Ekaluminium und Ekasilicium 
nannte. Geradezu dramatisch gestaltete sich 
die Bestätigung dieser kühnen Voraussetzung. 

*) Fluor. 


Im Jahre 1875 bemerkte Lecoq de Bois¬ 
ban dran in dem Spektrum der Zinkblende, 
das er mittelst elektrischer Induktionsfunken 
aus Zinkblende-Elektroden hervorrief, zwei 
auffallende Streifen im Violett und entdeckte 
das Gallium. Man war nun im höchsten Grade 
gespannt, ob sich die hypothetischen Angaben 
Mendelejeffs über die physikalischen Eigen¬ 
schaften des neuen Körpers bewahrheiten 
würden. Die ersten Messungen fielen für 
Mendelejeff ungünstig aus. Allein das Gallium 
ist in der Zinkblende in so verschwindend 
kleinen Quantitäten enthalten, dass die Unter¬ 
suchungen zunächst sehr schwierig waren. 
Als man mit grösseren und reiner darge¬ 
stellten Mengen operierte, stellte sich heraus, 
dass in der That das Atomgewicht, die spe¬ 
zifische Wärme und das spezifische Gewicht 
des Galliums mit Mendelejeffs Berechnungen 
genau übereinstimmten. Sein Ekaluminium war 
gefunden. Sogar die Prophezeiung, dass das 
hypothetische Element wegen seiner Flüchtig¬ 
keit durch die Spektralanalyse entdeckt wer¬ 
den würde, hatte sich bestätigt. Noch glän¬ 
zender gestaltete sich sein Erfolg, als 1879 von 
N i 1 s o n sein Ekabor in Gestalt des Scandiums 
entdeckt wurde. Auch dieses Element ist nur 
in äusserst geringen Mengen vorhanden, 
nichtsdestoweniger erhält es grosse theoretische 
Bedeutung dadurch, dass sein Atomgewicht 
sich genau mit dem des hypothetischen Ekabor 
deckt. Abef als die wichtigste Bestätigung 
des Gesetzes von der Periodicität bezeichnet 
Mendelejeff selbst die Auffindung des Eka- 
siliciums oder Germaniums, wie es später von 
seinem Entdecker Winkler im Anschluss an 
die Namen Gallium und Scandium genannt 
ward. Begreiflicherweise fing man jetzt an, 
grosse Hoffnungen auf das periodische System 
der Elemente zu setzen, umsomehr, als die 
Chemie im Allgemeinen an derartigen theo¬ 
retischen Fingerzeigen arm ist. Schon sah 
man im Geiste eine ganze Reihe von Lücken 
ausgefüllt, als die Entdeckung des Argons 
und Heliums fürs Erste diese erfreuliche Aus¬ 
sicht zer.-;törte. Das Argon wurde von Lord 
Raleigh 1892 aus der atmosphärischen 
Luft dargestellt. Es war ihm aufgefallen, dass 
Stick'^toff, der aus chemischen Verbindungen 
gewonnen wurde, etwa V» Prozent leichter 
war, als der, den man aus der atmosphärischen 
Luft erhielt. Hierauf gelang es ihm, aus dem 
der Atmosphäre entnommenen Stickstoff ein 
spezifisch schwereres Gas abzusondern, das er 
seiner chemischen Indifferenz wegen Argon 
(träge) nannte. Später wurde dasselbe Gas 
auch in Mineralquellen und in einem Me¬ 
teoriten aufgefunden. Das Argon lässt sich 
nun auf keine Art in das oben- geschilderte 
; natürliche System einordnen. Seinem Atom- 


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Dürre, Die Entwicklung der Eisenindustrie. 


123 


gewicht nach gehört es an eine Stelle, die 
ihm seinen physikalischen und chemischen 
Eigenschaften nach nicht zukommt. Ebenso 
widerspenstig verhält sich das Helium, wel¬ 
ches Ramsay 1895 entdeckte, als er das 
seltene Clevelt auf Argon hin spektroskopisch 
prüfte. Es verrieth sich durch eine helle gelbe 
Linie, die bereits aus dem Sonnenspektrum 
bekannt war und fand sich später auch in 
dem Spektrum anderer Fixsterne, namentlich 
des Orion. Es kommt bei uns in mehreren 
Mineralen, in der atmosphärischen Luft und 
in Mineralwassern vor, aber immer nur in 
sehr geringen Mengen. Nächst.dem Wasser¬ 
stoff ist das Helium das leichteste Gas. Viel¬ 
leicht erklärt sich daraus das äusserst seltene 
Vorkommen dieser beiden Gase im freien 
Zustande auf unserer Erde. Die Anziehungs¬ 
kraft der Erde war möglicherweise zu schwach, 
um ihre grosse Flüchtigkeit zu überwinden; 
sie könnten deshalb in den Weltenraum ent¬ 
wichen sein und sich dort um die grösseren 
Fixsterne angehäuft haben, wo sie in der 
That massenhaft nachgewiesen worden sind. 
Runge und Paschen fanden bei genauer 
Prüfung des Hrliumspektrums gewisse Linien, 
die darauf hinwiesen, dass in dem Helium 
wahrscheinlich noch ein zweiter gasförmiger 
Elementarkörper vorhanden ist. Dieser ist 
aber noch nicht einzeln dargestellt worden. 
Lockyer hat dafOi* deft Nantert Ast€tium 
vorgeschlagen. So müssen wir also aufs Erste 
auf einen konsequenten Ausbau des periodi¬ 
schen Systems verzichten, umsomehr, als 
auch neben anderen Unzulänglichkeiten das 
Atomgewicht des Tellurs damit nicht in Über¬ 
einstimmung zu bringen ist. Indessen werden 
vielleicht gerade diese Ungenauigkeiten und 
Widersprüche schliesslich eine Lösung der 
ganzen Frage, ja eine Umgestaltung des Ge¬ 
setzes überhaupt herbeiführen. e. Revmono. 


Die Entwicklung der Eisenindustrie und die 
heutigen Eisenerzvorräte. 

Eine Plauderei von Prof. Dr. E. F. DORRE. 

Kohle und Eisen sind die beiden hauptsächlichsten 
Grundpfeiler der Gewerbethätigkeit der Nationen 
und die wirtschaftliche Stärke derselben hängt ganz 
wesenüich von dem Umfang ab, welchen die 
Heranbringung und die Verwendung von Kohle 
und Eisen in den einzelnen Ländern haben. Beide 
Rohstoffe bezeichnen geradezu die Stellung der 
einzelnen Staaten und sogar die einzelnen Provin¬ 
zen oder Bezirke im gesamten Wirtschaftsleben, und 
selbst die vielfach als durchaus unabhängige Quelle 
von Gütern angesehene Landwirtschaft vermag 
nicht dagegen aufzukommen und bedarf im Gegen¬ 
teil in steigendem Mass der Mitwirkung industrieel- 
1 er Kräfte, deren Entwickelung wesentlich von dem 
Vorhandensein von Kohle und Eisen abhängt. 


Was Wunder, dass man überall bemüht gewe¬ 
sen ist, die Eisenindustrie zu fördern und vor allem 
ihren Fortbestand durch Aufsuchung geeigneter 
Rohstoffe zu sichern. Solange dieses Gewerbe 
aber nur mit Hilfe des Holzes, der Holzkohle als 
Wärmeerzeuger und der natürlichen Wasserkräfte 
als Kraftquellen betrieben wurde, war es nicht 
schwer jenem Streben zu genügen. Erst mit der 
vor etwas über 100 Jahren geschehenen Erfindung 
und Einführung der Dampfmaschinen, damals im 
Gegensatz zu den hj’draulischen Motoren „Feuer¬ 
maschinen“ genannt, änderte sich das Gesicht der 
Industrie, und derselbe Trieb, der das holzarme 
England schon früher zur gewerblichen Benutzung 
seine unterirdischen Kohlenschätze geführt, drängte 
bei dem nunmehr riesenhaft anwachsenden Bedarf 
an Eisenfabrikaten auch zum Ersatz des vegeta¬ 
bilen Brennstoffes durch den mineralischen in den 
Öfen der Hüttenwerke. Vor etwas mehr als 100 
Jahren wurde in Gleiwitz, Oberschlesien, der erste 
Cokeshochofen des europäischen Festlandes ange¬ 
blasen, nachdem die letzten Minister Friedrichs des 
Grossen schon Decennien hindurch mit einer heut 
schwer zu würdigenden Energie den spröden Bo¬ 
den der neuerworbenen Provinz zur Herausgabe 
seiner Naturschätze nach und nach gezwungen und 
eine langsam aber zähe voranschreitende Kulturar¬ 
beit vorbereitet und verrichtet hatten. 

Erst weit später folgten diesem im SOdosten 
der preussischen Monarchie gegebenen Beispiel die 
anderen Bezirke und auch die Nachbarländer, und 
erst längere Zeit nach der Niederwerfung des na- 
poleonischen Kaisertums konnte man daran denken, 
diesen früheren Vorstössen zu folgen und den ge¬ 
werblichen Vormarsch auf der ganzen Linie anzu¬ 
treten. 

Waren nunmehr in der Eisenerzeugung die Wege 
beschritten, welche zu weiterer Blüte führen muss¬ 
ten, so konnte die letztere doch nur sich voll ent¬ 
falten als man den Maschinenbetrieb in den Ver¬ 
kehr einführte. Nachdem F ul ton das Dampfschiff, 
Stephenson die Lokomotive geschaffen, vollzog 
sich langsam beginnend, stetig fortschreitend und 
schliesslich alles alte verdrängend die moderne Um¬ 
gestaltung des Verkehrslebens, welche noch heut 
nicht abgeschlossen ist, vielmehr danach strebt die 
ganze Erde mit eisernen Wegen zu umspannen, auf 
denen mit Kohlen geheizte rastlose Motoren Roh¬ 
stoffe und lebende Wesen mit einer früher ungc- 
kannten Geschwindigkeit befördern. Wo man diese 
Schienenumgürtung des Festlandes durch Meere 
unterbrochen sieht, schliesst man Dampferlinien an 
und Oberbrückt damit das unwillkommene Hinder¬ 
nis. Ganze Eisenbahnzöge von Kohlen führt der 
aus Eisen und . Stahl gebaute Schnelldampfer mit 
sich und durchschneidet mit scharfem Kiel die Wogen 
um in 5-6 Tagen Meereswüsten zu durchqueren, 
zu deren Durchgang früher viel mehr Wochen 
selbst Monate gebraucht wurden, seit die Karavel- 
len des Columbus mit kühnem Mut Cadix verlassen, 
und am Erfolg fast verzweifelnd, endlich San Sal¬ 
vador erreicht wurde. 

Kohle und Eisen ! Diese beiden Elemente haben 
ihren Siegeslauf noch nicht vollendet, denn jedes 
neue Jahr weist eine Steigerung des Verbrauchs 
und der Erzeugung auf. Doch nicht mehr mit der 
unruhigen und unbedachten Hast, die den engeren 


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124 


Dürre, Die^Entwicklung der Eisenindustrie. 


Gesichtskreis früherer Jalire kennzeichnete, gewinnt 
und verwendet man die beiden wichtigen Natur¬ 
schätze ; man hat im Gegenteil gelernt damit haus¬ 
zuhalten und blickt in die Zukunft, besorgt, ob man 
im bisherigen Umfang so weiter wird schaffen 
können oder ob man auf anderes, als Ersatz, spä¬ 
ter oder früher sinnen muss. 

Gerade die Entwicklung des Verkehrs, welche 
nicht stille stehen kann, so lange noch Länder exi¬ 
stieren, die kaum gekannt sind imd deren Bewohner 
noch auf tiefster Stufe stehen, bringt die Notwen» 
digkeit einer Umschau immer näher. 

Seit Jahrzehnten bereits spricht man von der 
Minderung einzelner Vorkommnisse und selbst bei 
mächtigen Kohlenlagerstätten gewahrt man mit 
Besorgnis die fortschreitende Erschöpfung. Manche 
Schächte in England, Belgien, welche eigenen und 
fremden Bedarf versorgen konnten, sind zu Tiefen 
herabgelangt, deren Abmessung den Betrieb, un¬ 
lohnend macht, besonders wenn ein wohlfeier ar¬ 
beitender Wettbewerb in Mitwirkung tritt. Ein sol¬ 
cher wird überhaupt in fortwährend ansteigendem 
Masse eben durch die Verkehrsentvvickelung geför¬ 
dert und wirkt auch wiederum treibend auf letz¬ 
tere ein. Diese Wechselwirkung hat dazu geführt, 
dass Länder-Bezirke in Wettkampf treten, welche 
bis dahin, wenigstens bezüglich der hier besprochenen 
Stoffe nur wenig mit einander verkehrten. 

Der Reisende, welcher 1893 Nordamerika ge¬ 
legentlich der Worldsfair zu Chicago besuchte und ! 
auch die Hütten- und Kohlenbezirke von Newyork, 
Newjersey, Pennsylvanien, Illinois etc. bis nach 
Michigan und Minnesota durchstreifte, konnte aller¬ 
orts die Leichtigkeit und Unbefangenheit bewun¬ 
dern, mit welcher die Eisenleute der Union die 
früher als unüberwindlich geschilderte Entfernung 
der Eisenerz-Lagerstätten und der älteren Kohlen¬ 
bezirke zu überwinden gelernt, allerdings mit Hülfe 
ihrer natürlichen Wasserstrassen, aber auch unter 
rücksichtsloser Ausnützung ihrer nicht* wie bei uns 
monopolisierten, sondern in scharfem Wettbewerb 
thätigen Eisenbahnen. 

Auf Hochofenwerken im östlichen Pennsylvanien 
fand man schon damals Erze von Oberen-See, 
welche mindestens 1000 englische Meilen [Lußlinie) 
Weg gemacht hatten, doch man wunderte deshalb sich 
nicht mehr, als man auf Halden Cubanische Erze 
stiess, die fast 1600 englische Meilen gereist waren. 
Geradezu in Erstaunen geriet man aber, wenn man 
wie der Schreiber dieser Zeilen, Vorräte spanischer 
und nordafrikanischer Erze auf den Hochofenwer¬ 
ken im Lehighthal vorfand, welche daselbst mit 
den einheimischen Airthraciten verschmolzen wer¬ 
den sollten. Dieselben mussten eine Reise gemacht 
haben, welche nicht viel kürzer gewesen sein konnte, 
als die auf über 400c Meilen bezifferte Überfahrt 
Genua-New'york, des Norddeutschen Lloyd. 

Als Gegenstück hierzu ist die Thatsache anzu¬ 
führen, dass eUva ein Jahr später nordamerikanische 
Erze z. B. die wunderbar schönen Magnetite von 
Port Henry am Lake Champ|^ow'ie andere ähn¬ 
liche Rohstoffe nach niederrheinischen Hochöfen 
gelangt sind und dass neuerdings Weiteres in 
gleicher Richtung geschah. 

Diese Rohstoftbewegung weist darauf hin, dass 
die Vorräte an Eisenerzen nicht aller Orten dem 


Bedarf entsprechen und dass Kohlenbezirke wie der 
Niederrhein, wie Pennsylvanien, wo alte Eisenhöt- 
tenbetriebe mit der namhaften altangesessenen 
Arbeiterschar vorhanden sind, danach trachten 
müssen ihre eigenen an sich knappen oder im Lauf 
der Jahre knapp gewordenen Erzvorräte durch Zu¬ 
fuhr zu ergänzen. 

Ganz besonders werden die mitteleuropäischen 
namentlich die westdeutschen und oberschlesischen 
Werke davon betroffen, deren Thätigkeit zum Teil 
weit Ober den Umfang der vorhandenen natürlichen 
Hilfsmittel hinausgewachsen ist und nun nur durch 
Inanspruchnahme fremden Materials im bisherigen 
Umfang aufrecht erhalten werden kann. 

Die Ausgestaltung der neueren Flusseisenpro¬ 
zesse hat zudem zu einem sehr starken Produktions¬ 
umfang geführt. 

Zur Zeit der Erfindung des Bessemerprozesses*), 
1856—1862, in welch letzterem Jahr das neue Ver¬ 
fahren zuerst als vollkommen ausgebildeteTabrikation 
auftrat und die Londoner Weltausstellung k«inzeich- 
net, galten in Westdeutschland und auch ander- 
weit Jahresproduktionen von einer Million Zentner 
als anerkennenswerte Leistung grosser Hüttenge¬ 
sellschaften z. B. des Phönix zu Ruhrort, der Gute¬ 
hoffnungshütte zu Oberhausen u. a. Stahlwerke, 
welche Spezialitäten herstellten, z. B. die Firma Fr. 
Krupp erreichten nur die Hälfte dieser Summe. 

Nach Einführung des Bessemerprozesses stiegen 
alle diese Zahlen, und für Friedrich Krupp ist es 
nachweisbar, dass nach 1862 im Laufe eines Jah¬ 
res ein Sprung auf das nahezu 5fache der seitherigen 
Arbeitsergebnisse eingetreten ist, der von allen 
Fachleuten der streng geheimgehaltenen Einführung 
des Konverterverfahrens in grösserem Umfang da¬ 
mals zugeschricben wurde. 

Ähnlich, wenn auch langsamer ging es mit den 
anderen Werken imd mit der Verbreitung des 
neuen Verfahrens, welches in einer halben Stunde 
mit einem kleinen 3000 Kilos fassenden Apparat 
nahezu die Flussstahlmenge erzeugte, welche 2 
Puddelöfen**) in 24 Stunden seither fertig gebracht, 
musste die Eisenerzeugung wachsen und selbst die 
nach der Milliardenepoche hereinbrechende Krisis 
von 1873 bis nahezu 1880 vermochte das Anwach¬ 
sen nicht zu hindern oder lange aufzuhalten. 

Dass die einheimischen Erzvorräte immer stär¬ 
in Anspruch genommen werden mussten und sich 
bald als unzureichend erwiesen, ist ebenso erklär¬ 
lich und die Umschau nach fremdem Erz (die 
Kohle kam nicht direkt in Mitleidenschaft zumal 

•) Das Bcssemer-Verfahren, die Entkohlung des geschmol¬ 
zenen Roheisens durch ciugepresste Luft wurde iSsSdurch Henrj’ 
Bcssemer erfunden. D.is Wesen desselben besteht darin, dass 
man durch das flQssig gemachte F.iscu von unten stark gepresste 
Gebläseluft in vielen feinen Strahlen leitet und die Entkohlung 
ohne Anwendung besonderen Brennmaterials durchfahrt Dieses 
ist dadurch mil^lich, dass bei der Einwirkung des Luftstromes 
auf das llüssige Roheisen zunächst Silicium und Maiigan, da¬ 
neben auch Wenig Eisen und darauf der Kohlenstoff oxydiert 
werden. Die Retorte, welche das geschmolzene Roheisen bei 
diesem Prozess aufnimmt, wird nach ihrer Form Bessemer-Birne 
oder Converter genannt. 

••) Puddelofen (nach dem englischen to puiidlt rühren) oder 
Rühröfen sind Öfen, in denen der Oxydationsprozess, der dem 
Roheisen den Kohlenstoff entzieht, unter Anwendung von Stein¬ 
kohlen oder Gasfeuerung ausgeführt wird. Das ältere Verfuhren 
ist der sc^eoannte ilerdfrischprozcss in offencu Gebläschcrden 
unter Anwendung von Holzkofalen. 


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Dürre, Die Entwicklung der Eisenindustrie. 


125 


das neue Verfahren eine Vemiinderung des Kohlen¬ 
verbrauchs einschloss) wurde noch durch den Um¬ 
stand immer unvermeidlicher, dass der Bessemer¬ 
prozess ein Roheisen mit unter 0,1 Prozent Phos¬ 
phorgehalt verlangte, wenn anders das Produkt 
gut bleiben sollte. Nach diesem in der Natur und 
Führung des Prozesses begründeten Anspruch an 
die Beschaffenheit des Roheisens wurden mit eins 
alle Hochofenprodukte und mit ihnen auch die Erze 
in zwei Gruppen geschieden, phosphorfreie und 
phosphorhaltige, jene als Qualitätserze hochwertig, 
diese als minderwertig gekennzeichnet. 

Um dies zu verstehen, muss angeführt werden, 
dass im Hochofen aller Phosphorgehalt des Erzes 
in das Roheisen geht und es kein Mittel gibt, dies 
zu verhindern. Mithin war dem Bessemerverfahren 
gegenüber das Verhältnis des Phosphor- und des 
Metallgehalts in den Erzen von grösster Wichtig¬ 
keit geworden und bestimmte gewissermassen die 
Brauchbarkeit. 

Grosse mächtige Erzlagerstätten wie z. B. die 
durch Lothringen und Luxemburg sich hinziehenden 
Bänke und Lager jurassischer Erze, unter dem 
Namen Minette unterschieden, die seit 1850 etwa 
erst näher untersuchten und verwendeten Oolith- 
erze des nördlichsten Teils von Yorkshire in Eng¬ 
land, welche als Clevelanderze bekannt sind, waren 
vollkommen von der Verwendung bei dem Besse¬ 
merprozess ausgeschlossen,'weil ihre Verschmelz¬ 
ung im Roheisen von 1,5 Prozent und mehr Phos¬ 
phor lieferte, das nur zu Giessereizwecken und als 
Zusatz zum Puddeln noch brauchbar erschien und 
desshalb natürlich geringere Preise erhielt. 

Zahlreiche, namentlich im letzterwähnten eng¬ 
lischen Bezirk unternommene mit grossen Opfern 
und allem Nachdruck durchgeführte Versuche mit 
einer Reihe mechanisch bewegter Puddelöfen, die 
teilweise mit Erzen ausgemauert waren und auch 
oft mit Erzzusätzen arbeiteten, ergaben zwar die 
Möglichkeit den Phosphor zu eliminieren — aber erst 
die wichtige Erfindung zweier junger Ingenieure, 
Thomas und Gilchrist, auf einem Kalk- oder 
Dolomitfutter im Bessemerapparat zu blasen, führte 
zum Ziel. 

Man gelangte in mehr wie Jahresfrist dazu, die 
phosphorreichsten Eisensorten zu denselben Produk¬ 
ten zu verarbeiten, wie sie der Bessemerprozess 
bis jetzt lehrte, und es trat ein völliger Umschlag 
in der Auffassung der verschiedenen bekannten 
Erzvorräte und ihrer Bewertung ein. Der Vordrang 
des bisherigen Qualitätserzes, das ja hauptsächlich 
aus Spanien, Afrika, aus den Alpen wie auch 
Deutschland, England und Belgien gelangte, zerfiel, 
und umgekehrt suchte man nunmehr nach Erzen 
mit hinreichendem Phosphorgehalt, möglichst Ober 
1% Prozent! 

Nach Erlöschen der Thomas-Gilchrist’schen Pa¬ 
tente erstanden aller Orten Anlagen, welche den 
Prozess durchführten, nachdem bereits früher ältere 
Werke die Betriebsrechte erworben und ihre Bes¬ 
semeranlagen umgestaltet hatten. 

Nur wenige Anlagen, welche grossen Erzbesitz 
in Spanien, wo die Bezirke von Bilbao im Norden, 
Carüiagena im Südosten jahrelang die mitteleuro¬ 
päischen Werke mit phosphorfreien Erzen versorgt 


haben, erworben hatten, blieben noch beim Besse¬ 
merprozess. Jetzt aber, W’o ihre früher hochbe¬ 
werteten Erzvorräte ebenfalls zur Neige gehen, 
haben sich auch diese Werke z. B. Krupp und 
Cockerill einen für lange Zeit ausreichenden Besitz 
an lothringischen Erzfeldern gesichert. 

Der Bedarf eines normalen heutigen Flusseisen¬ 
werkes von 150000 bis 200000 Tonnen-Produktion 
jährlich ist immerhin auf 600000 bis 800000 Tonnen 
zu veranschlagen oder im Weffe 70000 Doppel¬ 
lader Erz. 

Ausser dem gewöhnlichen phosphorhaltigen Ma¬ 
terial holt man sich aus der ganzen Welt beinahe 
das zum Erblasen von Thomasroheisen notwendige 
Manganerz herbei. Nicht allein aus Griechenland 
und Kleinasien, nein, aus Südamerika (Nord-Chile) 
bezieht Europa Manganerze und nach anderen Über¬ 
seeischen Erzvorräten streckt es seine Hände aus. 

Deutschland beginnt immem^hr, seine Pro¬ 
duktionsstätten an die Unterlamfe der Flüsse zu 
legen. Am Rhein erheben sich neben den alten 
Hütten Ruhrorts und des Hochfelds die neuen An¬ 
lagen der Gewerkschaft Deutscher Kaiser und der 
Firma Friedrich Krupp bei Rheinhausen. Unweit 
Stettin beginnt mit eingeführten schwedischen Erzen 
eine gräflich Henkel von Donnersmark’sche Anlage 
ihren Hochofenbetrieb, dem sich wohl später ein 
Flusseisenbetrieb anschliessen dürfte. 

Diesen Anlagen stehen schon jetzt die den Rhein 
herunlerkommenden lothringischen Erze ebenso wie 
die stromauf anlangenden Importen zur Verfügung, 
während die im Erzbezirk arbeitenden Anlagen des 
Grossherzogtums Luxemburg, Lothringens und des 
Saargebiets fortdauernd auf den Erzen des eigenen 
Grundes fussen und höchstens einen Teil der Brenn¬ 
stoffe besonders die Cokes für die Hochöfen aus 
Südbelgien und Westfalen beziehen. 

Durch die in neuester Zeit geglückte vollkom¬ 
menere Ausnutzung der Hochofengase bei der Kes¬ 
selheizung ist es möglich, die im Hochofenbrenn¬ 
stoff befindliche Wärmeenergie auch für angeschlos¬ 
sene Betriebe nutzbar zu machen, sodass es, da 
das Eisen flüssig in die Thomaswerke geführt w’ird, 
Werke gibt, welche mit dem Hochofenbrennstoff 
die ganze Fabrikation ausführen. 

Weitere technische Fortschritte im Wännehaus- 
halt, wie die Benutzung der Hochofengase zu Ga.s- 
maschinenbetrieb und zur Erzeugung elektrischer 
Energie dehnen die Grenzen der Eisenhüttentechnik 
noch weiter aus und machen die Aufsuchung und 
Ausbeute neuerer Erzlagerstätten für viele Bezirke 
immer dringlicher. Nur die vollendete Ausbildung 
des Transportwesens, Flusskanalisierung, Verbillig¬ 
ung der Eisenbahntransporte, Abwerfen der mono¬ 
polisierten Ängstlichkeit und jeder kleinlichen Fis- 
kalität im Bahnbetrieb kann es ermöglichen auch 
entlegene Erzvorräte heranzuziehen und dadurch 
den Fortbestand einer gewaltigen und blühenden 
Industrie zu sichern. 

Darum, Caveant Consules! 


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126 


ScnWASSMANN, SONNFNFLECKE. 


Sonnenflecke. 1 

Von Dr. A.Schwassmann. ' 

In No. 5 der „Umschau“ wurde auf den grossen | 

Sonnenflecken vom 2. bis 3. Jan. d. J. auftnerksam i 
gemacht, von dem wir hier die Reproduktion einer 
photographischen Aufiiahme bringen. | 

Am 30. bis 31. 


den Flecken die Metalldämpfe der Photosphäre, 
welche die Fraunhoferschen Linien im Sonnen- 
spektruni hervorrufen, in grösseren und dichteren 
Mengen vorhanden sind, als an anderen Stellen. 
Da diese Dämpfe von geringerer Temperatur sein 
müssen, als die der Photosphäre, so kann man also 
von Condensationsprodukten in der Art unserer 

Wolken reden. 


w’ar der Flecken 
wieder zu erwar¬ 
ten, doch liegen, 
infolge des meist 
bedeckten Him¬ 
mels keine zuver- 
lässigenBcobacht-. 
ungen vor. Da¬ 
nach scheint der 
Flecken wieder 
erschienenzu sein, 
die Form jedoch 
wesentlich geän¬ 
dert zu haben. 


Nachstehend sei 
einiges darüber 
gesagt, welche 
Frklärung die 
Wissenschaft 
jetzt für die Son- 
nenflecken giebt. 
Die Ansichten 
Ober ihre Natur 
sind sehr ver¬ 
schiedenartige ge¬ 
wesen, wie denn 
überhaupt noch 
jetzt die Beschaf¬ 
fenheit der Sonne 
— trotz der wich¬ 
tigen Aufklärun¬ 
gen, welche die 
spektroskopisch. 
Untersuchungen 



Sonnenflecken 2-/3. Januar 1897. 

(.Nach einer phot<.^raphischi-ii Aat'iiahme dt-s Ahlrophvsik. ObsiTvatunums 
in Putsdam). 


Jedoch muss man 
dabei beachten, 
dass sie eine im¬ 
merhin noch sehr 
hohe Temperatur 
besitzen, und dass 
diese Dämpfe sich 
noch in starker 
strömender Be¬ 
wegung befinden. 
Die Spektra der 
Flecken zeigen oft 
eine Linicnver- 
Schiebung, her- 
rührend von den 
gfofTcn Geschwin¬ 
digkeiten, welche 
die Teilchen im 
Flecken in der 
Richtung auf uns 
zu oder von uns 
fort besitzen. Un¬ 
sere Figur giebt 
V’crschiebungcn 
wieder, wie sic 
von \' n g e l an 
e'nem Sonnen- 
fieckenvomö.Mai 
1871 beobachtet 
sind. Dieser Fick- 
keil war von einer 
sogenannt. Lirht- 
liriicke durchzo¬ 
gen, liestand also 
aus zwei 'Feilen. 
Der obere und lin¬ 


des Sonnenlichts 


tere helle Streifen 


gegeben haben — den Gegenstand der zum Teil 
sich widersprechendsten I lypothescn tiildet. Nacli- 
dem “zunächst gleich nach der Fntdeckiinc der 
Sonnenflecken im Jahre r6ii der Pater Scheincr | 
vergeblich versucht hatte, sie für Planeten auszu¬ 
geben, welche vor der Sonnenscheibe vorbeiziehen 
— um die Ansicht von der Reinheit der Sonne zu 1 
wahren — entwickelte' sich im vorigen Jalirliundert | 
die Auflassung, dass die Flecken Schlacken seien, | 
welche in der geschmolzenen Oberfläche der Photo¬ 
sphäre schwämmen. Als man dann aber beobachtete, | 
dass die Gestalt der Flecken sich bei der Ver- 1 
Schiebung vom Sonnenrandc nach der Mitte und 
umgekehrt perspektivisch veränderte, gewann man | 
die Ueberzeugung, dass es sich hier um trichter- i 
artige Vertiefungen handle, und die Wilson- 
Herrschel’sche Hypothese fasste die Flecken ! 
als Löcher in der Sonnenatmosphärc auf, durch 1 
welche man auf den — wie sie behauptete — er¬ 
kalteten, dunklen Kcm der Sonne sehen könnte. ' 
Eine bessere, physikalisch begründete Vorstell- ' 
ung über das Wesen der Sonnenflecken gewährte 
erst die Anwendung des Spektroskops. Die spektros¬ 
kopischen Untersuchungen der Flecken zeigen, dass 
man es in ihnen mit Stellen der I’hotosphäre zu 
thun hat, in weichen die von ihr ausgehenden 
Lichtstrahlen eine erheblich stärkere Absorption 
erleiden als an der fleckenfreien Oberfläche. Die ; 
dunklen Metallinien erscheinen im Fleckcnspektrum | 
verbreitert und verstärkt. Dies beweist, dass in j 


zeigt das Spektrum der SonnonolH-rfläche um den 
Flecken lieniin. Die beiden dunklen Streifen rühren 
von den Kernen des Fleckens lur; in ihnen sind 



Spektrum eines Sonnenfleckens. 

(Nach c'iiifV I’holofjraphie von Vogel vom 6, 5. 1871. 

die dunklen Metallinien infolge der stärkeren Ab¬ 
sorption verstärkt und verbreitert. Die Lichtbrücke 
gab das mittlere helle Spektralband. Seine Linien 
sind an dem einen Rande der Brlfcke nach dem 
Violett, an dem andern Rande nach dem Rot liin ver¬ 
schoben. Dies beweist, dass an dem einen Rande 
aufwärts, an dem andern abwärts gerichtete Ström¬ 
ungen vorhanden waren. Die Geschwindigkeit des 
Emporsteigens der Gase betrug dabei 30—40 km 
in der Sekunde. 

Das Sonnenfleckcnspektrum besitzt nun ausser 
der erwähnten stärkeren Absorption und Linien- 
vcrschicbimg oft noch eine charakteristische Eigen- 


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Acetylen-Beleuchtung. 


127 


Schaft. Die Wasserstofflinien, welche im Gegensatz 
zu den Metalünien meisten.s schmäler als im Sonnen¬ 
spektrum erscheinen, treten oft hell auf. Man kann 
dies nur durch die Annahme erklären, dass sich 
über dem Flecken mächtige Wasserstoftmengen be¬ 
finden von höherer Temperatur, als die der Photo¬ 
sphäre. In der Thai ist es Tacchini im Jahre 1882 
gelungen, übereinem Flecken einejenerProtuberanzen 
in ihrer vollen Ausdehnung zu ^obachten, wie sie 
sonst nur am Sonnenrande gesehen werden. Diese 
Thatsache setzt die Sonnenflecken in direkte Be¬ 
ziehung zu den Protuberanzen, jenen mächtigen 
Feuersäulen, welche .sich mit rasender Geschwindig¬ 
keit bis zu einer Höhe von vielen Hunderten von 
Meilen über das Niveau der Photosphäre erheben, 
ln beiden Erscheinungen haben wir offenbar ein 
Abbild der gewaltigen Vorgänge, welche sich im 
Sonneninnem abspielen, und von denen wir uns 
zur Zeit noch keine rechte Vorstellung zu machen 
vermögen, da wir von vornherein nicht berechtigt 
sind, die Gültigkeit der physikalischen Gesetze, wie 
sie für die Temperatur- und Druckverhältnisse auf 
der Erde gelten, auf die völlig andersartigen Ver¬ 
hältnisse der Sonne zu übertragen. 


Acetylen • Beleuchtung- 

Die Hoffnungen, welche man auf die Acetylen- 
Beleuchtung gesetzt hatte, wurden stark erschüttert, 
als sich kurz nach einander zwei schwere Unglücks¬ 
fälle in Paris und Berlin ereigneten, die nicht nur 
auf Fahrlässigkeit bei Handhabung mit diesem Gas 
zuröckzuftihren waren. 

Wissenschaftliche Untersuchungen ergaben nun, 
dass Acetylen bei gewöhnlichem, <i. h. Atmosphären- 
druck nicht explosiv ist, dass es aber bei Zunahme 


des Druck, schon bei 2 Atmosphären, explosiv wird. 
Ferner sind Mischungen von Lm/I und Acetylen 
explosiv. Damit sind die Bedingungen zur Ver¬ 
wendung des Acetylen als Beleuchtungsmittel ge¬ 
geben : Das Acetylen darf nicht unter Druck stehen 
und die Luft darf erst an der Auiströmungsöffnung, 
am Brenner, zu dem Gas treten. 

Diesen Bedingungen genügt in tadelloser Weise 
ein von SchOlke in Berlin*) konstruirter Apparat, 
dessen Konstruktion aus nachstehender AbbÜdung 
ersichtlich ist. 

ln Apparat A wird das Acetylen aus Calcium- 
Karbid**) und Wasser erzeugt. Das Calcium-Karbid, 
das wie unreiner Kalk aussieht, kommt in das Ge- 
fäss f. Durch das Gewicht des Calciumkarbid senkt 
sich die Glocke b, die durch ein Gegengewicht 
in der Schwebe gehalten wird, in’s Wasser und 
es entwickelt sich Acetylen; dies entweicht durch 
e und g in das Reservoir B. Sobald sich zu 
viel Acetylen entwickelt, wird die Glocke b in 
die Höhe gedrückt und damit das Calcium-Karbid 
aus dem Wasser gehoben, bis der Druck wieder 
nachlässt. — Sehr wesentlich ist auch der von 
Schülke patenürte Brenner. 

Das Gas strömt hier aus ca. 15 ganz feinen 
büschelförmig angeordneten Röhren, die einen kräf¬ 
tigen Luftstrom zulassen, wodurch eine vollständige 
Verbrennung bewirkt wird und man ein sehr helles 
Licht bekommt. 

•) Intern. Gesellschaft f. Beleuchtung. 

**) Calcium-Karbid ist eine Verbindung von Kohlenstoff mit 
Calcium. Es wird durch Einwirkung von Kalkstein (kohleu- 
1 saurem Kalk) auf Kohle bei sehr grosser Hitze (im elektrischen 
j- Ofen) erzeugt — Bei Einwirkung von Wasser auf Calcium-Karbid 
' entsteht neben gelöschtem Kalk, Acetylen, ein Gas, das unter 
* gewöhnlicheuVerhaltnissen mit stark russender Flamme verbrennt. 



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128 


Kleine Mitteilungen. 


Zum Schluss noch einige Anmerkungen: Ace* 
tylen hat einen eigentümlichen Geruch, infolgedessen 
man Undichtigkeiten sofort bemerkt. Nach neueren 
Untersuchungen scheint es durchaus nicht giftig 
zu sein. 

Nach der Berechnung des Patenmehmer stellt 
sich Acetylenlicht billiger als Auerlicht, (bei einem 
Preis von 45 Pfg. für das Kilo Kalcium-Karbid. Nach 
Ausbau der Kraftübertragungswerke Rheinfelden 
(am Rheinfall), die einen grossen Teil ihres elek¬ 
trischen Stroms zur Calcium-Karbid-Erzeugung ab¬ 
geben werden, dürfte sich der Preis pro Kilo auf 
weniger als 20 Pfg. stellen, somit der Preis von 
Acetylen noch nicht die Hälfte von Auerlicht kosten. 

Das Acetylenlicht hat somit eine grosse Zukunft, 
zunächst besonders für Plätze, wo keine Gasan¬ 
stalten bestehen: Dörfer, Güter, Fabriken, Bahnhöfe, 
Leuchttörme. b. 


Kleine Mitteilungen. 

Forschungsreisen im südlichen Chile. 

Eine Anzahl deutscher Gelehrter, die zum grössten 
Teile als Docenten am Institute Pedagogico in 
Santiago thätig sind, hat zu Beginn des Dezember 
1896 zwei Forschungsreisen angetreten, die voraus¬ 
sichtlich Ende März d. J. ihren Abschluss linden 
werden. Die Herren Prof. Dr. Hans Steffen 
und Dr. O. v. Fischer gehen nach dem Rio 
Aysen, um diesen bis zur Quelle aufzunehmen und 
dann weiter gen Norden bis zum Lago Fontana 
vorzudringen, j Der Regierungsdampfer „Toro“ 
hat die Expedition am 20. Dezember in Puerto 
Montt aufgenommen und wird sie nach der Mün¬ 
dung des Aysen bringen. 

Die Aufgabe der zweiten Expedition, bestehend 
aus den Herren Dr. Sta.nge und Dr. Krüger, 
ist gleich interessant und wohl noch schwieriger. 
Es handelt sich um die Erforschung des Hinterlandes 
des Golfo de Corcovado, d. h. der zentralen Haupt- 
kordillere (im S.) der erloschenen Vulkane Centinela 
(im N.) bis Yanteles (im S.) und bis zürn Rio Palena, 
dessen Thal schon bekannt ist. Weiter soll das von 
N. nach S. streichende fruchtbare Längsthal im O. 
der Hauptkordillere, wo die argentinische Kolonie 
16 de Octubre liegt, gen S. verfolgt werden, um 
festzustellen, ob der R. Staleufu in den Palena 
mündet, identisch mit dem Rio Frio ist, oder ob er 
die Cordilleren durchbricht und in den Golfo de Corco¬ 
vado mündet. Endlich gedenkt die Expedition auch 
hier bis zur weiter nach O. gelegenen Wasserscheide, 
die einen niedrigeren Höhenzug mit zahlreichen 
Depressionen (Pässen) bildet, vorzudringen. — Von 
den Flüssen, die auf diesem Gebiet zwischen 42*0. 
44'* sol. Br. in den stillen Ocean (Golfo de Corco¬ 
vado) münden, ist der mittlere und obere Teil ihres 
Laufes meist noch völlig unbekannt. Sie durch¬ 
brechen in tiefen Cannoncs die Gebirge und sind 
als Wasscrstrassc lür die Expedition nur zum 
kleinen Teile zu gebrauchen. 

In der Zone der Wasserfälle und Stromschnellen 
an der Westseite der zentralen Gebirgskette müssen 
die Boote zurückgelassen werden und der Marsch über 
die steilen, bewaldeten Höhen angetreten werden. 
Die Flüsse münden in tiefe Fjorde mit steilen Fels- 
küsten, zeigen also keine Harren. Am Ostabhange 
des Gebirges sind weite Gebiete der schönen Ur¬ 
wälder vollständig vom Feuer zerstört worden. — 

*1 S. m. kurze Aujfabe in VerhdI. der Ges. f. Erctk. zu Berlin. 
1897, Heft z. 


Um die Seen, die sich am oberen Teile der Flösse 
befinden, befahren zu können, wird die Expedition 
zwei Boote aus Segeltuch mit sich führen. Das 
grosse Längsthal zwischen den zentralen Cordilleren 
und der Wasserscheide, welches Chile beansprucht, 
da es nach dem Pacific entwässert, eignet sich vor¬ 
züglich zum Ackerbau (Weizen) und zur Viehzucht. 

H. p. 

• • 

Nach einem von Prof. Jackson soeben erschie¬ 
nenen Artikel im „Journal of the American Oriental 
Society“, ist das Zeitalter Zoroasters nach persischen 
und arabischen Quellen etwa zwischen 630 und 553 
V. Chr. Sonach würde das Todesjahr des persi¬ 
schen Religionsstifters nahezu mit dem Geburtsjahr 
Buddha’s zusammenfallen. K. Klemm. 

« * 

• 

Professor Regels Reisen in Colombia sind 
nach den von ihm eingegangenen Berichten bisher 
von recht gutem Erfolge begleitet gewiesen. Von 
Medellin, seinem ersten Standquartiere aus hat der 
Reisende ausgedehnte Ausflüge in die Umgebung 
ausgeführt, so unter anderem nach dem Salz- und 
Kohlengebiete von Guaca, nach den Goldbergwer¬ 
ken von Titiribi, Sitio Viejo und Zancudo u. s. w., 
überall das Gesehene durch Photographie im Bilde 
festhaltend und den Grund zu naturwissenschaft¬ 
lichen und namentlich ethnographischen Samm¬ 
lungen legend, dank dem Entgegenkommen der 
Bergwerksbesitzer wie der Bevölkerung überliaupt. 
Von Medellin aus beabsichtigt Professor Regel 
nach dem Süden von Colombia sich zu begeben, 
um hier dem Studium der Paramos und der Schnee¬ 
berge obzuliegen. | Dr. E. 

Die Senimbehandlung der Bubonenpest. 

In No. 4 der „Umschau“ habe ich darauf hin- 
ge,wiesen, dass das von Yersin hergestellte 
„Serum antipesteux“ vielleicht imstande sein kann, 
Pestkranke zu heilen. Wie nun Roux am 36. 
Januar d. J. in einer Sitzung der „Acad6mie de 
Medecine“ in Paris mitgeteilt hat, hat sich dies ver¬ 
wirklicht. Yersin ist es gelungen mit dem Serum 
von Pferden, die durch Einimpfen des Pcstbacillus 
künsdich gegen die Pest immunisiert w'urden, eine 
Reihe von schweren Pestkranken zu heilen. Von 
24 mit diesem Serum behandelten Fällen heilten 
22, nur attw' Erkrankte sind gestorben. 

Diese beiden sind erst am 5. Krankheitstage in 
Behandlung gekommen. — Dieser Erfolg ist höchst 
erstaunlich, wenn man bedenkt, dass die Mortalität 
der Pest gegen 80% beträgt. — Wenngleich die 
geringe Anzahl der Fälle noch keinen sicheren 
Schluss für den Erfolg der Yersin’schen Serum- 
bchandlung zulässt, so berechtigt immerhin der 
grosse Prozentsatz, der durch diese Methode ge¬ 
heilten Fälle zu den schönsten Hoffnungen. — 

Dr. Mehlek. 

• « 

• 

Für die Schaumbildung beim Aiisschenken von 
Bier ist nicht nur der Gehalt an Kohlensäure von 
Bedeutung, sondern auch vor allem der Gehalt an 
gewissen Eiweissstoffen. (Hiaucrei-Wochcnsthr. 1896. 13.) 


No. 8 der Umschau wird enthalten; 
jensen, Ober Krre^iin^ und Lahmunir der lebendigen Substanz. 
— H.-iin.-iun. Die Zoologie im Jahre 1896. -- Berg, Deutsche Lit- 
teraturgcschichte des 19. Jahrhunderts ISchluss.) — Polakowsky. 
Der Nic.trugua-C.inal. — Das I.ehrbataillon. — Michael. Das 
Rohmaterial fQr GasglOhlicht. 


G. Horstmann’s Druckerei. Frankfurt a. M. 


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DIE UMSCHAU 

ÜBERSICHT ÜBER DIE FORTSCHRITTE UND BEWEGUNGEN AUF 
DEM GESAMTGEBIET DER WISSENSCHAFT, TECHNIK, 
LITTERATUR UND KUNST 

heraus^egeben von 

DR. J. H. BECHHOLD 


Wöchentlich eine Nummer. 

Zu beziehen durch 
alle Buchhandlungen und 
Postanstalten. 

Postzcituiigspreislistc No. 7331 a. 

Verlag von: 

U. Bechhold Verlag, Frankfurt a. M. 


Neue Krame 19.31. 


Preis vierteljährlich 
M. a.50. 

Jahres*Abonnemeat 
Preis M. la—. 

Im Ausland nach Cours. 
Verantwortlicher Redakteur: 

Otto Adolf Wolters, Frankfurt a. BL 


jeS. I. Jahrg. 1897. 20. Februar. 


Über Erregung und Lähmung der lebendigen 
Substanz. 

Von Dr. P. Jensbk. • 

Es ist eine der fundamentalsten That- 
sachen der allgemeinen Physiologie, dass in 
den kleinsten Teilen aller lebendigen Substanz 
stets zwei aufs engste mit einander verknüpfte 
Prozesse verlaufen, die sogenannte Assimi¬ 
lation und die Dissimilation. Bei der Dissi¬ 
milation finden derartige chemische Um¬ 
setzungen in der lebendigen Substanz statt, 
welche zur teilweisen Zerstörung der letzteren 
führen, wodurch aber gerade die wichtigsten 
Leistungen des Organismus vollzogen werden, 
wie die Kontraktion der Muskeln, die Drüsen¬ 
sekretion etc. Die bei der Dissimilation fort¬ 
während zu Grunde gehende lebendigeSubstanz 
wird gleichzeitig immer wieder ersetzt durch 
die Assimilation, die Neubildung lebendiger 
Substanz; diese Assimilation, welche mit der 
Verdauung der Nahrung beginnt, lässt die 
vom Organismus aufgenommenen Nahrungs- 
stofTe eine Reihe von Veränderungen erleiden, 
wobei diese mehr und mehr die Eigenschaften 
der lebendigen Substanz annehmen. Am Ende 
des Assimilationsprozesses sind die betreffen¬ 
den Stoffe befähigt, der Dissimilation zu ver¬ 
fallen. Indem so die lebendige Substanz 
fortwährend zu Grunde geht und sich fort¬ 
während wieder erneut, geht ein kontinu¬ 
ierlicher Stoffstrom durch den Organismus 
hindurch, welcher mit den Nahrungsstoffen in 
denselben eintritt, die Assimilation und dann 
die Dissimilation durchläuft, um endlich in 
der Ausscheidung der Dissiyiilationsprodukte 
den Organismus wieder zu verlassen. Von 
diesem unaufhörlichen Stoffwechsel ist die 
ganze Fülle der verschiedensten Lebenser¬ 
scheinungen abhängig. 

Im Allgemeinen verlaufen die Assimilation 
und Dissimilation mit ziemlich gleicher Inten¬ 
sität nebeneinander her. Überwieg^t der eine 
Umschau 1897. ' 


dieser beiden Prozesse, so treten die vor¬ 
nehmlich an ihn gebundenen Lebenserschei¬ 
nungen besonders auffällig gegen die übrigen 
hervor. So ist z. B. die Zuckung eines Muskels 
der Ausdruck einer erhöhten Dissimilation 
innerhalb der lebendigen Substanz der Muskel¬ 
fasern; daneben giebt es besondere Erschlaf¬ 
fungszustände der Muskelsubstanz, welche 
durch eine vorherrschende Assimilation be¬ 
dingt sind. 

Die elementaren Stoffwechselvorgänge der 
Assimilation und Dissimilation, deren Bedeu¬ 
tung für das Leben der Organismen aus dem 
Gesagten wohl zur Genüge hervorgeht, werden 
durch die verschiedensten Einwirkungen von 
Seiten der Umgebung der lebendigen Ele¬ 
mentarteile fortwährend in ihrem Verlaufe 
beeinflusst. Derartig zur Geltung kommende 
äussere Einflüsse bezeichnen wir als Reize; 
diese können durch chemische Stoffe, durch 
Wärme, Licht, Elektrizität, Druck und Zug 
dargestellt werden. Über die mannigfachen 
Rollen, die diese Reize bei den elementaren 
Lebensvorgängen spielen, hat Ve r wo r n (vergl. 
Deutsche medizinische Wochenschrift 1896 
No. 40) neuerdings interessante Mitteilungen 
gemacht, welche sich vorzüglich auf verglei¬ 
chend-physiologische Untersuchungen ein¬ 
fachster mikroskopischer Lebewesen (Rhizo- 
poden und Infusorien) gründen und für die 
Erklärung einer Fülle der verschiedenartigsten 
Lebenserscheinungen sehr fruchtbar zu werden 
versprechen. 

Verworn unterscheidet im Allgemeinen 
erregende und lähmende Wirkungen der Reize; 
die ersteren bestehen in einer Steigerung der 
Stoffwechselprozesse, die letztere in einer 
Herabsetzung derselben bis zu ihrer vollstän¬ 
digen Unterdrückung. Gewisse Reize, wie 
z. B. Erwärmung, rufen im allgemeinen Er¬ 
regung hervor, andere wie die sog. Narkotica, 
bewirken Lähmung. Ferner ist es von be¬ 
sonderer Wichtigkeit, dass die Erregung — 

8 


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Berg, Deutsche Litteraturgeschichte des 19. Jahrhunderts. 


130 


und dasselbe gilt auch für die Lähmung — 
meist die Assimilationsphase und die Dissimi¬ 
lationsphase der Lebensprozesse in ungleichem 
Masse betrifft; der eine Reiz nämlich erregt 
vorwiegend nur die erstere,ein anderer lediglich 
die letztere, während ein dritter vielleicht beide 
in ungefähr gleichem Grade steigert. Wie 
z. B. ein massiger Wärmereiz bei einer Amöbe 
(einem mikroskopisch-kleinen wie ein Schleim¬ 
klümpchen aussehenden Organismus) vor¬ 
wiegend nur die Assimilation erregt, während 
mit steigender Temperatur bald ein Punkt 
erreicht wird, wo Assimilations- und Dissimi¬ 
lationsphase gleich stark erregt werden, bis 
endlich bei noch höherer Temperatur die Er¬ 
regung der Dissimilation die Oberhand gewinnt. 

War die Erregung nur vorübergehend, 
ohne eine Schädigung der lebendigen Substanz 
herbeizuführen, so zeigt sich alsbald eine für 
das Leben des Organismus hochbedeutsame 
Erscheinung, welche von Hering als die 
„innere Selbststeuerung des Stoffwechsels" 
bezeichnet w’urde. Wir finden dann nämlich, 
dass die gesteigerte Assimilation erregend auf 
die Dissimilation einwirkt und umgekehrt, wo¬ 
durch stets wieder von selbst das für die 
Erhaltung des Lebens so wichtige Gleich¬ 
gewicht zwischen Assimilation und Dissimi¬ 
lation eingeleitet wird. In enger Beziehung 
zu diesen Verhältnissen steht die Thatsache, 
dass in der Umgebung einer Stelle mit erregter 
Dissimilation alsbald die Assimilation ebenfalls 
eine Steigerung erfährt und umgekehrt; ferner 
dass die dissimilatorische Erregung (d. h. die 
erregte Dissimilation) durch eine hinzukom¬ 
mende assimilatorische Erregung gehemmt 
werden kann und umgekehrt. Daraus ergiebt 
sich also, dass die Erregung eines Stoffwechsel¬ 
prozesses, z. B. der Dissimilation auf zweierlei 
Weise gehemmt werden kann: erstens, was 
selbstverständlich ist, durch einen dissimila- 
torischen Ldhmungsreiz, sodann aber auch 
durch die Erregung der Assimilation, also des 
der Dissimilation entgegengesetzten Prozesses. 

Die mitgeteilten Ergebnisse verbreiten Licht 
über eine grosse Menge von Erscheinungen, 
welche bis dahin einer befriedigenden Be¬ 
urteilung sich entzogen. Es sei hier nur die 
Anwendung auf die interessanten Erscheinungs- 
komple.xe des Schlafes und der Hypnose 
wiedergegeben, Anwendungen, welche der 
Uneingeweihte gewiss nicht von den Unter¬ 
suchungsresultaten mikroskopisch-kleiner Lebe¬ 
wesen erwartet hätte. Wir werden uns aber 
aber auf eine kurze Darstellung der Aus¬ 
führungen Verworns beschränken, von deren 
Begründung hier Abstand genommen werden 
muss. Bezüglich des Schlafes sowohl als der 
Hypnose haben wir davon aiiszugehen, dass 
(Kt normale Wachzustand bei Menschen und 


Tieren von einem Uberw'iegen Dissimilation 
in den lebendigen Elementarteilen des Zentral- 
nerv'ensystems (den sog. Neuronen) abhängt. 
Der Schlaf hingegen ist durch die vor¬ 
herrschende Assimilation in den Neuronen aus¬ 
gezeichnet, welche durch zweierlei Momente 
hauptsächlich zu Stande kommt: erstens durch 
die Femhaltung der dissimilatorisch erregen¬ 
den Sinnesreize (also durch Dunkelheit, Ge¬ 
räuschlosigkeit, bequeme Lage etc.) und zweitens 
infolge der oben erwähnten inneren Selbst¬ 
steuerung des Stoffwechsels; vermöge der 
letzteren wird die im Wachzustand zum Aus¬ 
druck kommende dissimilatorische Erregung 
dadurch gehemmt, dass sie nun die Assimi¬ 
lation der Neuronen erregt, was also die Über¬ 
führung in den Schlafzustand bedeutet. Hier 
wäre daran zu erinnern, dass der Wechsel 
zwischen Schlafen und Wachen nach Unter¬ 
suchungen von Goltz nicht auf das Grosshirn, 
das Organ des Bewusstseins beschränkt ist, 
was nach den vorliegenden Ausführungen 
leicht verständlich erscheint. 

Die Hypnose des Menschen und verwandte 
Erscheinungen bei Tieren sind im Wesentlichen 
durch eine Hemmung des Wachzustandes des 
Grosshirns charakterisiert (wenn wir von an¬ 
deren eigentümlichen Erscheinungen hier ab- 
sehen wollen, wie z. B. einer länger dauernden 
Muskelsteifigkeit, welche besonders bei Tieren 
zu beobachten ist und welche ebenfalls unter 
Zuhülfenahme der mitgeteilten Gesichtspunkte 
erklärbar wird). Diese Hemmung des Wach¬ 
zustandes, also der überwiegenden Dissimilation 
der Neurone des Grosshirns, wird dadurch 
erzielt, dass ein Teil des Zentralnervensystems, 
speziell des Grosshirns, in starke dissimila¬ 
torische Erregung versetzt und dadurch in 
den übrigen Teilen, besonders des Grosshirns, 
eine assimilatorische Erregung, d. h. der schlaf¬ 
ähnliche Zustand der Hypnose eingeleitet wird. 

Die Fruchtbarkeit der angeführten Gesichts¬ 
punkte kann natürlich nur bei einer ausge¬ 
dehnteren und mehr ins Einzelne gehenden 
Anwendung vollständig zur Geltung kommen. 


Deutsche Litteraturgeschichte 
des 19. Jahrhunderts. 

(Die Erscheinungen des Jahres 1896). 

Von Leo Berg. 

(Schluss) 

Die Litteratur über Friedrich Nietzsche 
hält mit der über Greif etwa gleichen Schritt, 
wenn .sie sie nicht noch überflügelt. Über 
Nietzsche sich zu blamieren glaubt sich heute 
schlechtweg jeder Litterat verpflichtet, der auf 
Ansehen hält. Einen Grundirrtum begeht 


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Berg, Deutsche Litteraturgeschichte des 19. Jahrhunderts. 


Maxi in seiner „Nietzsche-Kritik'*,^) die sonst 
wenigstens ein löbliches Bemühen zeigt, auf 
die Ideen des kühnsten europäischen Schrift¬ 
stellers am Ausgange des Jahrhunderts ein¬ 
zugehen. Maxi will den Systematiker Nietzsche 
retten, der wäre aber nicht zu retten, selbst 
wenn er es hättesein wollen! Nietzsche hat sich 
energisch gegen die Einsperrung von Ideen 
in Systeme gewehrt. Von Übermenschen hat 
Maxi heillose Vorstellungen, oder hat er sich 
bei dem Wort etwas gedacht: „Wurzelt der 
Jetztzustand durchaus in der Natur des Men¬ 
schen, so muss dieser Mensch selbst zu einem 
„Übermenschen" überwunden werden, in Uni- 
züchtung und Umschöpfung aus sich selbst und 
durch sich selbst?“ Auch über den Moralisten 
N. scheint M. moralischer zu denken, als jener 
verträgt. Vieles ist unklar ausgedrückt; der 
Stil ist eines Nietzschebeflissenen unwürdig, 
Worte wie „Jetztwerte“, „Heutkultur“ etc. frei¬ 
lich auch jedes andern. — Die Verwendung 
Nietzsche’scher Schlagworte ist schon ganz ge¬ 
wöhnlich geworden. „Der Übermensch in der 
Politik" ist der Titel einer Schrift von M. 
G. Conrad,"^) eine Kannegiesserei, die selbst 
für einen Reichstagsabgeordneten nicht mehr 
schicklich ist. — — 

Wenn ich zu den jüngeren Geistern komme, 
muss ich, das erfordert die Ehrfurcht, mit 
einer Monographie über den höchststehenden 
unter ihnen anfangen, nämlich den deutschen 
Kaiser. Die Schrift „Kaiser Wilhelm 11 . als 
Redner" bringt eine Sammlung seiner Reden; *) 
die einleitende Charakteristik, die ich erwartet 
habe, fehlt gänzlich. Zur Entschuldigung muss 
man bedenken, dass es nicht geraten ist, 
weder zu loben noch zu tadeln. Man muss 
nicht gleich Märtyrer werden, weil man Kri¬ 
tiker geworden ist. Und wer heute über 
Fürsten schreibt, wird auf irgend eine Weise 
immer Märtyrer. — 

Mit seinem Kritiker zufrieden sein darf 
Max Kretzer, über den Julius Erich Kloss^) 
eine tüchtige, auch gut geschriebene Arbeit 
veröffentlicht hat. Er giebt klare Ana¬ 
lysen, seine Ausführungen sind vernünftig. 
Vielleicht überschätzt er seinen Autor, aber 
die Überschätzung gereicht jedem Kritiker 

*) Maxi. Nietzsche-Kritik. Ein Beitrag zur Kul¬ 
turbeleuchtung der Gegenwart. 80. 1895. Zürich. 
Verlags-Magazin. 80 Pf. 

*) Conrad, M. G. Der Übermensch in der Po¬ 
litik. Betrachtongen über die Reichszustände am 
Ende des Jahrhunderts. 8*. (84 S.) 1895. Stuttgart. 
R. Lutz. Mk. I. 

•) Kaiser Wilhelm II. als Redner. Gesammelte 
Reden des Deutschen Kaisers 1889—1896. Leipzig. 
Aug. Dieckmann. Mk. 1.50. 

*) Julius Erich Kloss. Max Kretzer. Eine 
Studie zur neueren Litteratur. Mit einem Bilde Max 
KretzePs. Dresden, Leipzig und Wien. E. Picrson’s 
Verlag. Mk. i. 


13I 


zur Ehre, dem sie ein Anlass eingehenden 
Studiums geworden ist, ein Sporn, sich vor 
seinen Helden zu rechtfertigen; ihm wird 
auch die Überschätzung ein Kriterium. Die 
Hauptsache ist, dass er seinem Dichter in¬ 
teressante Seiten abzugewinnen weiss und 
über der Liebe seine Vernunft nicht verliert. 
— Karl Henckell fand seinen Essayisten 
in Franz Blei, der an die Spitze seiner 
Ausführungen folgenden Satz stellt: „Der 
Künstler ist ein Rationalist." Müsset, den man 
als Lyriker vielleicht Karl Henckell und als 
Kunstkenner Franz Blei an die Seite stellen 
darf, hat das Gegenteil behauptet. Das Neue 
an Henckel, „was ihm eigen“, ist das soziale 
Mitleiden, sein technisches Können ist „ge¬ 
radezu unheimlich“, in seinem Ideenkreise 
leistet er „das Menschenmögliche“, natürlich 
geht er eine neue Bahn „und lässt sie ahnen“. 
Mehr hat er freilich von sich selbst auch 
nicht behaupte.!. So wird dem Publikum seine 
Freude an den Kleinen systematisch zerstört. 
Denn nach solchen Anpreisungen geht man 
am besten über diesen kleinen Sozial-Trom¬ 
peter zur Tagesordnung über. 

Mit besonderer Vorliebe legt sich die 
zeitgenössische Kritik aufs Entdecken. Selbst 
Goethe und Byron machen Einem keinen Spass 
mehr, wenn man sie nicht vorher entdeckt hat. 
Um die Entdeckung Hauptmann’s hatten sich 
wenigstens .siebenzig Weise gestritten. Nun 
giebt es- schon Spezialisten aller Art, z. B. 
KarlSchrattcnthal, der aus Bäuerinnen Dichter 
wirbt. Er hat die Ambrosius entdeckt und die 
Katharina Koch, *) die als „Jungfer Bas“, in 
Ortenburg in Niederbaiern sich Ruhm verschafft 
hat, und viele brave Frauen noch, die, wenn 
schon zu nichts sonst gut sind, doch zweierlei 
beweisen: erstens, dass es an den Frauen 
nicht liegt, wenn sie nicht anerkannt werden, 
und zweitens, dass ein Dichter im Stande der 
Unschuld leben kann und gar nichts gelernt 
zu haben braucht. Der Bacon-Shakespeare- 
Fall in seiner Umkehrung. Entweder man 
muss ein Professor oder ein Geheimrat sein 
und als Shakespeare schon Bacon heissen, 
oder man muss völlig unschuldig sein und 
als Bauer ganz unbefleckt von aller Bildung 
sein Leben gelebt haben. Jedes der beiden 
Vorurteile ist gleich dumm, das von der Bil¬ 
dung wie das von der Naivetät. Die naivsten 
Dichter, das waren zugleich auch die gebil¬ 
detsten, das Volkslied stammt gewiss nicht 

Blei, F. Kari Henckell, ein moderner Dich¬ 
ter. 8®. 1895. Zürich. Verlagsmagazin J. Schabclitz. 
50 Pfg. 

•) Schrattcnthal, Karl. {Prof. Karl Weiss.) 
Katharina Koch, eine deutsche Naturdichterin. Dritte 
um den poet. Nachlass und „die Erinnerungen“ der 
Dichterin vermehrte Auflage. 89(2465.) 1895. Press¬ 
burg. G. Heckenast’s Nfgr. Mk. 4. • 

8* 


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132 


Berg, Deutsche Litteraturgeschichte des 19. Jahrhunderts. 


unmittelbar aus dem Volke. Das Volk dichtet 
keine Epen und wenn ein unschuldiges Schnei¬ 
der* oder Bäuerlein dichtet, naiv wird das so 
leicht nicht sein. Der Ertrag für die Samm¬ 
lung der Gedichte der K. Koch ist für ihren 
Leichenstein bestimmt; das fromme Werk ver¬ 
dient gewiss Förderung. Nur muss es nicht 
auf Kosten unseres Urteils und Geschmackes 
geschehen. Es giebt manchen Schriftsteller, 
der schlechtere Gedichte gemacht hat als diese 
Bäuerin, aber eine grosse Dichterin, für die 
sich das Volk interessieren müsste, ist sie 
deshalb nicht. Sie hat keinen Inhalt, zuweilen 
gelingt ihr eine Strophe, aber sie posiert auch 
nicht wie ihre Mitbäuerin, die grosse Am¬ 
brosius. Sie ist schlicht, fromm einfach und 
langweilig und für den Litteraturschwindel — 
wenigstens als Mensch — zu gut. Deutsche 
Bäuerinnen, die bislang niemandem etwas 
zu Leide gethan haben, sollten selbst Litte- 
raturraachern heilig sein. Es giebt ja genug 
Blaustrümpfe . . . 

Ambrosius-Skandale können das 
Ansehen der deutschen Kritik gerade auch 
nicht heben. Es hat sich schliesslich eine 
förmliche Ambrosius-Hetze herausgebildet, 
deren letzte Motive der menschliche, nur all¬ 
zumenschliche Neid und der Litteraturklatsch 
waren. Ein spasshaftes Intermezzo in dieser 
traurigen Episode bildet die sehr erbärm¬ 
liche Schrift des Schuldirektors Albr. Goerih 
über „Lyrikschwärmerei, After ly rik und Blau- 
strumpjtum^f) Ein lehrreiches Beispiel pe¬ 
dantischer, aufdringlicher, mit lauter rück¬ 
ständigen Begriffen arbeitender Schulkritik, 
das Ganze ein unglaubliches ästhetisches 
Getratsch, Wichtigthuerei mit Banalitäten. 
Was gehen denn zum Henker den Kritiker 
die Familienverhältnisse der Dichterin an?! 
Haben ihn die Eltern, hat ihn der Gatte zum 
Verteidiger bestellt? Gewiss darf man keinem 
Weibe die Ehemisfere glauben, solange man 
nicht auch den andern Teil gehört hat; ge¬ 
wiss macht sich heute kindische Übertreibung 
lästig; und wohin sollen wir noch kommen, 
wenn einst jede Viehmagd als Anklägerin 
des Mannes auftreten darf, weil er ihren An¬ 
spruch auf „höhere Bildung" nicht befriedigt 
habe. Nur dürfte der Fall Ambrosius nicht 
ganz zutreflfen., so komisch er auch seiner¬ 
seits ist. In vielen Punkten hat Goerth recht, 
der Unfug, der mit der Ambrosius getrieben 
wurde, verdiente eine Zurückweisung. Jeden¬ 
falls ein trauriges Zeichen für das deutsche 
Publikum, wenn es sich immer nur dann um 


M Goerth, Albr. Lyrik • Schwärmerei, After- 
IjTik und Blausu-umpftum. Kritiken und Studien zu 
einer Geschichte der Dichtkunst. I. Johanna Am¬ 
brosius. 8«. 198 s.) 1896. Wiesbaden. Lützenkirchen. 
Mk. 1.20. 


Litteratur kümmert, wenn sie ihm so unver¬ 
schämt und mit so ganz unlitterarischer Be¬ 
gründung aufgedrängt wird. — Die litterarisch- 
ästhetischen Urteile und Anschauungen spotten 
selbst des Zopfes. Was soll man zu einem 
Manne sagen, der Prinzipien vertritt, wie: 
der Dilettantismus muss heraus aus der Lit¬ 
teratur, es sei denn, er stamme von einem 
Dichter; wenn jemand sich durch ein einziges 
Werk als Dichter erwiesen hat, so hat er 
das Recht auf Dilettantismus und kann Dutzende 
von Bänden und Dilettantereien nachfolgen 
lassen. Die Grenze von Kunst und Dilettan¬ 
tismus kennt Goerth ganz genau. Einige Ge¬ 
dichte lässt er übrigens von der Ambrosius 
selbst gelten, womit also für ihn die Sache 
in schönster Ordnung ist. Er giebt ihr aus¬ 
drücklich (S. 79) „das sittliche Recht, ihre Ge¬ 
dichte durch den Druck zu veröffentlichen“. 
Wer Sinn hat für den Humor derPedanterei, 
lese die Schrift ja. Herr Goerth stellt sich 
als sein Publikum, scheint es, lauter kleine 
Mädchen vor, denn zu jedem irgendwie un¬ 
gewöhnlichen Ausdrucke giebt er fein säuber¬ 
lich eine Anmerkung mit der nötigen Auf¬ 
klärung oder mit der Hinweisung auf seine 
früheren Schriften, deren Studium er nicht 
eindringlich genug empfehlen kann; er braucht 
nie eine männliche Standesbezeichnung, ohne 
in Klammern die Femininform beizuzusetzen: 
Künstler (Künstlerin). Er ist ein strenger 
Kritiker, der nicht auf die Kunst allein, son¬ 
dern ebenso streng auch auf die Sittlichkeit 
achtet. Die Dichterin solle sich tapfer zeigen 
und uns nicht durch die Schilderung ihrer 
Schwäche ermüden. „Wir wissen ja gar nicht, 
ob sie das nicht selbst verschuldet hat!“ Den 
besonderen Anlass zu dieser Studie, oder um 
mit seinen Worten zu reden, „das sittliche 
Recht, sie durch den Druck zu veröffent¬ 
lichen", findet der Verfasser darin, dass er 
„als angehender Jüngling“ (na, hoffentlich 
ging er auch an!) drei Jahre lang das Leben 
der Bauern „nach allen Seiten hin genau 
kennen" gelernt hat. „Darum ist mir auch das 
Studium der echten Volkslieder so leicht ge¬ 
worden (siehe mein „Studium der Lyrik", 
I. Abt.). Man kann die Pedanterei nicht gründ¬ 
licher betreiben, die nicht einmal die Pedan¬ 
terei des Gelehrten ist, sondern einer Ohn¬ 
macht, welche an Grössenwahnsinn grenzt. 
Man weiss aber nie, wo sie aufliört und wo 
persönliche Motive anfangen, ob der Verfasser 
ein Komiker oder ein Intrigant ist. — Der 
Klatsch wurde nachher noch in den Zeitungen 
fortgesetzt. Aber die Sache ist im Allgemeinen 
nicht wichtig genug und braucht auf ihre De¬ 
tails hin nicht erst untersucht zu werden. 
Mit Ruhm bedeckt hat sich dabei keiner von 
den Beteiligten. Die Lustspieldichter und Sa- 


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Hamann, Die Zoologie im Jahre 1896. 


133 


tiriker kommen hoffentlich noch einmal auf 
diese liebliche Episode zurück, wenn sie sich 
des unerschöpflichen Stoffes erinnern, welchen 
ihnen Kunstkritik und Litteraturmacherei am 
Ausgange unseres Jahrhunderts geliefert haben. 

Die ernsthafteren Essayisten und Kritiker 
retten auch bei uns jetzt wie in Frankreich 
das Wertvollere ihrer Arbeiten in Büchern. 
Und darin haben sie recht, denn bei der 
Massenhaftigkeit und Kurzlebigkeit moderner 
Zeitschriften würden die wertvollsten Beiträge 
zur Geistesgeschichte leicht gänzlich unter¬ 
gehen. Der litterarische Essay hat in dej* 
letzten Zeit bei uns eine grosse Ausbildung 
erlangt. 

Sein eigenes Werk „Zwischen zwei Jahr¬ 
hunderten" ‘) kann der Verfasser hier nur nen¬ 
nen unter Hervorhebung der ftlr sein Thema 
wichtigen Aufsätze. Das Buch enthält Essays 
über Hebbel, Heine, Ibsen, Tolstoi, Charak¬ 
teristiken von Friedrich Nietzsche, Graf Schack, 
Hans Hoffmann, Knut Hamsun, Prinz Schön- 
aich-Carolath, Sudermann, Maria Janitschek 
und Alberta von Puttkamer. 

Otto Emst, der Sturmvogel von Ham¬ 
burg, hat in seiner Sammlung „Buch der 
Hoffnung" *) Essays über Hebbel, Keller, An¬ 
zengruber veröffentlicht, die, wie das meiste 
dieses Schriftstellers, durch die Ehrlichkeit 
seiner Begeisterung Erfreuen. Man findet 
manche hübsche Bemerkung, aber die Weit¬ 
schweifigkeit seiner Analysen ermüdet. Otto 
Ernst liebt die grossen Worte, die aber nur 
zu oft — das ist die Eigentümlichkeit grosser 
Worte — gerade an der Sache vorbeischallen. 
Durch das Breittreten von Selbstverständlich¬ 
keiten schokiert er den besseren Teil seiner 
Leser. Freilich weiss ich nicht, an welchen 
Kreis er sich eigentlich wendet. Die blödesten 
Äusserungen des Publikums oder der Kritik 
zieht er in seine Polemik hinein und wider¬ 
legt sie mit breiter Selbstgefälligkeit. Ich 
hätte ihn für stolzer gehalten. Die Katz¬ 
balgereien mit Karl Busse sind beider un¬ 
würdig. Sie verraten nur persönlichen In¬ 
grimm und sind weder geistreich noch edel, 
sondern nur geschmacklos. Kritisch der wert- 
vollsteAufsatz ist der Ober Anzengruber, welcher 
gut charakterisiert wird. Im Allgemeinen aber 
zeigt man sich Hebbels und Kellers unwert, 
wenn man über ihnen nicht den letzten Zei- 


*) Berg, Leo. Zwischen zwei Jahrhunderten. 
Ges. Essays. Frankfurt a. M. Litterarische Anstalt. 
(Rotten & Loening). Preis geh. Mk. 9. 

Ernst, Otto. Buch der Hoffnung. Neue Folge 
der gesammelten Essays aus Litteratur, Pädagogik 
und öffentlichem Leben. In 2 Bänden. i.Band; Lit¬ 
teratur, 8“ (XII u. 296 S.) 1896. Hamburg. Conrad 
Kloss, Mk. 3. 


tungsklatsch vergessen kann. Einiges ist mir 
unverständlich geblieben, z. B. inwiefern Otto 
Emst zu Kellers Erben gehört (S. 235) und 
berechnen muss, wie viel er uns „in lyrischer 
Münze hinterlassen hat“, Giebt es denn bei 
uns schon ein lyrisches Erbrecht und kritische 
Erbschaftsgerichte? 

Unter dem Namen „Litteratur und Theater" 
hat Maximilian Harden *) eine Reihe von 
Aufsätzen gesammelt, die naturgemäss, zumal 
sie meist eine rein äussere, sogenannte aktuelle 
Veranlassung hatten, sehr verschiedenartig 
an Wert sind. Gut geschrieben sind sie alle, 
und die meisten heute noch so frisch und 
anregend wie am ersten Tage, Die geistreich¬ 
sten sind der über Maupassants „Musotte“, 
eine feine litterarhistorische Studie, und der 
über Ibsens „Hedda Gabler“, der an glän¬ 
zender Ausführung und kritischem Verständ¬ 
nis weit über einem andern Essay steht: 
„Ibsens Beichte“, der vielbewunderten Kritik 
des Baumeisters Solness. Vieles, das als Zei¬ 
tungsartikel gut genug war, durfte in diese 
Sammlung nicht aufgenommen werden, weder 
der inhaltsleere Aufsatz über Gottfried Keller, 
noch die nichtssagenden Ober die Russen. 
Hier zeigt sich Harden von der unangeneh¬ 
men Seite des modernen Journalisten in sei¬ 
ner Kunst, sich mit Hülfe einer viel bewan¬ 
derten und gut ausgeklügelten Phraseologie über 
kritische Abgründe schnell hinwegzuschwingen. 
Durch diese Täusche-Kunst hat er sich aus 
Bewunderern Misstrauische gemacht. In der 
Hauptsache aber zeichnet er sich als Kritiker 
dadurch aus, dass er Bescheid weiss, wo 
geistig „etwas los ist'', und vor allem, dass 
etwas los ist. Das giebt ihm die Beweglich¬ 
keit und die Aktualität des Geistes, — 

Ein Meer von Litteratur ergiesst sich über 
den harmlosen Leser, und über das Meer ein 
zweites Meer von Kritik und Philologie, Und 
wenn unter hundert Wellen auch nur eine 
ein grünes Blättchen mit sich führt, und wenn 
unter hundert Büchern auch nur eines ist, 
in dem man einen fruchtbaren und anregen¬ 
den Gedanken findet — „Glückes genug!“ 


Die Zoologie im Jahre 1896. 

Von Professor Dr. Otto Hamakk. 

Alljährlich erscheinen tausende von Ab¬ 
handlungen und Büchern, die sich nur mit der 
Tierwelt beschäftigen. Die Verfasser dieser 
vielen Veröffentlichungen sind sämtlich der 
Meinung, dass sie wenigstens ein Scherflein 

‘) Berlin. Verlag von Freund & Jeckel (Cafl 
Freund). 


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134 


Hamann, Dig Zoologie im Jahre 1896. 


zum Fortschritt der Zoologie beigetragen 
haben. In den grossen von der Zoologischen 
Station in Neapel herausgegebenen und jenen 
im Archiv lür Naturgeschichte veröffentlichten 
Jahresberichten findet man die Titel und meist 
auch den Inhalt aller Arbeiten kurz ange¬ 
geben. Für uns wird es sich nicht darum 
handeln, irgendwelche Vollständigkeit anzu¬ 
streben; wir wollen vielmehr uns einen Ein¬ 
blick in das Arbeitsgebiet der Zoologie ver¬ 
schaffen und Zusehen, ob in dem letzten Jahre 
für weitere Kreise bemerkbare Fortschritte zu ! 
verzeichnen sind, lassen aber die Unzahl 
kleiner Bausteine, die derForscherfleiss zusam¬ 
mengebracht hat, bei Seite. 

Man arbeitet in der modernen Zoologie in ver¬ 
schiedenen Richtungen. Ein Teil der Forscher 
bearbeitet die und Biohgie{Lehens- 

verhältnisse), ein anderer die Entwickelung, Ana¬ 
tomie und Histologie (Gewebelehre) der Tiere. 
Eine grosse Anzahl von Abhandlungen behan¬ 
delt allgemeine Fragen, wie Herkunjt und 
Abstammung der Tiere; hierher gehören die 
Werke über den Darwinismus. In der neuesten 
Zeit ist zu diesen Richtungen noch die entivickel- 
ungsmechanische hinzugekommen, der sich eine 
Anzahl junger Forscher gewidmet haben, 
teils Anatomen, teils Zoologen. 

Wenn wir uns den allgemeinen Werken 
zuwenden, die uns die Kenntnis einzelner 
grösseren Tiergruppen in zusammenhängen¬ 
der Darstellung vermitteln, so ist zunächst das 
unter der Bezeichnung „Bronns Klassen des 
Tierreichs“ jedem Zoologen und Naturforscher 
bekannte Werk hervorzuheben. 

Durch dieses grosse Sammelwerk: Bronns 
Klassen und Ordnungen des Tierreichs in 
Wort und Bild, von dem auch im vergange¬ 
nen Jahre Lieferungen erschienen sind, ist 
es leicht gemacht, sich über die Fortschritte 
im Gesamtgebiete der Zoologie zu orientieren. 
Die einzelnen Typen sind bewährten Forschern 
übertragen worden, die ein bis in die neueste 
Zeit reichendes Bild unserer Kenntnisse der 
betreffenden Tiergruppe zu geben bestrebt 
sind. Ich möchte besonders hinweisen auf die 
Bearbeitung Atx Stachelhäuter von Prof. Lud¬ 
wig in Bonn, die bis zur Darstellung der 
Seeigel gediehen ist. Die Würmer bearbeitet 
Prof. M. Braun in Königsberg i. Pr.; die 
Beschreibung ist in diesem Jahre bei den 
Bandwürmern angelangt, deren Bau ebenso 
ausführlich wie ihre Systematik geschildert 
werden. Vorzügliche Abbildungen begleiten 
den Text beider Abteilungen. Ein anderer 
Band wird von Simroth bearbeitet: Die 
Mollusken. Die übrigen Bände über die Säuge¬ 
tiere, Vögel und andere Gruppen schreiten 
leider sehr langsam vorwärts und sind im 


Jahre 1896 nur einzelne Lieferungen er¬ 
schienen. ‘) 

Ein Werk, das die Tierwelt Ost-Afrikas 
schildert, wird von Prof. Möbius, dem Di¬ 
rektor der zoologischen Sammlungen des Mu¬ 
seums für Naturkunde herausgegeben, unter 
dem Titel: Die Tierwelt Ost-Afrikas und der 
Nachbargebiete.*} Die Säugetiere, Vögel, 
Schnecken und Würmer sind bereits erschie¬ 
nen. Zum grossen Teil sind die Tiere durch 
Emin Pascha und Stuhlmann gesammelt 
worden. Der jüngst erschienene Band sei 
ausführlicher besprochen : Die Kriechtiere, von 
GustaV Tornier beschrieben. Am stärksten 
sind die Eidechsen mit 68 Arten vertreten, 
die Schlangen mit 55 und die Amphibien mit 
33, während nur eine Krokodilart und 6 
Schildkröten aufgezählt werden. Diese syste¬ 
matische Arbeit hat eine besondere Bedeut¬ 
ung durch den V^ersuch des Verfassers eine 
Theorie der Farbkleid-Entwickelungen bei 
den Amphibien zu geben. Das Pigment ent¬ 
steht nach Tornier im Körperepithel.*) Die 
Hautfarben können durch den direkt wirken¬ 
den Einfluss äusserer Ursachen hervorgerufen 
werden, so durch Wärme, Licht oder Druck. 
Ein besonderer Abschnitt handelt über die 
Stammesgeschichte der Farbkleider und Tor- 
nicr meint, dass das Farbkleid der Urwirbel- 
tiere schwarz gewesen sei, weil alle Hautfar¬ 
ben aus Schwarz ihren Ursprung nehmen, so 
sind beispielsweise Froschlarven in der Jugend 
schwarz, später heller gefärbt. Auf die An¬ 
schauungen des Verfassers näher einzu¬ 
gehen ist hier nicht der Platz.*) 

Besonders sei der Vermehrung unserer 
Kenntnis der Fauna der Molukken und Bor¬ 
neos durch Kükenthal gedacht, der in sei¬ 
ner Reisebeschreibung*) biologische Beobacht¬ 
ungen neben systematischen niedergelegt hat. 
Seine Ausführungen Ober die fliegenden Fische 
nehmen eine vermittelnde Stellung ein, nähern 
sich aber doch mehr denen von Möbius 
und Ahlborn, von denen der letztere mathe¬ 
matisch nachgewiesen hat, dass die sogen, 
fliegenden Fische sich vermöge ihres musku¬ 
lösen Schwanzes aus dem Wasser hervor¬ 
schnellen und ihre langen flügelähnlichen 
Brustflossen als Fallschirme bei dem Segel¬ 
flug gebrauchen, keinesfalls aber Flatterbe- 

*) Das Werk giebt der Wintcr’sche Verlag in 
Leipzig in einzeln käuflichen Lieferungen heraus. 

Verlag von Dietrich Reimer (Vohsen) in Berdin. 

'’} Oberste Zclllage. 

Die Kriechtiere Deutsch-Ost-Afrikas, Beiträge 
zur Systematik und Descedenzlehre. Mit 5 Tafeln. 
Berlin, Reimer. 

Ergebnisse einer zoologischen Forschungsreise 
in den Molukken und in Borneo, im Aufträge der 
Scnckenbergischen naturforschenden Gesellschaft 
auf Kosten der Rüppelstiftung ausgeführt. Frank¬ 
furt a. M. 


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Hamann, Die Zoologie im Jahre 1896. 


135 


wegungen mit ihnen machen können. Küken¬ 
thal glaubt, dass die Fische auch aktiv ihre 
Brustflossen beim Dahingleiten über das Was¬ 
ser bewegen können, indem sie dadurch die 
Flugrichtung ändern. Interessant ist die Schil¬ 
derung der Littoralfauna (Küstenfauna) Ter- 
nates, die sich aus einem Korallenriff, aus 
Sand, Hornkorallen und Schwämmen zusam¬ 
mensetzt. Die Korallen, meist weiche For¬ 
men, von denen 40 Arten neu sind, schildert 
uns der Verfasser mit ihren Bewohnern — 
besonders hervorzuheben sind die auf Stachel¬ 
häutern schmarotzenden Schnecken — sehr an¬ 
schaulich. Die Ausbeute an Schwämmen, Kreb¬ 
sen, Würmern u. s. w. war ausserordentlich 
gross. Ganz besonders hebt er den Reich¬ 
tum an Fischen, gewiss gegen 850 Arten, 
hervor. Auf die Ansichten Kükenthal’s über 
die Herkunft der jetzigen- Faunen, über die 
Verbreitung der Tiere im malayischen Archipel, 
über die Färbung der tropischen Tierwelt sei 
hingewiesen. 

Unter dem Titel: Die deutschen Meere und 
ihre Bewohner hat William Marshall ein 
populär geschriebenes Werk herausgegeben, 
das vornehmlich eine Schilderung der Tier¬ 
welt gibt, ohne aber Schleiden’s Meer 
auch nur annähernd zu erreichen. Immerhin 
gibt das Buch einen guten Überblick über 
die Faunen unserer Meere. 

Von grösserem Werte und auf eigenen lang¬ 
jährigen Beobachtungen beruhend ist das Werk 
von Aug. v. Mojsisovics, Das Tierleben 
der österr. -Ungar. Tiefebenen. (Wien, Höl- 
der). Das Werk bietet für den Zoologen, 
Geographen, den Naturfreund überhaupt eine 
Fülle von Material. Wir lernen die Donau- 
Tiefebenen und das podolische Plateau mit 
seinem Tierleben kennen; gleichmässig gibt 
der Verfasser eine Darstellung des Klimas 
und der Vegetation, des Lebens der Tier¬ 
welt mit ihren Wanderungen u. s. w. Die 
Schilderungen über die Säugetiere des Tief¬ 
landes bieten eine Menge neuer Beobacht¬ 
ungen. Von gleichem Reize sind die Ein¬ 
zeldarstellungen der Tiere, die durch treffliche 
Abbildungen illustriert werden. Dies Werk 
ist ein Muster unserer faunistischen Littera- 
tur und bei aller Wissenschaftlichkeit allge¬ 
meinverständlich geschrieben. 

Unter den Werken, die die Kenntnis über 
die Säugetiere erweitern, ist Eduard Hahn’s 
Buch: Die Haustiere und ihre Beziehungen 
zur Wirtschaft des Menschen, hervorzuheben. 
Es ist vor allem das Problem, wann und w'ie 
hat der Mensch die ursprünglich wilden Tiere 
gezähmt? Als Haustier bezeichnet Hahn alle 
Tiere, die der Mensch in seine Pflege über¬ 
nommen hat. Er versucht auf Grund lang¬ 
jähriger Untersuchungen die Verbreitung der 


Haustiere durch alle Zeiten und durch alle 
Räume unserer Erde aufzuklären. Eins der 
Hauptresultate Hahn’s ist die durch eine ge¬ 
waltige Litteraturkenntnis gestützte Theorie, 
dass es nicht etwa der Gedanke der wirt¬ 
schaftlichen Benutzung gewesen ist, der einst¬ 
mals die Menschen zur Haustierzucht brachte; 
er trat vielmehr erst später hinzu. Denn 
sonst wäre es garnicht zu verstehen, warum 
man nicht mehr und ganz andere Tiere ge¬ 
zähmt habe. Die wirtschaftlichen Beding¬ 
ungen, unter denen der Mensch seine Haus¬ 
tiere erwarb, waren durchaus anders, als es 
jetzt angenommen wird. Die Haustiere von 
wirtschaftlichem Wert haben diesen Wert erst 
in der Gefangenschaft erworben. Das gilt 
sogar von der Klugheit, Jagdgewandheit 
z. B. beim Hunde, auch die wirtschaftlich wich¬ 
tigen Produkte, wie Milch, Eier, Wolle u. s. w. 
sind Neuerungen, Diese Ansichten sind nur 
in ihrem Werte zu beurteilen, wenn man 
zugleich die Theorie Hahn’s über die Ent¬ 
stehung der Viehwirtschaft und des Acker¬ 
baues berücksichtigt. Die Bodenbearbeitung, 
die man als Ackerbau zusammenfasste, zer¬ 
legt er in eine Anzahl von Stufen. Als die 
älteste Bodenbearbeitung sieht Hahn die von 
ihm als Hackbau bezeichnete Form an. Er 
unterscheidet sich von unserem Ackerbau da¬ 
durch, dass er die Haustiere noch nicht zur 
Bestellung benutzte; die Hauptnahrung war 
Hirse. Die ältesten Vorfahren unserer Kul¬ 
tur verehrten eine grosse Göttin der Frucht¬ 
barkeit, die mit dem Monde identifiziert wurde 
und deren heiliges Tier das Rind war. All¬ 
mählich gewöhnten sich beide, Rind und Mensch, 
aneinander. Milch brachte man erst der Göt¬ 
tin dar, später gewöhnte sich der Mensch 
selbst ah den Genuss der Milch. Bevor der 
eigentliche Ackerbau entstand, wurde der 
Wagen erfunden und das Rind als Zugtier 
verwendet. Damit bekämpft Hahn die ge¬ 
wöhnliche Ansicht, nach der der Mensch erst 
Jäger gewesen sei und durch Zähmung des 
Rindes zum Hirten geworden sei. Auch hält 
er es für unmöglich, dass der Hirte zum 
Ackerbauer wurde. Ob Hahn’s Ansicht, dass 
die Gründe, die zur Zähmung der Haus¬ 
tiere führten, nicht wirtschaftlicher Natur ge¬ 
wesen seien, sondern dass religiöser Zwang 
mitgewirkt habe, je durchdringen wird, scheint 
mir fraglich. — Von grossem Wert sind seine 
Angaben Über die einzelnen Haustiere und 
deren Ursprung. Der älteste Genosse des 
Menschen ist der Hund, das erste wirtschaft¬ 
liche Haustier der östlichen Halbkugel das 
Rind; dann folgen Ziege und Schaf. Als 
Transporttiere folgen Esel, Kamel und Pferd 
aufeinander. Alle diese Tiere, denen sich 
das Schwein anschloss, das nur seines Flei- 


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Hamann, Die Zoologie im Jahre 1896. 


136 


sches wegen gezüchtet wird, haben sich in 
einem Gebiet zusammengefunden. Dieses 
Gebiet war das Ursprungsland unserer ganzen 
Kultur; Hahn nimmt hypothetisch Mesopo¬ 
tamien als das Land an, wo Rind, Ziege, 
Schaf, Esel und Schwein gezähmt wurden. 
Besprochen werden 36 Haustiere, einschliess¬ 
lich der Vögel, Fische, des Seidenschmetter¬ 
lings und der Biene. Auf den an Gedanken 
und Thatsachen reichen Inhalt dieses Werkes 
sei mit diesen wenigen Zeilen verwiesen. 

Einen erfreulichen Aufschwung hat in den 
beiden letzten Jahren die Erforschung der 
Höhlen und ihrer Tiertvelt genommen. In 
Paris gibt Märtel eine neue Zeitschrift unter 
dem Titel „Spelunca“ heraus; in Triest be¬ 
fasst sich mit der Untersuchung der vielen 
hunderte von Höhlen Istriens der Club „Tou- 
risti Triestini“, der seine Beobachtungen eben¬ 
falls in einer eigenen Zeitschrift „II Tourista“ 
niederlegt. Wird in beiden Fällen der Be¬ 
such zunächst als ein Sport betrieben, so ist 
unsere Kenntnis von der Höhlentierwelt 
durch das eifrige Sammeln dieser Höhlenfor¬ 
scher beträchtlich vermehrt worden. 

Der systematischen Litteratur kann das 
Werk: Europäische Höhlenfauna, eine Dar¬ 
stellung der in den Höhlen Europas leben¬ 
den Tierwelt mit besonderer Berücksichtigung 
der Höhlen Krains von Otto Hamann zu¬ 
gezählt werden. Enthält esi auch Untersuch¬ 
ungen über die Sinnesorgane der blinden 
Höhlentiere, so ist doch der grösste Teil den 
Diagnosen gewidmet. 150 Abbildungen illu¬ 
strieren das Werk. 

In Amerika ist jüngst ein neues Höhlen- 
Wirbeltier aus der Klasse der Amphibien be¬ 
kannt geworden. Bisher kannte man nur 
den Olm, Proteus anguineus, aus den Höhlen 
Krains, einen blinden farblosen Molch. L. 
Steineger beschreibt diesen neuen Höhlen¬ 
molch aus den unterirdischen Wässern in 
Texas unter dem Namen 'lyphlomolge Rath- 
buni. Das Tier hat verkümmerte Augen und 
zeichnet sich durch aussergewöhnliche lange 
schlanke Beine aus, die nicht mehr zur Fort¬ 
bewegung dienen sollen, sondern nur als 
Tastorgane funktionieren dürften. Diese neue 
Art beisitzt wie der Olm zeitlebens äussere 
Kiemenbtischel neben seinen Lungen und wird 
zur Klasse der Perennibranchiaten gestellt. 

Unter den systematischen Werken Ober 
Schmetterlinge nimmt das R ot h Schild sch e 
A Revision of the Fapilios of the Eastcrn 
Hemisphere, excl. of Afrika^) einen hohen 
Wert ein. Auf Grund hauptsächlich der eige¬ 
nen grossartigen Sammlungen des Verfassers ist 
dieses Werk entstanden, das die Synonymie und 


*) Novit Zool. Tring, V. 2. 


Bibliographie genau wiedergiebt- Auf das Hand¬ 
buch der palaearktischen Grosschmetterlinge 
von M. Standfuss, dessen 2. Aufl. er¬ 
schienen ist, sei besonders hingewiesen, das 
neben dem systematischen Teile wertvolle 
Anleitungen zum Sammeln der Tiere zu 
ihrer Aufzucht und Bastardierung enthält. 
Auf 8 prächtigen Tafeln aus dem Atelier von 
Werner & Winter werden Varietäten u. a. 
wiedergegeben. 

Für die Sammler der Hymenopteren sei 
erwähnt, dass von dem grossen Katalog die¬ 
ser Tiergruppe von Dalla Torre der zehnte 
Band ausgegeben worden ist, dem als Schluss¬ 
band Band 8 folgen wird. Von Frieses 
Bienen Europas ist der zweite Teil, der die 
solitären Apiden behandelt, erschienen‘). 
Auch dieser Teil ist in derselben vorzüglichen 
Weise wie der erste gelungen. 

Wenden wir uns jetzt zu den mehr den 
Ban der Tiere berücksichtigenden Werken. 

Unter den niedersten Lebewesen nehmen 
die Diatomeen ein besonderes Interesse in 
Anspruch durch die zierliche Struktur ihres 
Kieselpanzcrs, die sie bekanntlich als Test¬ 
objekte für mikroskopische Objektive beson- 
gers geeignet macht. Eine Monographie mit 
10 Tafeln von Lauterborn beschäftigt sich 
mit dem Bau, Kernteilung und der Bewegung 
dieser merkwürdigen Urtiere, die zu den ge¬ 
wöhnlichsten Vorkommnissen in Sümpfen, 
Teichen, in den Flüssen u. s. w. rechnen. 
Wir lernen den Bau der Diatomeenzelle mit 
ihren Einschlüssen als Kern, Centrosom, Chro¬ 
matophoren u. s. w. kennen und sehen, dass 
die Teilung der Zellen in vielen Punkten 
sich abweichend von dem gewöhnlichen Kern¬ 
teilungsschema verhält. Die Art der Ortsbe¬ 
wegung der Diatomeen, die noch immer 
dunkel fst, wird auch durch Lauterborn nicht 
aufgeklärt und scheint die Ansicht Müller’s, 
der die Ortsbewegung durch Plasmaströme 
vor sich gehen lässt, die auf der Oberfläche 
der Schalen ftiessen, besser begründet. 

Eine grosse Bereicherung hat unsere 
Kenntnis einer parasitären Tiergruppe erfah¬ 
ren, die trotz der Kleinheit ihrer Vertreter 
den Tod der von ihr Befallenen hervorrufen 
kann. Das sind die Myxosporidien, die durch 
Thelohan*) in ihrem Formenreichtum be¬ 
kannt geworden sind. Es handelt sich um 
mikroskopisch kleine Tierformen, die in der 
Haut, den Eingeweiden, im Gehirn und in den 
Muskeln der Fische oder Krebse auftreten 
können. Das Sterben der Fische in manchen 
Flüssen, ja auch die Krebspest, der in ein¬ 
zelnen Stromgebieten diese Tiere zum Opfey 


*) Berlin, Fricdländer. 

*) Bull. Soc. France Belg., T. 26. 


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Hamann, Die Zoologie im Jahre 1896. 


137 


gefallen sind, wird auf diese Myxosporidien 
zurOckgefÜhrt. Vortreffliche Abbildungen ein* 
zelner von diesen Tieren befallener Fische, 
deren Haut äusserlich mit grossen Geschwü¬ 
ren bedeckt sein kann, oder deren innere 
Organe von ihnen zersetzt werden, erläutern 
die in jeder Hinsicht bedeutungsvolle Arbeit. 

Noch immer bietet die Entwicklungsge¬ 
schichte, überhaupt die Lebensgeschichte des 
Aales viele Rätsel, sodass jeder Beitrag zu 
ihrer Aufhellung willkommen ist. 

Die Fortpflanzung des Aales findet im 
Meere statt. Im Frühjahr beginnen die Weib¬ 
chen, denn nur solche bevölkern unsere 
Flüsse, in das Meer zurück zu wandern, um 
hier mit den Männchen zusammenzutreffen. 
Sie laichen im Meer, vermutlich tief im 
Schlamm eingegraben, und zwar nicht, wie 
man glaubt, in der Nähe der Ufer, sondern 
in beträchtl^hen Tiefen des Meeres; da man 
sie beim Tretschen ebensowenig wie die Jungen 
bisher erwischt hat, so werden sie wohl 
metertief im Schlamm die Eier abgesetzt 
haben. Die aus den Eiern geschlüpften jungen 
Tiere wandern im Sommer in die Ströme 
und Flüsse hinauf. — Nach einer interessan¬ 
ten Notiz von dem Arzt Dr. Lorenz in 
Chur^) soll der Aal auch im Caumasee sich 
fortpflanzen. Vor 8 Jahren besetzte man die¬ 
sen See zum letzten Male mit Aalbrut, sodass 
die jetzt in ihm vorhandenen Aale ein solches 
Alter haben müssen. Es wurden aber junge 
47 cm lange Tiere, von denen eins gar ein 
Männchen war, gefunden, sodass Lorenz glaubt, 
dass unzweifelhaft eine Fortpflanzung der 
Aale im süssen Wasser stattgefunden haben 
muss. Bestätigt sich diese Entdeckung, so 
ständen wir vor einer merkwürdigen That- 
sache, der Abänderung des Wanderungsin¬ 
stinktes einer Tierart. 

Die Frage, ob Fische hören können hat 
A. Kreidl®) verneint. Fische sollen weder 
die in der Luft, noch die im Wasser erzeug¬ 
ten Töne bewusst empfinden können. Sie 
sind nur im Stande, durch Schallwellen er¬ 
zeugte Sinneseindrücke zu empfangen. Als 
Apperceptionsorgan dient nicht das sogenannte 
„innere Ohr“, das vielmehr mit dem Gleich¬ 
gewichtssinn in Beziehung steht, sondern die 
Haut. 

Eine sehr interessante Abhandlung ver¬ 
danken wir Max Baer über die Kenntnis 
der Anatomie und Physiologie der Atmungs¬ 
werkzeuge bei den Vögeln^). 

Es setzt sich der Respirationsapparat der 

') Jahresbericht der naturforschenden Gesell¬ 
schaft Graubündens, Bd. 39. 

*) Pflügers Archiv für Physiologe Bd. 61, 

•) Zeitschrift für Wissenschaft!. Zoologie. Bd. 61. 
Leipzig, Engelmann. 


Vögel aus den eigentlichen Lungen und den 
Lufthöhlen zusammen, die in alle Körperteile, 
selbst zwischen die Muskeln und in die 
Knochenhöhlen eindringen. Die Lungen die¬ 
nen ausschliesslich dem Gaswechsel zwischen 
Blut und Luft und sind mit einem grossen 
Reichtum von feinsten Blut-Kapillargefässen 
ausgestattet, wie ihn kein Säugetier ähnlich 
zeigt. So erklärt sich die energische Atem- 
thätigkeit und im Zusammenhang damit ihre 
hohe Körpertemperatur. Die Luftsäcke, die in 
offener Verbindung mit den Lungen bleiben, 
besitzen keine Blutgefässe, und dienen als 
Organe für den Luftwechsel. Baer ist es 
nun geglückt nachzuweisen, dass die Vögel 
ausser dem zum Vorwärtskommen dienenden 
Bewegungen nicht wie die anderen Tiere 
noch Atembewegungen auszuftihren brauchen; 
dies geschieht automatisch, indem die unter¬ 
halb der Flügel gelegenen Luftsäcke durch 
die Flügelschläge abwechselnd erweitert und 
zusammengepresst werden, sodass thatsäch- 
lich von ihnen die Ein- und Ausatmung aus¬ 
geht. Jetzt erst wird es uns erklärlich, wie 
es möglich ist, dass die Vögel in Höhen von 
mehreren tausend Metern, ohne dass sie Be¬ 
schwerden durch die dünne Luft zeigen, 
mit schnellem Fluge sich stundenlang fortbe¬ 
wegen können. Das in wenig dichten sauer¬ 
stoffarmen Luftregionen ausserordentlich ge¬ 
steigerte Sauerstoffbedürfnis wird in der Weise 
befriedigt, dass durch den Flügelschlag auto¬ 
matisch beständig grosse Mengen Luft an 
den Blutgefässen der Lungen vorbeigejagt 
werden, sodass die vom Blute ausgeschiedene 
Kohlensäure unverzüglich aus ihnen hinaus¬ 
gefegt wird, während das Blut gleichzeitig 
Sauerstoff aus der rasch vorbeipassierenden 
Luft aufnehmen kann. Die Vögel sind durch 
diese automatische Atmung beim Fliegen nicht 
dem Ermüden ausgesetzt, wie wir es sind, 
wenn wir uns in schneller Gangart befinden. 

Als Anhang seien die Resultate NageTs 
erwähnt, über die er in seiner Schrift: Der 
Lichtsinn augenloser Tiere^), berichtet. Unter 
Lichtsinn versteht Nagel die Fähigkeit eines 
J^ieres auf Lichtreize zu reagieren. Hierzu 
bedarf es keiner Augen, sondern nur Nerven, 
die durch Licht erregt werden können. 
Manche Tiere sind „schattenempfindlich", an¬ 
dere „lichtempfindlich“; die ersteren reagieren 
mehr auf plötzliche Verdunkelung, als auf 
Helligkeit. Als Organe des Lichtsinnes sieht 
Nagel Nervenzellen an, die beispielsweise in 
der Haut der Schnecken, Würmer, Amphio- 
xus u. a. Vorkommen. Diesen mit Nerven 
zusammenhängenden Zellen fehlt Pigment. 
Von schattenempfindlichen Tieren experimdn- 


‘) Jena, 1896. 


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Hamann, Die Zoologie im Jahre 1896. 


138 


tierte Nagel mit Unio, der Uwlermuschel und 
Ostrea (Auster). Einzelne Muscheln fand er 
licht- und schattenempfindlich; die Weinberg¬ 
schnecke reagierte auf Licht auch dann noch, 
als ihr die Fühler abgeschnitten waren, so- 
dass der Schluss gerechtfertigt ist, dass die 
Empfindung des Lichtes von den Augen un¬ 
abhängig in der Haut sitzt. 

Die Erforschung der Struklur der leben¬ 
den Substanz, des Protoplasmas, wie es in 
den Zellen des tierischen Körpers uns ent¬ 
gegentritt, ist für eine grosse Anzahl von 
Forschern ein Hauptarbeitsgebiet geworden. 
Durch eine ganz genaue Kenntnis der Struk¬ 
tur mit Hilfe der stärksten Vergrösserungen 
des Mikroskopes hofft man in die Geheim¬ 
nisse, die uns die Zelle bietet, einzudringen. 
Durch BiUsehli's Untersuchungen über das 
Protoplasmaist man zur Annahme gelangt, 
dass die Struktur des Protoplasmas, wie es 
die einzelligen Lebewesen zusammensetzt und 
wie es, zu Zellen zusammentretend im Kör¬ 
per aller Organismen vorkommt, eine wabige 
Struktur besitze. Diese Annahme wird für 
die einzelligen Organismen, wie Infusorien 
u. s. w. von den meisten Forschern gebilligt, 
für die höheren aber verneint. Ein Chaos 
von Ansichten ist im Laufe der letzten Jahre 
hervorgetreten; so lassen manche Forscher 
das Plasma eine fadenförmige Struktur, andere 
eine netzartige haben. Wer sich über diese 
Fragen orientieren will, dem sei der zusam¬ 
menfassende Artikel von R. v. Erlanger*) 
empfohlen. Hier findet er auch ein genaues 
Referat über die, in der Zellsubstanz 
befindlichen Teile, wie Kern, Centrofom usw. 
berücksichtigenden Abhandlungen. 

Eine von Jahr zu Jahr zunehmende An¬ 
zahl von Publikationen sind den Plankton- 
VntersHchungen gewidmet. Unter Plankton 
versteht man nach Hensen, dessen erste Be¬ 
obachtungen bahnbrechend waren, die im Was¬ 
ser schwimmenden Organismen, Tiere oder 
Pflanzen, die willenlos den Wellen preisge¬ 
geben sind, mit den Worten Hensen’s: „Al¬ 
les, was im Wasser treibt". 

Hervorgehoben zu werden verdient dfe 
Arbeit von Strodemann Planktonunter¬ 
suchungen in holsteinischen und mecklenbur¬ 
gischen Seen.^) Er fand, dass die frei .schwim¬ 
menden Tiere und Pflanzen dieser Seen mit 
den in böhmischen Teichen gefundenen Or¬ 
ganismen, ja selb.st mit denen das Lake St. 
Clair in Nordamerika Übereinstimmen; gewiss 
eine überraschende Thatsache, dass in drei 

') Leipzig, 1892. 

*) Zoolog. Zentralblatt 1896, Nr. 7. 

*) Forschungsberiohte der biolog. Station Plön. 
Teil 4. 


weit von einander entfernten Gegenden die¬ 
selben Organismen sich finden. 

Eine Zusammenstellung seiner eigenen 
Plankton-Untersuchungen und der anderer 
Forscher, soweit sie sich auf das Süsswasser 
erstrecken, hat Apstein^) gegeben. Wir 
erfahren die Resultate der jüngsten Unter¬ 
suchungen, von denen folgende hervorgeho¬ 
ben sein mögen. Die Organismen sind im 
Süsswasser wie im Meere nicht in Schwär¬ 
men vertreten, sondern gleichmässig verteilt; 
hiervon ausgenommen sind kleine Tümpel, 
wo man Ansammlungen von Tieren einer 
Art finden kann. Die Methoden, die bei der 
Zählung der Fänge zur Anwendung kommen, 
überhaupt die Methodik schildert Apstejn in 
ausführlicher Weise. Von besonderem Inte¬ 
resse sind die Kapitel über das Leben im 
See zu den verschiedenen Jahreszeiten und 
über die Organismen des Planktons. 

Eine kurze Betrachtung der Entmckel- 
ungsmcchanischen Richtung der Zoologie und 
einiger den Darwinismus betreffenden 
Werke möge den Schluss bilden! 

Das Experiment, das man noch vor einem 
Jahrzehnt wenig oder gar nicht in der mo¬ 
deren Zoologie pflegte, hat jetzt seinen Ein¬ 
zug gehalten und der leider so früh verstor¬ 
bene C. Semper würde jetzt nicht mehr zu 
klagen nötig haben, dass man zuviel Hypo¬ 
thesen aufstelltc, zu wenig experimentiere. 
Die Entwicklungsmechanik als ein neuer Forsch¬ 
ungszweig der Zoologie, experimentiert mit 
Vorliebe an den befruchteten, sich furchen¬ 
den Eiern. Durch diese vor allem durch 
Roux und eine grosse Zahl jüngerer For¬ 
scher unternommenen Versuche haben wir 
Kenntnis von einer Anzahl Entwicklungsge¬ 
setzen bekommen. 

Bekanntlich zerfällt jede Eizelle nach der 
Befruchtung in zunächst zwei, vier, acht 
u. s. w. Teilstocke oder Furchungs-Zellen. 
Sticht man eine der ersten Furchungszellen 
mit einer Nadel an, so bedarf sie der Reor¬ 
ganisation, um wieder die Fähigkeiten der 
Furchung zu erlangen, und diese Erneuerung 
geht von der nicht operierten Zelle aus. So 
kann beispielsweise die operierte Zelle, falls 
der Zellteilungsmechanismus zerstört war, 
durch Wanderung von Kernsubstanz neu be- 
kernt werden. Durch dieses Experiment wur¬ 
den wir auf ein den Zellen innewohnendes 
Vermögen einer anderen Verwendbarkeit im 
Organismus hingewiesen, das in Kraft tritt, 
sobald durch irgendwelche Störung der direk¬ 
ten Entwicklung eine Hilfsarbeit zur Erreich¬ 
ung des ontogenctischen Zieles nötig gewor¬ 
den ist. Dieses Vermögen nennt man Post- 


') Das Süsswasserplankton Kiel 1895. 


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Hamann, Die Zoologie im Jahre 1896. 


139 


generationsvermögen. — Zur Zeit stehen 
sich die Ansichten über die Ursachen der 
Embryonalentwicklung diametral gegenüber. 
Weismann, der Vertreter des Neu*Evolu- 
tionismus, behauptet zwar nicht, dass im Ei 
der spätere Organismus der Form nach vor¬ 
gebildet sei, nimmt aber an, dass jeder Teil 
des Körpers durch einen besonderen ma¬ 
teriellen räumlich begrenzten Träger im Ei 
vertreten sei. So bezieht er bestimmte Kör¬ 
perteile auf bestimmte Teile des Eies. Mit 
ihm stimmen die Gegner, wie O. Hertwig, 
überein, dass es von der speziöschen Orga¬ 
nisation der Eizelle abhänge, welche Tierart 
aus ihr entstehen wird, dass aber die Ent¬ 
faltung der in der Eizelle liegenden Anlagen 
von äusseren Ursachen abhänge. Als solche 
Ursachen bezeichnet O. Hertwig die Wech¬ 
selbeziehungen, die zwischen den Furchungs¬ 
zellen, die an Zahl zunehmen, bestehen und 
die Einwirkungen der Aussenwelt. Eine an¬ 
dere Ansicht hat Roux, indem er die ge¬ 
staltenden Kräfte blos im befruchteten Ei 
selbst sucht, und damit sich den älteren An¬ 
schauungen von His nähert, der annimmt, 
dass die Eizelle die späteren Organanlagen 
des Körpers bereits vorgebildet enthält (Prin¬ 
zip der organbildenden Keimbezirke). Eine 
mehr an Hertwig sich anschliessende Mein¬ 
ung hat Driesch ausgesprochen. Für ihn 
ist auf grund seiner experimentellen Unter¬ 
suchungen in der Substanz der Eizelle das 
materielle Substrat der Lokalisation der Or¬ 
gananlagen zu sehen, das heisst jeder Vor¬ 
gang in der Entwicklung eines Organismus 
ist im Ei physiologisch-chemisch vorbereitet, 
wie der Effekt an einer Maschine vorbereitet 
ist. Von grosser Bedeutung ist die ent- 
wicklungs-mechanische Richtung, da durch die 
Experimente die im Keim gelegenen, in¬ 
neren Ursachen der Entwicklung immer mehr 
in die Augen fallen und die Grenzen der 
streng mechanischen Erklärung aller Lebens¬ 
erscheinungen um so deutlicher hervortreten. 
Auf keinem anderen Gebiete wird die Frage, 
ob die physiko-chemischen Gesetze allein ge¬ 
nügen dies Leben zu erklären, so schnell 
ihrer Entscheidung entgegengeführt werden. 

Mit dem Darwinismus, der Lehre von 
der natürlichen Zuchtwahl, beschäftigt sich 
eine grössere Anzahl von Schriften und Ab¬ 
handlungen. Man kann jetzt von einer Gruppe 
von Forschern sprechen, die mit der natür¬ 
lichen Zuchtwahl als einzigem Erklärungs¬ 
prinzip für eine Entwicklung der Arten ge¬ 
brochen haben. Diese Forscher, meist Zo¬ 
ologen haben aber, wenn wir sie charakteri¬ 
sieren sollen, nur negatives mit einander ge- 


*) Biolog. Zentralblatt. Bd. x6. 


mein, jeder hat fast eine andere Ansicht über 
das „Fundamentale des Lebens“; in einem 
aber herrscht Uebereinstimmung, sie sind der 
Ansicht, dass das Zweckmässige in der Na¬ 
tur nicht durch Darwin erklärt worden ist, 
und wollen nichts wissen von dem jetzt noch 
immer allein herrschenden physiko-chemischen 
Dogmatismus, der meint die Lebensgescheh¬ 
nisse endgültig erklärt zu haben. — Zu die¬ 
ser Gruppe von Forschern gehört der Würz¬ 
burger Pathologe Rindfleisch, der Baseler 
Physiologe Bunge, die Zoologen Driesch 
und andere. Nach Driesch, einem der be¬ 
gabtesten unter der jüngeren Zoologen-Gene- 
ration, gehört der Darwinismus der Geschichte 
an; er hält ihn für widerlegt, wie er jüngst 
im Biologischen Zentralblatt*) ausftihrte. 

Das Leben bietet nach Driesch nur so¬ 
weit kausal erforschbare Probleme, als der 
Mechanismus eine Rolle spielt; sein Wesent¬ 
lichstes aber, weil es „Struktur oder Tekto¬ 
nik“ ist, ist nur beschreibbar und zwar vor¬ 
wiegend mit Zweckmässigkeitsausdrücken. Er 
sieht also in der Zweckmässigkeit der Lebens¬ 
erscheinungen etwas fundamentales. 

Gegen den Darwinismus, wie ihn Weis¬ 
mann in Freiburg i. Br. vertritt, wendet sich 
Schellwien in seiner Schrift: Der Darwi¬ 
nismus und seine Stellung in der Entwickel¬ 
ung der wissenschaftlichen Erkenntnis^). Weis¬ 
mann gilt dem Philosophen Schellwien für 
den erfolgreichsten Repräsentanten der me¬ 
chanischen Kausalitätstheorie. Die Art wie 
er Weismann’s Determinantenlehre angreift 
und die Lehre vom Keimplasma bekämpft, 
ähnelt vielfach den Einwürfen die O. Hert¬ 
wig®) erhoben hat. Wenn für Weismann das 
Keimplasma unsterblich ist, so zeigen beide, 
dass das Keimplasma ebenso vergänglich ist, 
wie alles Fleisch und immer von neuem wie 
die Körpersubstanz, überhaupt geschaffen wird. 

Die Gedanken Schellwien’s über Vererb¬ 
ung, Entwickelung, Variabilität können hier 
nicht einzeln betrachtet werden, es möge nur 
auf sie hingewiesen werden. 

Eine Zurückweisung hat das H aacke’sche 
Buch: Die Schöpfung des Menschen und seiner 
Ideale durch den Zoologen E. Wasmann 
gefunden*), der mit Haacke in der Verwerfung 
des Darwinismus übereinstimmt, ihn aber be¬ 
kämpft, wenn er die inneren Entwickelungs¬ 
gesetze des organischen Lebens in ein Sys¬ 
tem von beseelten Atomen, die nach mecha¬ 
nischem Gleichgewicht streben, aufzulösen 
bestrebt ist. 


*} Band 16, 1896, S. 355. 

*) Leipzig, 1896. 

®) Zeit- und Streitfragen der Biologie Heft i. 

*) Zur neueren Geschichte der Entwicklungs¬ 
lehre in Deutschland. Münster in W. 1896. 


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140 


Das Lehr-Infanteriebataillon. — Glycerin. 


Das Lehr-Infanteriebataillon in Potsdam. 

Anknüpfend an die Mitteilung in No. 5 der „Um¬ 
schau“ über die beabsichtigte Verstärkung des Lehr- 
Infanteriebataillons wollen wir nachstehend noch 
einige interessante Angaben Ober dasselbe folgen 
lassen. 

Das Lehr-Infanteriebataillon wurde 1820 errichtet 
zu dem Zweck, „die Gleichförmigkeit und Über¬ 
einstimmung im Dienst und in den Exerzier-Übun- 
gen der Infanterie zu befördern“. Es sollte also 
eine Schule för die Infanterie des Heeres sein, zu 
welcher nur die im praktischen Dienst besten Offi¬ 
ziere, Unteroffiziere und Mannschaften zu komman¬ 
dieren waren. Eine erhöhte Bedeutung nach dieser 
Richtung erhielt das Bataillon nach 1870 dadurch, 
dass auch von sämtlichen Bundesstaaten Vertreter 
dahin entsandt wurden, welche sodann bei ihrer 
Rückkehr zu den verschiedenen Kontingentsteilen 
die Träger einer einheitlichen Norm für die In¬ 
fanterieausbildung darstellten. 

Indessen muss hinzugefögt werden, dass das, 
.was diese Leute zur Truppe zurückbringen, för 
die Truppenbefehlshaber, welche allein für die Aus¬ 
bildung ihrer Truppen verantwortlich waren und 
bleiben, nicht bindend ist; hierdurch geht der Er¬ 
folg der Ausbildung beim Lehrbataillon da und dort 
verloren. Dafür ist aber noch nach anderer Richtung 
der Erfolg der Formierung dieses Bataillons um so un¬ 
vergänglicher und grossartiger: in der sozusagen 
greifbaren Darstellung, in der Verkörperung des 
nationalen Gedankens, des Bewusstseins, einem 
gemeinsamen Vaterland, einem Deutschland anzu¬ 
gehören , zu dessen Verteidigung und Erhaltung 
Jeder, sei es aus dem äussersten Norden oder So¬ 
den, Osten oder Westen, Gut und Blut einzusetzen 
bereit ist. Dieses Gefühl wird noch dadurch erhöht, 
dass alljährlich vor dem obersten Kriegsherrn 
eine Parade des Bataillons — die sogenannte Schnur¬ 
parade — stattfindet, sowie ein Fest — das Schrip¬ 
penfest - , an welchem inmitten der Mannschaften 
die kaiserliche Familie nebst Hofstaat teilnimmt. 
„Schnurparade“ und „Schrippenfest“ ist für Jeden 
des Bataillons das bedeutsamste und wichtigste Er¬ 
eignis während seiner Kommandierung. Als näm¬ 
lich König Friedrich Wilhelm 111 . eine Parade über 
das Bataillon abhielt, machte die vorzügliche Halt¬ 
ung desselben einen so grossen Eindruck, dass er 
den Mannschaften als besonderes Zeichen dauern¬ 
der Anerkennung eine rote bezw. gelbe Schnur, 
tragbar über dem unteren Ende der Achselklappe, 
verlieh. Die Ordre zur Anlegung dieser Schnur er¬ 
lässt der Kaiser alljährlich nach Besichtigung des 
Bataillons — daher der Name ,.Schnurparadc“. 

Ausser dieser Anerkennung gab der König dem 
Bataillon noch ein Fest durch Bewirtung aller Mann¬ 
schaften mit Speise und Trank und Veranstaltung 
von Lustbarkeiten; auch dieses Fest wird heute 
noch in althergebrachter Weise gefeiert. Hiernach 
besteht der Speisezettel aus Rinderschmorbraten, 
Milchreis, geschmorten Pflaumen und einer grossen 
„Schrippe“ - eine nur in und um Berlin bekannte 
Brotart und Form, welche dem Feste den Namen 
gab; zum Trinken giebt cs Wein und Bier — in 
Hülle und Fülle. För die kaiserliche Familie und 
den Hofstaat ist inmitten des Bataillons besondere 
Tafel hergerichtet, an welcher ebenfalls Braten und 


Reis aufgetragen wird. Die Prinzen haben natür¬ 
lich hierbei ein Hauptvergnügen; vom Kronprinzen 
wird erzählt, dass er auf ffie Frage — noch vor 
der Schulzeit — : welches die drei höchsten Feste 
seien, antwortete: „Weihnachten, Papas Geburtstag 
und das Schrippenfest!" Solche Eindrücke bleiben 
den Teilnehmern unvergesslich, w'elche dieselben 
mit nach Hause bringen und dort auf diese Weise 
den nationalen Sinn wecken und fördern. 

Bis zum Jahre 1894 befand sich das Lehrbatail- 
lön auf vollem Etat nur während der Dauer der 
in die sechs Sommermonate fallenden Übungszeit, 
etwa von Mitte April bis zum Entlassungstermin 
der Reserven, während in den sechs Wintermona¬ 
ten nur eine Stammkompagnie formiert blieb. Im 
Jahre 1894 fand auf Allerhöchsten Befehl die Auf¬ 
lösung des Bataillons am 19. September statt und 
der Wiederzusammentritt in voller Stärke für das 
ganze neue Militärjahr am 24. September, und zwar 
mit 56 Unteroffizieren, 640 Gemeinen. Die bisherige 
Bestimmung Ober Beginn und Beendigung dieses 
Kommandos wurde hiermit dahin abgeändert, dass 
künftighin der Zusammentritt des Lehrbataillons im 
September, die Auflösung nach Rückkehr von den 
Herbstübungen erfolgt, - das Bataillon also ein 
volles militärisches Jahr im Bataillonsverbande und 
in ganzer Stärke zusammenbleibt. Ein weiterer be¬ 
deutsamer Schritt, die Ausbildung beim Bataillon 
für Offiziere, Unteroffiziere und Mannschaften und 
damit für die ganze Armee nutzbringend zu stei¬ 
gern, bekundet sich in der im Etat i897'98 ange¬ 
forderten Verstärkung des Bataillons um 12 Unter¬ 
offiziere, 155 Gemeine, um dadurch fgpt kriegsstarke 
Verbände hersteilen zu können. Major L. 


Glycerin. 

Von G. A R K K i) s, 

Selten hat sich ein FVodukt, welches Jahrhun¬ 
derte lang als lästiger Ballast achtlos bei Seite ge¬ 
worfen worden ist, in so kurzer Zeit eine derartig 
wichtige Stellung in der chemischen Industrie und 
derTechnik zu erringen vermocht, wie das Glycerin. 
Während dasselbe noch vor 50 Jahren lediglich 
ein beschränktes wissenschaftliches Interesse bot, 
ist es nach der Entdeckung des Nitrogly'cerins und 
Dynamits durch Nobel (1862bezw. i8(^) zu einem 
der wichtigsten Stoffe für den Bergbau und die natio¬ 
nale Verteidigung geworden. Nicht minder grosse 
Bedeutung hat das Glycerin für das Buchdruck¬ 
gewerbe, die Textil- und Gasindustrie, die Phar- 
marcie, die Liqueurfabrikation und einige andere 
Gewerbe erlangt, die sich neben der Sprengstoff¬ 
industrie zur Zeit in den Gesammtverbrauch des¬ 
selben teilen. 

Das Glycerin wurde im Jahre 1779 von Scheele 
entdeckt, der es „ÖlsOss“ nannte. Später wurde 
es Scheele’sches Süss, Fettzucker oder ölzucker 
genannt, da man es aus Fetten und ölen darstellte 
und die chemische Eigenart des Körpers noch we¬ 
nig erkannt war. Erst Berzelius führte im Jahre 
1844 Namen Glycerin ein, den es von da an 
behalten hat. Als Arzneimittel hat es erst im Jahre 
1863 Aufnahme in die preussische Pharmakopoe 
gefunden, doch ist seine Anwendung ausser zu Ein¬ 
reibungen und Pinselungen jederzeit eine beschränkte 
geblieben. 

Die Darstellung des Glycerins geschah bis zu 
den 60er Jahren, wo man anfing, aus tierischen 


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Sprachliche Fragen. 


141 


Fetten dif Stearin* und Palmitinsäure zum Zwecke 
der Stearinkerzenfabrikation zu trennen, auf sehr 
primitive Weise. Man zersetzte Fette und ule (die 
m der Hauptsache aus Verbindungen von Glycerin 
mit Fettsäuren bestehen) durch Kochen mit Alkalien, 
filtrierte die hierbei erhaltene wässerige Lösung zur 
Reinigimg durch Kohle und dampfte dieselbe ein. 
Heute verfährt man in der Seifensiederei noch ebenso. 
Die Hauptmenge des Glycerins liefern jedoch die 
Stearin- und Ä’rr^^wfabriken, und zwar bilden augen¬ 
blicklich sehr verschiedenartige Fettstoffe das äus- 
gangsmaterial fdr das Glycerin der heutigen Gross- 
mdustrie. Es sind dies in der Hauptsache: Press- 
talg (von der Margarinefabrikation), vegetabilischer 
Talg, Cocosnussöl, ralmkemöl, Sheabutter, Knochen¬ 
fette und Fischfette. Letztere beiden geben die 
schlechtesten Produkte. Man benutzt in dieser In¬ 
dustrie nicht Alkalien, sondern Ätzkalk, Schwefel¬ 
säure oder Qberberhitzten Wasserdampf zur Zer¬ 
setzung der Fette und unterscheidet danach im 
Handel Saponißcationsglycerine (Zersetzen der Fette 
durch Ätzkalk), Destillationsglycerine (Zersetzen 
durch Schwelsäure oder Wasserdampf und nach- 
herige Destillation) und Laugenglycerine (bei der 
Seifensiederei gewonnen). 

Welch bedeutenden Handelsartikel diese Roh- 
^lycerine bilden, zeigt folgende Tabelle (nach 
Schenkel*), die die Gesamtproduktion von Roh¬ 
glycerin im Jahre 1891 veranschaulicht. Danach 
produzierten im genannten Zeiträume: 


Frankreich 

6000 t. 

Tansport . 22800 t. 

Deutschland . 

3000 » 

Spanien . . 

1500 » 

Nordamerika 

3000 » 

Schwed.-Norw. 

350 >» 

Holland . . 

2000 „ 

Schweiz . . 

300 ». 

Österreich . 

2000 „ 

Argentinien . 

300 „ 

Russland . . 

2000 „ 

Australien 

300 »» 

Belgien . . 

1800 „ 

Portugal . . 

200 „ 

Italien . . . 

1800 „ 

Rumänien 

150 f, 

England . . 

1200 

Griechenland 

100 „ 



Summa 26000 L 


=: 

26 Millionen Kilogramm. 


Aus diesem Rohglycerin erhält man durch De¬ 
stillation die verschiedenen Handelssorten des 
raffinierten Glycerins, aus dem durch nochmalige 
Destillation und mit Zuhilfenahme chemischer 
Agenden dann das reine Glycerin der Apotheken 
dargestellt wird. Auch das raffinierte Glycerin bil¬ 
det einen bedeutenden Handelsartikel. Im Jahre 
1896 betrug die Ausfuhr aus Deutschland an 
gereinigtem Glycerin 2 612 500 Kilogr., die Ein¬ 
fuhr 1644 400 Kilogr. Der Gesammtumsatz also, 
wenn man so sagen darf, beziffert sich während 
der kurzen Zeit eines Jahres auf 4256900 Kilogr., 
gewiss eine recht ansehnliche Menge. An diesem 
Gesamtverbrauch beteiligen sich naoi einer Statistik 
von Heinzerling die einzelnen Gewerbe etwa 
in folgender Weise. Es kommen auf: 
die Seifen- und ParftSmerie-Fabrikation 20 pCt, 

'I'extilindustrie, Färberei, Druckerei, Ger¬ 
berei xmd sonstige Gewerbe ... 20 „ 

Dynamitfabrikation.12 m 

Pharmacie.12 „ 

Füllung von Gasuhren. 3 „ 

Darstellung von Buchdruckwalzen . . 3 „ 

Genusszwecke (Liqueur etc.) .... 10 ,, 

exportiert wurden.20 „ 

_ 100 pCt! 

•) Chcm. Ztg. 1895 No. 5«. 


Sprachliche Fragen. 

Von Dr. F. Tetzner. 

/. Zur Rechtschreibung. 

Ein paar Druckfehler in den letzten Zeilen des 
vorigen Abschnittes (S. 88) geben mir Gelegenheit, 
nochmals auf das ^avische sz und cz (tsch) zu¬ 
rückzukommen. Das slavische sz entspricht deut¬ 
schen sch; aus der slavischen Form Kaszuben 
machte man, da die lateinische Schrift sz gewöhnlich 
in SS verwandelt, fälschlich Kassuben und spricht 
auch in nicht eingeweihten Kreisen so, während 
man deutsch Kaschuben schreiben müsste. 

Im übrigen scheint mir die orthographische Frage 
nicht brennend. Einen Fortschritt bietet die gere¬ 
gelte Orthographie jedenfalls gegen früher, die Ver¬ 
drängung des c wäre allerdings wünschenswert. Eine 
gewisse Freiheit bei Behandlung der Anfangsbuch¬ 
staben in Eigenschaftswörtern, die zu Titeln oder 
bestimmten Begriffen gehören, ist unschädlich. Der 
grosse oder Grosse Winterberg, Schwäbisch-Frän¬ 
kische oder schwäbisch-fränkische Jura können- 
ruhig neben einander bestehen. 

Ungern mag der Kundige die von Geisel 
(.Peitsche mit mehreren Riemen) abweichende 
Schreibweise annehmen. Sie ist jedenfalls der Be¬ 
griffsscheidung wegen eingeführt worden, wie man 
das Wort wider zerteilte (wider, wieder). 

Jedenfalls ist heutzutage die Sache einer binden¬ 
den Rechtschreibung eine Machtfrage, der gegen¬ 
über Einzelausstellungen ziemlich machtlos sind. 
Das darf natürlich den Fachgelehrten nicht hindern, 
das als richtig erkannte zu verfechten. 

6 . Starke und sc/rwache Hauptwörter. 

Noch mehr als beim Thätigkeitswort drängt jetzt 
die Firmen und Anzeigen schreibende Geschäfts 
weit beim Hauptwort die starke Flexion zurück. 
Die erste Person der Mehrzahl wird so häufig in 
starken Hauptwörtern schwach gebildet, dass es 
fast scheint, als ob die Belehrung durch Schulen 
und Bücher vergeblich wäre. Neben der schwachen 
Deklination hat der Dativ der Mehrzahl die falsche 
Gleichbildung befördert. Man hängt, wo es nur 
geht, ein n an. Muffew, Schahle«, Krystalle« und 
viele andere gleichfalsche Plurale drängen sich auf, 
und es ist kaum zu erwarten, dass bei der Ge¬ 
schäftswelt hierin Wandel geschieht, wenn nicht 
Schule und Zeitung nachdrücklich gegen solche 
Sprachverhunzung kämpfen. 

7. Derselbe, wie, als. 

Gegen den Missbrauch der Wörter derselbe, die¬ 
selbe, dasselbe, welcher, welche, welches, wenn der, 
die, das, iver, was genügt, ist wiederholt, und mit 
Recht angekämpft worden. Man hat darauf hin¬ 
gewiesen, dass in gewöhnlicher Rede kein Mensch 
jene geschraubten Worte gebrauche, und dass sie 
eben nur im papiemen Stil vorkämen. Der Grund 
ist doch nicht stichhaltig; die gesprochene Sprache 
ist ja doch anders, als die Schriftsprache. Richtig 
aber ist es, dass man sich schriftlich weit mehr an 
das lebendige Wort anschliessen sollte, als es bis¬ 
her geschah. Eine Wendung zum besseren ist auch 
eingetreten; einige moderne, realistische Schrift¬ 
steller haben mittelbar eine einfachere Schreibweise 
gefördert. 

Der Gebrauch von wie nach der Gnmdform tmd 


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142 


Betrachtungen und kleine Mitteilungen. 


von a/s nach der ersten Steigerungsform ist mit 
Unrecht allmählich verwischt worden. {Vgl. 
No. 6 , S. 110 der „Umschau“). 

Die Häufung von Sätzen und eingeschachtelten 
Sätzen zu Perioden hat jedoch erfreulicher Weise 
abgenommen. 


Betrachtungen und kleine Mittheilungen. 

Sir Thomas Spencer Wells 

Mit dem am 29.Jan. dieses Jahres zu Ah/i/}ps in 
Süd-Frankreich im 79. Lebensjahre verstorbenen 
Sir ThomasSpencerWellsist der berühmteste 
Gynäkologe Grossbritanniens, vielleicht der berühm¬ 
teste aller jetzt lebenden Gynäkologen dahinge¬ 
gangen. 

Er war der gemalf Begründer und stete För¬ 
derer der modernen Qi'ariotomie*) und damit der 
modernen gynäkologischen Unterleibs-Chirurgie über¬ 
haupt. 

Wohl reichen die systematischen und wohlüber¬ 
legten Versuche, Geschwülste der Eierstöcke durch 
Operation zu entfernen, bis in den ersten Anfang 
dieses Jahrhunderts zurück (der Amerikaner 
Ephraim Mc. Do well in Kentucky machte im 
Jahre 1809 die erste derartige Operation, die sogar 
von Erfolg gekrönt war), allein sie waren so un¬ 
beholfen und die Aussicht auf Erfolg so schwankend, 
dass die „Onariotomie*' ein halbes Jahrhundert lang 
keinen festen Boden fassen konnte. 

Erst mit dem Jahre 1858 begann sich dies zu 
ändern. Im Februar dieses Jahres (bald nach seiner 
Rückkehr aus dem Krim-Kriege) operierte der 
wenig bekannte, frühere Marinearzt Thomas 
Sp en cer WeIIs die erste Patientin nach der 
von ihm erdachten Methode und legte damit den 
Grund zu seinem Weltruhine. Gelegenheit hierzu 
gab ihm seine Stellung als Chirurg an dem durch 
ihn so berühmt gewordenen Samaritan Free Hos- 
piinl in London, das viele, viele Jahre lang die 
allgemeine Wallfahrtsstätte der Ärzte aus aller 
Herren Ländern bildete, die sich hier zusammen¬ 
fanden, den berühmten Ovariotomisten selbst an der 
Arbeit zu sehen und seine Operation aus eigener 
Anschauung kennen zu lernen. 

Der Widerstand, dem Spencer Wells zu¬ 
nächst begegnete, war für das skeptische und kon¬ 
servative England ein verhältnismässig geringer. 
Nach wenigen Jahren bereits fand er allerseits An¬ 
erkennung, nicht nur in seinem Vaterlande, sondern 
in der ganzen zivilisierten Welt. Und bis heute 
herrschen seine Ideen unumschränkt. Er Hess es 
sich aber auch nicht genügen an dem Ruhme des 
Erfinders, sondern arbeitete unermüdlich mit der 
ganzen Kraft seines Willens und seines Genies an 
der Verbesserung seiner Methode, die er veeit über 
tausend Mal selbst zu erproben Gelegenheit fand. 

Zu früh für seinen Thatendrang und seine uh- 
geminderte körperliche und geistige Frische rief 
ihn das vielleicht berechtigte, stets aber harte Ge¬ 
setz, das jedem an der Altersgrenze von 65 Jahren 
Angelangten in England die weitere Beibehaltung 
einer Chefstelle an Kliniken und Krankenhäusern 
verbietet, von seiner offiziellen Thätigkeit ab. Pri¬ 
vatim aber wirkte er noch lange segensreich weiter. 
Verfasser dieses hatte .selbst noch vor wenig mehr 
als 3 Jahren das Glück, den berühmten Meister als 
75jährigen in London operieren zu sehen. 

Ein Stück Geschichte der Medizin, die Geschichte 
der modernen gynäkologischen Chirurgie ist mit 
ihm zu Grabe gegangen. Schon heute aber dürfen 


üpir.ition 7ur Entfi-niuiig von Eicrstockgcschwülstcn. 


ihn Hunderttausende von Frauen als ihren Retter 
betrachten; so wird auch sein Name fortleben in 
der medizinischen Wissenschaft als der eines der 
grössten Wohlthäter. Er hat gelebt für alle Zeiten I 

Dr. Eiermakn. 


Vor kurzem ging durch verschiedene wissen¬ 
schaftliche Blätter die Nachricht, in Spanien sei ein 
neues gothisches Sprachdenkmal von bedeutendem 
Umfang und besonders wertvollem Charakter auf¬ 
gefunden worden. Die ersten an diese Mitteilungen 
geknüpften kühnen Hoffnungen unsrer Philologen 
sahen in der P'erne schon nichts geringeres als ein 
westgothisches Gesetz in gothischer Sprache auf¬ 
tauchen, was in der That ein Ereignis gewesen 
wäre, durch das des Aristoteles neu entdeckte 
Schrift vom Staate der Athener, sowie Professor 
Zangemeisters Fund der ßnichstOcke einer 
altsäcnsischen Genesisdichtung des Heliandsängers 
weit in den Schatten gestellt worden wäre. Aber 
diese Hoffnungen erwiesen sich als übertrieben. Es 
handelte sich, wie sich bald herausstellte, lediglich 
um gothische Gesetze in lateinischer Sprache, um 
eine neue Ausgabe bekannter lateinischer Rechts¬ 
quellen, und die deutsche wie die germanische 
Sprachforschung ging so gut wie leer dabei aus. 
Einen gewissen Ersatz für diese bittere Enttäuschung 
suchte bald darauf Prof. Friedrich Kluge in 
Freiburg zu geben, indem er eine zwar längst be¬ 
kannte, aber seither so gut wie verschüttete ger¬ 
manische Sprachquelle von hoher Altertümlichkeit 
neu zu erschliessen und für die germanische Kultur¬ 
geschichte nutzbar zu machen unternahm. „Diese 
Quelle“, schrieb er in der wissenschftlichen Beilage 
der Münchener „Allgem. Ztg.“, „liegt nicht innerhalb 
spanischer Klostermauern, nicht auf romanischem 
Boden. Es ist eine alte Glosssenhandschri/t aus 
der Reichenau, die jetzt der Karlsruher Bibliothek 
gehört. Sic wird dem Ende des 8. Jahrhunderts an¬ 
gehören. Aber es ist keine Originalarbeit des 
deutschen Klosters, sondern gewiss Abschrift einer 
älteren Vorlage, deren Heimat wohl auf französischem 
Boden zu suchen ist." Von den Germanisten war 
dieses Sprachdenkmal bisher fast gänzlich unbemerkt 
und unbenutzt geblieben. Die Handschrift enthält 
nämlich nur Latein: Latein wird mit Latein ver¬ 
dolmetscht, aber dieses glossierende Latein ist echtes 
Vulgärlatein; Hochlatein wird durch Vulgärlatein 
erklärt. In diesem aber, meinte Kluge, stecke echtes, 
uraltes germanisches Sprachgut. Wie bekannt, war 
nach der Völkerwanderungszeit das Provinziallatein 
allerorten voll Germanismen. Das Germanentum 
hatte sich mit der heimischen, latein.sprechenden 
Bevölkerung so eng vermischt, dass die germanische 
Sprache am Latein scheiterte, aber germanisches 
Recht und germanischer Adel vorherrschend wurden. 
Doch indem das Germanische der Weltmacht des 
Latein wich, gab es dem Vulgärlatein Bestandteile 
dauernder Bedeutung. Eine Masse von germanischen 
Lehnwörtern drang damals ins Romanische, und 
noch heute lebt deren ein guter Teil. Die Reichc- 
nauer Glossenhandschrift nun, die Prof Kluge nach 
dieser Richtung hin für die germanische Sprach-' 
und Kulturgeschichte ausbeuten möchte, ist eins der 
ältesten und wertvollsten Zeugnisse für den Ein¬ 
fluss des Germanischen auf das Romanische. So 
heisst hier mastus der Mast, helmus der Helm, 
garba die Garbe. In dieser vulgärlateinischen Ge¬ 
wandung steckt urältestes deutsches oder germa¬ 
nisches Sprachgut. Worte begegnen hier in einer 
altertümlichen Lautgestalt, die wir spätestens dem 
6. Jahrhundert verdanken. Die Tenne heisst alt¬ 
hochdeutsch tenni, hier in den Reichenauer Glossen 
heisst sie danea — eine überraschend alte, ja ehr- 


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Betrachtungen und kleine Mitteilungen. 


143 


würdige Lautgestalt, wie sie spätestens nur bis ins 
6. Jahrhundert bestanden haben kann. Bedeutsam 
ist auch frata Honigwabe, das zweimal begegnet; 
unsre Mundarten reden noch jetzt von der „Honig- 
rose“, dieses rose ist mittelhochdeutsch räze und 
damit deckt sich jene Glosse. — Leider ist das 
herauszuschürfende germanische ^rachgut recht 
spärlich und dürftig; aus etwa zwei Dutzend Wörter 
sind es, die wir als germanisch in Anspruch nehmen 
dürfen. Da lesen wir, um noch einiges anzuführen,, 
brunia die Brünne, baugus der Armring, wapca die 
Wespe, fano das Schweisstuch, wadius das Pfand, 
spidus der Bratspiess, scancio der Mundschenk. 
Die Mehrzahl dieser Wörter sind alte gute Bekannte 
aus dem germanischen und romanischen Wortschatz 
zugleich; aber einige legen denn doch wohl die ge¬ 
gründete Vermutung nahe, dass gothisches Material 
darunter stecke, aus dem sich später, mit Heran¬ 
ziehung andrer Hilfsmittel, noch neue Züge für 
das bisher leider so unvollkommene Bild der 
gothischen Vorzeit gewinnen lassen, selbst wenn 
auch das Deutsch der Glossen, wie eine wissenschaft¬ 
liche Entgegnung in der „Allgem. Ztg." will, ans 
Salfränkische (in französischer Form) grenzen sollte. 

Dr. DCsel. 

• • 

• 

Es ist für unsere anspruchsvolle, sich in strenger 
Isolierung meist gefallende europäische Kultur 
nur sehr angebracht, wenn unsere Blicke auf die 
Bloten und Schöpfungen einer ganz anderen Gesitt¬ 
ung und Bildung gelenkt werden, die anscheinend 
in gar keinem Zusammenhang mit ihr steht. Das 
ist der Fall bei der umfassenden chinesischen Kul¬ 
tur, die ihre Triebe und Schösslinge weit über die 
angrenzende Inselwelt erstreckt hat, obschon sie 
sich hier gelegentlich mit indischen Elementen kreuzt. 
Jüngst hat ein Reisender, Fr. Nötling, Ober- 
Birma bereist, besonders am Mittellauf des Irawaddy 
und ein riesiges mit Trümmern von Tempeln be- 
säetes Areal entdeckt, Pagoden in der ärmlichsten 
Ausführung und Stilisierung bis zu den schönsten 
und prächtigsten Bauten. Zu diesem Reichtum an 
verschiedenen ästhetischen Motiven für den Archi¬ 
tekten kommt noch der hohe Wert der zahlreichen 
Inschriften, die zum Teil schon in den Boden ver¬ 
sunken sind, die uns wahrscheinlich überraschende 
Aufschlüsse über diese in Trümmer zerfallene Herr¬ 
lichkeit der einst blühenden Stadt Pagan (der Umfang 
ihrer Mauern ist noch erkennbar) gewähren würden. 
Ihr Ursprung verliert sich in mythisches, undurch¬ 
dringliches Dunkel, nur ihre Zerstörung durch eine 
chinesische Armee hat uns der bekannte italienische 
Weltreisende Marco Polo aufbewahrt. Aber 
wenn wir auch ungefähr die Blütezeit der Stadt 
vom Jahre 1000 n. Chr. bis in das 13. Jahrhundert 
mit einiger Sicherheit verlegen können, so sind wir 
doch völlig Ober die Herkunft und die ethnogra¬ 
phische Beschaffenheit ihrer Bewohner und Erbauer 
im Unklaren. Die Feinheit des Stils und der Ge¬ 
schmack der AusfÜrung Obertrifft alles, was man 
etwa von heutigen Bauten damit vergleichen könnte. 
Nötling ^richt deshalb die Vermutung aus, dass, 
da die Birmanen nachweislich ihre Religion aus 
Indien erhalten haben, auch der Gedanke an indische 
Muster und Vorbilder nicht abzuweisen sei; jeden¬ 
falls seien die Ideen, welche den wunderbaren 
Tempelbauten von P'agan zu Grunde lägen, keinem 
mongolischen Hirn entprossen, — eine Thatsache, 
welche für die Kulturgeschichte des westlichen Teils 
der hinterindischen Halbinsel von eminenter Be¬ 
deutung ist. Dass, wie so häufig, der ruhigen sys¬ 
tematischen Erforschung dieses Problems die ruch¬ 
lose, von schnöder Habsucht geleitete Schatzgrä¬ 
berei einerseits und die event. projektierte Bahn¬ 
linie durch jene Gegenden (wobei nur zu leicht viele 


Tempel als Baumaterial verbraucht werden würden) 
anderseits eine schwere Gefährdung bringen, liegt 
auf der Hand. Darum gilt es auch hier, unverzüg¬ 
lich mit allen Mitteln die Steine zum Reden zu 
bringen. ^ ^ Ach. 

• 

Dass peruanische Seeräuber roh und brutal auf 
den idyllischen Eilanden dy Südsee gehaust haben, 
ist ja leider ein unbestreitoares Faktuni. So erging 
es Nukulailai, einer Gruppe von etwa 13 Inseln 
(80—90 Meilen nördlich von den englischen Ellice- 
inseln), die vor 30 Jahren von 400 Menschen be¬ 
wohnt war; von den Unglücklichen, die zur Gewin¬ 
nung der Guanofelder von den peruanischen Sklaven¬ 
händlern fortgeschleppt wurden, kehrten nurw'enige. 
krank an Leib und Seele zurück. Ähnlich erging 
es den Bew’ohnem der Osterinsel. Die jetzigen In¬ 
sassen von Nukulailai (von den Engländern übrigens 
Mitschell J. genannt), gastfreie und intelligente Leute, 
aber gewitzigt durch die früheren bösen Erfahrungen 
lassen keine Agenten und Händler zu, so dass die 
riesigen Kokosnusswälder meist unbenutzt bleiben 
und die Früchte verfaulen. Ach. 

• 9 

* 

Die schon von alten Schriftstellern (so z. B. von 
Herodot) überlieferten Nachrichten über das Vor¬ 
kommen von Zwergen haben neuere Beobachtungen 
bekannüich bestätigt; besonders gilt das von Afi^a, 
wo seiner Zeit schon Nachtigal die Akka entdeckte. 
Neuerdings hat ein englischer Reisender, Dr. Do- 
naldson Smith, südlich von Abessinien (im Norden 
des Stephaniesees) wiederum einen derartigen Stamm 
aufgefunden, Dume genannt, etwa 100 Köpfe stark. 
Von ihrer Umgebung streng geschieden, leben sie 
wesentlich von der Jagd, wozu sie vergiftete Pfeile 
gebrauchen, während sie im Berglande auch etwas 
Viehzucht betreiben. Im Uebrigen gleichen sie auch 
sonst in ihrer Lebensw-eise den Akka, Wambutti 
und anderen central-afrikanischen Zwergstämmen. 
Ihre durchschnittliche Grösse beläuft sich auf 5—6 

Fuss englisch. Ach. 

• • 

• 

Soeben ist das vierte Heft der Mitteilungen der 
„Vorderasiatischen Gesellschaft“ erschienen, mit dem 
der erste Jalirgang dieses neuen Publikationsorgans 
abschliesst. Die im Jahre 1896 gegründete Gesell¬ 
schaft bezweckt die Förderung der vorderasiatischen, 
Studien auf Grund der Denkmäler; sie schliesst 
das, was ««r in das Gebiet der klassischen und 
ägyptologischen Studien fallen würde, aus, um sich 
um so nachhaltiger der Erforschung des kulturell 
und geschichtlich eng zusammengehörigen Vorder¬ 
asiens zu widmen. Die Tendenz, die kulturhistor¬ 
ischen Grundlagen für die Menschheitsgeschichte zu 
schäften, soweit es von der „historischen Provinz" 
mit der Zentrale Babylon abhängt, lässt sich aus 
den vorliegenden Heften deutlich erkennen, deren 
erstes eine Bearbeitung der neugefundenen Stele 
des babylonischen Königs Nabuna’id durch Dr. 
Messerschmidt enthält, in der die erste in¬ 
schriftliche Nachricht über den Fall Assyriens sich 
findet, während im zweiten Prof. Dr. Hartmann 
eine topographisch-historische Studie Ober das zwi¬ 
schen Tigris, Chabur und Bohtan-Su gelegene Ge¬ 
biet vorlegt, im dritten Dr. P eis er eine kurze 
Skizze der babylonischen Gesellschaft, speziell des 
6. • • vorchristlichen Jahrhunderts, bietet, im vierten 
endlich eine Reihe kleinerer Mitteilungen von Dr. 
Meissner, Dr. W. M. Möller, Dr. Winckler 
und C. Niebuhr zusaminengefasst sind. f. e. p. 

• • 

* 

Nach der Karte von Neumayr*) befand sich 
zur Jurazeit ein Kontinent an der Stelle des nörd- 

‘j Dcnkschr. der Wien. Ac. Math. Nat. CI- 50. 


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Betrachtungen und kl^ne Mitteilungen. 


144 


liehen atlantischen Ozeans; an denselben schlossen sich 
grössere Inseln über Skandinavien und Finnland und 
über Centralasien; dagegen war die Südwesthälfte 
Europas von einem Meer mit zahlreichen kleineren 
Inseln bedeckt. Diese bedeutenden Unterschiede 
gegenüber der Gegenwart veranlassten Dr. Fritz 
Kerner von Marilaun') zu Vermutungen über 
die mittlere Luftdruckverteilung, welche zur Jura¬ 
zeit geherrscht haben dflrfte. Nach seiner Angabe 
erstreckte sich im Winter ein Rücken höheren Luft¬ 
drucks über Nordeuropa, während ein kleines 
Niederdruckgebiet das Meer an Stelle von West¬ 
europa einnahm; hierdurch waren in Mitteleuropa 
östliche Winde bedingt. Der Sommer dürfte für 
unsere Gegenden infolge der Entwicklung eines 
Luftdruckmaximums einen beständigeren Charakter 
gehabt haben als heutzutage. Die Temperatur war 
höher als in der Gegenwart; um wie viel ist schwer 
zu sagen. Jedenfalls war nach Neumayr *) das 
Jurameer bereits in drei klimatische Zonen (eine 
nordische, mitteleuropäische und alpine) geschieden, 
welche sich von Norden nach Süden entlang der 
Parallelkreise erstreckten. Die Landverteilung än¬ 
derte sich bedeutend im Verlauf der Jurazeit, in¬ 
dem das Meer grosse Landgebiete m Nordasien 
und im westlichen Nordamerika Überflutete. Wäh¬ 
rend aber die Vermehrung der Wasserbedeckung 
in den Polargegenden die Temperatur erhöht, in 
den Tropen dieselbe herabdrückt, bleibt sie in den 
mittleren Breiten fast ohne Einfluss, und so ist es 
nicht zu verwundern, dass das Verhalten der Or¬ 
ganismen, insbesondere der Ammoniten, auf keine 
wesentliche Klimaänderung während der Jurazeit 
schliessen lässt. Dr. E. w. 


Herstellung von Hetallspiegeln auf elektri¬ 
schem Wege. In einem Glasgefäss, das mit einer 
Luftpumpe in Verbindung gesetzt werden kann, 
befindet sich eine Metallplatte M, die mit dem ne¬ 
gativen Pol eines Induktoriums in Verbindung steht. 
Der Metallplatte gegenüber, in einem Abstand von 
nur wenigen Millimetern, endigt die zum positiven 
Pol'fÜhrende Leitung. Wird nun durch das genügend 
luftleer gepumpte Geföss ein hochgespannter In¬ 
duktionsstrom geschickt, so zerstäubt die den ne¬ 
gativen Pol bildende Metallplatte, und es schlägt 


+ 



sich der ausserordentlich feine Metallstaub auf einer 
unterhalb des negativen Pols liegenden Glasplatte 
G als Metallspiegel von hohem Glanze nieder. Die 
Erscheinung, die hier eine so hübsche Anwendung 
gefunden, ist an und für sich nicht neu. Es ist schon 
längst bekannt, dass z. B. Platindrähte, die als 
Elektroden in GeisslePschen Röhren dienen, all¬ 
mählich zerstäuben, auch die Glaswände der Glüh¬ 
lampen Überziehen sich nach längerem Gebrauch 
mit Kohlenstaub, dies tritt besonders dann ein, wenn 
die Lampen öfters überhitzt werden. Gockel. 


ij Sitz.'Bcr. der Wien. Ac. Math. Nat. CI. Ila 104 S. a86. 
>) Dcnkachr. d. Wien. Ac. Math. Nat. CL 47. 


Alkoholische Gähnmg ohne Hefezellen.') Man 
hat bisher die alkoholische Gährung als einen phy¬ 
siologischen Akt betrachtet, der lediglich auf die 
Thätigkeit der lebenden Hefezellen zurückzufÜhren 
sei. Allerdings hat schon 1858 M. Traube in sei¬ 
ner Enzym- oder Fermenttheorie die Ansicht ver¬ 
treten, dass ein den Hefezellen entstammender Ei¬ 
weisskörper die Gährung veranlasse. Diese An¬ 
schauung ist auch von verschiedenen Seiten insbe¬ 
sondere von F. Hoppe-Seyler unterstützt wor¬ 
den. Sie entbehrte aber jeglicher experimentellen 
Begründung, da aus den Hefezellen ein derartiges 
Enzym bisher nicht gewonnen werden konnte. 
Neuerdings ist nun EduardBuchner eine Tren¬ 
nung der Gährwirkung von den lebenden Hefe¬ 
zellen gelungen. Er presst Bierbrauereihefe nach 
dem Verreiben und darauffolgenden Zusatz von 
Wasser im Presstuche unter einem Druck von 400 
bis 500 Atmosphären. Der resultierende Press^ft 
stellt eine klare Flüssigkeit von angenehmem Hefe¬ 
geruch dar. Er zeigt die interessante Eigenschaft, 
dass er Kohlehydrate in Gährung zu versetzen ver¬ 
mag. So verursacht er in Rohr-, Trauben-, Frucht- 
und Malzzucker regelmässige Kohlensäureentwick¬ 
lung. Dagegen bleibt dieselbe aus beim Vermischen 
des Presssaftes mit Milchzucker, sowie mit Mannit- 
lösung. Diese beiden Zuckerarten werden ja auch 
durch die lebenden Bierhefezellen nicht vergohren. 
Die Natur der w'irksamen Substanz im Presssaft 
ist noch nicht aufgeklärt. Wahrscheinlich ist die¬ 
selbe ein Eiweisskörper. Büchner bezeichnet sie 
einstweilen als Zymase. Die Versuche versprechen 
von weittragender Bedeutung zu werden. Denn 
die Auspressmethode ist auch brauchbar zur Gewin¬ 
nung des Inhaltes von Bakterienzellen. Man darf 
mit besonderem Interesse den Restiltaten entgegen¬ 
sehen, welche diesbezügliche Versuche mit patho¬ 
genen Bakterien ergeben. Dr. G. Sch. 

« « 

Nach Eckenroth*) ist der natürliche Gehalt an 
Essigsäure bei italienischen, spanischen und griech¬ 
ischen Weinen wesentlich höher als bei deutschen 
und französischen. Er kann bei untadelhaften Wei¬ 
nen his zu 0,3 gr in 100 ccm steigen. 

« « 

Das angeblich neue Element Lucium erweist sich 
nach den neuesten spektroskopischen und chemischen 
Untersuchungen als unreines Ythrium. 

(Chem. News 1896, 74.) 

• • 

• 

Nach E m m e r 1 i n g*) ist die Giftigkeit arsenhaltiger 
Tapeten wahrscheinlich auf Verstaubung des Gifts 
zurückzuftlhren, nicht aber dass etwa Mikro¬ 

organismen Arsenwasserstoff abspalten. 


Sprechsaal. 

Nochmals die „Heimat der Germanen.“ 

Von Dr. Ludwig Wii.ser, Karlsruhe. 

„Asien“, sagt der Sprachforscher Adelung') 
„ist zu allen Zeiten für denjenigen Weltteil gehal¬ 
ten worden in welchem das menschliche Ge¬ 
schlecht seinen Anfang genommen, wo es seine 
erste Erziehung genossen und aus dessen Mitte es 
seine Fülle über die ganze übrige Welt verbreitet 
hat.“ Diese Ansicht hat fast unser ganzes Jahr¬ 
hundert beherrscht und galt als unbestrittene und 
unbestreitbare Thatsache: „alle Völker Europas sind 
in ferner Zeit aus Asien eingewandert“, ist die 

») Bcr. d. deutsch, chem. Gesellschaft 30, 117. 

2 ) Chem. Rundschau. 15. la. 96. 

Ber. d. d. chem. Ges. XXIX. Na 17. 

*) Mithridates oder allgemeine Sprachenkunde 1606-16. 



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Sprechsaal. 


145 


Überzeumng Jakob Grimm’s‘), „die Heimat des 
arischen urvolkes wird in Asien zwischen den Ab¬ 
hängen des indischen Kaukasus und dem kaspischen 
Meere gesucht“, meint Wilhelm Arnold*) und 
mit ihm zahllose Sprach-, Geschichts- und Alter¬ 
tumsforscher. Ganz vereinzelt waren die Stimmen, 
die dieser herrschenden und immer wieder als et¬ 
was Selbstverständliches verkündeten Lehre zu 
widersprechen wagten. Schon im Jahre _i826 
schrieb H. Schulz*), dass alle geschichtlichen Über¬ 
lieferungen wie auch die sonst bekannten Umstände 
dafür zu sprechen schienen, die bekannte, von der 
vergleichenden Sprachforschung festgestellte Völ¬ 
kerverwandtschaft der „Indogerinanen“ statt von 
einer Einwanderung aus dem Osten umgekehrt von 
einer Wanderung „europäischer Völkerstämme 
nach Asien herzuleiten.“ In seiner „Schweizer¬ 
chronik“ suchte dann I. A. Henne „unser nord¬ 
westliches Vaterland Europa als eine viel ältere 
Wiege der Menschheit und ihrer Kultur, als die 
eigentliche Heimat fast aller Gottheiten darzustellen“. 
Den Brüdern Wilhelm und Ludwig Linden- 
schmit‘) Hessen künstlerische wie archäologische 
Studien „die asiatische Abstammung unseres Vol¬ 
kes als unerwiesen, ja als unmöglich“ erscheinen. 
Diese Stimmen verhallten aber fast ungehört, und 
erst in der zweiten Hälfte unseres Jahrhunderts 
führte die seit Darwin sich mächtig entwickelnde 
naturwissenschaftliche Weltanschauung, die über die 
engen Schranken der klassischen Archäologie hin¬ 
ausgewachsene Altertumskunde, kurz die Zunahme 
unserer Kenntnisse in den verschiedensten Wis¬ 
sensgebieten eine Reihe hervorragender Forscher 
auf die Seite dieser einst übersehenen und verlach¬ 
ten „Sonderlinge“, so den Engländer Latham 
(1851), die deutschen Sprachforscher Benfey und 
Geiger, die Ethnologen Poesche, Peschei und 
Cuno, die Anthropologen Ecker, v. H öl der und 
andere. Dass auch diese mit gutem wissenschaft¬ 
lichem Rüstzeug ausgestatteten und mit schwer¬ 
wiegenden Gründen kämpfenden Männer die allge¬ 
meine Meinung nicht erscnOttern konnten, lag haupt¬ 
sächlich daran, dass sie ein bestimmtes, mit festen 
Schranken umgebenes Ursprungsland für die stamm¬ 
verwandten „Indogermanen, Indoeuropäer, Arier“ 
oder „Teutarier“ nicht nachweisen, deren Wan¬ 
derungen nicht von einem bestimmten Mittel- und 
Ausgangspunkt ableiten und somit auch die lang¬ 
ersehnte Verbindung von Urgeschichte und Ge¬ 
schichte nicht herstellen konnten. So blieb alles 
beim alten, und man mochte ein geschichtliches oder 
kulturgeschichtliches Buch aufschlagen, welches man 
wollte, gelehrt oder volkstümlich, immer stiess man 
auf die Behauptung; „in grauer Vorzeit sind unsere 
Vorfahren aus Asien eingewandert.“ Von welcher 
bestimmten Gegend aber diese Wanderungen aus¬ 
gegangen, ob und wie sie sich wiederholt, zu w'el- 
cher Zeit und auf welcher Kulturstufe sie stattge- 
fünden haben, darüber vermochte Niemand Aus¬ 
kunft zu geben. So blieb die Vorgeschichte der 
europäischen Völker und Kultur in Dunkel gehüllt, 
und all die emsige Arbeit der Altertumsforscher, 
die aus unserem Boden allmälig eine Unmenge von 
Waffen und Werkzeugen aus Stein, Horn, Holz, 
Bronze und Eisen, zahllose eherne und goldene 
Schmucksachen nebst vielen Schädeln und anderen 
menschlichen Knochen ausgegraben hatten, blieb 
erfolglos, war für die Erweiterung unserer geschicht¬ 
lichen Kennmisse nicht zu verwerten. Auch die ge¬ 
schichtlichen Überlieferungen über die Zukunft und 


>) Geschichte der deutschen Sprache 1848. 

*) Deutsche Urzeit 1879. 

*) Zur Urgeschichte des deutschen Volksstammes. Hamm 1836. 
*) Bern und St. Gallen 1840. 


die Wanderungen unserer Vorfahren waren mit der 
Voraussetzung ihrer Einwanderung aus dem Osten 
unvereinbar und mussten demgemäss als Lüge der 
Sage“ gebrandmarkt werden. Die „Werkstatt der 
Völker“, der unerschöpfliche „Mutterschoss“, der 
immer neue, gleich „Bienenschwärmen“ über unsern 
Weltteil sich ergiessende Geschlechter gebar*), wurde 
von den Geschichtschreibern unseres Jahrhunderts 
nicht anerkannt. Sie waren, auf eigenes Urteil ver¬ 
zichtend, ganz im Banne der Sprachforscher, und 
diese wussten alles viel besser als Tacitus und 
die übrigen alten Gewährsmänner; „Die heutige 
Wissenschaft gibt eine andere Antwort,“ sagt Wil¬ 
helm Scherer*). Und doch, wo waren die Gründe, 
mit denen solc^ überlegene und zuversichtliche 
Behauptungen gestützt wurden ? Als ich anfing, 
mich mit diesen Dingen etwas eingehender zu be¬ 
schäftigen und nach einem Ausweg aus der heillosen 
Verwirrung suchte, wurde mir bald klar, dass der 
Fehler an falschen Voraussetzungen liegen müsse, 
und das diese falsche Voraussetzung eben die 
asiatische Hypothese sei. Als ich mit dieser ge¬ 
brochen hatte, fiel es mir wie Schuppen von den 
Augen, und ich sah Licht, wo früher undurchdring¬ 
liches Dunkel zu herrschen schien, Klarheit und 
Zusammenhang in dem früher unentwirrbaren 
Knäuel ungelöster Räthsel. Es ist begreiflich, dass 
ich diese Erleuchtung auch gerne Andern hätte zuteil 
werden lassen, und so verkündete ich meine neue 
Lehre von der skandinavischen Abstammung der • 
Germanen und der_ verwandten Völker mit dem 
Feuer begeisterter Überzeugui^ *), aber ich hatte 
nicht mit dem „Gesetz der Tr^heit“ gerechnet, 
das auch Jeden wissenschaftlichen I^rtschntt hemmt. 
Zunächst stiess ich auf den heftigsten Widerstand oder 
was noch schlimmer ist, auf völlige Nichtbeachtung. 
Oft wollte in dem nun über 15 Jahre dauernden 
Kampfe meine Kraft erlahmen, meine Geduld sich 
erschöpfen. Allmälich aber konnte man doch be¬ 
merken, wie sich langsam ein Umschwung der 
Meinungen vollzog, wie meine Gegner trotz fort¬ 
währendem Widerspruch mir von Staffel zu Staffel 
näher kamen, so dass jetzt die Vorhut der Sprach¬ 
forscher da angelangt ist, wo ich vor 15 Jahren 
schon stand. Damals wären Aussprüche wie die 
folgenden, unerhört gewesen: „Die Indogermanen 
können nicht aus Asien eingewandert sein", und 
„heute ist in der That nur eine Diskussion darüber 
möglich, welches europäische Land die Indogermanen 
hervorgebracht') hat\ ferner „täuscht nicht alles, 
so ist der Tag nicht fern*), wo die Wiege des indo¬ 
germanischen Urvolkes von keinem Forscher mehr 
in irgend einem geheimnissvolien Winkel Asiens 
gesucht wird, wo die Vertreter der Archäologie 
und der Sprachwissenschaft darin einig sind, die 
indogermanische Urheimat im Nordosten Europas 
zu suchen". Solchen i^usserungen schliesst sich 
das Schlusswort des Aufsatzes von Dr. B r u i n i e r 
(„Die Heimat der Germanen“, in der ersten Nummer 
dieser Zeitschrift) an; „die Heimat der Germanen 
und ihr altehrwOrdiger Name steht fest. Im Norden 
(Skandinavien, südlichen Schweden) müssen wdr 
unsere Wiege suchen. ..." So sehr ich auch da¬ 
mit übereinstimme, die Beweisführung des ge¬ 
nannten Schriftstellers kann ich nicht gut heissen. 
Wahrlich, mit der Lehre von unserer nordischen Ab- 


1) Jordaaes, De rebus Geticis, c. i u. 4. 

Geschichte der deutschen Litteratur, 1883. 

*) Sitzung des Karlsr. Altcrtumsvereins, ap. Dez. 1881. — An* 
thropologcnversammlung in Frankurt t88a. — Die Herkunft der 
Deutschen, Karlsruhe 1885. — 

4 ) H. Hirt, .Die Urheimat und die Wanderungen der lud^ 
germanen*, Geogr. Zeitschr. I. S. 649, >895. — 

>) Nachruf fOr Karl Verner von W. Streitberg, Beilage 
zur Allg. Ztg. Ko. 3, 1B97. 


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146 


Sprechsaal. 


stammung stünde es schlecht, wäre sie nur auf 
einige so zweifelhafte, teilweise sogar sicher falsche') 
Etymologien begründet. Mit Etymologien lässt sich 
alles, d. h. nichts beweisen, und auch die Sprach¬ 
vergleichung ist für die Ermittelung ursprünglicher 
Kulturzustände und die Aufhellung des vorge¬ 
schichtlichen Dunkels von sehr zweifelhaftem Wert. 
Das gestehen nachgerade die Sprachforscher selbst 
zu: man solle doch endlich aufhören, mahnt Paul 
Kretschmar*) „aus der blosssen Wortver¬ 
gleichung Kulturgeschichte herau^destillieren zu 
wollen.“ Die drei Hauptbeweise für die Urheimat 
der „Arier“, als deren letzter und rassereiner 
Kern die Germanen in die Geschichte traten, sind 
folgende. Erstens ein naturwissenschaftlicher. Das 
Verbreitungszentrum einer Rasse ist immer da, wo 
sie sich am reinsten erhalten hat; das ist für die 
nordeuropäische Rasse (Homo europaeus flavus), 
aus der aUe arischen Völker hervorgegangen sind, der 
sQdücheTeilderskandinavischen Halbinsel. Zweitens 
ein geschichtlicher: die Ȇberlieferung von der Aus 
wanderung aus Scandia hat sich bei allen Germanen¬ 
stämmen erhalten*). Drittens ein paläographischer: 
in den skandisch-germanischen Runen ist das Ur- 
alphabet der alteuropäischen Schrift enthalten, d. h. 
die Halbinsel ist aucn der Verbreitungsmittelpunkt 
für unsere Buchstabenschrift *). Da eine täglich 
zunehmende Anzahl hen'orragender Forscher in 
Deutschland, Österreicli, Frankreich, England, Schwe¬ 
den, Russland, der Schweiz und Amerika der neuen 
Lehre von der Urheimat in Skandinavien bereits 
beigetreten ist, darf man hoffen, sie im nächsten 
Jahrhundert allgemein anerkannt zu sehen. Der 
Erfolg wird ein überraschender sein. 

Nachwort. Die Redaktion hält mir vor, ich habe 
statt der Heimat der Germanen die Urheimat der 
„Indogermanen“ behandelt. Zugestanden, aber diese 
Fragen sind nicht zu trennen. Ist die skandische 
Hal&nsel nicht zugleich die Urheimat aller mit den 
Germanen sprachverwandten Völker, so müssen un¬ 
sere Vorfahren dort eingewandert sein. Suchen wir 
aber nach Spuren einer solchen Einwanderung im 
Lande selbst, so findet sich nichts, und wir müssen 
dieselbe mit Montelius (Om v&ra forfäders in- 
vandring tili Norden, 1884) immer w'eiter zurück¬ 
verlegen, bis zur neueren Steinzeit. Dann drängen 
sich aber folgende Fragen auf: w’elchem Volk und 
welcher Rasse gehörten die früheren Bewohner 
Schwedens in der älteren Steinzeit an. Wo ist der 
Ursitz der Steinzeit-Kultur, wann, woher und auf 
welchen Wegen sind die übrigen „Arier“ in ihre 
geschichtlichen Wohnsitze eingewandert, wie erklärt 
sich die nahe — leibliche, sprachliche, kulturelle — 
Verwandtschaft der Germanen mit ihren westlichen 
und östlichen Nachbarn, Kelten und Lito-Slaven? 
Fragen, die niemand zu beantworten vermag, l. w. 

Die Entgegnung des Herrn Dr. Bruinier wird 
in der nächsten Nummer zum Abdruck gelangen. 

Die Redaktion. 


ln No. 4 d. Bl. vom 23. Januar hat Herr Dr. 
F. Tetzner es als /M/cr-Ziay? bezeichnet, „wenn 

1) Die Erklärung von Scandinavia als „Insel der Ausjcczeieh- 
neten“, ist nicht mehr wert, als die Deutung „Haringsaii“ von 
O. Schräder, Philol. Studien, Festgabe für Ed. Sievers, Halle 
1896. — Das Wort ist eine Erweiterung des Swmmes scan 
(Schonen), der in unserem „scheinen" und ,,schön" steckt. 

s) Einleitung in die Geschichte der griechischen Sprache. 
Göttingen 1896 

Die aiiehrwürdi^en, in den verschiedensten Quellen zer¬ 
streuten Zeugnisse sind rum erstenmal zusammengcstellt in 
meiner Schrift: „Stammbaum und Ausbreitung der Germanen". 
Bonn 1895. 

4) Siehe meinen Vortrag „Alter und Ursprung der Runen¬ 
schrift", Korrespondenzbiatt des Gesammtvereins der deutschen 
Geschichts- und Altcrtumsvereine No. ii. und la, 1893. 


Horst Kohl in einer Besprechung die starke Kon¬ 
jugation von ,beneiden* neben der schwachen nicht 
kennt.“ Die Stelle, auf welche Herr Dr. Tetzner 
sein Urteil gründet, lautet (Blätter für literarische 
Unterhaltung 1896 No. 34 S. 532): 

Ein homo literatus war Wagner nicht Das 
lehrt sein Stil, vornehmlich aber die Anwend¬ 
ung von Formen, die die deutsche Schriftsprache 
nicht kennt, wie „benied“ statt „beneidete". 

Herr Dr. Tetzner hat sich die kleine Verschieb¬ 
ung gestattet, für „deutsche Schriftsprache" meinen 
Namen einzusetzen. Mir persönlich ist die Form 
„benied" nicht unbekannt; ich habe sie oft genug 
aus dem Munde schlichter Leute gehört, aber in 
der neuhochdeutschen SchriftspraAe ist sie mff 
noch nie begegnet. Die grammatische Richtigkeit 
der Form zu bestreiten, kommt mir nicht in den 
Sinn. Wilmanns in seiner grossen Grammatik 
führt Abt. II S. 43 „neiden“ ausdrücklich unter den 
Zeitwörtern auf, die ursprünglich schwach im Mhd. 
zu starken oder zu solchen mit schwacher und starker 
Biegung uragebildet worden sind, bei denen aber 
„die neuhochdeutsche Schriftsprache die starke 
Flexion nicht anerkannt hat“. Es wird Herrn 
Tetzner schwer werden, die Form „benied“ mit 
Beispielen aus den Schriften unserer Klassiker zu 
belegen. Das Sprachgefühl hat wider die Form ent¬ 
schieden, und es dürfte ein vergebliches Bemühen 
sein, sie aus der Mundart wieder in die Schrift¬ 
sprache einzuschmuggeln. Die Freude an den star¬ 
ken Formen teile ich an sich mit Herrn Dr. Tetzner, 
aber sie wird mich nie verleiten, dem Sprachgefühl 
unserer Zeit Gew'alt anzuthun. 

Chemnitz Prof. Dr. Horst Kohl. 

In CTammatischen Sachen kann doch „vergeb¬ 
liches ßemühn“ und „dem Sprachgefühl Gewalt 
anthun“ nicht von Wagner, dem homo Uliteratus, 
gesagt werden. Gern entspreche ich dem Wunsche 
des Herrn Prof. Dr. H. Kolil nach Beispielen und 
verweise ihn auf die Wörterbücher von Grimm 
und von Sanders. Unter dem Stichw'ort neiden 
wird er entsprechende Beispiele finden; u. A. von 
Goethe. 

Leipzig. F. Teianer. 

Herrn K. B. in G. Die gebräuchliche Betonung 
ist „Kalorien“, Ton auf dem i. 

Herrn R. in S. Solche Anregungen sind uns 
jederzeit erwünscht; unsere Verbindungen ermög- 
lichan es uns, Aufsätze über vorgeschlagene The¬ 
mata, deren Behandlung von allgemeinem Interesse 
erscheint, in kurzer Zeit zu bringen. • 


In No. 7 der „Umschau“ sind in dem Beitrag 
von Prof. Dürre, „Die Entwickelung der Eisen¬ 
industrie“, leider einige unangenehme Druckfehler 
stehen geblieben. 

Es muss auf Seite 124 in Zeile ii von unten 
„4000 Meilen“ (statt 400) neissen; in Zeile 6 von 
unten ist „Lake Champlain“ zu lesen. Auf S. 125, 
Zeile lo von oben muss es heissen „im Mittet“ 
(statt im Werte); in Zeile 20 „an den Unterlauf“ 
(statt an die Unterlande). 


No. 8 Umsebaa wird enthalten: 

Paaig, Der Lenz in Ägypten. — Neubaiir, Schiffbau. — Wölffing, 
Elektrizität des Luftmecra. - Ankel, Bakchylides-Fragmente. - 
Rohmaterial für Gasglühlicht. - Below, Tropeukrankheiten. — 
Neue Mikrophone. 


G. Horstmanu’s Druckerei. Frankfurt a. M. 


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DIE UMSCHAU 

ÜBERSICHT ÜBER DIE FORTSCHRITTE UND BEWEGUNGEN AUF 
DEM GESAMTGEBIET DER WISSENSCHAFT, TECHNIK, 

Wöchentlich eine Nummer. LITTERATUR UND KUNST 


Zu beziehen durch 
Alle Buchhandlungen und 
Poatanstalteo. 

Postzeitungsprcisliste No. 7321 a. 

Verlag von ; 

H. Bechhold Verlag, Frankfurt a. H. 


herausgegeben von 

DR. J. H. BECHHOLD 


Neue Krftme 19 ^ 21 . 


Preis vierteljährlich 
M. 3.50. 

Jahres*Abonnement 
Preis M. 10.—, 

Im Ausland nach Court. 
Verantwortlicher Redakteur: 

Otto Adolf Wolters, Frankfurt a. BL 


9. 1. Jahrg. 


Nachdruck aus dem Inhalt der Zeitschrift ohne Erlasibms 

der RedakHon verboten. IÖ97. 27. T eDrUar. 


Der Lenz ln Ägypten. 

Von Paul P a s i g. 

Alljährlich, wenn in unsern Breiten der 
Frühling sich zum Einzug rüstet und seine 
ersten gefiederten Boten als Quartiermacher 
voraussendet, schweifen unsere Gedanken gern 
nach jenen bevorzugten Gegenden, denen diese 
wonnige Jahreszeit gewissermassen als klima¬ 
tisches Vorrecht verliehen zu sein scheint. 
Italien und der gesamte europäische Süden 
können hierbei im allgemeinen nicht in Be¬ 
tracht kommen, seit alle wissen, dass auch 
die Palmen- und Orangenhaine beider Rivieren 
zeitweilig unter der Schneelast erseufzen und 
Rom und Neapel in ihren Sterberegistern selbst 
Todesfälle durch Erfrieren verzeichnen. Wir 
müssen noch einige Grade weiter südwärts 
wandern, die stürmische Adria mit ihrer eisigen 
Bora im Rücken lassen und die blaugrünen 
Fluten des Mittelmeeres durchfurchen, um an 
Afrikas Nordküste zu landen: hier öffnen sich 
uns die Pforten eines wahrhaft märchenhaften 
Lenzes, und das zu einer Jahreszeit, in der 
unser Europa meist noch unter dem eisigen 
Banne seines winterlichen Despoten seufzt. 

Wir bleiben der herkömmlichen Anschau¬ 
ung zum Trotz bei unserer wohlbegründeten 
Annahme eines ägyptischen Lenzes stehen. 
Denn die Behauptung, es könne dort nur von 
zwei Jahreszeiten, einer heissen (Sommer) 
und einer kühleren (Winter), die Rede sein, 
trifft zum mindesten für Mittel- und Unter¬ 
ägypten nicht zu. Vielmehr fügt sich zwischen 
beide eine Uebergangsperiode ein, die, wenn 
auch in ausgeprägterer Form, gewiss alle 
Merkmale eines wirklichen Frühlings trägt. 
Zu diesen rechnen wir aber vor allen Dingen 
das nach vorheriger Säftestockung in der 
Pflanzenwelt sich regende neue Leben, dessen 
Ursache in den nun eintretenden günstigeren 
klimatischen Verhältnissen zu suchen ist. In 
Ägypten beobachten wir diesen Umschwung 
Umschau 1897. 


in der ersten Hälfte des Monats Februar. 
Um diese Zeit etwa setzen wir also den An¬ 
fang des ägyptischen Lenzes. Denn nun be¬ 
ginnt der Himmel, der seit etwa 6 — 8 Wochen 
teilweise in Wolken gehüllt war und, wenn 
auch äusserst selten, einige Tropfen seines 
im Nillande keineswegs begehrten Nasses 
herabsandte, seine sprichwörtliche klare Bläue, 
die ihm nun auf annähernd zehn Monate eignet, 
wieder anzunehmen, und in majestätischer 
Pracht feiert die Königin des Tages, vom 
Volke der alten Ägypter einst zur herrschen¬ 
den Gottheit erkoren, ihre immer glänzenderen 
Triumphe. Ungestüm, möchten wir sagen, 
tritt der ägyptische Lenz ein: er ist gewisser¬ 
massen Ober Nacht da, ohne vorher seine 
lieblichen Herolde gesandt zu haben. Daher 
kennt der Europäer in Ägypten, so sehr er 
auch den ägyptischen Frühling nach den vor- 
angegangenen unfreundlichen und kühlen 
Wochen begrüsst, im Pharaonenlande das 
Hochgefühl nicht mehr, mit dem er einst nach 
monatelangem Harren die erste Lerche, das 
erste Schneeglöckchen oder Veilchen begrüsste. 
Die Zugvögel rüsten sich vielmehr jetzt zur 
Rückkehr, und Schneeglöckchen läuten ihm 
hier nicht. — Dagegen begegnet uns als 
Kennzeichen des erwachenden Naturlebens 
die Pfirsich- und Aprikosenblüte, deren bei¬ 
spiellose Fülle in der That die Vorstellung 
beschneiter Bäume weckt, zumal einige dieser 
Arten zu den wildwachsenden Spezialitäten 
gehören. Etwas später, etwa Ende Februar' 
Anfang März, folgt die zarte, duftige Orangen¬ 
blüte. Ägypten besitzt ausgedehnte Orangen¬ 
haine, die sich meist im Besitze vornehmer 
Paschas befinden. Es sind auch nur edle 
Sorten, die hier kultiviert werden : sogenannte 
Blutorangen und die kleinen, nur lose in ihrer 
würzigen Hülle verborgen Mandarinen, beide 
von einem Aroma, von dem der Europäer 
keine Vorstellung hat. Dabei hält der Ägypter 
auf möglichst junge, kräftige Stämmchen, die, 

9 


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148 


Pasig, Der Lenz in Ägypten. 


oft nicht viel über Mannshöhe, ihm einen um 
so reicheren Ertrag verbürgen. Eigentlich 
blühen jene Bäume das ganze Jahr hindurch 
und lassen neben der Blüte die goldenen 
Früchte zugleich aus dem dunklen Grün her¬ 
vorleuchten. Aber die OrangenblOte um diese 
Zeit ist doch die reichste, und mit ihr erscheint 
zugleich eine Fülle anderer Blüten, die auf¬ 
zuzählen ermüden würde. Das ist jene Jahres¬ 
zeit, in der ein Abendspaziergang unbedingt 
Vorstellungen aus der Zauber- und Märchen¬ 
welt von „tausendundeine Nacht“ wachruft. 
Über uns im dunkelblauen Himmelsoceane 
zieht der Mönd, ein silberner Nachen, ruhig 
seine leuchtende Bahn dahin, umgaukelt von 
Millionen glitzernder Lichter, die ihm das 
Geleite geben. Um uns hauchen berauschende 
Dufte, kosen milde, weiche Zephyre, leuchten 
wunderbar gestaltete Blütenkelche, und es ist, 
als vernähme selbst unser Ohr in dem ge¬ 
heimnisvollen Rauschen der majestätischen 
Palmenkronen den verführerischen Lockruf 
der Zauberwelt des Orients. Um Mitte März 
etwa erschliesst die märchenhafte Passions¬ 
blume (Passiflora), die uns vielfach wildwach¬ 
send als Heckenpflanze begegnet, ihre blass¬ 
rote umfangreiche Sternblüte. Später gesellt 
sich die Oleanderblüte hinzu, in weissen und 
roten Büscheln, oft vom Umfange eines grossen 
Tellers tief zur Erde sich neigend, während 
der Eintritt der Reben- und Palmblüte, etwa 
Ende März, auch zugleich das Erfde des 
ägyptischen Frühlings bezeichnet. Ehedem 
zur Pharaonenzeit war Ägypten reich an Wein¬ 
gärten, und die Bereitung des Rebensaftes 
stand in hohem Ansehen. Gab man doch 
selbst den Toten diese kostbare Gottesgabe 
in Gestalt von Trauben mit in den Sarg. 
Unter der Herrschaft des Islam, der den 
Weingenuss verbietet, ist das anders geworden, 
und die Rebe wird teils als Bedachung von Lau¬ 
ben, teils, um als Tafelobst verzehrt zu werden, 
nur noch in geringem Umfange gebaut. Einen 
eigenartigen Anblick gewähren die dicht unter 
der Blätterkrone hervortretenden, etwa m 
langen, weissgelben Blütenkolben der Dattel¬ 
palme, an denen sich die im November reifen, 
knorpeligen, ziegelroten Datteln bilden, welche, 
um geniessbar zu werden, nach Art der hei¬ 
mischen Mispel erst einen Fermentations¬ 
prozess durchmachen müssen und dann von 
einem Wohlgeschmack sind, den die zum 
Versand kommenden getrockneten Datteln 
nicht im entferntesten ahnen lassen. 

Hand in Hand mit dem Aufbrechen des 
Blütenflors geht die Neubelaubung einer An¬ 
zahl von Bäumen, die ursprünglich nicht in 
Ägypten heimisch waren. Dahin gehört u.a. der 
Alleebaum des modernen Ägyptens, die breit¬ 
ästige, dunkelschattige LebbachakaziefAlbizzia 


Lebbek), nicht mit der Nilakazie, dem Sunt- 
baum, zu verwechseln. Jener Baum, dem das 
heutige Ägypten ein gut Teil seines freund¬ 
lichen Aussehens verdankt — wie angenehm 
wandelt es sich jetzt z. B. im Schatten der 
über 3 Stunden langen Lebbachallee nach den 
grossen Pyramiden bei Gizeh dahin! — ver¬ 
liert im April sein Blättergewand, um nach 
Verlauf von etwa zwei Wochen im zartesten 
Grün zu prangen und zugleich mit dem süssen 
Duft seiner Blüte, deren Aroma dem der 
Orangenblüte gleicht, Strassen und Plätze zu 
würzen. Auch die graziöse Trauerweide, die 
nirgends in formenschöneren Exemplaren zu 
finden sein dürfte, braucht kaum längere Zeit, 
um das staubgraue Wintergewand mit dem 
lichtgrünen Frühlingsschmucke zu vertauschen 
und uns so im Geiste in ihre Heimat, an die 
Wasser Babels, zu versetzen und in leisem 
Rauschen die Harfenklänge der Verbannten 
ertönen zu lassen. . . . 

An eigentlichen Gartenblumen hat der 
ägyptische Lenz einen auffallenden Mangel. 
Am meisten begegnen uns die Geraniumarten, 
deren Blütenfülle unerschöpflich scheint, wäh¬ 
rend auch in neuer Zeit angestellte Versuche, 
auch unser Veilchen zu akklimatisieren, bei 
rechter Pflege geglückt sind. Aber eines er¬ 
füllt mit Staunen: das Gras, das schlichte, 
gi*üne Gras, leistet allen Einbürgerungs¬ 
versuchen hartnäckigen Widerstand. Ver¬ 
fasser war selbst Zeuge, wie während eines 
halben Jahres zur günstigsten Jahreszeit in 
dem prächtigen Ezbekiyegarten in Kairo der¬ 
artige Versuche von sachverständiger Hand 
unternommen wurden: allein die sorgfältigste 
künstliche Bewässerung, die peinlichste Pflege 
waren nicht imstande, die sichtlich dahin¬ 
sterbenden Pflanzen vom Untergange zu retten, 
und so ist unserem Auge der Anblick schwel 
lender, saftiggrüner Rasenflächen ebenso 
versagt, wie aller jener andern anspruchslosen 
Blümchen, die uns die ersten Grüsse des na¬ 
henden Lenzes bringen. 

Das Ende des ägyptischen Frühlings, der 
annähernd kaum länger als 6—8 Wochen 
(bis Ende März) währt, bezeichnet in ziemlich 
empfindlicher Weise der eigentliche Beginn 
der sog. Chantsinperiode d. h. die Zeit jener 
meist aus Süden, zuweilen auch aus Westen 
wehenden Glutwinde, die, wie der Name 
besagen will, etwa 50 Tage vor dem Soramer- 
solstitium anhebt. Wenn nun auch Cham- 
sinwinde bereits vom Dezember bis Februar 
vereinzelt auftreten, so ist es doch richtig, dass 
sie erst von Ende März an zu einer empfind¬ 
lichen Unannehmlichkeit zu werden pflegen. 
Einerseits treten sie nun häufiger und in 
längeren Perioden, teilweise bis zu 3 und 4 
Tagen, auf, anderseits erhöhen sie jetztdieTem- 


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Below, Die Erforschung und Bekämpfung der Tropenkrankheiten. 


149 


peratur in vorher nicht geahnter Weise. 
Während die Durchschnittstemperatur des 
ägyptischen Frühlings etwa dem jahresdurch* 
schnitt entspricht (-j- 21 “ C), tritt mit April 
ein jäher Wechsel ein, und -f- 40° C und 
darüber im Schatten gehören keineswegs zu 
den Seltenheiten. Infolgedessen beginnt der 
Erdboden auszutrocknen, und die Pflanzenwelt 
leidet sichtlich unter den sengenden Glut¬ 
strahlen, und wenn vollends der Chamsin 
seine feurigen Pfeile versendet, dann ersterben 
auch die verborgensten Lebenskeime, und 
rettungslos ist die Vegetation dem Untergange 
geweiht. Daher feiert der Eingeborene all¬ 
jährlich um diese Zeit ein Natur- oder Früh- 
lingsfest, das er Cham-el-Nessim nennt und 
dessen Bedeutung darin besteht, sich noch 
einmal dem Genüsse der im üppigsten Flore 
prangenden Natur hinzugeben, ehe dies die 
nun beginnenden „schlimmen Tage" verbieten. 
Festlich geschmückt ziehen die Städter hinaus 
aufs Land zu harmloser Unterhaltung im 
Freien, und die Landbewohner ergehen sich 
in den Strassen der Stadt, um die Sorgen des 
Alltagslebens für Stunden zu vergessen und 
in harmloser Fröhlichkeit auch einmal Men¬ 
schen zu sein! Das nennt der Araber eine 
„Fantasia" und verbindet damit den Begriff 
sorglosen Dahinlebens, ohne gerade an rau¬ 
schende Belustigungen zu denken. . . . 

Aber auch für den Europäer bedeutet das 
Ende des ägyptischen Lenzes, sofern ihm nicht 
Amt und Stellung ein Ausharren im Lande 
gebieten, den Schluss der „Saison". Unter 
rauschenden Palmen und blühenden Oleandern 
und Granatbäumen hat er, trunken von Duft, 
Glanz und Farbe, den Frühling im Nillande 
bis zur Neige gekostet, und wenn er heim¬ 
kehrt in seine nordische Heimat, grüsst ihn 
der Lenz, der ihm vorausgezogen ist, zum 
zweiten Male, um ihn in sein Allerheiligstes, 
seine geheimnisvollen, ahnungsschaurigen 
Fichten- und Eichenwälder zu führen. 


Die Erforschung und Bekämpfung 
der Tropenkrankheiten. 

Von Dr. E Below. 

Die weisse Rasse hat begonnen, sich für 
die Ausbreitung ihres Verkehrs und ihrer Be¬ 
siedelung den Tropengürtel durch Eisenbahn 
und Dampfer mehr und mehr zu erschliessen. 

Dies eröflfnete für die civilisierte Welt neue 
Verkehrswege, aber auch neue Seuchenwege. 

Während wir den nordischen Seuchen, 
wie Tuberkulose und Diphtherie, nicht mehr 
ganz ungewappnet gegenüberstehen, sterben 


unsere Beamten fast hilflos an Pernicissa, bi¬ 
liösem Wechselfieber, an allen Ab- und Unter¬ 
arten der beiden grossen Hauptkrankheits¬ 
gruppen des heissen Erdgürtels, der Malaria 
und des Gelbfiebers. Und an andern noch un¬ 
bekannten Seuchen, die uns demnächst Über¬ 
fallen werden, hat es keinen Mangel. Lepra, 
Lupus, Beriberi, die Beulenpest, Framboösia 
u. s. w. lauern im Hintergründe. 

Die bisher Kolonialpolitik treibenden Na¬ 
tionen, Engländer, Franzosen, Spanier, Por¬ 
tugiesen und Holländer, haben auf ihre Weise 
mit mehr oder weniger Geschick versucht, 
den Seuchen gegenüber sich vorsichtig in den 
Tropen einzurichten. 

Aber das geschah mehr im Hinblick auf 
ihren eigenen nationalen Vorteil, als in der 
Absicht, dem Übel auf den Grund zu gehen 
und die Welt davon zu befreien. 

Deutschland kam im Wettbewerbe der Völ¬ 
ker zuletzt. 

Wenn ihm auch bei dieser Teilung der 
Erde das geringste Teil nach räumlicher Aus¬ 
dehnung zufiel, dürfte ihm doch eine wich¬ 
tigere Aufgabe zu guterletzt zugefallen sein, 
als den andern Allen, wenn es sich seiner 
Kulturmission für die zivilisierte Welt dabei 
bewusst bleibt. 

Dem Wesen der Tropenseuchen, der Ak- 
klimatisätionsfrage in Verbindung mit der 
Seuchenfrage auf den Grund zu gehen und 
so den Tropengürtel von den bedrohlichen 
Gefahren zu säubern, das scheint als höchste 
zivilisatorische Arbeit dem deutschen Forscher 
Vorbehalten, wenn er sich, wie es ihm an- 
geboten worden ist, an die Spitze des Forsch¬ 
ungs-Unternehmens stellt. 

Dies seit 10 Jahren im Stillen von der 
deutschen Kolonialgesellschaft unter Ägide 
ihres Präsidenten, des Fürsten Hohenlohe- 
Langenburg, vorbereitete Unternehmen, über 
dessen Fortschritte auf den alljährlichen Wan¬ 
derversammlungen der deutschen Naturforscher 
und Ärzte berichtet wurie, ist nun damit, 
dass sich das deutsche Reichsgesundheitsamt 
im Aufträge der Regierung der Sache an¬ 
nahm, um sie aus dem bisherigen mehr agi¬ 
tatorischen in das organisatorische Studium 
hinüberzuführen, zu einem Punkte gediehen, 
wo es für die weitesten Kreise Interesse zu 
bieten beginnt. 

Es verlohnt deshalb, eine kurze Aufklär¬ 
ung über Gang und Verlauf dieser ganzen 
tropenhygienischen Angelegenheit zu geben. 
So aussichtsreich auch die Forschung gegen¬ 
über den nordischen Krankheiten, wie Tuber¬ 
kulose und Diphtherie, durch Heilserum und 
andere Versuche zu arbeiten begann, so we¬ 
nig erfolgreich war sie bei den Tropenseuchen, 
Malaria und Gelbfieber u. a. 

9 ‘ 


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Below, Die Erforschung und Bekämpfung der Tropenkrankheiten. 


150 


Da erwies sich durch die von der deut¬ 
schen Kolonialgesellschaft zu vielen Hunderten 
von Exemplaren in deutscher, französischer 
und englischer Sprache ausgesandten Frage¬ 
bogen, dass die Ursache dieses Misserfolges 
u. a. in zwei bisher noch wenig beachteten 
Dingen zu suchen sei: Erstens in dem fast 
vollständigen Mangel an Statistik und sanitäts¬ 
polizeilicher Überwachung der Tropen; zwei¬ 
tens in der Schwierigkeit, die Akklimatisations¬ 
frage von der Seuchen-Entstehungsfrage in 
den Tropen zu trennen. 

In Folge dessen wurden emsig weitere 
Fragebogen von der Gesellschaft an die her¬ 
vorragenden Ärzte der Tropen herumgeschickt. 
Die Beantwortungen wurden gesichtet, be¬ 
arbeitet, auf den Naturforscherversammlungen 
wurde von Ärzten und Meteorologen, von 
Physiologen, Geographen und Anthropologen 
in der tropenhygienischen Sektion durch den 
Referenten der deutschen Kolonialgesellschaft 
darüber berichtet und die Ergebnisse zusam¬ 
mengestellt. Diese zeigten, welche Einseitig¬ 
keiten begangen werden können, wenn die 
Forschung sich gewöhnt, die Verhältnisse 
unseres Planeten nur von einer Zone aus zu 
beurteilen. 

Weder unser gesunder Körper zeigt in 
den Tropen dieselben physiologischen Ver¬ 
hältnisse, dieselbe Blutkörperzahl, dasselbe 
spezifische Uringewicht etc. wie in der ge¬ 
mässigten Zone, noch ist das Auftreten der 
Krankheiten dort ein Gleiches, kurz: die 
Funktionen verändern sich, und damit auch 
die Organe und die Rasse. Während eine 
Epidemie bei uns in Europa alle Klassen fast 
gleichmässig, mit wenig Unterschieden befällt, 
sehen wir in den Tropen, dass die Masern 
auf Apia z. B. jy,ooo Gelbe tödten und kei¬ 
nen IVeiSsen befallen, dass gewisse Krank¬ 
heiten die Schwarzen verschonen und die 
Weissen hinraffen und umgekehrt und dass 
Nationen, die seit Jahrhunderten von Zone 
zu Zone zu wandern gewohnt sind, wider¬ 
standsfähiger gegen Krankheiten sind, als 
jene nordischen, blonden Typen, deren Vor¬ 
ahnen seit Jahrhunderten in derselben Zone 
festsässig waren. 

Blieb hier auch noch Vieles durch weitere 
Forschung zu bestätigen, so wies doch dies mit 
Deutlichkeit auf den schon von Alexander 
von Humboldt angedeuteten wichtigen Ein¬ 
fluss der Äquatorialveihältnisse auf die Um¬ 
wandlungen von Tier, Pflanze und Mensch. 

In seiner Bearbeitung der Ergebnisse der 
tropenhygienischen Fragebogen wagte der 
Unterzeichnete 1891 darauf hinzuweisen, dass 
eine weitere Forschung in diesem Sinne uns 
vielleicht das Selbstregulierungsgesetz der 
Organismen am Äquator andeuten dürfte. 


welches er das Gesetz der Arienbildung durch 
Zonenbildung nannte. 

Dies führte dazu, dass auf der Natur¬ 
forscherversammlung in Wien sein Antrag 
einstimmig angenommen wurde, der zum 
Zwecke seines Welthygiene-Planes und der 
dazu notwendigen Einrichtung von Sanitäts¬ 
ministerien Folgendes verlangte: 

Einrichtung tropenhygienischer Laboratorien 
im Äquatorialgürtel zwecks zonenvergleichen- 
der physiologischer, bakteriologischer, patho¬ 
logischer und anthropologischer Studien und 
einheitliche Leitung dieser Laboratorien unter 
einer wissenschaftlichen Zentrale in Berlin. 

Am 20. März 1895 brachte der Reichs¬ 
tagsabgeordnete Dr. Hammacher die Sache 
im Reichstage zur Sprache, wo sie in ent- 
gegenkommenster Weise vom Ministerial¬ 
direktor Kayser behandelt wurde und auf 
der Naturforscher- und Ärzteversammlung in 
Lübeck erklärte der vom Reichsgesundheits¬ 
amt als Referent beauftragte Regierungsrat 
Dr. Kübler, dass dem Wunsche gemäss, der 
in den Wiener Anträgen ausgesprochen sei, 
das Reichsgesundheitsamt die Sache auf An¬ 
regung der Regierung hin in die Hand ge¬ 
nommen habe. Damit trat die Angelegenheit 
aus dem bisherigen agitatorischen in das or¬ 
ganisatorische Stadium. Das Reichsgesund¬ 
heitsamt holte sich Rat bei berufenen Män¬ 
nern, u. a. bei Schreiber dieses, auf des¬ 
sen Ergebnissen seiner tropenhygienischen 
Fragebogen fussend, weiter gearbeitet werden 
soll, ferner bei Herrn Dr. Däubler und 
Dr. Schellong. 

Noch stehen wir vor den offenen Fragen: 

Sind die Tropen dazu bestimmt, für die 
weisse Rasse der Kirchhof oder der Jung¬ 
brunnen einer erhöhten Resistenzfähigkeit zu 
sein? 

Kann der Weisse sich in den Tropen bis 
über die 3. Generation hinaus fortpflanzen, 
ohne seinen Typus allmählig dem des Gelben 
oder Schwarzen zu nähern? 

Darf die Regierung Beamte mit Frau und 
Kind nach den Tropen schicken? 

Birgt der fermentierende Boden der Tro¬ 
pen die Keime neuer uns drohender Tropen¬ 
seuchen ? 

Gehört Zonenwechsel bei Mensch, Tier 
und Pflanze zur Notwendigkeit im Laufe der 
Generationen, um die Akklimatisationsfähig¬ 
keit und Resistenzfähigkeit gegen Seuchen 
zu erhöhen, oder ist er der Erhaltung und 
Weiterverbreitung der Art schädlich? 

Diese und viele andere wichtige Fragen 
sind noch ungelöst. Uns Deutschen scheint 
es Vorbehalten, die Regeln zu erforschen. 


Erschien bei Jäger, Frankfurt a. M. 1893. 


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Neubaür, Deutsche Schiffsbauwerften im Jahre 1896. 


um die Tropenzone mit Erfolg der Kultur 
der weissen Rasse zu erschliessen. Vielleicht 
tragen die Erfolge auch dazu bei, dem deut¬ 
schen Arzt die führende Stimme in einem 
Weltkygenie-Verband zu geben, wie er auf 
dem Weltkongress 1890 in Berlin vorge¬ 
schlagen wurde. 


Die Thätigkeit der deutschen Schiffsbau¬ 
werften im Jahre 1896. 

Voa Ur. Neubaur. 

Zum Verständnis mancher technischer Aus¬ 
drücke, die im nachstehenden Aufsatz unver¬ 
meidlich sind, möge diese kurze Einführung 
dienen: Die Grösse eines Schiffes drückt sich 
am besten in seinem Rauminhalt aus; diesen 
berechnet man nach Tons. Eine Schiffstonne 
= 1,45 Kubikmeter oder 1021 Kilo, hingegen 
enthält ein Registerton nach deutschem Mass 
2,12 Kubikmeter. Dxt Geschwindigkeit 
man in Knoten =* 1,855 Kilometer aus, die 
Leistungen der Maschine in Pferdekräften 
» 75 Meterkilogramm; es ist jedoch ein Un¬ 
terschied zwischen effektiven Pferdekräften, 
wie sie durch Bremsvorrichtung an der 
Schwungradwelle ermittelt werden und indi¬ 
zierten Pferdekräften, die man durch Indika¬ 
tor am Dampfcylinder bestimmt. Erstere Er¬ 
mittelung gibt niedrigere Zahlen. Der Bau 
eines Schiffes erfolgt auf der Helling, einer 
schiefen Ebene, deren Vorderteil in’s Wasser 
geht. 

I. Schiffsbau für die Handelsmarine. 

Die deutschen Schiffsbauwerften haben im 
soeben abgelaufenen Jahre eine überaus rege 
Thätigkeit entfaltet. Die denselben gewor¬ 
denen Aufträge, deren Ausführung teils aus 
dem Vorjahre übernommen, teils im Jahre 
1896 neu begonnen wurde, waren so umfang¬ 
reich, dass nicht einmal alles angenommen 
werden konnte. Die für deutsche Rechnung 
ausgeführten Sghiffsbauten des vergangenen 
Jahres werfen interessante Streiflichter auf 
die Ausdehnung des deutschen Schifffahrts- 
verkehrs und den Anteil, welchen Deutsch¬ 
land am Überseehandel gewonnen hat und 
in immer steigendem Masse erweitert^). Un¬ 
ter den deutschen Auftraggebern sind alle 

*) Wir geben im Nachstehenden die wichtigsten 
Ziffern wieder: 

Insgesamt befanden sich im Dezember 1896 auf 
deutschen Werften im Bau 275 Fahrzeuge. Unter 
diesen befanden sich 175 Dampfer, 13 Segelschiffe, 
39 Schleppkähne und Leichterfahrzeuge, der Rest 
sind Docks, Bagger u. s. w. Von den gesamten 
im Bau befindlichen Fahrzeugen wurden 251 aus 
Stahl erbaut, 20 aus Holz, nur 2 aus Eisen und 2 
aus Komposit. 


151 


grösseren deutschen Rhedereien, ausserdem 
die kaiserliche Marine, das auswärtige Amt, 
die königliche Kanalkommission des Kaiser- 
Wilhelm-Kanals, verschiedene Wasserbau- 
Inspektionen, der Bremer Senat, die königlich 
preussische Zollverwaltung u. s. w. vertreten. 

Für den transatlantischen Verkehr befan¬ 
den sich im Bau 44 Dampfer (je über 500 
Tons Gehalt) und 6 Segelschiffe. Im allge¬ 
meinen macht sich noch stärker wie zuvor 
das Bestreben geltend, Schiffe von gewaltigen 
Dimensionen und einer ungeheueren Lade¬ 
fähigkeit einzustellen. Die betreffenden Zif¬ 
fern gehen im lahre 1896 weit über alle 
früheren Dimensionen hinaus. 

An Schiffen von mehr als 10000 Regis¬ 
tertonnen Gehalt befanden sich auf deutschen 
Werften nicht weniger als sieben. Dieselben 
sind mit einer Ausnahme allesamt für den 
Norddeutschen Lloyd in Bremen bestimmt. 
Zwei derselben haben noch ein besonderes 
Interesse dadurch, dass sie als Schnelldamp¬ 
fer die grössten und schnellsten Schiffe aller 
Nationen übertreffen. Aber auch die vier 
anderen Dampfer sind interessant dadurch, 
dass sie dem bisherigen grössten deutschen 
Dampfer (dem Schnelldampfer „Fürst Bis¬ 
marck“) an Grösse überlegen sind. Der sie¬ 
bente Dampfer ist für die Hamburg-Amerika- 
Linie bestimmt. Die Ausführung der genann¬ 
ten Schiffe auf deutschen Werften ist ein 
ausserordentliches Zeichen für die Ausbildung 
deutschen Schiffbaues und deutscher Technik.^) 

Von einer besonderen Wichtigkeit er¬ 
scheint, abgesehen von den Bauten für den 
transatlantischen Verkehr, die ungemein rege 
Thätigkeit, welche für die deutsche Hochsee¬ 
fischerei entfaltet wird, wie dieselbe in den 
neu in Auftrag gegebenen oder im Bau be¬ 
findlichen Schiffen für den Hochseefischerei- 
Verkehr zum Ausdruck kommt. Nicht weniger 
als 28 Fischdampfer befanden sich im De¬ 
zember 1896 im Bau, 16 davon gehören der 
Dampf-Hochseefischerei Nordsee, drei der 
Fischerei-Gesellschaft Wilhelmshaven, zwei 
der Fischerei-Gesellschaft Oldenburg; die üb¬ 
rigen sind im Privatbesitz. Auffallend er¬ 
scheint, dass von den sämtlichen genannten 
Fischereidampfern kein einziger Hamburg 
zum Heimatshafen hat. Nur einer ist über¬ 
haupt für die Elbe bestimmt. 

Die Bauaufträge, welche die grossen deut¬ 
schen Rhedereien an deutsche Werften ge¬ 
geben haben, verteilen sich wie folgt: 

An der Spitze der Auftraggeber steht der 

•) An Schiffen von 5000—10000 Registertonnen 
befanden sich im Bau 5, von 2000—5000 Tonnen 
II Schiffe, von Ober 1000—2000 Tonnen 14, von 
500-1000 Tonnen ii Schiffe, die übrigen bleiben 
unter 500 Tonnen. 


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Nkuhaur, DiansciiK Schikfsbauwfrktkn im Jahre 1896. 


*52 


Norddeutsche Lloyd in Bremen mit 22 Fahr¬ 
zeugen.*) 

Die Hamburg-Amerikanische-Packetfahrt- 
Aklienge.sellschaft hatte auf deutschen Werften 
acht.*} 

Die Hamburg - Südamerikanische - Dampf- 
achiffTahrts-Gesellschaft sieben.*) 

Die Deutsch-O.stafrika-Linie im Verein mit 
der Woermann-I-inie acht Fahrzeuge im Bau.*) 
Weitere Aufträge sind ausgeführt oder 
befinden sich noch in Arbeit für die Deutsche 
DampfachilTfahrtarhederei (Kingsin-Linie), für 
die fiamburg-Kalkutta-Linie, fttr die Deutsch- 
Australische DampfschifTs-Gcsenschaft, die 
Hansa in Bremen, für den Neptun in Bremen, 
für die Asiatisrlie Küstenfahrlsgesellschaft usw. 
Der deutsche Segelschiffsbau zeigt gegenüber 
dem Dampfschiftsbau nur sehr kleine Ziffern.*) 
Gegenüber der im allgemeinen höchst er¬ 
freulichen Thätigkeit der deutschen Werften 
steht die recht unerfreuliche Thntsache, dass 
auch im vergangenen Jahre eine bedeutende 
Anzahl von Schiffen und zwar meist grösse¬ 
rer Dimensionen //« Aushmi für deutsche 
Hechnutk^ vergeben gewesen sind. Die Zahl 
der Fahrzeuge beläuft sich auf 39, darunter 
34 I^ampfer und 5 Segelschiffe. Die letzt¬ 
eren waren oder sind noch alle in Holland 
in Arbeit. Von den Dampfern sind 31 auf 
englischen Werften im letzten Jahre für 
deutsche Rechnung vollendet worden oder 
befinden sich noch im Bau.") Mit Rücksicht 
auf die neulichen Verhandlungen im Reichs¬ 
tag mag besonders betont werden, dass der 
Norddeutsche Lloyd in Bremen kein einziges 

b l'nter diesen befanden sich sechs Dampfer 
von mehr als 10000 Tonnen Gehall, drei Dampfer 
von je 3000 5000 Tonnen Gehalt, ein Dnmufer von 
500 looo Tonnen Gehalt, vier Sv'hleppdampfer, 
der Rest enHÄUt auf Schleppkähne und einen Ge- 
treide-Klevalor. Im l’miMiu Dt-tindei sich der Schnell¬ 
dampfer „Saale“. 

*) Kinen Dampfer von mehr als 10000 Register- 
lonnen Gehalt, zwei von 5000—10000 Tonnen, die 
Übrigen Fahrzeuge sind Leichter und ein Getreide- 
tlevalor. 

•) Fünf Dampfer zwischen jooo 5000 Tonnen 
Gehall und zwei Leichter. 

*) Zwei von^ioi» 5000 Toiuien t>ohalt. der Rest 
sind Sv'hleppdainpfer. 

*) l'nter den 13 Segelschitfen, welche sich im 
Hau befanden, sind mir zwei, welche iiiefir eds äx» 
'Toune<i tlehah haben, alle übrigen 11 S^-hide blei¬ 
ben unter 500 Tonnen. 

Von diesen Dampfern sind sieb<.ni lür die 
1 lambiu^ • .-\inerik.inbiche - Facketf.ihn- Aktiengesell¬ 
schaft bestiiuim «.^ler b<‘reits geliefert. .\iLss<Tdein 
befiiuien sich uiuer den AufCraggc'beni die Ham¬ 
burg ■ SUdamerikauische - DampfsetudVahrts - V'-es^’H- 
schall, die Deut'^ct>-aU'-trat!>chc''l\inipfsclutf'i-Gcse!i- 
settart, die tie-clischarl „Kosniv's“ 1 Hamburg-Süd¬ 
amerika'. i.lie Gbiiic-sj-icbc Kustenfahrt'l.ie-‘elUcb.Ul. 
die l'ampfsct"'*Vaitrtv-i.K's<-rschaft Hair-si. Rickmer's 
KeiMimbicn. Khederei und S>.‘hid1iau-Ak:iengcsk-{1- 
chatl. Ki.*bvrt M. SU-man u. a. 


Fahrzeug auf fremden Werften bauen liess 
oder lässt. 

Erfreulich ist es, dass im abgelaufenen 
Jahre eine grössere Reihe auswärtiger Be- 
steiler die deutschen Werften in Thätigkeit ge¬ 
setzt hat. Insgesamt sind für auswärtige 
Rechnung 20 Schiffe in Deutschland gebaut 
worden. Unter den Bestellern befindet sich 
die brasilianische Regierung und die rumä¬ 
nische Regierung, die übrigen kamen aus 
Russland, Dänemark, Holland und Südamerika. 
Es lässt sich erw'arten, dass mit der Aus¬ 
dehnung der deutschen Werftbetriebe, die ja 
in den letzten Jahren überaus glücklich sich 
entwickelt haben, die Notwendigkeit, Schiffe 
im Ausland zu bestellen, mehr und mehr 
fortfällt, und dass gleichzeitig mit dem im¬ 
mer weiter dringenden Rufe des deutschen 
Schiffbaues die Bestellungen vom Ausland in 
Deutschland zunehmen werden. Die Aus¬ 
dehnung der Thätigkeit und Entwicklung der 
deutschen Stahlwerke nach dieser Richtung 
hin ist dafür eine unerlässliche Vorbedingung. 
Aber auch in dieser Beziehung sind sehr 
wesentliche Fortschritte zu verzeichnen. 

11. Kriegsschiffsbau. 

Bei Kriegsschiffen unterscheidet man fol¬ 
gende Kategorien: i) die Schlachtflotte für 
den Kampf auf hoher See und zum Angriff 
feindlicher Küsten, aus Panzerschiffen be¬ 
stehend : zur Ausübung des Kundschafter- und 
Sicherungsdienstes werden Kreuzer, Avisos 
und Torpedoboote beigegeben, 2) die Kreuzer¬ 
flotte, im Frieden für den auswärtigen Dienst, 
ira Krieg zum Aufbringen feindlicher Han¬ 
delsschiffe und zum Begleiten der Schlacht¬ 
flotten, hauptsächlich ungepanzerte Fregatten, 
Korvetten und Kanonenboote, neuerdings auch 
gepanzerte Kreuzer, 3) eine Küstenverteidig- 
ungsflotte, bestehend aus Panzerkanonenbooten, 
schwimmenden Batterien, Torpedobooten \ 
schliesslich noch Transportschiffe, eine Tor¬ 
pedoflottille etc. 

Neubauten und Umbauten von Schlachtschiffen. 

Der deutsche Kriegsschiffsbau hat im 
Jahre 1896 sowohl auf den Staats- we auf 
den Privatwerften eine ungewöhnlich ausge¬ 
dehnte Thätigkeit entfaltet. 

Entsprechend den Anforderungen, welche 
die Reichsmarine zur Wahrung der deutschen 
Interessen und der deutschen Machtstellung 
— nicht nur im Auslande, s^mdern auch in 
heimischen Gewässern — stellen muss, ist 
im deutschen Kriegsschitfsbau ein schnelleres 
Temj.x' cingesehlagen worden. Dass die deut¬ 
schen Werften und die für dieselben liefern¬ 
den Industrien in der Lage gewesen sind, 
den an sie gestellten Anforderungen gerecht 


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Neubaur, Deutsche Schiffsbauwerften im Jahre 1896. 


153 


zu werden, darf mit besonderer Genugthuung 
begrQsst werden. 

Wir geben im Nachstehenden eine Zu¬ 
sammenstellung der für die deutsche Reichs¬ 
marine im Bau befindlichen Schlachtschiffe 
und der Umbauten, welchen altere Panzer¬ 
schiffe unterzogen worden sind. 

Auf den beiden Kaiser!. Werften in Wilhelms¬ 
haven und Kiel befinden sich die drei gröss¬ 
ten Kriegsschiffe der deutschen Marine im 
Bau. In Wilhelmshaven die beiden Panzer¬ 
schiffe I. Klasse „Kaiser Friedrich III.“ (früher 
Ersatz Preussen) und „Ersatz Friedrich der 
Grosse“, in Kiel der Kreuzer I. Klasse „Er¬ 
satz Leipzig“. Die beiden Schlachtschiffe 
„Kaiser Friedrich III.“ und „Ersatz Friedrich 
der Grosse“ sind Schwesterschiffe und wer¬ 
den sich äusserlich nicht von einander unter¬ 
scheiden, in ihrem inneren Ausbau nur inso¬ 
fern als das letzterwähnte Schiff zur Auf¬ 
nahme des Flottenstabs eingerichtet werden 
Vr'ird. Die Maschinenanlagen der beiden 
Schiffe, die je 13,000 Pferdekräfte leisten 
sollen, werden jedoch wesentliche Unterschiede 
aufweisen. Wie alle grösseren Neubauten 
unserer Manne werden beide Panzerschiffe 
zwar als Dreischrauber gebaut, Kaiser Fried¬ 
rich erhält jedoch Dreicylinder-Maschinen und 
eine aus Wasserrohrkesseln •) und Cylinder- 
kesseln') gemischte Kesselanlage, während auf 
„Ersatz Friedrich der Grosse“ Viercylinder- 
Maschinen und eine reine Wasserrohrkessel¬ 
anlage eingebaut werden sollen.*) 

Bezüglich der Panzerung und Armierung 
bestehen keine Unterschiede zwischen beiden 
Schiffen. Die Vertikalpanzerungen — je nach 
der Wichtigkeit der zu schützenden Teile 
100 bis 300 mm dick — werden von Krupp 
in Essen und von der Dillinger-Htitte aus 
Nickelstahl mit gehärteter Oberfläche nach 
einem besonderen Verfahren hergestellt. Die 
Güte dieses Materials wird von keinem Pan¬ 
zerplattenwalzwerk des Auslandes erreicht, 
geschweige übertroffen. Das Gesamtgewicht 
aller Panzerungen wird bei jedem der beiden 
Schiffe den Betrag von etwa 3800000 Kilogr. 
erreichen, also 34®/© totalen Schiffsge¬ 

wichtes mit voller Ausrüstung betragen. 

Hinsichtlich der Fahrgeschwindigkeit, die 

') Cylinderkessel, ein meist liegender mit Wasser 
gefüllter (^linder, die Heizung bestreicht den 
grösseren Teil der äusseren Fläche; der neuere 
JVasserrohrkessel besteht aus engen Röhren, die 
mit grossem Wassergefäss verbunden sind. Nur die 
Röhren werden erhitzt. Bei letzterem Sj’stem ist 
es möglich, viel und stark gespannten Dampf (bis 
10 Atmosphären) bei grosser Explosionssicnerheit 
zu gewinnen. 

■) Die erstere Maschinenanlage wird von der 
Werft Wilhelmshaven, die letztere von der Aktien¬ 
gesellschaft „Germania“ in Tegel ausgeftihrt. 


bei 13000 Pferdekräften 18 Knoten betragen 
wird, reihen sich die Schiffe ebenbürtig 
den neuesten Schlachtschiffen, der übrigen 
Marinen an. 

„Kaiser Friedrich III“ ist nach etwa ein¬ 
jähriger Bauzeit am i. Juli 1896 glücklich 
von Stapel gelaufen, wobei S. Maj. der Kai¬ 
ser die Taufe vollzog. Das Schiff wird jetzt 
mit seinem Panzer versehen, die inneren Ein¬ 
richtungen werden eingebaut und die Maschinen 
montiert. Die Energie, mit der die Werft 
Wilhelmshaven an der Fertigstellung des 
Schiffes arbeitet, lässt seine Indienststellung 
zu den Probefahrten im Herbst 1898 erhoffen. 

„Ersatz Friedrich der Grosse“ wird auf 
derselben Helling wie sein Schwesterschiff 
gebaut. Die Kiellegung fand am 26. Oktober 
1896 statt, seine Fertigstellung wird für Ende 
1899 erwartet. Von den 2800 Tonnen Stahl, 
aus denen der rohe Schiffsrumpf besteht, 
standen Ende Dezember vor. Jahres bereits 
544 Tonnen auf der Helling. 

Auch der Bau des Kreuzers I. Klasse 
„Ersatz Leipzig“, der an Grösse nur etwa 
um 400 Tonnen hinter den beiden Schlacht¬ 
schiffen zurücksteht, ist rüstig gefördert wor¬ 
den. Am I. April 1896 wurden auf der kai¬ 
serlichen Werft in Kiel die ersten Kielplat¬ 
ten gelegt und bis Ende 1896 bereits 1252 
Tonnen auf die Helling gebracht. Der Stapel¬ 
lauf ist für den Sommer des laufenden Jahres 
in Aussicht genommen und wird ein impo¬ 
santes Schauspiel bieten, ragt doch der Bug 
des 127 Meter langen Schiffes 20 Meter hoch 
über das umliegende Werftterrain empor. 
Auch „Ersatz Leipzig“ wird voraussichtlich 
noch vor Beginn des nächsten Jahrhunderts 
in Dienst gestellt werden können. 

Der grosse Kohlen- und Theerölvorrat 
von etwa 1100 Tonnen und die grössere Ge¬ 
schwindigkeit von 19 Knoten bei etwa 13500 
bis r4000 Pferdestärken kennzeichnen das 
Schiff als Kreuzer; doch wird dasselbe bei 
dem geringen Bestand der deutschen Flotte 
an modernen Schlachtschiffen im Bedarfsfälle 
auch einen sehr wesentlichen Faktor für die 
Schlachtflotte bilden können. Sein guter Pan¬ 
zerschutz von 80 bis 200 mm dickem gehärteten 
Nickelstahl und die schwere Armierung, die 
sich in der Hauptsache nur durch die ge¬ 
ringere Zahl von 15 cm Geschützen (12 statt 
18) von derjenigen der neuen Panzerschiffe 
I. Klasse unterscheidet, machen „Ersatz Leip¬ 
zig" zu einern wertvollen Zuwachs für die 
Flotte. Für seine Verwendung als Flagge- 
schiff^)i eines Kreuzergeschwaders im Aus¬ 
lande wird das Schiff mit den erforderlichen 


*) Führung, mit Admiral, Vice- od. Kontre-Ad- 
miral an Bord. 


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154 


Neubaur, Deutsche SchiffsbaiAverften im Jahre 1896. 


luftigen und bequemen Wohnräumen ausge» 
stattet und erhält zum Schutz gegen das 
schnelle Bewachsen des Schiffsbodens in tro¬ 
pischen Gewässern eine Holzbeplankung mit 
Gelbmetallbeschlag', sowie bronzene Steven, *) 
Schraubenböcke und Ruderrahmen. Das Ge¬ 
wicht dieser Bronzestücke, die von der kai¬ 
serlichen Werft selbst gegossen werden, wird 
etwa 98000 Kilogramm betragen. Ein Steven¬ 
teil von 12 000 Kilogramm Gewicht errregte 
auf der Kieler-Ausstellung im vergangenen 
Jahre die berechtigte Aufmerksamkeit der 
Fachleute. 

In den meisten sonstigen Einzelheiten 
ähnelt „Ersatz Leipzig" den .beiden vorer¬ 
wähnten Schlachtschiffen. Die Maschinenan¬ 
lage wird wie bei „Ersatz Friedrich der 
Grosse“ aus drei Viercylindermaschinen und 
Wasserrohrkesseln bestehen. Sie wird von 
der Kieler Werft selbst erbaut. 

Was die für die kaiserliche Marine in 
Arbeit befindlichen Umbauten anbelangt, so 
wurde zu Anfang des Jahres 1896 auf der 
Werft von Blohm & Voss in Hamburg die 
im Jahre 1895 Angriff genommene Grund¬ 
reparatur von S. Maj. Panzerschiff König 
Wilhelm zu Ende geführt, sodass das Schiff 
im April 1896 in Dienst gestellt werden konnte. 

Die beiden Panzerschiffe „Baden“ und 
„Bayern“, die mit den Schwesterschiffen 
„Sachsen“ und „Württemberg“ die bekann¬ 
ten Schiffe der Sachsen-Klasso bilden, wur¬ 
den einem Umbau unterzogen -). 

Küstenpanzerschiffe, Kreuzer, 
Torpedoboote. 

Im Jahre 1896 wurde auf der kaiserlichen 
Werft Kiel das Panzerschiff IV. Klasse 
„Ägir“ und auf der kaiserlichen Werft 
Danzig das Schwesterschiff desselben „Odin“ 
fertiggestellt. 

Die Schiffe gehören zur Siegfried-Klasse, 
unterscheiden sich jedoch von den älteren 
Schiffen dieser Klasse in mehrfacher Be¬ 
ziehung. 

An Stelle eines durchgehenden Panzer¬ 
gürtels bei den älteren Schiffen, dessen Dicke 
in der Mitte 240 mm und an den Enden 
180 mm beträgt, haben Ägir und Odin eine 
Citadellpanzerung in etwa halber Schiffslänge 
erhalten, deren Dicke in der Schiffsseite 200 
mm beträgt, an den Schiffsenden sind sie 
durch Unterwasserpanzerdecks von 70 mm 
Dicke und Korkdämme geschützt. 

Das Panzerdeck, welches die Citadelle 


*) Hauptwerkstück am Vorder- und Hinterteil. 
*) Das erstere Schiff von der Aktiengesellschaft 
„Germania“ in Kiel und in Tegel-Berlin, das'letz¬ 
tere von der Firma Schichau in Danzig und Elbing. 


oben abdeckt, hat eine Dicke von 50 mm. 
Die Panzerdicke des Kommandoturmes ist von 
80 mm auf. 120 mm erhöht, die Dicke der 
Kuppeln der schweren Geschütze beträgt 
50 mm gegenüber 30 mm auf den älteren 
Schiffen. Im vorderen Turm ist zum bes¬ 
seren Schutz der schweren Geschütze eine 
Panzerlängstraverse von 10 mm Dicke zwischen 
den beiden Geschützen eingebaut. 

In der Aufstellung und der Zahl der 
schweren Geschütze ist nichts geändert worden, 
dagegen haben Ägir und Odin 10 bis 8,8 cm 
Geschütze erhalten, zwei mehr als die älteren 
Schiffe der Siegfried-Klasse. Eine weitere 
Vermehrung der Gefechtsßlhigkeit der Schiffe 
ist durch den Einbau eines Gefechtsmastes 
bewirkt, während die älteren Schiffe nur 
einen leichten Signalmast besitzen. 

Endlich ist der Kohlenvorrat der Schiffe 
auf 260 Tonnen erhöht. 

Zur Ermöglichung der voraufgeführten 
Verbesserungen ist die Wasserverdrängung 
der neuen Schiffe auf 3750 Tonnen gewach¬ 
sen, also fast 300 Tonnen grösser geworden 
als die der älteren Schiffe. 

Die Bemühungen, das durch seine Brenn¬ 
barkeit und seine Splitterwirkung im Gefecht 
gefährlich werdende Holz mehr und mehr aus 
den Kriegsschiffen zu entfernen, sind beim Bau 
der beiden Schiffe mit Erfolg fortgesetzt wor¬ 
den. Die stählernen Decks sind mit Lino¬ 
leum oder mit Stylolith, einem unter starkem 
Druck in Tafelform gepressten Gemenge von 
Holzmehl und Magnesit belegt. 

Auch in der Anwendung metallner Möbel 
an Stelle der bisher üblichen Holzmöbel sind 
beim Bau der beiden Schiffe Versuche mit 
gutem Erfolg gemacht worden. Bekleidungen der 
eisernen Wände der Kammern und Wohn- 
räume mit schwer entzündlichen Tafeln aus¬ 
gepresstem Kork oder imprägnirten Stoffen 
erhöhen die Wohnlichkeit der Räume, dämp¬ 
fen die Schallwirkung der eisernen Wände, 
vermindern die Wärmestrahlung stark erwärm¬ 
ter Teile und fördern die Gesundheit der 
Besatzung. 

In maschineller Beziehung ist besonders 
der Ägir von Interesse. 

Während Odin noch wie die älteren 
Schiffe seiner Klasse mit Lokomotivkesseln 
ausgerüstet ist, sind auf S. M. S. „Ägir“ zum 
erstenmale auf einem grösseren Schiffe der 
deutschen Marine Wasserrohrkessel und zwar 
solche nach dem System Thor ny er oft zur 
Anwendung gekommen, eine Neuerung, die 
infolge der dadurch bewirkten Gewichtser- 
sparniss für Kriegsschiffe von besonderer Be¬ 
deutung ist und die sich auch bei den Probe¬ 
fahrten des „Ägir“ bereits gut bewährt hat. 

Auch die Fortschritte der Elektrotechnik sind 


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Neubaur, Deutsche Schiffsbauwerften im Jahre 1896. 


155 


auf S. M. S. „Ägir“ im Interesse der Erhöh¬ 
ung der Gefechtsfähigkeit und der sanitären 
Verhältnisse des Schiffes versuchsweise in 
umfangreichem Masse nutzbar gemacht wor¬ 
den. Fast alle wichtigeren Hilfsmaschinen 
des Schiffes, der Steuerapparat, die Geschütz¬ 
schwenkwerke, die Ankerlichtmaschinen, Boots¬ 
aussetzvorrichtungen, Ventilatoren etc. wer¬ 
den elektrisch angetrieben. Diese grosse 
Neuerung hat sich bei den jetzt sich ihrem 
Ende nähernden Probefahrten als durchaus 
zweckentsprechend gezeigt, sodass dieser im¬ 
merhin etwas gewagte Versuch als vollstän- 1 
dig gelungen bezeichnet werden kann. 

Der Kreuzer I. Klasse „Ersatz Leipzig" 
ist früher bereits angeführt worden. 

Von den fünf in Bau begriffenen Kreuzern 
II. Klasse ist der Kreuzer II. Klasse „Ersatz 
Freya“ am 2. Januar 1896 auf der kaiser- ! 
liehen Werft in Danzig, der Kreuzer „K" 
am 15. Februar 1896 auf der Werft der 
Aktiengesellschaft „Vulkan“ in Bredow bei 
Stettin, der Kreuzer „L“ am 8. April 1896 
auf der Werft der Aktiengesellschaft „Weser“ 
in Bremen, der Kreuzer „M“ am 10. August 
1896 auf der kaiserlichen Werft in Danzig, 
„N" am 23. Juli 1896 von der Aktiengesell¬ 
schaft „Vulkan" auf Stapel gesetzt. Diese 
fünf Schiffe sind, abgesehen von der Holz¬ 
haut mit Muntzmetallbeschlag, den die 
zuletzt in Bau gegebenen Schiffe zum Schutz 
gegen Bewachsen der Aussenhaut erhalten, 
in Form und Einrichtung einander gleich. 

Der Bau dieser Kreuzer ist so gefördert 
worden, dass sie fast sämtlich in der ersten 
Hälfte dieses Jahres werden von Stapel lau¬ 
fen können. Nur der Ablauf von „M“ und 
„N“ wird sich vielleicht bis in den August 
verschieben. Sämtliche fünf Kreuzer haben' 
ein über ihre ganze Länge sich erstreckendes 
gewölbtes Panzerdeck. Über dem Panzerdeck 
befinden sich zwei volle Decks und vorn noch 
eine sehr lange Back,*) in denen die Wohn- 
räume der Besatzung untergebracht sind. Die 
Armierung besteht aus zwei Stück 21 cm- 
Schnellfeuer-Geschützen, acht S. K. Ge¬ 
schützen zu 15 cm, zehn Stück 8,8 cm Schnell¬ 
ladekanonen, zehn 3,7 Maschinenkanonen. 
Von den 30 Geschützen, die jeder dieser 
Kreuzer führt, können 12 über den Bug*) 
und 12 Ober das Heck*) feuern, während 
nach jeder Breitseite 15 Geschütze sich ver¬ 
wenden lassen. 

Der Kohlenvorrat auf den Kreuzern ist 
so bemessen, dass er bei einer Marschge- 


*) Aufbau. 

•) Vorderteil. 
•) Hinterteil. 


schwindigkeit von 10 Knoten für eine Strecke 
von 6600 Seemeilen*) ausreicht. 

Der Kreuzer IV. Klasse „G“ unterschei¬ 
det sich von den in den letzten Jahren ge¬ 
bauten Schiffen dieser Klasse dadurch, dass 
er ein Panzerdeck, einen Kommandoturm und 
eine grössere Zahl Maschinenkanonen erhält; 
das Deplacement des Schiffes ist infolgedes¬ 
sen gegen S. M. S. „Geyer“ bei vollem Koh¬ 
lenvorrat um fast 1000 Tonnen gewachsen. 
Der Kreuzer erhält zwei Pfahlmasten für Sig¬ 
nalzwecke; dieselben erhalten keine Segel. 
Die Geschwindigkeit ist wesentlich gesteigert 
gegen die früheren Schiffe dieser Klasse, sie 
wird etwa 19,5 Knoten, d. h. Ober 2 Knoten 
mehr als bei jenen betragen. Der Kohlen¬ 
vorrat beträgt 500 Tonnen. 

Das Schiff erhält 10 Stück 10,5 cm 
Schnellladekanonen und 14 Stück 3,7 cm 
Maschinenkanonen. 

Diese 24 Geschütze sind auf dem Ober¬ 
deck der Kampanje, der Back und der Kom¬ 
mandobrücke so aufgestellt, dass acht für das 
Bugfeuer, acht für das Heckfeuer oder 12 in 
jeder Breitseite verwendbar sind. Die Munition 
wird durch elektrische Aufzüge den Maschinen 
zugeführt. 

An Torpedobooten befanden sich endlich 
im Bau 7 S.-Boote bei Schichau in Elbing, 
dann zwei G-Boote auf der Germania-Werft 
in Kiel. Die Boote beider Klassen erhalten 
eine Geschwindigkeit von 26 Seemeilen. Der 
Hauptunterschied beruht darin, dass die S- 
Boote Wasserrohrkessel nach dem verbesser¬ 
ten System Thornycroft, die G-Boote Was- 
serrohrkcssel nach dem System Schulz er¬ 
halten. 

Fremde auf deutschen Werften er¬ 
baute oder umgebaute Kriegs-Schiffe. 

Auf der Werft der Aktiengesellschaft Vul¬ 
kan in Stettin wurde an der Fertigstellung 
des brasilianischen Panzerschiffes „24 de Maio" 
früher „Aquidaban" weiter gearbeitet. Das 
Schiff, das im Jahre 1885 bei der Firma 
Samuda in Poplar (England) von Stapel ge¬ 
laufen, verdrängt 5000 Tonnen Wasser bei 
85 m Länge, 16 m Breite und 5,6 m Tief¬ 
gang. Der Schiffskörper wird einer Grund¬ 
reparatur unterzogen und an Stelle der in 
dem Gefecht von Santa Catharina angeschos¬ 
senen drei Masten werden zwei neue einge¬ 
setzt. Ausserdem erhält das Schiff neue Kes¬ 
sel, die von der Soeiöte des forges et chan- 
tiers in Toulon geliefert werden. 

Auf derselben Werft ist der Bau von 3 
geschützten Kreuzern für die chinesische Re¬ 
gierung in Angriff genommen. Diese Schiffe, 

*) Eine Seemeile = 6,855 Kilometer. 


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156 


Bruinier, Bemerkungen zum Eingesandt des Herrn Dr. L. Wilser. 


welche bei loo m Länge, 12,5 m Breite und 
5 m Tiefgang etwa 3000 Tonnen Wasser 
verdrängen, sind durch ein 75 mm dickes 
Panzerdeck geschützt und werden mit Krupp¬ 
schen 15 cm und 10,5 cm Schnellladekanonen 
sowie mit Torpedo-Lanzierrohren ausgerüstet. 
Sie erhalten je zwei Maschinen von zusam¬ 
men 7500 Pferdestärken und vier cylindrische 
Doppelkessel mit 13 Atmosphären Arbeits¬ 
druck. 

Der von der Aktiengesellschaft Germania 
in Kiel für die türkische Regierung erbaute/! 
Torpedojäger „Seetiger" hat bei seinen Pro- | 
befahrten die Vertragsbedingungen (19 Kn. 
Geschwindigkeit) glatt erfüllt und ist in den 
Besitz der türkischen Regierung übergegangen. 
Das Schiff hat eine Länge von 72 m, eine 
Breite von 8,9 m und bei einem Tiefgange 
von 3 m ein Deplacement von 850 Tonnen. 
Seine Armierung besteht aus zwei Krupp¬ 
schen 10,5 cm Schnellladekanonen, sechs 
4,7 cm Revolverkanonen und drei Torpedo- 
lanzierrohren. Die Maschinenanlage besteht 
aus zwei stehenden Dreifach-Expansiv-Maschi- 
nen, die ihren Dampf von vier Lokomotiv- 
kesseln von 14 Atmosphären erhalten. Die¬ 
selbe wiegt nur 140 Tonnen und indicierte 
bei der Probefahrt fast 3400 Pferdekräfte, 
womit das Schiff eine Geschwindigkeit von 
19,5 Kn erreichte. 

Von den 3 auf derselben Werft in Bau 
befindlichen Torpedokreuzern für die brasi¬ 
lianische Regierung ist der erste nach Erfüll¬ 
ung der Vertragsbedingungen und nach Ab¬ 
wicklung der Probefahrten an den Auftrag¬ 
geber abgeliefert worden. Von den beiden 
andern ist der zweite im Herbst vom Stapel 
gelaufen, während der dritte noch auf der 
Helling steht. 

Diese Schiffe von 79 m Länge und 9,4 m 
Breite haben bei einem mittleren Tiefgange 
von 3,1 m ein Deplacement von 1030 Ton¬ 
nen und laufen in einer Stunde 23 kn bei 
einer Gesamtleistung der beiden stehenden 
Dreifach-Expansiv-Maschinen von 6000 in- 
dicierten Pferdestärken. Sie sind mit 5 Lo- 
komotivkesseln versehen, die mit einem Drucke 
von 15 Atmosphären arbeiten. Die Kreuzer 
werden mit zwei 4,^^ Armstrong’s und zehn 
Nordenfeldt’s Schnellladekanonen kleineren 
Kalibers, sowie mit 3 Torpedolanzienohren 
ausgerüstet. 

Auf der Werft von Schichau in Elbing 
sind • für die österreichische Regierung der 
Torpedojäger „Magnet", der eine Geschwin¬ 
digkeit von nahezu 26 Kn erreicht hat, und 
das Torpedoboot „Natter" von 26,7 Kn fer¬ 
tiggestellt und abgeliefert worden. 

Für die norwegische Regierung ist auf der¬ 
selben Werft der Torpedojäger „Valkyrien" 


von 58 m Länge, 7,4 m Breite, 2,8 m Tief¬ 
gang und 23'/* Kn bei 3400 indicierten 
Pferdestärken fertiggestellt worden. Drei 
Torpedoboote von 23 Kn für dieselbe Re¬ 
gierung und das Torpedoboot „Komet" für 
die schwedische Regierung befinden sich hier 
noch im Bau. 



Bemerkungen zum Eingesandt des 
Herrn Dr. L. Wilser in Nr. 8 der „Umschau". 

Von Dr. J. W. Bruinier. 

Von der Etymologie gilt, was Schiller vom 
Feuer sagt: Wohlthätig ist ihre Macht, wenn 
sie der Mensch bezähmt, bewacht. Aber wehe, 
wenn sie losgelassen! Die Heimat der Ger¬ 
manen kann man an der Hand der Etymo¬ 
logie feststellen, denn die für sie anzuneh¬ 
mende Zeit liegt noch nicht gar so weit zu¬ 
rück, wir haben aus ihr gar viel Handgreif¬ 
liches; da hat die Etymologie eigentlich noch 
weniger zu beweisen, als zu illustrieren. Was 
ein urgermanisches Wort bedeutet haben muss, 
Wissen wir fast stets, weil eben fast in S^len 
Fällen die Bedeutung seines deutschen Nach¬ 
kommen dieselbe ist, wie die seines skandi¬ 
navischen, angelsächsischen, gothischen. Die 
germanischen Wortvergleichungen schneiden 
sich in der Endlichkeit, und was endlich ist, 
das ist erkennbar. Ganz anders steht es 
mit den indogermanischen Verhältnissen. Aus 
der indogermanischen Urzeit ist kein einziger 
beglaubigter handgreiflicher Zeuge auf uns 
gekommen denn sie liegt um unermessbare 
Zeiträume zurück. Die Bedeutungen eines 
indogermanischen Wortes müssen wir in den 
allermeisten Fällen erraten, weil eben fast nie 
die Bedeutung seines germanischen Abkömm¬ 
lings dieselbe ist wie die seines indischen, 
griechischen, lateinischen. Die indogermani¬ 
schen Wortvergleichungen sind meist reine 
Parallelen, die sich erst in der Unendlichkeit 
schneiden, und deshalb nur mit äusserster 
Vorsicht als Beweismittel verwandt werden 
dürfen. Ich glaube, dass das von mir ge¬ 
wählte Bild verständlich ist. 

Herr Dr. Wilser begeht nun -- und das 
ist für ihn und viele andere charakteristisch 
— den grossen Fehler, dass er germanisch 
und indogermanisch für identisch hält, und 
mir, der ich nur die Heimat der Germanen 
etymologisch zu suchen unternahm, vorwarf, 
ich hätte die Heimat der Indogermanen so 
suchen wollen. Mir füllt es nicht im Traume 
ein, die schwanke Basis der Etjmologie für 
die indogermanische Urheimat zu benutzen. 
Das gerade Gegenteil ist der Fall. leh werde 
meine Ansichten über die Möglichkeit, die 


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Bruinier, Bemerkungen zum Eingesandt des Herrn Dr. L. Wilser. 


157 


wf/ogermanischc Heimat festzustellen, dem* 
nächst in einem orientierenden Aufsatz in der 
„Neuen Freien Presse“, ausführlicher in den 
„Jahresberichten des Vereins für Erdkunde zu 
Metz“ veröffentlichen. Da wird gezeigt werden, 
welch unendlich schwierigen Weg da die 
Forschung zu gehen hat. Nicht die Anthro¬ 
pologie, nicht die Prähistorik, nicht die Ety¬ 
mologie löst diese Frage, sondern nur die 
Phonetik im Bunde mit der psychologischen 
Sprachbetrachtung: die Vergleichung der gan- 
zen Sprachen, nicht, wie man bisher gethan, 
nur einzelner Brocken. Man kann nämlich 
diese Frage nicht auf direktem Weg beant¬ 
worten, indem man fragt: wo wohnten die 
Indogermanen? — sondern nur auf indirek¬ 
tem: wo wohnten die Indogermanen nicht? 
Wo sie nicht gewohnt haben können, haben 
andere Völker gewohnt. Die anderen Völker 
sind von den vordringenden Ariern nicht 
ausgerottet, sondern unterjocht und assimiliert 
worden. Ihre Sprache hat die Überwinder 
stark beeinflusst in Aussprache und Weltan¬ 
schauung (Sprachgeist); wie denn das heutige 
Deutsch viel Keltisches, das Keltische viel 
Urindogermanisches zeigt, wie in Ostpreussen 
das Baltische dem Deutschen seine unver¬ 
kennbare Spuren aufgeprägt hat und so in 
fast allen Sprachen das zu Grunde liegende 
Völkersubstrat seine Kraft mehr oder weniger 
stark bethätigt. Daher -stammen die unend¬ 
lichen Verschiedenheiten der Aussprache und 
des Sprachgeistes in den indogermanischen 
Sprachen, die wir kennen. Es kommt nun 
darauf an, das Völkersubstrat von dem Echt¬ 
indogermanischen in den Einzelsprachen zu 
sondern; dann wissen wir, wie das Echtindo¬ 
germanische aussah. Die Phonetik hat diese 
Arbeit in staunenswert grossartiger Weise 
schon zum grossen Teile besorgt; wir wissen 
nur nicht ganz, inwieweit die in den meisten 
Einzelheiten bekannten Änderungen der echt- 
indogermanischen Laute in den Einzelsprachen 
zu dem Völkersubstrat in Beziehungen zu 
bringen sind; an eine vergleichende Zusam¬ 
menstellung des Lautwechsels ist man noch 
nicht gegangen, obwohl darin meines Er¬ 
achtens die Zukunft ein sehr lohnendes Ar¬ 
beitsfeld haben wird, allerdings ein sehr dor¬ 
niges und steiniges. Man muss da gehörig 
aufzupassen verstehen. Ich will nur andeuten, 
dass das Germanische mit dem Keltischen sehr 
viele Lautänderungen gemein hat, z. B. den 
Umlaut, der durch ein i oder j hervorgerufen 
wird, die Brechung eines u und /' unter den¬ 
selben Bedingungen zu o und e, und so man¬ 
ches. Das beweist, dass das Germanische mit 
dem Keltischen dasselbe Völkersubstrat teilt. 
Nun ist es möglich, dass das Germanische z. B. 
nur im Westen, das Keltische nur im Osten 


auf einem und demselben Völkersubstrat lagert, 
das östliche Germanische und das westliche 
Keltische hat denn ein anderes, das wieder 
die betreffenden Teile und damit das Ganze 
zu beeinflussen vermag. Die Forschung steht 
hiereinem anscheinend unentwirrbarenKnäuel *) 
gegenüber, aber sie wird ihn wohl auch zu 
lösen verstehen. — In Betreff des Sprach¬ 
geistes hat man bisher noch gar nicht an¬ 
gefangen, das Echtindogermanische vom Frem¬ 
den zu sondern. Ich bin augenblicklich da¬ 
bei, das Keltische (Irische) mit dem Ger¬ 
manischen in dieser Hinsicht zu vergleichen. 
Auch die Vergleichung der Sitte und der 
Mythologie in diesem Sinne wird einst viel 
zur Lösung beitragen, 

Erst wenn man auf diesem Wege das 
Echte vom Fremden abgelöst hat, wird man 
sagen dürfen: der und der indogermanische 
Stamm zeigt verhältnismässig die wenigsten 
Beeinflussungen durch Fremde, während die 
andern alle viel stärker infiziert sind: ergo 
wohnte dieser den alten Sitzen am nächsten. 
Erst dann wird man die Frage nach der 
Heimat der Indogermanen lösen können. Alles, 
was sonst darüber geschrieben werden mag, 
hat nicht mehr Wert, als Jede andere unbe¬ 
weisbare, wenn auch noch so glänzende Hy¬ 
pothese. Haben Sie Lust mitzuthun, Herr 
Dr. Wilser? 

Schon- des oben angegebenen methodischen 
Fehlers wegen hat Herrn Wilsers Versuch, 
die Heimat der Indogermanen zu bestimmen, 
wenig Wert. Der erste seiner Beweispunkte 
gilt für die Indogermanen. Der zweite für 
die Germanen. Denn er will doch nicht be¬ 
haupten, dass die Erinnerungen „aller“ ger¬ 
manischen Stämme an ihre skandinavische 
Heimat auch nur das Geringste für die »Wo¬ 
germanische Heimat dieser Stämme beweisen 
können. Sie können Beweiskraft nur für deren 
germanische Heimat haben. Was jenseits der 
Zeit ihrer germanischen Gemeinschaft liegt, 
das haben sie ebensogut vergessen, wie jedes 
andere Volk, das sich unmöglich nach un¬ 
gezählten Jahrtausenden an eine wahrschein¬ 
lich sehr eintönig verlaufene, sogenannte un¬ 
historische Vergangenheit erinnern kann. Ich 
will ja nicht darauf Gewicht legen, dass die 
Germanen ein schlechtes historisches Ge¬ 
dächtnis besitzen. Der dritte Punkt — nun 
den dritten Punkt, den nimmt kein Mensch 
ernst, als Herr Dr. Wilser selbt. Wer jetzt 
nach Vimmers Runenforschungen noch be- 

*) Der noch verwickelter wird, wenn man die 
Zeiten mit ins Auge fasst, die für den Eintritt eines 
Lautwandels gelten. Beim einen Stamme erfolgte 
ein Lautwandel viel früher als beim andern, ent¬ 
weder weil er früher infiziert wurde^ oder — was 
in den meisten Fällen gilt — weil bei ihm die 
Incubation länger dauerte. 


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158 


Bruinier, Bemerkungen zum Eingesandt des Herrn Dr. L. Wilser. 


haupten will, die Runen seien etwas anderes 
als Nachbildungen des lateinischen Alphabets, 
mit diesem des griechischen und mit diesem 
des phönizischen, der kann einem, aufrichtig 
gestanden, nur leid thun. Wenn etwas klar 
ist unter Gottes Sonne, dann ist es das. Dass 
Adam und Eva schon Runen geschrieben, 
das zu glauben dürfen wir den Gelehrten des 
17. Jahrhunderts zu gut halten, aber wer 
Ähnliches in unserer Zeit behauptet, der ver¬ 
dient dafür öffentlich blossgestellt zu werden. 
Was würde man sagen, wenn einer jetzt noch 
an dem Copernikanischen Weltsystem zwei¬ 
feln wollte! Man gäbe ihn, wie den seligen 
Pastor Knack, dem Gespött preis. Nun, dieser 
Runenglaube ist um kein Haar besser. 

Glauben Sie mir, Herr Wilser und Ihr 
alle, die ihr über den Zunftgeist der Sprach¬ 
forscher herzieht, ihnen „Trägheit“ und 
„Kastengeist“ und weiss Gott was alles vor¬ 
wirft — denunbedingten Verehrern von Carus 
Sternes Tuiskoland gilt diese Mahnung auch: 
Die Wissenschaft beachtet alles Gute, mag 
es herkommen, von wem es sei, mag er Pro¬ 
fessor sein oder nicht; aber, wenn sie das 
Phantastische, Schiefe und geradezu Unglaub¬ 
liche nicht beachtet, daraus ist nicht der Wissen¬ 
schaft ein Strick zu drehen, sondern dem, 
der solche Sachen mit mehr oder weniger 
Aplomb trotz erfahrener Abweisungen immer 
wieder aufmutzt, ohne sich zu bessern, ohne 
einzusehen, dass nur methodische Forschung 
zu einem Ziele führen kann. Jacob Grimm 
begann mit Phantasmen. Er war ein Dilettant. 
Aber er ward unser aller Muster, weil er zur 
rechten Zeit Einkehr hielt und methodisch 
ward. Seine deutsche Grammatik, ein Wunder¬ 
werk, ist es weniger ihres Inhaltes als des 
Geistes wegen, der uns aus ihr entgegen¬ 
leuchtet, der uns in jeder Zeile zuruft: Ich 
ward gross, weil ich verstanden habe, mich 
selbst zu besiegen. Anstatt auf die unver¬ 
daulichen Fachschriften zu schelten, sollte man 
sie lesen und verstehen. Dann werden Ety¬ 
mologien, wie die Herrn Wilsers von Skan¬ 
dinavien zu den Unmöglichkeiten gehören., 
Es soll mit scheinen und schön verwandt sein 
und er weist auf Schonen hin! Ja, jetzt sieht 
Schonen dem schön ähnlich. Aber Schonen 
lautet auf schwedisch Sk^ne, auf altnordisch 
Skdnöy, früher S^arfÄw-fiziyo'Skadanavia. Sieht 
das etwa aus wie schön, früher skautti'? oder 
wie scheinen, früher skeinan-? Bewahr’ uns 
lieber Herre Gott! 

Man soll mich aber nicht der Unterschla¬ 
gung zeihen. Ich habe den ersten Punkt 
Dr. Wilsers noch nicht betrachtet. Der 
Homo curopacus ßavus ist ein ganz netter 
Kerl. Es hat mir immer Spass gemacht, wenn 
ich sehe, wie er herhalten muss lür die 


Beantwortung unserer Frage. Nach Poesche 
ist er ein Kakerlak, nach Penka ausgeblichen 
von der ozonreichen Luft am Rande des 
skandinavischen Inlandeises. Jetzt sind von 
allen Indogermanen überwiegend blond nur 
die Germanen und die Nordrussen. Früher 
haben einige andere Stämme, z. B. die Kelten, 
auch so ausgesehen. Die allermeisten Indo¬ 
germanen aber waren vor aschgrauer Zeit 
schon eben so schwarzhaarig, wie jetzt. Die 
Flavomanen meinen allerdings, wenn Menelaos 
der „bräunlich gelockte“ heisst, müssten ei¬ 
gentlich alle Griechen, und wenn Sulla hoch¬ 
blond war und Champagnerbacken hatte, 
müssten eigentlich, alle Römer blond sein; 
ebensogut dürfen wir aus dem ersten besten 
schwarzhaarigen Müller oder Schultze, der laut 
Ahlwardts Akten rein germanischer Abstam¬ 
mung ist, schliessen, dass einst alle Germanen 
schwarzhaarig gewesen seien. Woher weiss 
man denn so genau, dass alle Arier blond 
waren? Wer hat jemals einen Urindoger- 
manen beschrieben? Hat der Inder, Grieche, 
Römer nicht dasselbe Anrecht auf arischen 
Adel wie der Germane und der oberflächlich 
arisierte, im Grunde aber noch schlecht und 
recht finnische Nordrusse? 

Die ewig wiederkehrende Behauptung, die 
Indogermanen müssten blond gewesen sein, ist 
das Ergebnis eines fehlerhaften Schlusses. Man 
verwechselt das indogermanische Volk mit einer 
blonden Rasse, und man setzt die Urheimat 
des indogermanischen Volkes dem Paradiese 
gleich, aus dem eine blonde Rasse hervorging. 

Was ist nämlich unter der „Urheimat der 
Indogermanen“ zu verstehen? 

Die Indogermanen sprechen indogerma¬ 
nische Sprachen. Die Sprachen machen sie 
zu Indogermanen. Wenn die Germanen nicht 
eine indogermanische Sprache sprächen, würde 
Niemand sie für Indogermanen halten; die 
Inder erst recht nicht. So ist die Sprache 
das Kriterium für die Zugehörigkeit zu einem 
Volke. 

Einst wohnten alle Völker, die jetzt eine 
indogermanische Sprache sprechen, zusammen. 
Dann sind sie, wie der Augenschein lehrt, 
auseinandergegangen. Wie? wissen wir nicht, 
ob alle auf einmal, oder einer nach dem 
andern. Die indogermanische Heimat ist die 
Gegend, die die Indogermanen bewohnten, 
als sie noch nicht auseinandergegangen waren. 
Sonnenktar. Und die suchen wir, und keine 
andere. Können sie nicht Gott weiss woher, 
dort hingekommen sein? Wer kann das be¬ 
jahen oder verneinen? Das geht uns aber 
zunächst gar nichts an; denn wir wollen nur 
von den Indogermanen etwas wissen. Um 
ein modernes Beispiel anzuführen: Wo liegt 
die Heimat aller, die jetzt Englisch sprechen? 


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Schenkling-Pr^vöt, Melanchthon als Mathematiker. 


159 


Wo ist die englische Urheimat? In England 
selbstverständlich. Dass die Angelsachsen aus 
Holstein stammen, wissen wir nun zufällig; 
aber, wenn alle Germanen, die nicht Angel¬ 
sächsisch sprechen und alle historischen Zeug¬ 
nisse ober die Herkunft der Angelsachsen 
fehlen würden — dann würden wir nichts 
weiter erschliessen können, als dass einst die 
Englisch redenden in England zuhause waren. 
Mit den Indogermanen stehts genau so. Wir 
können nur ihr „England“ erschliessen, ihr 
„Holstein“ ist uns gleichgültig. 

Dieses „England“ nun bewohnten die Indo¬ 
germanen zur jüngeren Steinzeit etwa. Wir 
wissen sehr wenig von der indogermanischen 
Kultur. Aber dass sie keine ganz rohe mehr 
gewesen sein kann, dass sie, wie gesagt, der 
jüngeren Steinzeitstufe entspricht, können wir 
unbedenklich annehmen. Dieser jüngeren 
Steinzeit gehen nun unendlich lange Zeiten 
vorauf, in denen die Vorfahren der für uns 
massgebenden Indogermanen gelebt haben 
müssen, ohne dass wir von ihnen mehr wissen 
können, als von den Bewohnern der Planeten 
im Siriussystem. Diese Vorfahren der Indo¬ 
germanen waren Menschen und ihnen war 
nichts menschliches fern. Sie haben Frauen 
genommen und Kinder gezeugt. Nehmen wir 
nun an, im Jahre 1000 vor dem Auseinander¬ 
gehen der Indogermanen hätte nur ein einziger 
Indogermane eine Frau genommen, die nicht 
indogermanischen Blutes war — und warum 
sollte man, was Überall vorkommt, nicht auch 
bei den Indcgermanen annehmen dürfen —, 
so floss im Jahre r dieser Aera, von unten 
gerechnet, dieses fremde Blut in allen indo¬ 
germanischen Adern. Und damit waren sie 
keine reine Rasse mehr. Das wollte ich zeigen. 
Die Leute der jüngeren Steinzeit können un¬ 
möglich noch eiAe reine Rasse gewesen sein. 
Die Frage nach der Heimat der Indogermanen 
ist keine anthropologische, ebensowenig wie 
die nach der etwaigen Heimat einer blonden 
Rasse eine sprachwissenschaftliche ist. Und 
beide Fragen sind im Prinzip und aller wissen¬ 
schaftlichen Erfahrung nach absolut unab¬ 
hängig von einander. Sie haben nichts mit 
einander gemein. Mag Herr Dr. Wilser 
den homo europaeus flavus auch noch so schön j 
untergebracht haben, den Indogermanen hat 
er damit nicht angesiedelt. Blonde Menschen 
und Indogermanen sind incommensurable 
Grössen. Sapienti sat. 

/' - 

/ 

Melanchthon als Mathematiker. 

Von SCHKNKLING-Pnivfit 

Es ist von hoher Bedeutung für die Reformation 
gewesen, dass gleich mit dem ersten Wehen ihres 


Geistes ein Mann an die Spitze trat, dessen ganze 
Aufgabe darauf gerichtet war, jede Einseitigkeit von 
der reformatorischen Entwickelung fern zu halten 
und vielmehr durch Vielseitigkeit der Studien die 
Sache zu fördern und zur Geltung zu bringen 
suchte. 

Dieser Mann war Philipp Melanchthon, 
dessen vierhundertjährige Geburtstagsfeier äm 16. 
Februar von einem Teile des deutschen Volkes be¬ 
gangen wurde. Melanchthon gehört zu den Männern, 
die das Wissen ihrer Zeit in sich vereinigten, wie 
es unter veränderten Verhältnissen später immer 
seltener und zur Zeit unmöglich geworden ist. Was 
er auf dem Gebiete der Theologie geleistet, wurde 
in der Tagespresse zur Genüge besprochen. Auch 
seine Leistungen auf humanistischem Gebiete fan¬ 
den dort ihre Würdigung; wir führen deshalb da¬ 
von nur das wichtigste an. Aus dem Unterricht 
den der 15jährige erteilte, gingen schon damals die 
Grundlinien seiner griechischen Grammatik hervor. 
1514 in Tübingen Magister geworden, wandte er 
sich immer entschiedener dem Humanismus zu, 
hielt Vorlesungen über Terenz, Cicero und die 
griechische Grammatik. Daneben beschäftigte er 
sich auch mit Theologie, Jurisprttdenz und Medizin. 
1518 erhielt er eine Professur in Wittenberg. Seine 
Antritts-Vorlesung Ober die „Verbesserung des 
Jugendunterrichts“ war epochemachend für das 
deutsche Schulivesen. Von nun an geht er ganz 
auf in den theologisch-politischen Wogen, in die ihn 
die Reformation reisst. 

Fast unberücksichtigt blieb bisher das, was 
Melanchthon auf anderen Gebieten des Wissens, 
namentlich der Mathematik und der Naturwissen¬ 
schaften gethan hat. Wenn auch unsere Zeit über 
die wissenschaftlichen Kenntnisse jenes Jahrhun¬ 
derts weit hinaus geschritten ist, so ist doch vieles 
was Melanchthon als Prinzip aufstellte, noch heute 
wnchtig und massgebend. Um sein Urteil über die 
Mathematik kennen zu lernen, scheint es am ge¬ 
eignetsten, ihn selbst reden zu lassen und aus sei¬ 
nen Werken das heraus zu ziehen, was für uns 
hier von Wert ist. 

Bei seiner vielfach in Anspruch genommenen 
Zeit vereinigte er sich zur Bearbeitung und Heraus¬ 
gabe mathematischer und naturwissenschaftlicher 
Schriften mit Gelehrten, die eine gleiche Richtung 
verfolgten. Ofbnals hat er nur die Einleimng geschrie¬ 
ben, sei es um die Bedeutung des Werkes hervor zu 
heben, oder auch, um die Sache nach ihrem we¬ 
sentlichen Inhalte zu bezeichnen. Die Vorreden 
sind in Form von Briefen abgefasst, wobei den 
Personen, an die er sie richtet, das Werk gewid¬ 
met w’ird, entweder aus besonderer Achtung oder 
auch, um unter ihrem Namen auf den Gegenstand 
die allgemeine Aufmerksamkeit zu lenken und es 
jungen Leuten zum Selbststudium zu empfehlen. 
Auch in den akademischen Reden, sei es, dass er 
sie selbst hielt oder für andere abgefasst hatte, 
nimmt er Gelegenheit, sich Ober das Studium der 
Mathematik, Astronomie, Medizin, Physik, Geo¬ 
graphie auszusprechen und das Leben und die 
Thätigkeit hervorragender Männer aus alter und 
neuer Zeit den Studierenden vorzuführen, um hier¬ 
durch Lust und Eifer zu erwecken. So spricht er 
Ober Galen, Plinius, über A vicenna, der im 


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4 



i6o 


Schenkling-Pr^vöt, Melanchthon als Mathematiker. 


Anfang des Mittelalters lebte, auch über den deut¬ 
schen Mathematiker und Astronom Regiomontan. 

Zur Feier des dreihundertjahrigen Todestages 
Melanchthons, am 19. April 1860, wurden seine 
sämtlichen gesammelten Schriften herausgegeben, 
unter denen sich vierzehn mathematische und vier 
naturwissenschaftliche Abhandlungen befinden, die 
er entweder selbst verfasst, oder zu denen er ein 
Vorwort geschrieben hat. Dazu kommen noch vier 
akademische Reden, die sich auf die Mathematik 
und eine ganze Anzahl, die sich auf die Naturwis¬ 
senschaften und auf Medizin beziehen. 

Im Jahre 1518 wurde Melanchthon auf Empfehl¬ 
ung des grossen Humanisten Reuchlin als Lehrer 
der griechischen und hebräischen Sprache an die 
Universität Wittenberg berufen. Mit Luther bald 
befreundet, bewerkstelligte er, dass im Jahre 1521 
zwei Professoren der Mathematik erwählt wurden. 
Er hatte sich brieflich an Spalatin gewandt und 
auf den Mangel an Mathematikern aufmerksanf ge¬ 
macht. Zu den neuen Professoren gehörte Eras¬ 
mus Reinholdus Salveldensis, der, abge¬ 
sehen von kleineren mathematischen Schriften, sich 
durch ein astronomisches Werk, „prutenicae tabu- 
lae coelestium motuum" einen Namen erworben 
hat. Dieses Werk war dem Herzog Albrecht von 
Preussen gewidmet, der sich lebhaft für das Unter¬ 
nehmen interessierte und es deshalb reichlich unter¬ 
stützte. Da der Herzog überhaupt als ein Förderer 
der Wissenschaften galt, wandte sich Melanchthon 
noch in einer weiteren Sache an ihn und bat ihn, 
das Unternehmen Reinhold’s, die Bearbeitung sogen. 
Ephemeridentafeln zu unterstützen. Er that keine 
Fehlbitte und nach Verlauf von sieben Jahren wurde 
das Werk, das ihm gewidmet und seinen Namen, 
nach dem Vorgänge der tabulae alfonsinae erhalten, 
fertig gestellt. Aus dem Werke ersieht man, dass 
Reinhold bereits der Hypothese des Kopernikus 
huldigt. Die prutenicae tabulae sollten dazu dienen, 
Über wichtige astronomische Punkte aus den vor¬ 
liegenden Beobachtungen ein sicheres Resultat zu 
gewinnen ; so besonders über die Schiefe der Eklip¬ 
tik*), die Dauer des Jahres und anderes. Dass der 
julianische Kalender einer Verbesserung bedurfte, 
hatte sich durch Abweichung der bürgerlichen Zeit¬ 
rechnung von den Himmelserscheinungen schon 
seit einer Reihe von Jahren deutlich herausgestellt. 

Durch die Herausgabe der verschiedenen mathe¬ 
matischen Werke wollte Melanchthon das Studium 
dieser Wissenschaft neu beleben und in weitere 
Kreise einführen; wenn er dabei an den schon in 
den Schulen gebotenen Stoff anknüpfte, so beweist 
dies, dass die mathematischen Wissenschaften im 
Mittelalter keinfeswegs vernachlässigt w’orden waren. 
Mit besonderem Nachdruck deutet Melanchthon aui 
Sacrobusto's (t 1256 zu Paris) Werk hin und 
zeigt, wie schw’er es der Verfasser gehabt habe, 
aus dem umfangreichen Material und den zum Teil 
sehr verwickelten Lehren der alten Astronomie das 
geeignetste heraus zu heben und ftlr die Schule 
brauchbar zu machen. 

Aus der Rede „laus vitae scholastioae“, ersieht 
man am besten, warum Melanchthon die Mathema¬ 
tik gepflegt haben will, hier heisst es u. a.: „Zw’ei 
Dinge sind es besonders, wodurch das Leben der 

’) Erdb.-tlin. 


Menschen erhöht wird und eine göttliche Weihe 
empfängt, die Wahrheit und die Gerechtigkeit. Die 
Erforschung und Erklärung derselben ist den Schu¬ 
len anvertraut. Es bedarf deshalb sicherlich keiner 
weiteren Erörterung, dass die Erkenntnis von Wahr¬ 
heit und Gerechtigkeit vor allem die Bedingung zu 
einem rechtschaffenen Lebenswandel ist und für 
das Leben eine hohe Wichtigkeit hat. Ohne Bild¬ 
ung verliert die Religion ihren Grund und Boden, 
die Gesetze können weder erlassen noch recht be¬ 
achtet werden. Was für eines Schutzes ginge man 
verlustig, wenn niemand Medizin triebe und lehrte ? 
Welche herrlichen Kenntnisse müsse man entbehren, 
wenn niemand mehr Mathematik sich ancignete, 
wenn man den Unterschied der Zeiten nicht beach¬ 
tete und auf die historischen Verhältnisse, wie sie 
uns überliefert sind, keinen Wert legte? Die Wich¬ 
tigkeit der Schulen liegt klar vor aller Augen". In 
der Rede „de amore veritatis" führt er den Ge¬ 
danken weiter aus. Er schildert in ihr das unglück¬ 
liche Treiben der Sophisterei, die sich mit Schein¬ 
gründen • befriedigte, ja die klarsten Begriffe in Ver¬ 
wirrung zu bringen suchte, „wie die Anhänger des 
Pyrrhonius, die auch alles ins Ungewisse zu stellen 
und selbst die Fundamente der Geometrie wankend 
zu machen bemüht waren.“ Indem nun Melanch- 
tlion das Gegenteil als die Aufgabe eines vor Gott 
und Menschen löblichen Strebens aufstellt, bezeich¬ 
net er auch die Mittel, die man anzuw’enden hat, 
um sich in dem Streben nach der Wahrheit zu 
kräftigen; besonders sei der Geist immer darauf 
hinzurichten, die Wahrheit erforschen zu wollen; 
man benutze die Gesetze des Denkens, die schon 
Plato als einen Himmelsfunken bezeichnete, der 
in uns angezündet sei, um die Wahrheit zu erkennnen. 

Offenbar hebt Melanchthon das wichtigste, was 
der mathematische Unterricht bei der Bildung der 
Jugend erreichen soll, hervor. Der Sinn für Wahr¬ 
heit ist durch die strenge Form des Beweises zu 
wecken und heran zu bilden. Denn diese Methode 
der alten Geometrie, die durch Einfachheit, Klarheit 
und den notwendigen inneren Zusammenhang der 
Teile eines Beweises sich auszeichnet, bleibt für 
alle Zeiten ein Muster. . 

Melanchthon war es darum zu thun, dass die 
Jugend die Ausrechnung der Figuren und Körper 
kennen lerne und die Benutzung der Konstruktion, 
wie sie in der Mechanik und anderen praktischen 
Künsten angewendet wird; wichtiger noch erschien 
ihm aber, dass man mit Hülfe der Geometrie die 
Einsicht gewinne, wie die Grösse der Erde zu messen 
und die Entfernung der Himmelskörper zu bestimmen 
sei. Durch die mathematischen Studien sollte der 
Mensch in den Stand gesetzt werden, über die Erde 
hinaus in die Himmelsräume zu messen und somit 
den Bau des Universums zu begreifen, um das 
KutisHverk eines alhüeisen Schöpfers beivundem zu 
können. „Arithmetik und Geometrie“, sagt er, „haben 
w’ohl in der Physik ihren vielfachen Nutzen, aber 
vor allem belehren sie uns doch über den Bau des 
Himmels." An einer anderen Stelle vergleicht er 
beide Wissenschaften mit Flügeln, wie sie Plato 
im Phädrus den Seelen andichtet, die aus dem nie¬ 
deren Erdcnleben sich hinauf zu schwingen vermö¬ 
gen in die höheren Regionen des Himmels. Dass 
durch Kenntnis dieser Wissenschaften der Mensch 


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Schenkling-Pr£vöt, Melanchthon als Mathematiker. 


i6i 


die hohe Bestimmung seiner Lebensaufgabe erfhlle, 
war ihm eine der gewissesten und erhabensten 
Überzeugungen, ln dem Vorwort des von Milichius 
nach dem Euklid bearbeiteten Werke „Die Elemente 
der Planimetrie“, sagt Melanchthon: „Dies will sagen, 
dass Gott alles leite, den Lauf der Himmelskörper 
nach festen Gesetzen lenke und die gesamte Natur 
regiere! Wer also die Geometrie kennen lernt, der 
eröffnet sich nach seiner Ansicht den Weg zu diesen 
höchsten Aufgaben des Menschen, da sie ihn in eine 
gewisse Verwandtschaft mit Gott bringt. 

Wie seiner Zeit Rhetz, weist auch Melanchthon 
auf das Vorurteil hin, das die Mathematik schwer 
zu erlernen sei und zeigt zugleich, wie durch zweck¬ 
mässige Anordnung des Stoffes das Studium dieser 
Wissenschaft nicht schwerer sei, als das jeder 
anderen. Trotzdem schienen seine Ausführungen 
in dieser Hinsicht keinen geeigneten Boden zu finden, 
denn Peucer sagt in seiner Rede „de studiis veteris 
philosophiae“: — „ich muss mich Ober meine Zu¬ 
hörer offen beklagen; anfangs besuchen sie die 
Vorlesungen zahlreich und werden durch die Neu¬ 
heit der Sache angelockt; sobald es sich aber ernst¬ 
licher um das Lernen handelt, dann zeigen sie bald 
Überdruss und reden sich ein, dass sich ihnen 
Schwierigkeiten in den Weg stellen.“ 

Das Studium der Astronomie hebt Melanchthon 
oft als eins der schönsten hervor, was dem Menschen 
zu Teil geworden ist und kommt mehrmals auf 
Platos Ausspruch zurück, „dass dem Menschen 
dieser Wissenschaft wegen die Augengeschenktseien“ 
und Purbach nebst Regiomontan, jene Männer, die 
kurz vor der Reformation die bedeutendsten Ver¬ 
treter dieser Wissenschaft waren, vergleicht er in 
der Vorrede zu Sacrobusto mit Triptolem, der in 
Griechenland die fruchtbaren Getreidekömer aus¬ 
gestreut hat. Deshalb spricht er wiederholt den 
schärfsten Tadel gegen die aus, welche entweder 
dies Studium für überflüssig erachteten, oder gar 
epicuräischen Ansichten huldigten, insofern, als sie 
die Entstehung der* Welt dem Zusammenstoss der 
Atome zuschreiben, so dass dann nur ein zufälliges 
Ereignis als Ursache angenommen wird, wo doch 
die grösste Gesetzmässigkeit herrsche. In der Rede 
„de astronomia et geographia“ (1536) weist Me¬ 
lanchthon nach, dass das Studium dieser Wissen¬ 
schaft neben der tieferen und ethischen Seite auch 
vielfachen praktischen Nutzen bringe. Neben der 
Berechnung der Länge des Jahres, der Grösse der 
Erde, der Lage der Orter auf der Erdkugel u. s. w. 
könne namentlich die Schifffahrt befördert werden. 

Eine Zweigwissenschaft der Astronomie war die 
Astrologie, und soweit man deren Geschichte auch 
zurück verfolgen mag, findet man Spuren von jener 
mystischen Lehre, durch welche der Geist des 
Menschen eine andere Welt sich zu erschliessen 
wähnte. Den Kräften des Himmels, die sich in der 
Wirkung von Sonne und Mond jedem kund thun, 
glaubte man einen ungewöhnlichen Einfluss beilegen 
zu müssen. Der Mensch wurde von seiner Geburt 
an in die geheimnissvolle Verbindung, die der 
gläubige Sinn zwischen Himmel und Erde sah, mit 
verflochten, und sein ganzes Wesen und Sein sollte 
in der Konstellation der Gestirne eine Erklärung 
finden. Was anfänglich eine Ahnung des Gemütes 
war, sah man in der Erfahrung bestätigt, weil man 


es wünschte. So bildete sich eine Lehre aus, die 
durch ihr Alter und den Eingang, den sie bei ver¬ 
schiedenen Völkern der Vorzeit gefunden hatte, eine 
nicht geringe Autorität ausübte. Noch weit über 
das Mittelalter hinaus huldigte man der Astrologie 
und auch Melanchthon gehört zu ihren Verteidigern. 
Er sagte: „Die Aussprüche der Astrologen sind 
nicht apodiktisch, denen man unbedingt gehorchen 
müsse, wie das Volk den Befehlen des Prätors; 
gleichwohl sind die Himmelszeichen nicht ohne 
Bedeutung.“ 

Auf diesen Einfluss der Gestirne stützte sich 
auch die Heilkunde, indem sie in der Lehre von 
Sympathie und Antipathie, durch welche die Körper 
auf einander wirken, sich einen Weg zu neuen Heil¬ 
mitteln bahnte, wenn die gebräuchlichen ihren Dienst 
versagten. So hatte sich die Astrologie ein weiteres 
Feld erobert Sie war nicht blos der prophezeiende 
Teil der Astronomie, wie sie Melanchthon einige 
Male nennt; sie ist, auch wie er in der Vorrede zu 
den Theoricae sagt: „der Teil der Physik, welcher 
bestimmt, was für einen Einfluss die Gestirne auf 
die Bildung der Temperatur haben; er wird auch 
im Leben bei der Heilkunde angewandt, wie es die 
bewährtesten Männer bezeugen“. 

Melanchthons Gewährsmann auf diesem Gebiete 
war in erster Linie Ptolemäus, der die Astrologie 
in seinem Werke „de judiciis astrologicis" folgen- 
dermassen begründet: „Es bedarf keiner ausführ¬ 
lichen Auseinandersetzung, dass eine gewisse Kraft 
vom Himmel aus auf alle Körper sich erstreckt, 
welche die Erde umgeben und auf die Natur, welche 
den Veränderungen unterworfen ist und auf die 
Elemente, welche unter dem Monde sind: auf Feuer 
und Luft, welche durch die Bewegung des Himmels 
mit in Bewegung gesetzt werden, das tiefer Lie¬ 
gende uraschliessen und somit einen Einfluss auf 
Erde und Wasser, Pflanzen und Tiere ausüben.“ 
Die Übersetzung dieses Ptolemäischen Werkes ist 
übrigens eine der letzten grösseren Arbeiten Me¬ 
lanchthons, Wie wertvoll es ihm war, sagt er in 
der Vorrede der Übersetzung, die an seinen Freund 
Ebner, Senator in Nürnberg, gerichtet ist. Das 
Werk enthalte alles, was man vor Ptolemäus über 
Astrologie gelehrt habe und dessen Verdienst sei 
es, die in vielen Büchern zerstreut und stückweise 
behandelte Lehre zusammen zu fassen. Auch hielt 
Melanchthon öfter Vorlesungen über dasselbe. Ne¬ 
ben Ptolemäus stützte sich Melanchthon in seinen 
Anschauungen über die Astrologie auch auf Galen 
und Aristoteles. So schreibt er an Grynäus, Pro¬ 
fessor der Mathematik in Tübingen: „Ich bin fest 
der Meinung, dass Aristoteles ganz Recht hat, wenn 
er behauptet, dass diese irdische Welt von der 
höheren beherrscht werde, und dass von dort der 
Einfluss auf die hier eintretenden Veränderungen 
ausgehe. Als treffenden Grund führt er nämlich an: 
„Da die Bewegung des Himmels die erste ist, so 
folgt, dass diese ursprüngliche Bewegung auch der 
Grund für die übrigen geworden ist.“ — 

Die Gegner der Astrologie bekämpfte Melanch¬ 
thon in eifrigster Weise, so u. a. den Italiener Pico 
von Mirandola (t 1494 zu Ferrara) und in Bezug 
auf Basilius’ (358) Ansicht, der gleichfalls den Ein¬ 
fluss der Gestirne auf das Leben des Menschen in 
Abrede gestellt hatte, schreibt er: „Solch ein Schluss 


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i 62 


Betrachtungen und kleine Mitteilungen. 


mag allerdings dem gewöhnlichen Menschenver* 
Stande einleuchtend sein: uns dagegen, die wir auf 
dem Boden der kirchlichen Lehre stehen, muss es 
höchst schmerzlich sein, dass jener bevorzugte Geist 
ganz gegen Gottes Willen sich in solche Streitig¬ 
keiten eingelassen hat. Wäre die Natur der Men¬ 
schen unverdorben geblieben, so hätte in uns das 
göttliche Licht, dieser Lenker aller Bewegungen, 
fortgeleuchtet, und es würden auch die Gestirne 
auf die unbefleckte Substanz einen andern Einfluss 
behalten haben. Dagegen sind mit dem Sündenfall 
die Einwirkungen der Gestirne weniger günstig, — 
und unsere Temperamente oft wenig von denen 
der niederen Geschöpfe verschieden.“ — Der Hinter¬ 
grund dieser astrologischen Ansichten Melanchthons 
ist der kindliche Glaube, dass Gott, der die Welt 
regiert, auch zuweilen in sichtbaren Zeichen seine 
Gegenwart andeutet, ferner, dass das ganze Welt¬ 
all mit dem, was es in sich schliesst, für den Men¬ 
schen geschaffen, der ihrem Einflüsse unterworfen 
ist. Ein verständiger Mann wird daher die Himmels¬ 
zeichen beachten und sich, soweit es angeht, vor 
drohenden Gefahren schützen. 

Diese Auflassung von dem Universum, bei wel¬ 
cher das Ptolemäische System und die Bibel im 
Einklang stehen, ist darum auch als Grund anzu¬ 
sehen, dass Melanchthon der Kopernikanischen 
Lehre entgegen war, obgleich sie sein Freund Rein¬ 
hold eilHgst verteidigte. 

Die Antwort auf die Frage Ober die Bewegung 
der Erde hat Melanchthon in der Physik behandelt 
und folgt darin den Beweismethoden der alten Phi¬ 
losophie. Er ftlhrt etwa aus: Einer sphärischen 
Gestalt, wie sie der Himmel hat, kommt eine kreis¬ 
förmige Bewegung zu. Die Erde kann nach der 
Erfahrung nur im Mittelpunkte der Himmelsachse 
ruhen. Der Mittelpunkt einer rotierenden Sphäre 
kann sich aber nicht bewegen, denn die Bewegung 
eines einfachen, in sich abgeschlossenen Körpers 
kann nur eine einzige sein. Da nun die Erde ein 
einfacher Körper ist und die schweren Körper 
senkrecht zum Mittelpunkte fallen, so strebt alles 
zu demselben hin. Diese Bewegung nach dem 
Mittelpunkte hin schliesst aber jede andere aus. 
Eine schnelle Rotation um die Achse würde im 
Gegenteil alle Körper von der Erde entfernen. 

Neben diesen physischen und philosophischen 
Gründen hält Melanchthon doch wesentlich an den 
Worten der Bibel fest, wenn auch mancher, wie 
er sagt, darüber spöttele, sich in diesen Lehren 
dieses Ankers zu bedienen. Er bezeichnet es als 
Neuerungssucht, die Erde als einen Stern aufzu¬ 
fassen und Lehren aufzufrischen, auf die schon ein¬ 
mal Aristarch aus Samos verfallen sei. 

In die Zeit der Reformation' fällt bekanntlich 
auch die erste Bearbeitung der Kalender, welche 
die Mathematiker und Astronomen übernahmen. 
Auch Melanchthon hat sich, wie bei der Heraus¬ 
gabe des calendarium historicum angefllhrt ist, für 
derartige Untersuchungen interessiert. Im Vonvort 
zu dem genannten Kalender, weist er auf mehrere 
Gesichtspunkte hin, die bei Anfertigung solcher be¬ 
rücksichtigt werden müssten. Ein Kalender sollte’die 
wichtigen Ereignisse der biblischen und Profange¬ 
schichte enthalten; dann sollte man die wichtigsten 
Tage seines Lebens darin verzeichnen und die 


Himmelserscheinungen darin notieren, da es von 
besonderem Segen för den einzelnen sei, sein Le¬ 
ben mit Aufmerksamkeit zu verfolgen und die ver¬ 
schiedenen Erlebnisse und welthistorischen Ereig¬ 
nisse sich zur Betrachtung vorzulegen. Hierdurch 
würde der Sinn ftlr das Höhere geweckt und der 
Mensch angeregt, sein Leben von einem höheren 
Gesichtspunkte aus zu überblicken. Insbesondere 
solle die Jugend angehalten werden, sich einen 
solchen Kalender anzulegen und in Form eines 
Tagebuches zu führen. 


Betrachtungen und kleine Mittheilungen. 

ln der Berliner Gesellschaft für Erdkunde hielt 
Herr Dr. jur. Esser kürzlich einen Vortrag über 
seine Reise nach dem Kunene und Premier-Lieute¬ 
nant Dr. Hartmann über das Kaoko^ebiet in 
Deuisch-Südwesla/rika. Obgleich wir bereits S. 91 
dieser Zeitschrift eine kurze Mitteilung über die 
Bedeutung des Kunene für die Zukunft gebracht 
haben, dürfte es doch den Lesern nicht unerwünscht 
sein, etwas Näheres über das von Dr. Esser durch¬ 
reiste Gebiet zu erfahren. Wir benutzen im Fol^n- 
den den ausführlichen Bericht der „Vossischen Zei¬ 
tung" über die Januar-Sitzung ’ obiger Gesellschaft 
und fügen zur besseren Orientierung ein Kärtchen 
über das Kunenegebiet bei. 

In Mossammedes, Port Alexander und der Tiger 
Bai, so begann Herr Dr. Esser, besitzt Portugal die 
schönsten Häfen der Westkttste Afrikas. Mossam¬ 
medes, obschon erst seit acht Jahren erschlossen, 
zählt auch schon über 3000 europäische Einwohner. 
Das Klima ist gesund und es gedeihen deshalb auch 
hunderte dort geborener Kinder. Mit 50 Trägem, 
mehreren Kamelen und Reitern ging Redner von 
Mossammedes aus im vorigen Jahre nach den Buren¬ 
ansiedelungen am Kunene. Der Marsch richtete sich 
zunächst nach Port Alexander. Die Steppe, die man 
durchzog, erwies sich als ungemein wildreich. In 
Port Alexander wohnen 700 Menschen, darunter 
300 Weisse, die sich vom Fischfang ernähren. Das 
Meer ist dort unglaublich fischreich; die gesalzenen 
und getrockneten Fische bilden eine begehrte Han- 
delsw’aare; 1895 wurden 2250000 kg ausgeführt. 
Die Reise ging dann den Fluss Goro^a aufwärts 
bis zum 16. Breitengrade, wo man nach Osten zum 
Chellagebirge abschwenkte. Auch hier traf man 
einen erstaunlichen Wildreichtum. An einem Tage 
erlegte man drei Elefanten, die von den Schwarzen 
binnen 15 Stunden aufgegessen wurden. Diese un¬ 
geheure Leistung brachten die Kerle mit Hilfe einer 
kräftigen Bauchmassage fertig. Hatte sich Einer satt 
gegessen, so legte er sich auf die Erde und seine 
Gefährten traten ihm mit den Füssen auf dem 
Bauche herum. Danach war er dann wieder auf¬ 
nahmefähig. Das Chella-Gebirge wird von einem 
intelligenten und kriegerischen Nomadenvolke be- 
wolmt; die Sklaven, die dieses Volk enthält, ge¬ 
hören aber einem Nachbarvolkc an, das zu den 
schmutzigsten und unkultivirtcsten Erdenbewohnern 
zählt, von Unrat starrt und von Ungeziefer förmlich 
aufgefressen wird. Auf der Ostseite des Gebirges 
wiederum trifft man ein schönes Volk, den Ovahero 
ähnlich. Hier wurde man freundlich aufgenommen. 
Die Gegend enthält grosse Wälder mit massenhaf¬ 
ten Kautschuklianen. Am Rio Caculovar angelangt, 
zog man diesen abwärts, ln Humbe hörte man, 
dass weiter nordöstlich von den Engländern Gold 
gefunden sei. Es war aber nicht Zeit, dorthin zu 
gehen. Wohl aber sah man am Kunene die dort 


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BETRACHtUNGEN UND KLEINE MITTEILUNGEN. 


163 


ansässigen Buren Gold waschen und zwar mit Hilfe 
von Sldaven, die sie zu Hunderten aneinanderge* 
koppelt haben und mit sehr langen Peitschen von 
Giraffenleder zur Arbeit anfeuem. Seltsam berührte 
der bis in diese Wildnis vor^edrungene Luxus, den 
man bei den Buren sah. Die Herren tranken Cu- 
ra?ao triple sec und die Damen ringen mit Puffär¬ 
meln und ausgeschnittenen Lackschuhen einher. Diese 

f oldrqichen Gebiete, vielleicht die goldreichsten der 
rde, sind früher einmal Deutschland von Portugal 



angeboten, damals aber — und unter den derzei¬ 
tigen Umständen wohl mit Recht — ausgeschlagen. 
Die Reise ging nun am Kunene abwärts weiter. Bei 
Kitavi fand man eine Palme, deren Stamm mit 
Trauben von maronenartigen Früchten besetzt ist. 
Die Früchte sind wohlschmeckend, haben aber 
einen grossen Kern und nur wenig Fleiscl^ Das 
Land zwischen Humbe und dem Kunene ist sumpfig, 
aber fruchtbar. Strausse treiben sich dort in gros¬ 
sen Herden herum; die Schwarzen lasen ganze 
Bündel von Federn auf. Am Kunene sah man 
Rudel von Giraffen. Die Landschaft ist schön, der 
2—3 Km. breite und bis 80 Zmtr. tiefe Fluss sehr 
reissend. Stellen weis zwängt er sich durch Fels¬ 
klammen hindurch, die ihn auf 5—6 Meter einengen; 
hier steigt das Wasser in der Regenzeit um 10 
Meter. Wo es sich ausbreiten kann, umschliesst 
es häufig Inseln, die von Antilopen in Scharen be¬ 
lebt sind. An anderen Stellen sind die Ufer so 
steil, dass es unmöglich ist zum Wasser zu ge¬ 
langen. An der Mündung des Jabo traf man wie¬ 
der goldwaschende Buren. Hier erhebt sich am 
linken Ufer, auf deutschem Gebiete, ein Hügel, von 
dem aus man eine sehr schöne Aussicht-geniest. 
In den „schwarzen Bergen“, durch die sich der 
Strom sodann weiter wälzt, treten die Ufer wieder 
so dicht zusammen, dass es leicht sein würde, dort 
eine Brücke zu bauen; nur müsste erst festgestellt 
werden, dass die gewählte Stelle nicht zur Regen¬ 
zeit überschwemmt wird. Am S. Marienflusse, der 
von deutscher Seite kommt, sah man zuerst wie¬ 
der das Meer. Nahe der Mündung versandet der 
Fluss, bis '200 Meter hohe Dünen bedecken seine 
Ufer, südlich schiebt sich ein Felsplateau zwischen 
Fluss und Dünen. Zwischen diesem Plateau und 
den Sandbergen muss früher ein Flussarm zum 
Meere gegangen sein. Die Einsenkung, die seinen 
Lauf bezeichnet, rhündet in einer Bai, welche die 
Landung von der See her ermöglicht, da ein im 
Süden vorgelagerter Felsen die Brandung bricht 
Der Unterlauf des Kunene ist oberhalb der versan¬ 
deten Mündung, also etwa 2—3 Kilometer von der 
See bis zu den schwarzen Bergen hinauf schiffbar. 


Von hier aus aber ist das Innere von Deutsch-Süd- 
westafrika leicht zugänglich. Man ging nunmehr nord¬ 
wärts zur Tigerbai, die man weit rascher erreichte, als 
das der Karte nach zu erwarten war. Die unterwegs zu 
überwindende Steigung betrug nicht mehr als 90 Mtr. 
Die Bai hat übrigens eine ganz andere Form, ab 
die englische Vermessung von 18^ an^ebt Die 
Behauptung als sei die Bai versandet, bt irrtümlich. 
Vor den Augen der Reisenden haben drei portu- 
giesbche Scruffe auf der Bai manövriert Redner 
erklärt die Tigerbai für den gegebenen Schlüssel 
von Deutsch-Sodwestafrika und als den natürlichen 
Ausgangspunkt einer Eisenbahn quer durch Süd- 
Afrika. Wer diese Eisenbahn fertig bringt, der wird 
sich, so schloss Redner, den grössten Afrikanern 
ebenbürtig an die Seite stellen. Den zweiten Vor¬ 
trag hielt Prem.-Lieutenant Dp. Hart mann über 
das Kaokogebiet in De utsch ■ Süd west¬ 
afrika auf Grund eigener Reisen und Beobach¬ 
tungen. Vortragender hat die Bergwerksdistrikte 
unseres Schutzgebietes im Aufträge der Süd-West- 
afrikanischen Kompagnie 1^3—1895 untersucht und 
hierbei auch mehrere Reisen zur Küste und die 
Küste entlang unternommen, um zu erforschen, ob 
nicht zwischen Swakopmund und dem Kunene ein 
Landungsplatz vorhanden ist Die Engländer haben 
die Küste schon früher untersucht, aber nur von 
der See aus, was nicht immer ausreicht. Die Küste 
von Westafrika entlang zieht von Süd nach Nord 
ein kalter Meeresstrom; der herrschende Wind bt 
Südwest. Beides zusammen verursacht die ge¬ 
fürchtete Brandung längs der ganzen Küste, die nur 
an ganz vereinzelten Stellen durch vorspringende 
Felsen oder Landzungen unterbrochen ist. Ganz 
Deutsch-Südwestafrika hat bis jetzt nur zwei solcher 
Stellen, wo also Schiffe anlegen können, nämlich im 
Soden die Loderitzbucht (Angra Pequena) und in 
der Mitte die Walfischbai mit Swakopmund. Nach 
langem Suchen hat er endlich eine anscheinend 
sichere Landungsstelle an der Mündung des Khunub 
am Kap Frio gefunden. Dort schützt eine vorge¬ 
lagerte Bank die Küste vor der Brandung, und es 
wäre von dort aus das Innere und namentUich die 
Minengegend von Otavi südlich der E^oschapfanne 
nicht schwerer zugänglich zu machen, wie von 
Swakopmund aus. Redner berichtet über die von 
ihm aufgefundenen Guanolager, sowie über die geo- 
gnostische und landschaftliche Eigenart der von ihm 
durchstreiften, meist wildreichen Gebiete. Eine 
schöne ethnologische Sammlung diente zur weiteren 
Veranschaulichung. In der Sitzung war ausserdem 
eine von Schweinfurth gezeichnete Karte von 
Heluan ausgestellt. 

• • 

* 

Eine neue Art Strahlen. Von einer sehr wich¬ 
tigen und interessanten Entdeckung weiss die Wie¬ 
ner Zeitschrift für Elektrotechnik zu berichten. 
Der dortigenAkademie derWbsenschaften sind seitens 
Professor Friedrich in Elbing Mitteilungen über 
eine neue Art von Strahlen zugegangen. Dieselben- 
wurden von ihm bei seinen Studien über Röntgen- 
Strahlen entdeckt und „Kritik‘'-Strahlen benannt. 
In einer Vacuumröhre erzeugt durchdringen sie 
augenblicklich jeden Körper, auf den sie gelenkt 
werden, und sollen ein untrügliches Mittel bilden 
den eingetretenen Tod zu konstatieren. Die von 
Prof. Friedrich zahlreich gemachten Versuche zeig¬ 
ten auf einer photographischen Platte ganz ver¬ 
schiedene Resultate, je nachdem der Körper leben¬ 
dig oder tot war. So erscheint die von aen Kritik- 
Strahlen durchleuchtete Hand eines lebendigen 
Menschen als eine „Knochenhand“ (wie dies auch 
bei Röntgen-Strahlen der Fall ist), nach eingetre¬ 
tenem Tode des Individuums wird auf der Platte 


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164 


Sprechsaal. 


blos ein verschwommenes Bild erzeugt, das nicht 
mehr die charakteristischen Formen einer Knochen¬ 
hand besitzt. Leider sind die von Prof. Friedrich 
gemachten Mitteilungen so allgemein gehalten, dass 
sie nicht als Gruncflage zu selbständigen Experi¬ 
menten dienen können, man wird also gut thun die 
weiteren Nachrichten hierüber zu erwarten, ehe 
man sich ein definitives Urteil bildet. s. 

9 

* * 

Petroleum ■ Glühlicht ■ Lampe. Vor wenigen 
Tagen wurde in den Geschäftsräumen der Konti¬ 
nental-Gasgltthlicht-Gesellschaft „Meteor“ einem 
Kreise geladener Gäste, die neue Petroleum-Glüh- 
lichtlampe vorgeführt, die von dem Ingenieur der 
Gesellscnaft, Lukas, konstruiert, nunmehr in den 
Verkehr gebracht, werden soll. Das Prinzip des 
Gasglühlichts ist auf die gewöhnliche Petroleum¬ 
lampe übertragen; von einer in den Brenner ein¬ 
gesetzten kleinen Krone wird durch eine besondere 
Art der LuftzufUhrung die gewöhnliche Flamme 
in eine blaue helle verwandelt, die den über dieser 
Krone angebrachten Strumpf zum Glühen bringt. 
Die Lichtausstrahlung hat in horizontaler Richtung 
eine Intensität von 61 Hefnerkerzen-Licht, also eine 
dreimal so grosse Leuchtkraft wie eine grosse Pe¬ 
troleumlampe und übertriftt an Helligkeit das Gas¬ 
glühlicht; dabei ist der Petroleum-Verbrauch nur 
halb so gross, die ■ Betriebskosten ausserdem vier¬ 
mal geringer. Das Petroleumglühlicht, übrigens auf 
jeder Lampe ohne Schwierigkeit einzurichten, wäre 
somit absolut und relativ das billigste Licht der 
Gegenwart. Unter diesen Gesichtspunkten verdient 
die neue Erfindung eingehende Beachtung. 

• • 

• 

Selbstbefruchtung und Kreuzung. Es ist eine 
längst bekannte Thatsache, dass im Pflanzenreiche 
verschiedenartige, oft selu komplizierte Einricht¬ 
ungen Vorkommen, welche eine Selbstbefruchtung 
verhindern sollen, weil sonst nur eine mangelhaite 
oder gar keine Fruchtbildung eintritt. Bei solchen 
Pflanzen, wie z. B. beim Hopfen, wo das eine In¬ 
dividuum nur märmliche (Staubblüten), das andere 
nur weibliche (Stempelblüten) Befruchtungsorgane 
besitzt, ist dieser Zweck natürlich am vollkommen¬ 
sten erreicht; es muss eine Kreuzung zwischen ver¬ 
schiedenen Individuen eintreten. — Gewisse Zwit- 
terblütler, wie die Orchideen u. a., welche also 
männliche und weibliche Geschlechtsorgane in ein 
und derselben Blüte vereinigen, verhindern eine 
Selbstbefruchtung vollständig durch den eigenartigen 
Blütenbau; einige Spezies dieser Familie zeigen so¬ 
gar die auffallende Erscheinung, dass die Blüte ge¬ 
tötet wird, wenn der eigene ßlütenstaub auf i&e 
Narbe gebracht wird. Nun gibt es eine Anzahl von 
Zwitterblütlem, welche einen solchen Bau zeigen, 
dass der Staub einer Blüte ungemein leicht auf die 
eigene Narbe gelangen kann. Das ist z. B. in der 
g^rossen Familie der Kreuzblütler (Crucifercn) der 
Fall, zu welchen der bekannte Goldlack, das Schaum¬ 
kraut, der Kohl u. a. gehören; hier tritt entweder 
bei geöffneten Blüten oder beim Schliessen dersel¬ 
ben oder auch durch Insekten scheinbar unvermeid¬ 
lich Selbstbefruchtung ein. Dass aber auch in die¬ 
sen Fällen, wo die Natur den BlOtenbau geradezu 
zur ^Ibstbestäubung eingerichtet hat, durchaus nicht 
immer eine Befruchtung erfolgt, hat H ildebrand 
durch Beobachtungen und Experimente kürzlich 
nachgewiesen. Durch Versuche mit dem sehr ver¬ 
breiteten Wiesenschaumkraut (Cardamine pratensis) 
wurde die Thatsache konstatiert, dass es hier we¬ 
der bei Bestäubung einer Blüte mit dem eigenen 
Pollen, noch mit dem einer anderen Blüte dessel¬ 
ben Blütenstandes zur Fruchtbildung komme, son¬ 


dern nur dann, wenn zwischen Blüten verschiede¬ 
ner Individuen eine Bestäubung stattfindet Wie 
dieses Schaumkraut, so verhalten sich auch einige 
andere Kreuzblütler, doch keineswegs alle. Das 
gemeine Lauchkraut (AUiaria officinalis), das Hunger¬ 
blümchen (Draba verna) u. a. bringen auch bei 
Selbstbestäubung reichliche Früchte hervor. jj. 

• 

Ein goldführender erratischer Block von ungefähr 
20 000 t Gewicht soll am Colombiafiuss bei Miles 
nördlich von Trail Landing gefunden worden sein. 
Derselbe steckt halb im Sand des zur Zeit trocke¬ 
nen Flussbettes und enthalt ausser Gold auch Kupfer. 
Die Blockmasse ■ soll per Tonne einen Wert von 
160—200 M. besitzen und von den Gehängen der 
der umgebenden Berge herrühren. 

' Berg* u. HüUenmanuische Zeit. idg^. a. 

9 9 

Fiskalische Mutongen auf Steinsalz. Der 
preussische Bergfiskus hat wiederum mehrere um¬ 
fangreiche Mutungen auf Steinsalz im Bezirk 
Magdeburg erwirkt. Unterm 28. XII. 1896 ist dem 
Bergfiskus vom Königlichen Oberbergamt Halle das 
Bergmanns-Eigentum zur Gewinnung Von Steinsalz 
nebst den mit demselben auf nämli^er Lagerstätte 
vorkommenden Salzen verliehen: Themis, Salz- 
Löbnitz und Potentia. Die Felder gehören den Ge¬ 
markungen Förderstedt, Neugattersleben und Löb¬ 
nitz an. Deutsche Kohlenzeituo^. 1897. 3. 


Sprecbsaal. 

Herrn Lehrer /?. in D. Sie wünschen sich Über 
den Zusammenhang von Adhäsion und Luftdruck 
zu unterrichten. Da bei Schulversuchen, durch die 
die Wirkung der Adhäsion gezeigt werden soll, 
sehr|oft der Luftdruck wesentiieh mitwirkt, werden 
leicht beide Ursachen eben wegen ihrer ähnlichen 
Wirkungen verwechselt. Bezeidinet man in stren¬ 
ger Form die Adhäsion als die zwischen den Teil¬ 
chen ungleicher Körper ausgeObte Anziehungskra^ 
so ist diese völlig unabhängig vom Luftdruck. Die 
sehr dünne Luftschicht, die infolge der Adhäsion 
an der Oberfläche aller Körper haftet, lässt sich 
auch durch die stärkste Luftverdünnung nicht be¬ 
seitigen, denn sie wird durch die riesige Gewalt 
der Molekularkräfte, die vielleicht tausenden von 
Atmosphären gleich ist, festgehalten. Der von Ihnen 
vorgeschlagene Versuch, ein mit einem Wasser¬ 
tropfen gefülltes Glasrohr unter den Rezipienten 
einer Luftpumpe zu bringen, lehrt nichts über Ad¬ 
häsion, denn das Wasser würde verdampfen und 
scheinbar völlig verschwinden. Dass dennoch eine 
unendlich dünne Wasserhaut zurckbleibt, lässt sich 
durch Capillaritätserscheinungen beweisen. 

Auch daraus, dass die Capillarconstante von 
Flüssigkeiten, wie Quecksilber, vom Druck oder der 
Verdünnung der umgebenden Gasmasse gar nicht 
beeinflusst wird, muss die Unabhängigkeit der Ad¬ 
häsion vom Luftdruck geschlossen werden. 

Dr. P. 

Herrn Prof. Dr. S. in ß. Wir verweisen auf 
Tetzner, Sprachliche Fragen, Nr. 4 S. 88 der 
„Umschau“. 


No. IO der Umschan wird enthaltea: 

Bruck. Die vorgeschichtliche (mykeaische) Periode Griechen¬ 
lands. — Major L., Die europäischen Heere der Gegenwart. 
I. Der Dreibund. - Kalt-Kculeauji, Der Handelsverkehr in 
Transvaal. - Das Rohmaterial für Gasglflhlicht. - Verbesser¬ 
ungen am Telephon. 


G. Horstmann’a Druckerei. Frankfurt a. M. 


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DIE UMSCHAU 

ÜBERSICHT ÜBER DIE FORTSCHRITTE UND BEWEGUNGEN AUF 
DEM GESAMTGEBIET DER WISSENSCHAFT, TECHNIK, 
LITTERATUR UND KUNST 

heraiisgcgeben von 

DR. J. H. BECHHOLD 


Wöchentlich eine Nummer. 

Zu beziehen durch 
alle Buchhandlungen und 
PostanstaltcQ. 

Postzcitungspreisliste No. 793t a. 

Verlag von: 

H. Becbhold Verlag, Frankfurt a. M. 


Neue Krame ip-ai. 


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M. a.50. 

Jahres* Abonnement 
Preis M. 10.—. 

Im Ausland nach Cours. 
Verantwortlicher Redakteur; 

Otto AdoirWolters, Frankfurt a. M. 


X« Ty-v I ToU»-cr Nachdruck aus dem InhaU der Zeitschri/t oktu Erlaubnis -rUc^i-i /C A/THt-*» 

JN2 IO. 1. janrg. der RedakHan verholen. ^^91' JViarZ. 


Änderungen und Fortschritte 
im Militärwesen. 


I. Der Dreibund. 

Ehe wir auf die im MiHtärwesen erfolg¬ 
ten Fortschritte der neueren Zeit näher ein- 
gehen, glauben wir im Sinne unserer Leser 
zu handeln, wenn wir zunächst das Heer¬ 
wesen der Hauptmächte in grossen Zügen 
darstellen, um auf diese Weise eine Grund¬ 
lage für unsere späteren Betrachtungen zu 
gewinnen. Hierbei müssen wir uns aller¬ 
dings versagen, manche auch allgemein wis¬ 
senswerte Einrichtungen zu erwähnen. In¬ 
dessen behalten wir uns vor, späterhin in 
besonderen Abhandlungen unsere Leser mit 
allem, was von Interesse sein dürfte, bekannt 
zu machen. 

Da eine Vergleichung des Heerwesens 
der Dreibund-Mächte erwünscht sein dürfte, 
so wenden wir uns in erster Linie der Be¬ 
trachtung von Deutschland-Oesterreich- Ungarn- 
Italien zu. 

Das Wehrsystem, das Ersatzwesen, die 
Organisation und Formation, sowie die beson¬ 
deren Einrichtungen von Behörden und An¬ 
stalten geben bei diesen drei Mächten im gros¬ 
sen und ganzen dasselbe Bild. 

Das Wehrsystem hat zur Grundlage die 
allgemeine und persönliche Dienstpflicht, Stell¬ 
vertretung oder Loskauf ist ausgeschlossen. 
In Oesterreich besteht für diejenigen, welche 
gesetzmässig von der persönlichen Dienst¬ 
leistung befreit werden, eine Wehrsteuer in 
14 Abstufen von r —loo fl.; in Italien soll 
eine solche eingeführt werden. 

Die Wehrpflicht ist abzuleisten in dem 
stehenden Heere (aktiv und Reserve), der Land¬ 
wehr, der Ersatzreserve (Deutschland und Öster¬ 
reich) und dem Landsturm. 

In Deutschland findet die Einstellung in das 
stehende Heer mit dem 20., in Österreich und 
Italien mit dem 21. Jahre statt, die Dienstpflicht 

Unuchau 1897. 


dauert bei der Fahne in Deutschland 2 Jahre 
(Gesetz vom 3. 8. 93), Österreich und Italien 
3 Jahre, in der Reserve 5 bezw. 7 und 5 
Jahre; die Kavallerie und reitende Feld-Ar¬ 
tillerie hat jedoch in Deutschland auch wei¬ 
terhin 3 Jahre aktiv, dagegen nur 3 (statt 5) 
Jahre in der Landwehr i. Aufgebots zu 
verbleiben; in Italien bestand ftir die Ka¬ 
vallerie eine 4jährige aktive Dienstpflicht 
bis 1895. 

Der Übertritt in die Landwehr erfolgt in 
Deutschland und Italien („Mobilmiliz“) ledig¬ 
lich nach Ableistung der Dienstpflicht im 
stehenden Heer; in Deutschland zerfällt die¬ 
selbe in ein erstes und zweites Aufgebot mit 
5- bezw. 7jähriger Dienstzeit, die Landwehr- 
verpflichtung dauert also bis zum vollendeten 
39. Lebensjahr; in Italien beträgt diese 
Dienstzeit nur 3 — 4 Jahre, in Österreich nur 
2 Jahre — ausschliesslich eines gewissen 
Prozentsatzes von Rekruten, welche schon 
bei der Aushebung unmittelbar der Landwehr 
zugeteilt werden; die letztere Kategorie hat 
die Gesamtdienstpflicht im Heere von 12 
Jahren in der Landwehr zuzubringen. 

Da die Landwehr-Organisation Österreich- 
Ungarns überhaupt eine eigenartige ist, so 
wollen wir auf dieselbe etwas näher ein- 
gehen. Wir haben eine kaiserlich-königliche 
(österreichische) und eine königlich-ungarische 
(Honv^d) Landwehr zu unterscheiden; letz¬ 
tere untersteht dem ungarischen Landesver¬ 
teidigungs-Ministerium und ist eine überaus 
volkstümliche, in dem stolzen Nationalgefühl 
der Ungarn und Kroaten wurzelnde Einricht¬ 
ung. Da der gesamte Überschuss der zur 
Gestellung gelangenden wehrkräftigen Jugend 
Ungarns über das jährliche Rekruten-Kontin- 
gent des stehenden Heeres der Landwehr 
überwiesen und bei den aktivierten Kadres 
derselben ausgebildet wird, die Kommando- 
und Dienst-Sprache kroatisch und ungarisch 
ist, so geniessen die „Honveds“ im Lande 

IO 


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i66 


Änderungen und Fortschritte im Militärwesen. 


eine grosse Beliebtheit. Die ungarische Land¬ 
wehr ist dem Heere im wesentlichen nach¬ 
gebildet, sie umfasst eine aktive Dienstzeit 
von 2 Jahren, eine Reserve-Pflicht von lo 
Jahren, bezw. 12 Jahren in der Ersatzreser\’e 
flir die unmittelbar in letztere eingereihten; 
sie bildet somit einen sehr wesentlichen Be¬ 
standteil des Gesamtheeres. Auch in die 
k. k. Landwehr wird ein gewisser Prozent¬ 
satz der Rekruten unmittelbar eingestellt und 
bei den Kadres ausgebildet; die Bataillons¬ 
und Regiments-Stäbe sind vollständig akti¬ 
viert, in Ungarn auch die Brigade- und Divi¬ 
sions-Stäbe. — Bei der Kavallerie beider Land¬ 
wehren besteht die Eigentümlichkeit, die 
Remonten nach ömonatlichem Zureiten Pri¬ 
vatpersonen gegen die Verpflichtung zu über¬ 
geben, die Pferde zu Waffenübungen oder 
im Mobilmachungsfall den Regimentern in 
gutem Zustande zurückzugeben. Landwehr- 
Berufsoffiziere werden in der Landwehr-Ka¬ 
dettenschule zu Wien, nicht aktive Offiziere 
in Landwehr-Offizier-Aspirantenschulen heran¬ 
gebildet. 

Tirol-Voralberg besitzt ebenfalls eine 
selbständige Landwehr, welche Landesschüt¬ 
zen-Bataillone und ein berittenes Landes¬ 
schützen-Regiment aufstellt. — 

Die dritte Art der Dienstverpflichtung in 
Deutschland und Österreich ist die Ersatz- 
reserve. — In Deutschland werden derselben 
alle diejenigen zugeteilt, welche zum Militär¬ 
dienst zwar tauglich befunden, aber aus irgend 
einem Grunde von der aktiven Dienstpflicht 
befreit werden. Während dieser 12jährigen 
Ersatzreservezeit findet keinerlei Übung statt, 
ausgenommen für die zum Dienst ohne Wafle 
bestimmten (Krankenträger); in Österreich 
besteht eine Ersatzreserve des stehenden 
Heeres und eine solche der Landwehr, die 
Dienstzeit beträgt für die erstere ro für die 
letztere 2 bezw. 12 Jahre (entsprechend der 
Dienstzeit im Heer). Auch Geistliche und 
Lehrer werden ihr zugeteilt; es finden wie¬ 
derholte Übungen statt. — Italien hat eine 
Ersatzreserve nicht, dort wird alles was nicht 
zum stehenden Heer oder zur Mobilmiliz aus- 
gehoben wird, zur Tcrritorial-Miliz geschrie¬ 
ben, welche eine dem Landsturm entsprechende 
Einrichtung ist. 

Die Landsturmpflicht umfasst in Deutsch¬ 
land die Zeit vom 17. bis 45. Jahre, in Ös¬ 
terreich vom 19. bis 42., in Italien bis zum 
40. Jahre. 

In Deutschland und Österreich zerfällt sie 
in 2 Aufgebote, das erste (bis zum 39. bezw. 
37 Jahre) kann zum Ersatz der Feldarmee 
verwandt werden und begreift diejenigen in 
sich, welche gedient haben; in Österreich 


werden die zu diesem Zweck gebildeten Ba¬ 
taillone „Auszugs-Bataillone“ genannt. 

Die Tcrritorial-Miliz Italiens setzt sich zu¬ 
sammen aus den aus der Mobilmiliz aus¬ 
scheidenden und den bei der Aushebung un¬ 
mittelbar überwiesenen Mannschaften, erstere 
haben noch 7 Jahre, letztere ihre Gesamt¬ 
dienstzeit (bis zum 40. Jahre) in ihr zuzu¬ 
bringen; es findet Einziehung zu Übungen 
statt. Einen eigentlichen Landsturm, in unserem 
Sinne, giebt es also in Italien nicht, da die 
Dienstpflicht in der Territorial-Miliz zum Teil 
derjenigen in der Ersatz-Reserve oder Land¬ 
wehr entspricht. Überblicken wir noch ein¬ 
mal die Wehrpflicht der drei Länder, so er- 
giebt sich eine solche für 

Deutsch- Öster- 
land reich 

a) Stehendes Heer aktiv 233 Jahre 

„ „ Resrv. 5 7 5 ». 

b) Landwehr(i. Aufgeb.) 5 2 4 „ 


Italien 


fortdauernde 


V 12 

Dienstzeit im 


12 

Heer 


12 Jahre 
bezw. in 


Österreich ebenfalls für die Landwehr-Rekruten. 


Landwehr (2.Aufgebot) 7 

c) Ersatz-Reserve 12 12 

d) Landsturm 28 23 20 Jahre 

Um den Wert des italienischen stehenden 
Heeres richtig beurteilen zu können, darf 
nicht unerwähnt bleiben, dass erst seit 1893 
die „categoria unica“ geschaffen worden ist, 
d. h. dass alle Diensttauglichen, welche nicht 
der bisherigen 3. Kategorie (Territorial-Miliz) 
zugeteilt wurden, zur vollen Dienstverpflich¬ 
tung im stehenden Heere und der Mobil¬ 
miliz herangezogen werden; bis 1893 bestand 
für das stehende Heer ausserdem noch eine 
2. Kategorie,^) welche zwar auch insgesamt 
12 Jahre im stehenden Heere und der Mobil¬ 
miliz zu dienen hatte, jedoch nur zu sehr 
beschränkten Übungen zu ihrer Ausbildung 
einberufen wurde. Trotz der Beseitigung 
dieser Kategorie besteht für das stehende Heer 
immer noch eine verschiedene Dienstzeit da¬ 
durch, dass die im i. und 2. Jahre Zurück¬ 
gestellten eines Jahrgangs nur 1—2 Jahre zu 
dienen brauchen. Ferner ist zu beachten, dass 
aus finanziellen Rücksichten die aktive Dienst¬ 
zeit sehr oft bedeutend abgekürzt wurde, dass 
oft sehr späte Rekruteneinstellungen (sogar 
erst im März), dagegen sehr frühzeitige Re¬ 
serve-Entlassungen stattfanden (normalmässig 
erstere im Dezember, letztere nach den Herbst¬ 
übungen ; dass infolge der politischen Zustände 
häufig ein Wechsel des Kriegsministers und 
damit oft der Grundanschauungen bezüglich 
des Heerwesens cintrat, wodurch die Erledig¬ 
ung ausgearbeiteter Gesetze und Reformen 


*) Inzwischen wieder eingeftliirt, vgl. später. 


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Änderungen und Fortschritte im MilitXrwesen. 


167 


und die ganze Weiterentwicklung des Wehr¬ 
systems und der Organisation des Heeres 
unter vielen Schwankungen verzögert wurde. 
Auch kann es in disziplinärer Hinsicht nicht 
als vorteilhaft angesehen werden, dass die 
Offiziere wahlberechtigt sind und auch selbst 
als Abgeordnete gewählt werden können. Nichts¬ 
destoweniger steht die italienische Armee auf 
der Höhe der Zeit und bildet bei dem regen 
und unermüdlichen Eifer, der alle Stellen be¬ 
seelt, ein ebenbürtiges Mitglied im Dreibund. 

Die Einrichtung der Einjährig-Freiwilligen 
finden wir in allen drei Staaten, ln Öster¬ 
reich-Ungarn w'ird ein gewisser Prozentsatz 
von vornherein zur Ableistung des Dienst¬ 
jahres der Landwehr zugeteilt; in Italien ha¬ 
ben dieselben bei der Kavallerie 1600, bei 
den anderen Waffen 1200 Lire an die Miliz- 
Kasse zu zahlen, erhalten dagegen die Ge- 
bürnisse der Gemeinen. Die Ausbildung fin¬ 
det in letzterem Staate gemeinsam in beson¬ 
deren Formationen statt. In Österreich und 
Italien werden die Einjährig-Freiwilligen nach 
dem Dienstjahr einer Prüfung unterzogen, 
nach deren Befund sie in Österreich eventuell 
noch ein zweites Jahr, in Italien 6 Monate 
beim Heere zurQckbehalten werden können. 
Diejenigen, die bestanden haben, werden, wie 
in Deutschland, nach weiteren Übungen Re¬ 
serve-Offiziere. 

Auf das Ersatzwesen, die Organisation 
und Gliederung der Heere, sowie die ein¬ 
zelnen besonderen Behörden und Anstalten 
hier näher einzugehen, würde zu weit füh¬ 
ren ; wir können uns umsomehr damit be¬ 
gnügen, Einzelheiten hervorzuheben und 
einige vergleichende Zahlen anzuführen, als 
alle diese Einrichtungen im wesentlichen Ober¬ 
einstimmen. 

Während in Deutschland und Österreich 
die Rekruten von den Aushebungsbehörden 
Bezirkskommando" bzw.„Ergänzungsbezirks¬ 
kommando“) den Truppen derjenigen General- 
Kommandos zugeteilt werden, in deren Bezirk 
sie ausgehoben worden sind (regionale Ver¬ 
teilung) und nur nach Bedarf ein Ausgleich 
zwischen den einzelnen General-Kommandos 
stattfindet, fand bisher in Italien die Einstell¬ 
ung durch die „Distriktkommandos" (Bezirks¬ 
kommando) nach nationaler Verteilung statt, 
d. h. in jedes Armeekorps wurden Rekruten 
aus Ober-, Mittel- und Unter-Italien eingestelt, 
ein Verfahren auf Grund politischer und so¬ 
zialer Erwägungen. Indessen soll künftighin ein 
gemischtes System eingeführt werden: teils 
national, teils korps- und bezirksweise, aus¬ 
genommen bei der Kavallerie und dem Genie 
(Pioniere). Die Bekleidung und Ausrüstung der 
Rekruten fand, ebenfalls abweichend von den 


beiden andern Staaten, durch die Distrikt¬ 
kommandos statt, auch dies soll künftig auf 
die Regimenter Obergehen. Auch bezüglich 
des Ergänzungs-Verfahrens bei der Mobil¬ 
machung weicht Italien wesentlich' von sei¬ 
nen Verbündeten ab. In Deutschland und 
Österreich ergänzen sich die Truppenteile zum 
Feldheer in ihren Standorten; in Italien gehen 
die Truppen im Friedensstand nach dem 
Kriegsschauplatz ab sofort nach erhaltenem 
Mobilmachungsbefehl; nur bei der Kavallerie, 
Artillerie und dem Genie melden sich die 
Ergänzungsmannschaften der den Garnisonen 
zunächst gelegenen Bezirke direkt bei dem 
Truppenteil, in den ferner gelegenen Bezirken 
dagegen bei den Distriktkommandos. Bei 
letzteren melden sich ebenfalls die sämtlichen 
Ergänzungs-Mannschaften der Infanterie und 
Bersaglieri (Jäger), welche nach Ausrüstung 
und Bekleidung in geschlossenen Kommandos 
den Regimentern ihres Armeekorps zugeftlhrt 
werden. Diese Art der Ergänzung wird be¬ 
dingt teils durch die politische und geo¬ 
graphische Lage Italiens, nach welcher die 
ersten entscheidenden Schlachten voraussicht¬ 
lich in der Po-Ebene geschlagen werden, in¬ 
folge dessen die Hauptmasse des Feldma¬ 
terials in den Festungen Ober-Italiens lagert, 
teils durch die für eine Konzentrierung von 
Truppen ungünstigen, langestreckten Eisen¬ 
bahnverbindungen. Es lässt sich nicht leug¬ 
nen, dass hierdurch die Mobilisierung des 
Heeres ziemlich umständlich ist. 

Im Übrigen baut sich in den drei Staaten 
das Feldheer auf der Gliederung des Frie¬ 
densheeres auf. 

Die Friedensstärke des Heeres beträgt: 
Deutschland ca. 500,000 Mann, 96,000 Pferde 
Österreich ca. 300,000 „ 69,000 „ 

Italien ca. 200,000 „ 34,000 „ 

gegliedert in 20 bezw. 15 und 12 .A.rmee- 
Korps, diese wieder in Divisionen und Bri¬ 
gaden. Es sind vorhanden in: 

Deutschland Österreich Italien 

Infanterie; 

i73Rgt.(einschl. 102 Rgt. io 3 Rgt.einschl. 

Garde)u.i9jäger- 4tirol.Jäger- Bersaglieri 
Bataillone Regmtr. 

26 Feldjäger- 7 Alpini- 
Bataillone Rgt. 

Kavallerie: 93 Rgt. 42 Rgt. 24 Rgt. 


Feld-Artillerie: 
43 Rgt. mit 


447 fahr.) Batterien , ;z.4Bat. 

4? reit.lz.6Gesch.42 Div.|^^_^ ^ 


14 Krps 24 Regt, zu 

f 8 Batt. zu 

6 Gesch. 

I reit. Rgt. 
r6 reit. Batter. i Cebirgs- 
12 Gebirgs-Batt. Regt. 


Fus.s- (Festungs-) Artillerie: 

17 Regt. 6 Regt. 22 Bat., ein- 

3 selbst. Batl. schl.Küst.- 
Artillerie. 


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Änderungen und Fortschritte im MilitXrwesen. 


Deutschland Österreich Italien 
Pioniere (Genie): 

24 Bataillone 15 Bataillone 5(Genie-)Rgt. 
Train 21 „ 3 Regt (85 - 

Train-Escadres). 

Ausserdem: 

1 Eisnbhn.-Brig. i Rg. Eisenb.- 12 Verpfleg- 

(ßRgt.u. iBat u.Telegraphn- ungs-, 

[Baiern]). Truppen, 12 SanitAts- 

2 Luftschiffer* Luftscniffer- und Kompagnien 

Abtheilungen Signa! - Abteil- 

u. Meldereiter- ungen. 

Detachements. 

Eine besondere Train-Formation besitzt 
Italien nicht, der Bedarf wird aus Mannschaf¬ 
ten der Artillerie und des Genies genommen. 
Auch eine Garde-Truppe, wie Deutschland sie 
im Gardekorps hat, ist in Österreich und 
Italien nicht vorhanden; dagegen hat Italien 
in den Alpen-Regimentern eine ganz besondere 
Eigentümlichkeit. Dieselben werden ausschliess¬ 
lich aus den Alpen-Gegenden rekrutiert und 
haben die besondere Aufgabe der Bewachung 
und ersten Verteidigung der westlichen und 
nördlichen Alpengrenze; sie haben ihre eigene 
Mobil- und Territorial-Miliz und bilden eine 
hervorragende Elite-Truppe. 

Es sei hier noch erw'ähnt, dass die Haupt¬ 
leute der Fusstruppen, welche in Deutschland 
und Österreich beritten und rationsberechtigt 
sind, in Italien aus Ersparnissrücksichten zur 
Zeit wieder unberitten sind, nachdem bereits 
die gleiche Einrichtung wie in den beiden 
andern Ländern eingeführt war. 

Kriegsstärke : 

Deutschland: „Feldheer'* und „Besatzungs¬ 
heer" etwa viermal so stark wie im 
Frieden, 

Österreich: „Heer 1. Linie“ (stehendes Heer 
und Landwehr) 

ca. 1,200,000 Mann Infanterie, 
ca. 193,000 Pferde, 

2,024 bespannte Geschütze. 
Die Festungs-Artillerie formiert besondere 
bespannte Belagerungs - Batterie - Gruppen für 
das Feldheer. 

Die Truppen-Divisionen, von denen bereits 
im Frieden Kavallerie-Divisionen formiert sind 
(in Deutschland nicht), bilden mit der ent¬ 
sprechenden Zuteilung an Spezialwaffen und 
'IVains die erste Gefechtseinheit. 

„Heer 2. Linie": Landsturm. 

Italien: „Feldarmee": a. Stehendes Heer 
ca. 500,000 Mann, 

94,000 Pferde, 

1,242 bespannte Geschütze; 
b. Mobil-Miliz: 

ca. 200,000 Mann, 

17,000 Pferde, 

366 bespannte Geschütze. 
„Heer 2. Linie“: Territorial-Miliz. 


Während noch vor mehreren Jahren der 
militärbrauchbare Pferdebestand in Italien ein 
äusserst geringer war, so dass selbst für die 
Friedensanforderungen grosse Ankäufe im 
Ausland nötig waren, hat sich durch die 
grosse Sorgfalt, welche den Reihontedepots 
zugewendet wird, die Pferdezucht dergestalt 
gebessert, dass der Friedensstand völlig ge¬ 
deckt werden kann und auch für die Mobil¬ 
machung die Abhängigkeit vom Auslande 
wesentlich herabgemindert ist. Als Aushülfe- 
mittel werden Strassenlokomobilen für die 
Transporte der rückwärtigen Linien als Kriegs¬ 
bestand bereit gehalten. 

Eine eigentümliche nationale Einrichtung 
hgt Österreich in der „Schiessstands’Ordnung“ 
und Italien in den „nationalen Schiessübungen'^ 
beide haben den Zweck, ohne besondere mi¬ 
litärische Organisation, aber unter militärischer 
Leitung und BeihOlfe die Elemente der Lan¬ 
desverteidigung vorzubereiten bezw. in der 
Schiessfertigkeit zu erhalten. In Österreich 
wird durch die Vereinigung von wenigstens 
20 Schützen ein „k. k. Schiessstand“ gebildet, 
deren Mitglieder „Standschützen“ heissen; in 
Italien kann unter Beteiligung von mindestens 
50 Schützen ein „Verein für die nationalen 
Schiessübungen“ gegründet werden; zur Auf¬ 
nahme berechtigt schon das 16. Lebensjahr. 
Diesen Vereinen wird vom König und von 
der Regierung viel Interesse entgegengebracht, 
— an einem in Rom abgehaltenen mehr¬ 
tägigen Landesschiessen nahm der König, unter 
Heranziehung von Offizieren und Mannschaf¬ 
ten des Heeres, persönlich thätigen Anteil. 

Alljährlich nach den Herbstübungen wech¬ 
seln in Italien ca. */3 der Truppen einschliess¬ 
lich ihrer Brigadestäbe die Garnison. Es ge¬ 
schieht dies aus Gründen der Gerechtigkeit 
(es giebt eine Anzahl sehr ungünstiger Garni¬ 
sonen), der Gesundheit und der Politik. 

Von Interesse mag es wohl auch sein, 
dass neuerdings den italienischen Generalen 
erlaubt worden ist, nach Belieben in Zivil 
auszugehen. 

Bei den Übungen und Manövern werden 
in allen drei Staaten Brieftauben, Luftballons 
und Radfahrer verwendet; für letztere werden 
nur in Deutschland Kriegsfahrräder für den 
Meldedienst bereit gehalten, für deren Be¬ 
nutzung schon im Frieden nach einer Fahr¬ 
radvorschrift bei der Truppe Übungen statt¬ 
finden. ln Österreich und Italien begnügt 
man sich vorläufig noch damit, eingezogene 
Mannschaften auf eigenen niitgebrachten Rä¬ 
dern Dienst leisten zu lassen. l —. 


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Kalt-Reuleaux, Der Handelsverkehr in Transvaal. 


169 


Der Handelsverkehr in Transvaal. 

Von O. Kalt-Reuleaux. 

Die Einfuhr aller Waaren in die südafrl' 
kanische Republik stellte im Jahre 1896 eine 
Wertsumme von 280 Millionen Mark dar, ein 
Zeichen für die wirtschaftliche Entwicklung 
eines Landes, von dem annähernden Flächen¬ 
raume Frankreichs, das vor zehn Jahren einen 
kaum nennenswerten Import ausländischer 
Waaren zu verzeichnen hatte. Wenn auch 
der an Ausdehnung verhältnismässig winzige 
Süden, insbesondere des Witwatersrand, durch 
seine Bergbau treibende, wohlhabende Be¬ 
völkerung und den riesenhaften Bedarf an 
Maschinen den Hauptanteil an der Waaren- 
einfuhr in Anspruch nimmt, so hat sich jedoch 
auch unleugbar der Bedarf der landwirt¬ 
schaftlichen Bevölkerung des Nordens wesent¬ 
lich gehoben, sind deren Ansprüche an das 
Leben sichtlich gestiegen. Der Handelsver¬ 
kehr in Transvaal ist eng mit der Geschichte 
des Boerenvolkes verknüpft, und ein Rück¬ 
blick auf diese gewährt Anhaltspunkte zur 
Beurteilung der ersteren. 

Die niederländische Regierung hatte im 
vorigen Jahrhundert versäumt, das Geringste 
für die intellektuelle Hebung der Uransiedler 
am Kap der Guten Hoffnung oder für die 
Erschliessung des Landes zu thun. Die 
Kolonisterr fristeten ein sorgenloses, weil be¬ 
dürfnisloses Dasein als Ackerbauern und Vieh¬ 
züchter, indem sie die Hottentotten, die aus 
dem Innern von den tapferen Kaffem zur Küste 
zurOckgewiesen waren, in der rohesten Weise 
zur Sklavenarbeit anhielten. Als im Jahre 
1806 England vom Kap der guten Hoffnung 
Besitz nahm und in lobenswerter Weise den 
Grundsätzen moderner Kultur und Moral Ein¬ 
gang zu verschaffen suchten, wurde den 
Boeren ihre alte Heimat unheimlich, gänzlich 
unerträglich jedoch, als im Jahre 1832 die 
Sklaverei aufgehoben wurde, und sie sich bei 
der Ablösung des Sklavenrechtes von den 
Briten übervorteilt wähnten. Sie zogen unter 
Peter Retilf ernst nach Natal, stiessen aber 
auch dort auf Engländer, und siedelten sich 
nunmehr nach erbitterten Kämpfen mit den 
Kaffem zwischen den Flüssen Vaal und Lim¬ 
popo an. Die Boeren Hessen sich auf, oft 
meilenweit von einander getrennt liegenden, 
Gehöften nieder und lebten als Viehzüchter, 
und betrieben Ackerbau und Obstbau nur in 
begrenztem Umfange, da sie wegen der un¬ 
vollkommenen, häufig sogar mangelnden Ver¬ 
kehrswege für ihr Getreide keinen Absatz 
fanden. Die Folge davon war, dass alle 
Lebensbedürfnisse auf der Farm produziert 
wurden, und man nur Zucker, Thee und Koch- 
und Essgeschirr von den Händlern kaufte. 


Die Wolle der Schafe wurde von den weib¬ 
lichen Familienmitgliedern gesponnen und zu 
grobem Tuch für Kleidungsstücke gewoben, 
ebenso stellte man das L€inen aus selbstge¬ 
zogenem Flachs her. Als die Eisenbahn noch 
nicht bis zum Transvaal ausgebaut war, habe 
ich einigem^le von Newcastle in Natal die 
Reise nach Johannesburg in der Postkutsche 
der Gebr. Knox zurückgelegt und im Jahre 
1890 auf dieser belebten Strecke fast allent¬ 
halben gefunden, dass in den Boerengehöften, 
die als Haltestellen dienten, das ganze Mobilar 
aus Gelbholz im Hause selbst angefertigt war. 
Die Mahlzeiten bestanden unterschiedslos aus 
Kaffee, frischer Butter, eigengebackenem 
Schwarzbrod, auf eigenem Grund und Boden 
geschossenem Wildpret und aus eingemachten 
Äpfeln, Aprikosen und anderen Früchten aus 
dem Obstgarten. In den weiten Grasländereien, 
die sich nordwärts von Lydenburg ausdehnen, 
fristen die Boeren noch heute ein solches 
halbnomadenhaftes Leben als Viehzüchter und 
Jäger, doch gelangen sie stetig mehr in Be¬ 
rührung mit angelsächsischen und deutschen 
Gold- und Erzsuchern, welche den ganzen 
Staat durchstreifen, und eignen sich unwill¬ 
kürlich von diesen höhere Lebensansprüche 
an. Vornehmlich sind es die Frauen, die hier 
mit gutem Beispiel vorangehen und nach den 
Luxusgegenständen lüstern werden, welche 
sie bei zufälligen Besuchen einiger bedeuten¬ 
der Orte in den Schaufenstern der Laden¬ 
geschäfte erblickt haben. Bei der nächsten 
Ankunft des ambulanten Händlers, dessen 
verschiedene, mit 16 Ochsen bespannten, ge¬ 
räumigen Planwagen das wandernde Lager 
enthalten, bestürmen Evas Töchter ihn, doch 
sicher das nächste Mal jene geschauten Herr¬ 
lichkeiten mitzubringen. Der Waarenbestand 
dieser von Gehöft zu Gehöft ziehenden 
Händler ist der denkbar mannigfaltigste, ent¬ 
hält neben Spaten, Schaufeln, Küchen- und 
Tischgerät aus emailliertem Schwarzblech - 
Porzellan und Steingut ist für den langen 
Transport zu zerbrechlich — Zaundraht, 
Hinterladergewehre nebst Munition u.a. Dinge, 
Spiegel, Umschlagtücher für Frauen, bessere 
Tisch und Leibwäsche, patentirte Arzneimittel, 
Haarnadeln, Kleinmetallwaaren und tausender¬ 
lei andere Schmuck- und Bedürfnissartikel. 
Für absehbare Zeit, bis zum Ausbau des 
Eisenbahnnetzes im nördlichen Transvaal, der 
nur in Folge neuer bedeutender Goldfunde 
beschleunigt werden dürfte, werden diese 
Händler die Hauptvermittler des Waaren- 
umsatzes bleiben. Für Deutschland ist die 
Berücksichtigung dieser Thatsache deshalb 
sehr wichtig, weil gerade die Abnehmer dieser 
Händler das Volkselement bilden, was dem 
Deutschtum am sympathischsten gegenüber- 


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170 Kalt-Reuleaux, Der Handelsverkehr in Transvaal. 


steht und deutsche Waai'en vor allen anderen 
bevorzugen wird. Diese Händler sind aber 
nicht so kaufmännisch gebildet und besitzen 
auch zuweilen nicht so grosse Baarkapitalien, 
um umfangreiche Orders auf Waarenliefer- 
ungen aus Europa zu geben, sie sind, da sie 
einen grossen Teil ihrer Zahlungen in Landes¬ 
produkten entgegennehmen müssen, zum An¬ 
kauf ihrer Waaren in ti'ansvaal’schen Städten 
gezwungen. 

Die Lieferanten, die hier sitzen, sind sehr 
zahlungsfähige und gewissenhafte Abnehmer, 
und englische und amerikanische Importeure 
schätzen sie als ihre besten Kunden. Dieselben 
haben durchweg Geschäftsbeziehungen nur mit 
ihrer Heimat und keine Neigung, deutsche Er¬ 
zeugnisse einzubürgern, ln den kleineren In¬ 
landsstädten von Transvaal und den Oranje- 
Freistaaten sind aber keine deutchen Kaufleute 
etabliert, welche dieses sehr gewinnbringende 
Geschäft des ambulanten Handels für Deutsch¬ 
land nutzbar machen könnten. Grosse deutsche 
Importhäuser bestehen nur in Johannesburg, 
Prätoria, und den Hafenorten der englischen 
Kolonie. 

Es läge daher in dem Interesse der deut¬ 
schen Kleinmetallindustrie, der Konfektions-, 
Tuch- und Posamentier-Branche und vieler 
anderer Fabrikzweige, in den nördlichen 
Verkehrscentren der Freistaaten Kommissions¬ 
häuser zu gründen, die ausschliesslich die 
Produkte ihres Gewerbefleisses verkaufen. 
Belgische Fabriken der Eisen- und Glas¬ 
industrie haben zu ähnlichem Zwecke vor 
20 Jahren die Firma Ostermeyer, Dewez & Co. 
mit Filialen in allen Städten Australiens ge¬ 
gründet und unerwartet günstige Resultate er¬ 
zielt, für die billigeren Artikel die englische 
Konkurrenz gänzlich aus dem Felde geschlagen. 
Von deutschen Waaren würden sich für ein 
solches Vorgehen eignen : Schuhwerk, Wollen- 
und Baumwollfabrikate, Leibwäsche, Kupfer-, 
Messing- und feinere Eisenwaaren, Zündhölzer, 
Spielwaaren, Glaswaaren, Porzellan und ähn¬ 
liche Sachen. 

In dem südlichen Grubenbezirke, dessen 
gesamter Handelsverkehr Johannesburg an 
sich gerissen hat, liegen natürlich andere Ver¬ 
hältnisse vor. Dort spielen die Maschinen 
die Hauptrolle, und nach ihnen finden dort 
Absatz alle jene Gegenstände, welche eine 
über Nacht reich gewordene Bevölkerung nur 
begehren kann. Wenn man bedenkt, welche 
Wertsummen die Waaren repräsentieren, 
welche Grossbritannien und Nordamerika all¬ 
jährlich nach Südafrika ausführen, ist es höchst 
bedauerlich, dass Deutschland noch nicht 
5 Prozent der Gesamteinfuhr gemäss den offi¬ 
ziellen Nachweisen liefert. Es soll jedoch 
nach Angabe kundiger Kaufleute die Gesamt¬ 


summe der direkt und indirekt eingeführten 
deutschen Waaren zum mindesten 20 Milli¬ 
onen Mark betragen. Es geht nämlich ein 
nicht unbeträchtlicher Teil deutscher Waaren 
über England nach Südafrika und wird einer¬ 
seits bei gemischten Sendungen, bei denen 
vielerlei Artikel auf einem Frachbrief ver¬ 
zeichnet werden, der Einfachheit halber als 
englischen Ursprungs angegeben, andererseits 
auch mehrfach unter Beseitigung des „Made 
in Germany" behufs Verschleierung des Ur¬ 
sprungsortes absichtlich als englisch be¬ 
zeichnet. Ausserdem ist es natürlich, dass 
englische Firmen, deren Vermittelung sich die 
deutsche Industrie noch vorwiegend beim 
Handel nach Südafrika bedient, beim Einkäufe 
englischer Waare und englischen Fabriken 
den Vorzug geben. Die Umgehung des eng¬ 
lischen Zwischenhändlers ist die erste Not¬ 
wendigkeit, wenn man im Interesse deutscher 
Waareneinfuhr in Südafrika einen bedeuten¬ 
deren Erfolg erzielen will. Von England hinrei¬ 
chend unabhängige deutsche Geschäftshäuser 
sind im Süden des Transvaals zu diesem Zwecke 
vorhanden, welche durch Vermittelung der kai¬ 
serlichen Konsularbeamten leicht zu erfahren 
sind. In dieser Richtung würden die Konsulen 
eine sehr erspriessliche Thätigkeit zum Wohle 
unseres Handels zu entwickeln in der Lage 
sein. Verschiedene derselben haben sich mir 
gegenüber in diesem Sinne ausgesprochen, 
unter dem Ausdrucke des Bedauerns, dass 
ihre Mitwirkung nicht weitergehend in An¬ 
spruch genommen werde. 

Der Grund, weshalb in Transvaal die 
deutsche Maschinenindustrie so sehr hinter 
der englischen und amerikanischen zurück¬ 
steht, ist darin zu suchen, dass die deutschen 
Werke, mit wenigen Ausnahmen keine Ver¬ 
treter in Johannesburg haben, während keine 
Fabrik Grossbritanniens nicht ein Bureau nebst 
Reparaturwerkstätte dort besitzt. Hindernd 
wirkte allerdings auch der Umstand, dass als 
technische Betriebsleiter auf den Bergwerken, 
selbst solchen, in deren Verwaltung Deutsche 
entscheidenden Einfluss besitzen, fast nur eng¬ 
lische und amerikanische Bergingenieure thätig 
sind, welche selbstverständlich die Industrie 
ihrer Geburtsländer bevorzugen. Über den 
Umfang des Bedarfes an Maschinen giebt die 
Thatsache einen Anhalt, dass im verflossenen 
Jahre 17 Aktiengesellschaften des Witwaters- 
rand’s allein Bestellungen in der Höhe von 
vielen Millionen Mark machten. Der schon 
grosse Bedarf wird noch zunehmen, sobald 
die übrigen vorhandenen Mineralien: Eisen-, 
Blei-, Silber-, Zinn-, Kobalt-, Antimon- und 
Manganerze, Asbest und Graphit neben den 
Gold- und Steinkohlenlagern, teils vermehrt, 
teils neu in Abbau genommen werden. Die 


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Sachs, Die Elektrotechnik im Jahre 1896. 


171 


hohe Achtung, welche die deutsche Maschinen¬ 
industrie in allen Kulturländern sich erworben 
hat, lässt die Hoffnung berechtigt erscheinen, 
dass bei ernster Aufnahme des Wettbewerbes 
in Transvaal der Erfolg ihr nicht fehlen wird. 
Der Wettbewerb muss aber in thatkräftiger 
Weise geschehen. Es würden Vertreter zu 
entsenden sein, welche mit den umfassendsten 
technischen Kenntnissen eine vollkommene 
Beherrschung der englischen Sprache und 
gewandte gesellige Formen verbinden, zu¬ 
gleich aber auch die nötigen Mittel besitzen, 
in dem Goldlande einen gewissen notwendigen 
Aufwand in der äusseren Lebenshaltung be 
streiten zu können. Der Vertreter muss nicht 
nur im Geschäftslokale seine technische Über¬ 
legenheit geltend zu machen, sondern auch 
im Klub, an der Bar und in der Familie 
sich den Bergbautreibenden angenehm zu 
machen wissen. Die Bedeutung des fern¬ 
wohnenden Fabrikanten wird naturgemäss 
nach dem geschäftlichen und sozialen Auf¬ 
treten des Vertreters beurteilt. Umfassende 
Lager kleinerer Maschinen sind in Johannes¬ 
burg zu errichten, weil das Bedürfnis, solche 
zu beschaffen, bei den Gruben oft plötzlich 
hervortritt und zur Vermeidung von Betriebs¬ 
stockungen oder zur Beschleunigung des 
Betriebes, lieber theurere Maschinen sofort, 
als billigere nach vielen Wochen übernom¬ 
men werden. 

Bezüglich des allgemeinen Absatzes nach 
den Boerenrepubliken muss man noch Folgen¬ 
des beachten. Der Wechsel der Moden be¬ 
schränktsich nicht nur auf Mitglieder der Kultur¬ 
völker, selbst die Neger, besonders die Ne¬ 
gerinnen, die nur mit Lederschurz oder kurzem 
Röckchen, zu dem im Winter eine wollene 
Decke tritt, sich bekleiden und mit Glasperlen 
sich schmücken, bevorzugen zeitweilig diese, 
zeitweilig jene Farbe, und lieben häufigere 
Abwechselung in den Mustern ihrer Kleidungs¬ 
stücke. Auch auf landesübliches Mass, Ge¬ 
wicht und Preis ist beim Angebot und An¬ 
fertigung der Waaren I^ücksicht zu nehmen. 
Die Käufer nehmen ferner ihre Artikel gerne 
unter bestimmtem Namen, wie Hoffmann’s 
Stärke, Stollwerck’sche Chokolade, Pears Seife 
u. s. f. Der Absatz manches Apparates und 
mancher Maschine wird durch die Wahl eines 
recht empfehlenden Namens gefördert. Zur 
Zeit meines Aufenthaltes in Transvaal, war 
eine Nähmaschine sehr gesucht, welcher der 
Fabrikant den verheissenden Namen „Little 
Wonder“ beigelegt hatte. Jede Hausfrau oder 
Nähterin glaubte mit dem „kleinen Wunder“ 
wunderbares leisten zu können. Der Absatz 
wird auch gefördert durch weitestgehende 
Reklame, deren, dem Publikum wenig oder 
garnicht bekannte, Fabrikanten am meisten 


bedürfen. Alle diese Details des Exportge¬ 
schäftes kann der deutsche Industrielle nur 
durch den Besuch fremder Länder erlangen, 
darum wäre es gut, wenn der junge deutsche 
Geschäftsmann und Fabrikant seinen sorgfältig 
ausgenutzten Lehrjahren, Wanderjahre zu 
Studierzwecken folgen lässt, in überseeischen 
Ländern seinen Blick erweitert und sich los¬ 
löst von den beschränkteren Anschauungen 
seiner Heimat. Dem Einzelnen, wie auch 
dem ganzen Vaterlande würde daraus nicht 
nur materieller, sondern auch ideeller Vorteil 
erwachsen. Wie Nordamerika, so wird sich 
auch Transvaal im Laufe weniger Jahrzehnte 
wirtschaftlich selbständig machen. Es ist aber 
die dem Vaterlande schuldige Pflicht unserer 
Industrie, sich an der Deckung des Bedarfs 
zu beteiligen und ihn sich so nutzbringend zu 
gestalten, wie die Engländer und Amerikaner 
es schon vor uns gethan haben. 


Die Elektrotechnik im Jahre 1896. 

Von J. Sachs. 

Um kurz die Probleme auseinandersetzen 
zu können, um deren Lösung sich die heutigen 
Elektrotechniker bemühen, müssen wir zuerst 
der Trennung Erwähnung thun, die sich 
zwischen den beiden Zweigen der Elektro¬ 
technik gebildet hat. Als zu Beginn des 
Jahres 1833 der erste elektrische Telegraph 
von Weber und Gauss eingerichtet wurde, 
waren nur die sogenannten galvanischen Ele¬ 
mente bekannt, und die weiteren Versuche 
wurden zuerst mit eben diesen Elementen 
geleitet; so gelangte man bei den sehr ge¬ 
ringen Strömen, die durch dieselben erzeugt 
werden, zu einem ganz speziellen Zweige der 
Elekrotechnik, nämlich der Schwachstrotn- 
lechnik, deren eigentliches Gebiet die Tele- 
phonie und Telegraphie ist. Als nun später 
gezeigt wurde, dass der von Arago und 
Faraday im Laboratorium durch Drehung eines 
Drahtes um einen Magneten erzeugte Strom 
durch verschiedentliche Verbesserungen der 
Apparate auch für praktische Zwecke verwertet 
werden könne und dass die auf diesem Prinzip 
beruhende Maschine bedeutend stärkere Ströme 
zu erzeugen im Stande ist, benutzte man die¬ 
selben erst zu Beleuchtungszwecken, nach¬ 
her zur Erzeugung mechanischer Arbeit und 
so bildete sich die sogenannte Starkstrom' 
technik aus. 

Da wie dort ist man, obgleich zu einem 
hohen Grade von Volkommenheit gediehen, 
doch noch weit davon entfernt, die Endzwecke 
erreicht zu haben. Der Schwachstromtechniker 
sucht immer noch das Problem praktisch zu 


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172 


Sachs, Die Elektrotechnik im Jahre 1896. 


lösen, ohne Drahtverbindung zu telephonieren 
und telegraphieren; der Starkstromtechniker 
hat sich zur Devise gemacht: öte-toi que je 
m’y mette, und bethätigt dieselbe, indem er 
auf stets billigere Weise Energie liefert, sie 
den natürlichen Wasserkräften entnehmend, 
und so Dampf und Gas allmählich verdrängt. 

Die Schwierigkeiten, die sich ihm hier 
entgegenstellen, bestehen zumeist darin, dass 
bei einer derartigen Kraftübertragung auf sehr 
grosse Entfernungen bedeutende Energie¬ 
mengen in den Leitungen verloren gehen, 
falls man nicht sehr hoch gespannte Ströme 
anwendet, deren Fortleiten, sowie Erzeugung 
über gewisse Grenzen hinaus in Folge der 
heute noch mangelhaften Isolationsmittel nicht 
gelungen sind. 

Wenden wir uns speziell dem verflossenen 
Jahre zu, so sehen wir keine grossen Ent¬ 
deckungen, haben keine bahnbrechenden Ideen 
zu verzeichnen, und dennoch kann die Elektro¬ 
technik auf das Jahr 1896 mit Zufriedenheit 
zurückblicken, denn es wurde unablässig emsig 
gearbeitet und ruhiges Fortschreiten, allmähliche 
Verbesserung der Maschinen und Apparate, 
sowie das Sammeln neuer Erfahrungssätze sind 
das Resultat dieser Arbeit. 

Unsere Aufmerksamkeit dem Gebiete des 
Schwachstromes zuwendend, wollen wnrunseren 
Lesern ins Gedächtnis rufen, dass im Jahre 
1896 50 Jahre verflossen sind, seitdem die 
erste Telegraphenlinie in Belgien dem öffent¬ 
lichen Verkehr übergeben wurde. Die aus 
diesem Anlass eröffnete Ausstellung im Hotel 
des Postes et Tclegraphes in Brüssel gab 
einen sehr interessanten Überblick über die 
historische Entwickelung des ganzen Tele¬ 
graphenwesens. Wie sich seitdem die Tele- 
prahen- und Telephon-Linien über das ganze 
Gebiet der Kulturländer verbreitet haben, be¬ 
weisen einige Zahlen. In Deutschland ist 
auch die kleinste Ortschaft mit Telegraphen¬ 
amt versehen und Anfangs Januar 96 hatten 
434 Städte Telephonanschlüsse. In Berlin 
allein zählte man zu dieser Zeit ca. 26000 
Abonnenten. Die Zahl der Gespräche, die 
in Berlin täglich geführt werden, beläuft sich 
auf rund eine halbe Million, in ganz Deutsch¬ 
land auf ungefähr anderthalb Millionen, ln 
den Vereinigten Staaten Nordamerika’s wurden 
im verflossenen Jahre rund achthundert Milli¬ 
onen Gespräche geführt. Aus diesen enormen 
Zahlen wird wohl leicht zu ersehen sein, zu 
welchem Bedürfnis das Telephon geworden ist. 
Ähnlich sind die Verhältnisse in der Tele¬ 
graphie. Auch hier steigert sich von Jahr zu 
Jahr die Zahl der Stationen und der Tele¬ 
gramme, und wenn diese beiden Zweige der 
Elektrotechnik noch nicht die ihnen gebührende 
Stellung einnehnien, so liegt das einzig und 


allein an dem Prinzip der Regierungen, die 
Kosten fllr Fernsprechabonnements und Tele¬ 
gramme nicht erniedrigen zu wollen. Und 
doch zeigt die Statistik, dass da, wo diese 
Kosten gering sind, der Verkehr sich bedeu¬ 
tend steigert und die Regierungen resp. 
Privatgesellschaften auch ihre Vorteile haben. 
In Petersburg, wo das Tclephonnetz durch 
die Bell-Gesellschaft monopolisiert ist, 
beträgt das jährliche Abonnement ungefähr 
350 Mk. und die Zahl der Anschlüsse bleibt 
bei einer Einwohnerzahl von einer Million 
fast auf 2000 stehen. In Christiania dagegen, 
wo mitunter Telephonanschlüsse umsonst be¬ 
sorgt werden, (wobei der Angeschlossene 
nichts zahlt, aber bei Benutzung des Telephons 
eine minimale Taxe von 10 Pf. zu entrichten 
hat) kommt schon auf 35 Einwohner ein Tele¬ 
phonanschluss, in Marieham (Finnland) sogar 
einer auf 13 Einwohner. Und die Telephon- 
Gesellschaften haben dabei doch nur ein sehr 
günstiges materielles Resultat aufzuweisen. 

Von den vielen Versuchen, die auf dem 
Gebiete des Telegrapheuwesens im vorigen 
Jahre gemacht wurden, ist jedenfalls derjenige 
der Western Union Telegraph Co. in Chicago 
erwähnenswert. Bei der grossen Zahl von 
Telegraphenämtern und der stets wachsenden 
Entfernung von direkt mit einander verbun¬ 
denen Stationen, musste auch die Zahl der 
angewandten galvanischen Elemente, die in 
der Schwachstromtechnik fast ausschliesslich 
zur Stromerzeugung dienen, beständig zu¬ 
nehmen, und es ist daher leicht erklärlich, 
dass z. B. in Chicago auf der Zentralstation 
der oben erwähnten Gesellschaft die Zahl von 
60000 Elementen sich als notwendig erwies. 
Die Western Co. entschloss sich nun, die¬ 
selben durch Dynamomaschinen zu ersetzen, 
und stellte zu diesem Zwecke 21 Dynamos 
auf, die durch Dampfmaschinen angetrieben 
werden. Um auch eine Reserve zu haben, 
falls eine der Dampfmaschinen defekt werden 
sollte, wurden drei Elektromotoren aufgestellt, 
die an das städtische^ Elektrizitätswerk ange¬ 
schlossen sind. Es ist wohl als sicher an¬ 
zunehmen, dass dieser interessante Versuch 
sich vom technischen Standpunkte aus be¬ 
werten w’ird, fraglich ist nur, ob die Betriebs¬ 
kosten nicht zu hoch sein werden. Beim 
praktischen Sinne der Amerikaner ist aber 
auch diese Befürchtung wenig begründet. 

Es giebt kein einziges Land der Welt, wo 
die Elektrizität auf so mannigfache Weise ver¬ 
wendet wird, wie in den Vereinigten Staaten 
von Nordamerika. Von den kolossalen Unter¬ 
nehmungen, die dort ins Leben gerufen wurden, 
kann man sich einen Begriff machen, wenn 
man bedenkt, dass dort mehr als 1,7 Miliarden 
Mark in verschiedenen elektrischen Unter- 


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Sachs, Die Elektrotechnik im Jahre 1896. 


173 


nehmungen angelegt sind. Deutschland, das 
an der Spitze der europäischen Staaten mar¬ 
schiert, weist nur 800,000,000 Mark auf. Es 
wäre ein Irrtum anzunehmen, dass auch nur 
ein bedeutender Teil dieser grossen Kapitalien 
in Fabriken von Dynamomaschinen und elek¬ 
trischen Apparaten untergebracht ist. Wir 
irren nich in der Annahme, dass die auf die¬ 
sen Zweig entfallene Summe wohl kaum lo"/® 
der ganzen oben erwähnten Millionen beträgt. 
Die bei weitem grösste Summe ist bei Ver¬ 
legung der uberseekabel, die sämtliche Welt¬ 
teile miteinander verbinden, und in der Nutz¬ 
barmachung natürlicher Wasserkräfte aufge¬ 
wendet worden. Es ist die letzte der soeben 
genannten Verwertungen der elektrischen 
Energie, welche heute die allgemeine Auf¬ 
merksamkeit auf sich lenkt. Die Rücksichten 
auf Ökonomie, die ja das Merkmal unseres 
zur Neige gehenden Jahrhunderts bilden, und 
auf die jedenfalls nicht unerschöpflichen 
Kohlenlager, zwingen uns, immer mehr den 
uns von der Natur so reichlich gespendeten 
Kräften unsere Aufmerksamkeit ganz speziell 
zu widmen. Schon heute gibt es in den 
Kulturstaaten nur noch wenige Flüsse, deren 
Wasserkräfte nicht zur Leistung mechanischer 
Arbeit herangezogen würden. Von den grös¬ 
seren Kraftübertragungswerken die im Jahre 
1896 ganz oder nahezu vollendet worden 
sind, wollen wir nur die allergrössten erwäh¬ 
nen. So entsteht in Deutschland dicht an 
der schweizerischen Grenze das grosse Kraft- 
und Licht-Elektrizitätswerk Rheinfelden, das 
dazu bestimmt ist, einen ganz neuen Indus- 
triebezirk zu schaffen.*) 

In Frankreich sieht demnächst die grösste 
europäische Anlage bei Lyon ihrer Vollend¬ 
ung entgegen. Durch Nutzbarmachung der 
Wasserkräfte der Rhöne werden daselbst 
20000 Pferdekräfte hervorgebracht. Durch 
einen Kanal von 15 Klm. Länge wird das 
Wasser 16 Turbinen von je 1250 Pferde zu¬ 
geführt. Direkt auf der Welle jeder Turbine 
sind die Dynamomaschinen montiert, und es 
sollen IO davon stets im Betriebe sein, wäh¬ 
rend die übrigen 6 als Reserve dienen. Um 
das Niveau des Kanals immer auf gleicher 
Höhe zu halten, wurde ein Bassin vorgesehen, 
das 6 Mill. Kubikm. Wasser fasst. Trotz der 
enormen Anlagekosten, welche auf ca. 20 
Mill. Mark veranschlagt wurden, wird die 
Kraft zu billigem Preise abgegeben werden 
können, so dass z. B. eine Pferdekraftstunde 
bei Entnahme von 50 Pferden auf etwa 7 Pfg. 
zu stehen kommt. Es wird somit ein Elek¬ 
tromotor von 50 P. S. bei lostündigem Ar- 


In einem späteren Artikel kommen wir näher 
darauf zurück. 


beitstag 218 Mark pro Jahr und Pferd kosten, 
während bis jetzt bei Dampfbetrieb ein Pferd 
pro Jahr 298 Mark kostet; vorausgesetzt da¬ 
bei ist selbstverständlich auch eine sopfer- 
dige Dampfmaschine. Noch bedeutend bil¬ 
liger sind die Preise, welche die Gesellschaft 
für Ausnützung der Niagarafälle aufweist. 
Bei vollem Ausbau dieses enormen Werkes, 
das für 100000 Pferde geplant ist, soll nach 
Prof. Forbes eine Pferdekraft pro Jahr bei 
24stündigem Betrieb an Ort und Stelle 72 
Mark kosten. In Buffalo, das 33 .Klm. von 
Niagara entfernt ist, wird dieselbe mit io 9 
Mark bezahlt, während heute bei einem bil¬ 
ligen Preise der Kohle und bei allergüns¬ 
tigster Arbeit der Dampfmaschinen dieselbe 
Kraft auf 192 Mark zu stehen kommt. Die 
Kraftübertragungswerke Niagara-Buffalo wur¬ 
den Mitte November eröffnet, zuerst mit 1000 
Pferden. Nach dem Vertrage, den die Ge¬ 
sellschaft abgeschlossen hat, müssen bis 1901 
50000 P. S. dem Betriebe übergeben werden. 
— In der Schweiz wurde in diesem Früh¬ 
jahr zugleich mit der Schweizerischen Natio- 
nal-Ausstelliing das grosse Elektrizitätswerk 
der Stadt Genf eröffnet. Dasselbe befindet 
sich in Ch^vres, 6 Klm. von der Stadt selbst 
entfernt, fast direkt hinter der Mündung der 
Arve in die Rhöne. Durch die sehr variiren- 
den Wassermengen und das stark wechselnde 
Gefälle boten sich hier dem Techniker so 
grosse Schwierigkeiten, dass man schon am 
Gelingen des Unternehmens zweifelte; es ge¬ 
lang jedoch alles zu überwinden, und heute 
sieht man das grosse Werk im ersten Aus¬ 
bau in voller Thätigkeit. Es sind bis jetzt 
4 Maschinen ä je 800 bis 1200 P. S. (die 
Leistung hängt vom Wasserstande ab) auf¬ 
gestellt. In technischer Hinsicht bietet spez¬ 
iell dieses Elektrizitätswerk viel Interessantes. 
Schon allein die grossartigen Wasserbauten, 
welche mit den so sehr veränderlichen Was¬ 
serverhältnissen zu rechnen hatten, fesseln 
das Auge eines jeden Technikers. Nicht 
minder interessant ist der maschinelle Teil. 
Jede der Turbinen besteht aus zwei überein¬ 
ander gelegten Kränzen. Ist nun die Was¬ 
sermenge gross, so wird das Wasser in 
beide Kränze hineingelassen; im Winter, bei 
niedrigem Wasserstande, wird die obere Tur¬ 
bine geschlossen und das Wasser tritt nun 
in den unteren Kranz ein. Die Dynamoma- 
maschinen bestehen ebenfalls aus zwei Teilen, 
die je nachdem wie sie mit einander ver¬ 
bunden sind zweierlei Stromarten liefern 
können (ein- oder zweiphasigen Wechsel¬ 
strom*) 

') Der elektrische Strom fliesst entweder stets 
in gleicher Richtung und wird dann Gleichstrom ge¬ 
nannt, oder auch er ändert sehr schnell (in der 


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174 


Sachs, Die Elektrotechnik im Jahre 1896. 


Es ist ja leicht einzusehen, dass es viel 
wirtschaftlicher ist, mittelst grosser Maschinen 
bedeutendere Energiemengen den Wasser¬ 
kräften oder der Kohle zu entnehmen und 
sie an verschiedene kleinere Abnehmer zu 
verteilen, als an jeder Consumstelle beson¬ 
dere kleine Kraftmaschinen aufzustellen, da 
im allgemeinen der Wirkungsgrad sowie die 
Betriebs- und Verwaltungskosten pro Kraft¬ 
einheit in grossen Anlagen wesentlich ge¬ 
ringer ausfallen als bei kleinen. Dieser Grund 
bewirkt es, dass die Zahl der Zentralstatio¬ 
nen sich allmälich vergrössert. Deutschland 
wies zu anfang vorigen Jahres 148 Zenü'al- 
stationen von einer Gesamtleistung von rund 
65 000 Pferden auf. Viele davon sind zum 
grössten Teil dazu bestimmt, den Strom an 
elektrische Bahnen zu liefern. 

Die elektrischen Strassenhahnen sind der 
beste Beweis dafür, wie alleinherrschend die 
Elektrizität zu werden strebt. In vielen Städ¬ 
ten, wo bereits Pferde- oder Dampibahnen 
bestanden, wurden sie in elektrische umge¬ 
wandelt, und heute wird wohl bei Neugründ¬ 
ung einer Strassenbahn kein anderes Projekt 
als das der elektrischen Bahn ernstlich in 
Erwägung gezogen. Am i. Januar 1896 gab 
es in Europa 902 Klm. elektrischer Bahnen, 
wovon auf Deutschland allein fast die Hälfte 
entfiel. Bei dem so lebhafteh Streit, wie er 
jetzt fast in jeder grösseren Stadt wegen des 
anzuwendenden Systems sich erhebt, wird es 
wohl interessant sein zu erfahren, dass von 
III Linien die im Januar 1896 überhaupt in 
Europa bestanden, 99 oberirdische Stromzu¬ 
leitung hatten und nur drei die unterirdische 
benutzten. Ein sehr interessantes Unterneh¬ 
men auf diesem Gebiete, das in diesem Jahre 
dem Verkehr übergeben wurde, ist die unter¬ 
irdische elektrische Bahn in Budapest. In 
einem Tunnel von 3,8 Kilometer Länge 
ist sie 85 Centimeter unter dem Stras- 
senniveau gebaut. Sie besitzt ii Stationen, 
zwischendenendie Wagen mit einer maximalen 

Secunde 50-200 mal die Richtung) und heisst dann 
Wechselstrom. Den Verlauf des Wechselstromes 
kann man sich so darstellen: Der Strom wächst in 
einer Richtung fliessend bis zu einem positiven 
Maximum, sinkt dann wieder auf Null, ändert seine 
Richtung, erreicht sein negatives Maximum und 
geht wieder auf Null zurück, um dieses .Spiel immer 
wieder von Neuem zu wiederholen. Die in Europa 
üblichen Wechselstrommaschinen erzeugen einen 
Strom von 100 Wechseln pro Secunde. Es können 
nun noch in einer Maschine, ganz unabhängig von 
einander, mehrere Wechselströme erzeugt w'erden, 
die jedoch ihr Maximum nicht zu gleicher Zeit er¬ 
reichen, d. h. in der Phase gegeneinander verscho¬ 
ben sind. Man unterscheidet je nach der Anzahl 
dieser gegeneinander verschobenen Ströme ver¬ 
schiedener Phase Ein-, Zwei- und Dreiphasenma¬ 
schinen. Letztere sind unter dem Namen Dreh- 
stroinmaschinen allgemein bekannt. 


Geschwindigkeit von 40 km verkehren. Mit 
Ausnahme von kleinenUnfällen, die ja schliess¬ 
lich auf jeder Verkehrsstrecke Vorkommen, 
bewährt sich die Bahn bis jetzt ausgezeich¬ 
net. Es ist nur fraglich, ob sie sich bei den 
enormen Herstellungskosten von 7 Millionen 
Mark auch in gewöhnlichen Jahren, wo der 
Verkehr nicht so gross ist, wie im verflosse¬ 
nen Ausstellungsjahrc, rentiren wird. Sehr 
originell in ihrem Entwurf und in der Aus¬ 
führung ist die elektrische Bahn zwischen 
Brighton und Rottingdean. Die beiden Orte, 
die zu den besuchtesten Badeplätzen Englands 
gehören und durch einen Kanal von 6 km 
Breite von einander getrennt sind, wurden 
durch einen Schienenstrang verbunden. Die 
Schienen liegen auf dem Meeresgründe und 
der auf denselben verkehrende Waggon in 
Gestalt einer Plattform, die einige Centimeter 
über dem höchsten Wasserspiegel bei Hoch¬ 
flut gelegen ist, ist auf vier hohen Stahlge¬ 
rüsten angebracht, an deren unteren Enden 
die Räder befestigt sind. Durch einen ent¬ 
sprechenden Mechanismus werden die Räder 
mit Hülfe zweier auf der Plattform sich be¬ 
findenden Elektromotoren in Bewegung ge¬ 
setzt. Die Stromzuführung geschieht durch 
einen Draht, der an hohen, aus dem Meere 
hervorragenden Stangen befestigt ist. Ende 
1896 wurde diese eigenartige Bahn dem Ver¬ 
kehr übergeben und, wie wir den Berichten 
der Fachzeitschriften entnehmen, funktioniert 
sie ganz tadellos. 

'Protz vieler Versuche und Anstrengun¬ 
gen, die seitens der Elektrotechniker gemacht 
werden, die Elektrizität auch für Vollbahncn 
einzuführen, ist auf diesem Gebiete, mit Aus¬ 
nahme einiger ganz kurzer Strecken in Amerika, 
so gut wie gar nichts geschehen. Das Schei¬ 
tern dieser Versuche ist jedoch fast aus¬ 
schliesslich auf finanzielle Ursachen zurück¬ 
zuführen. Auch hier, wie bei den elektrischen 
Strassenhahnen, ist man noch nicht zu dem 
endgültigen Entschluss gekommen, welchem 
System der Vorzug zu geben ist. Nur han¬ 
delt es sich weniger um unterirdische oder 
oberirdische Stromzuführung, als um die 
Frage, ob der Strom überhaupt zugeführt wer¬ 
den soll oder ob er in einer sogenannten 
elektrischen Lokomotive zu erzeugen ist. Im 
Sommer des verflossenen Jahres ergaben die 
mit der Heilman’schcn elektrischen Lokomotive 
in Frankreich angestellten Versuche, dass mit 
Leichtigkeit eine Geschwindigkeit von 130km 
pro Stunde erreicht werden kann.^} 


') Diejenigen, die sich für die Frage elektrischer 
Hauptbahnen speziell interessieren, verweisen wir 
auf den in „Dinglers Polytechnischem Journal“ in 
Heft 12 erschienenen Artikel: Die Zukunft der 
Elektrizität im Eisenbalmbetrieb. 


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Ankel, Bacchylides-Fragmente. 


175 


Es würde uns zu weit führen, wollten wir 
in unserem geschichtlichen Rückblick über 
das Jahr 1896 auch eine eingehende Be¬ 
schreibung aller in diesem Zeiträume statt¬ 
gehabten Ausstellungen geben; doch mag er¬ 
wähnt werden, dass es nicht weniger als 
sechs Städte Europas waren, in denen zu 
gleicher Zeit die Elektrotechnik zeigen sollte, 
was sie bis jetzt geleistet hat. Diesem letz¬ 
teren Umstande ist es wohl zu verdanken, 
dass keine von diesen Ausstellungen ein voll¬ 
ständiges Bild gegeben hat, am allerwenigsten 
die in Stuttgart, obgleich sie eine speziell 
elektrotechnische Ausstellung war. 

Im Juni fand, wie alljährlich, in Berlin 
der Verbandstag der deutshen elektrotech' 
nischen Gesellschaften statt, der für die 
Praxis insofern von grosser Wichtigkeit war, 
als hier endgültig beschlossen wurde, die be¬ 
reits vor einem halben Jahre veröffentlichten 
Verbandsvorschrißen allgemein einzuführen. 
Während früher jede Fabrik und jeder In¬ 
stallateur nach eigenem Ermessen handelte, 
und bei Staats- und städtischen Lieferungen 
mit den aussergewöhnlichsten Bedingungen 
und Vorschriften überschüttet waren, brachte 
es die Autorität der zur Ausarbeitung dieser 
Vorschriften berufenen Männer mit sich, dass 
dieselben heute bereits nicht nur seitens der 
Verbandsmitglieder eingehalten werden, son¬ 
dern dass auch einige deutsche Staatsregier¬ 
ungen dieselben als obligatorisch ansehen und 
ihnen ihre Sanktion erteilt haben. 

Nicht minder wichtige Fragen wurden auf 
dem internationalen Elektrotechniker-Kongress 
in Genf berührt, wo es sich darum handelte, 
allgemeine Einheiten für die Photometrie [YAchi- 
messung) einzuführen. Doch das Ausbleiben 
vieler auf diesem Gebiete bedeutenden Autori¬ 
täten einerseits, auf der andern Seite natio¬ 
nale Gegensätze brachten es mit sich, dass 
die dortigen Beschlüsse sofort von vielen 
Seiten angefochten wurden und es wohl kaum 
zu irgend einem positiven Resultate kom¬ 
men wird. 

Am 15. Juni des verflossenen Jahres 
feierte der Professor der Glasgower Universi¬ 
tät, Sir William Thomson, jetzt Lord Kelvin, 
sein fünfzigjähriges Professoren-Jubiläum. Die 
ganze wissenschaftliche Welt ohne Unterschied 
der Nationen nahm an den Feierlichkeiten 
Teil. Es wird wohl auch keinen anderen Ge¬ 
lehrten geben, dessen Name so mit der Elek¬ 
trizitätslehre zusammenhängt, wie der von 
Lord Kelvin. Seine klassischen Untersuchun¬ 
gen über die Induktion in Kabeln, sein Si¬ 
phonrecorder und die übrigen Präzisions¬ 
instrumente und Apparate, deren es eine ganze 
Unzahl giebt, sind von so eminenter Bedeut¬ 
ung sowohl für die abstrakte Wissenschaft, 


als auch ftlr die Praxis, dass vieles davon, 
was wir heute auf dem Gebiete der Elektro¬ 
technik unser eigen nennen, undenkbar wäre 
ohne die Arbeiten und Erfindungen dieses 
Gelehrten. Unter den Männern der Wissen¬ 
schaft gehört Lord Kelvin zu den Wenigen, 
deren Verdienste schon zu ihren Lebzeiten 
allgemein gewürdigt wurden. Ein kleiner Be¬ 
weis dafür ist der ihm im Jahre 1892 er- 
theilte Pairstitel. 

Wie schon trüher erwähnt wurde, ist auf 
keinem Gebiet der Elektrotechnik irgend eine 
prinzipielle Neuerung eingetreten. Inwiefern 
die Errungenschaften des verflossenen Jahres 
von Bedeutung waren und Interesse erregen 
konnten, waren sie hier berührt. (Der jüngste 
Zweig der Elektrotechnik, die Elektrochemie, 
die sich äusserst lebenskräftig entwickelt, ver¬ 
dient einen besonderen Bericht.) Man sieht 
also, dass die Elektrotechnik, wenigstens die 
heutige, welche auf der dynamischen Vor¬ 
gängen basiert, das Stadium grosser prin¬ 
zipieller Neuerungen bereits hinter sich hat, 
und mehr das Streben zeigt, ihre Errungen¬ 
schaften bei ständiger Verbesserung in der 
Praxis auszunutzen. 


Bacchylides-Fragmente. 

Eine ftlr den Philologen und Alterthumsfreund 
in gleicher Weise hocherfreuliche Nachricht, die 
sich hoffentlich in vollem Umfange bestätigt, kommt 
aus England. Das British Museum hat vor kurzem*) 
ein Papyrus-Manuskript erworben, bei dessen ge¬ 
nauerer Durchsicht sich grössere Fragmente und 
ganze Gedichte des Bacchylides, des Zeitgenossen 
des Pindar, fanden. Was man bislang von diesem 
Dichter, der doch Aufnahme in den Kanon der 
Lyriker gefunden hatte,*) und der auch in späteren 
Zeiten*) noch eifrige Leser fand, wusste und kannte, 
war recht dürftig. Darnach stand fest, dass Bacchy¬ 
lides, geboren zu Julis auf Keos als Schwestersohn 
des Simonides, seit 476 mit diesem zusammen län¬ 
gere Zeit in Syracus am Hofe des Königs Hiero 
lebte, wo die beiden die Eifersucht Pmdars wach¬ 
riefen, wenn man mit Recht das . . . . 
miYY^Moniii. (inepta garrulitate loquaoes) <«?, 

MKiwiT« ytttJtWo»’ iu derlll.olymp. 

Ode *) auf sie bezogen hat. Später hielt sich Bacchy¬ 
lides*) von der Heimat verbannt in der Peloponnes auf, 
von seinem Ende ist nichts bekannt — Bei Bergk 
finden wir noch nicht fünfzig meist geringe Frag¬ 
mente dieses Dichters, die denselben Gattungen, 
wie die Pindtfrischen Gedichte angehöi en “) darunter 
das längere nicht eben hervorragende Bruchstück 
eines Paian auf den „Frieden“, „der den SterhUchen 
Reichtum bringt und die g/timenden Btiifen honig¬ 
süsser Gesünge, zoo die Waffen ruhen und die 


I) „Atheoaum" 1896 saturday Dec. a6. 

>) Dtdymos schrieb einen Kommentar zu seinen Epinikien. 
•) Ammian. Marccllin XXV, 4 {den Kaiser Julian Aoosl. be¬ 
treffend). / 

<) V. 87 ff Vgl. Pyth n. 90. Ncm. III. 8a. il Ko).«ot 

T<‘.un*iL wVoKT«» 

*) Flut, de exil. 14. 

Hymnen, Paeane, Dithyramben, K^inikicn und Hypor- 
cliemata, daneben auch Trinklieder, Liebeslieder und Epigramme. 




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176 


Das elastische glas der Chinesen. 


Neue Mikrophone. 


Spinne thr Netz hängt an den eisedbeschlagenen 
Schild, IVO der Rost die. spitzigen Lanzen frisst und 
die doppelschneidigen Scnwerter." *) Von Horaz wis¬ 
sen wir, dass er Bacchylides gekannt und z. T. be¬ 
nutzt hat.”) Hat man nun nach den vorliegenden 
Bruchstücken”) geurteilt, dass des Bacchylides Poesie 
„nur einen Nachhall bilde von der grossartigen 
Genialität des Simonides; dass ihm die urwüchsige 
originelle Erfindung fehle, und dass er auch im Stil 
es nicht über saubere Glätte bringe“, hat man in 
ihm „das Talent neben Pindar, dem Genie“ sehen 
wollen, M so widerfährt durch die Veröffentlichung 
der heugefundenen Papyrus-Handschrift dem Dich¬ 
ter vielleicht mehr Gerechtigkeit. Sicher thut unsere 
Kenntnis des Bacchylides und der griechischen 
Lyrik einen mächtigen Schritt vorwärts. Leider ist 
auch der nun vorliegende Papyrus nicht gerade voll¬ 
ständig, teilweise ist er sogar stark beschädigt. Einige 
Oden sollen nach der Notiz im Athenäum lücken¬ 
los darin enthalten sein, manch andere finden sich 
vielleicht wieder zusammen, wenn die Bruchstücke 
erst sorgfältig gesammelt und geordnet sind. Zwei 
Gedichte, die sich auf Siege des Hiero beziehen 
(das eine sehr ausgedehnte behandelt xlenselben 
Sieg des Tyrannen von Syracus mit dem Renner 
Phercnikos (472), den Pindar in seiner ersten olym¬ 
pischen Ode besingt) werden besonderes Interesse 
erwecken; als Sieger werden ferner gepriesen 
Lachon von Keos, ein Landsmann des Dichters, 
Alexidamus von Metapontum, Tisias von 
Aegina, Automedes von Phlius. Etwas imklar 
ist die Nachricht des Athenäums, dass ausserdem 
sich noch drei Gedichte mit dem Titel ‘?) Theseus, 
Jo und Jdas finden, „about the epinikian Charakter 
of which there may be some question.“ — Die hof¬ 
fentlich in kurzer Frist erfolgende Publikation wird 
uns wohl darüber Klarheit geben. Geschrieben ist 
das Manuskript auf gutem Papvrus; es enthält mehr 
als 30 Spalten, die indess z. 't. unvollständig sind; 
ausserdem, wie erwähnt, noch eine Reihe kleiner 
Bruchstücke, die unter der ordnenden Hand des 
Herausgebers vielleicht noch manches schöne Re¬ 
sultat ergeben. Allem Anschein nach stammt die 
Handschrift aus dem ersten Jahrh. v. Chr. Nach 
der Publikation kommen wir wohl an dieser Stelle 
ausführlicher auf den bedeutsamen Fund zurück. 

Paul A n k e l. 


Das elastische Glas der Chinesen, 
von dem im vorigenJahre durch Vermittlung des frühe¬ 
ren Kaiserlichen Gesandten in China, von Brandt, 
Proben an das Kgl. Kunstgewerbe - Museum in 
Berlin gelangt sind, hat schon seit dem vorigen 
Jahrhundert Erwähnung in den Berichten der fran¬ 
zösischen Missionare in Peking gefunden. Pater 
d’Entrecolles'') berichtet darttber wie folgt: „Das 
Linli Ist ein gewöhnliches Glas, das etwas von der 
Natur des Email hat; es ist durchsichtig oder un¬ 
durchsichtig, sehr dünn gearbeitet und darum sehr 
elastisch; man macht daraus Kugeln, die auf der 
einen Seite abgeplattet sind und auf der entgegen¬ 
gesetzten Seite in eine kleine Röhre auslaufen. I)cr ab¬ 
geplattete Teil erscheint dünner als der übrige und ist 

'I Fragm. 13, 

»,i .AusdrOcklidi bemerkt dies der Sehuliast zu cjirin. I, 13 
(F.istor cum trahcrctl. womit man vergl. Bacchyl Fragin. 39, 
und Mciiicke hat mit Recht die Hippoiiakteen des c. II, 18 
„Noii ehur neqiie aurcum meft renidet in domo laciinar“ . . . . 
zurilckgefQhrl auf des Bacchyl. Fragm. 39: „Nicht rekhe Rin¬ 
derherden nenn ich mein, noch (Jeldgeftss und Piirpurleppkhe, 
doch ward mir beschert ein frohgemut Herz und der Muse 
silsser Saug und in böotischen Bechern köstlicher Wein.* . . . 

>) Vcrgl. Christ, Gr. Littcraturgesch. (2) S. 140. 

*1 Vgl. bes. Fragni. 14. 

») Grosicr. Band 7, Buch 13. Kap. 4. Die Kunst des 
Glasunachens. 


nicht ganz flach d. h. leicht concav. Wenn man 
vorsichtig in diese Kugeln hineinbläst, so zwingt 
man den abgeplatteten Teil sich nach aussen zu 
werfen und wenn man den Athem einzieht, macht 
man ihn wieder zurückkommen. Mit einiger Übung 
macht man ihn so hinaus und hineingehen, ohne zu 
zerbrechen und diese Schwingungen bringen ein 
kleines Knacken hervor, das die Kinder amüsiert.“ 
Dieser Beschreibung des elastischen Glases ist nichts 
hinzuzufügen; man sieht die kleinen Lärminstnimente 
häufig in den Strassen von Peking als Kinderspiel¬ 
zeug. Auch Nachahmungen von Früchten, na¬ 
mentlich Weintrauben, werden in China aus Linli 
gefertigt. 

Linli war der älteste Ausdruck fllr Glas über¬ 
haupt und kommt in China schon kurz vor oder 
nach Beginn der christlichen Aera vor; heute wird 
er nur noch zur Bezeichnung des vorerwähnten 
ganz dünnen Glases gebraucht oder für glasierte 
Ziegeln und Thonwaaren, wohl wegen des glasigen 
Überzugs. Wenn Pater d’Entrecolles die Möglich¬ 
keit andeutet, dass zur Bereitung des Linli eine 
Farre (lin litsao) benutzt werden könnte, so ist 
das wohl nur eine etymologische Spielerei. 

Das dem Glase gewidmete Handbuch des South 
Kensington Museums ins London giebt kurz die An¬ 
gabe Pater d’Entrecolles wieder und fügt hinzu: 
„Diese Angabe, dass Glas so dünn gemacht wurde, 
dass es elastisch war, scheint so fern von jeder 
Wahrscheinlichkeit zu sein, dass es einen Zweifel 
an der Richtigkeit derselben aufkommen lassen und 
zu der Voraussetzung Veranlassung geben könnte, 
dass der Autor Glas mit einbr anderen Substanz 
verwechselt habe. Es genügt aber, im Gegenteil, 
seine Bemerkungen zu lesen, um überzeugt zu sein, 
dass er die Eigenschaften und die Bestandteile von 
Glas vollständig kannte und unfähig war, einen 
solchen Irrtum zu begehen. Vielleicht besitzen die 
Chinesen die Kenntnis eines Verfahrens, durch das 
die Elastizität des Glases bedeutend erhöht werden 
kann.“ 

Als dies geschrieben wurde, war Peking, wo 
man das elastische Glas an jedem Tage auf der 
Strasse sehen kann, seit zwanzig Jahren Fremden 
geöffnet, aber es ist vielleicht noch merkwürdiger, 
dass man heute ebensowenig, als in der Mitte des 
18. Jahrhunderts, die Herstellung desselben kennt. 


Neue Mikrophone. 

In fast allen Femsprecheinrichtungen werden zur 
Aufnahme des gesprochenen Wortes Mikrophone be¬ 
nutzt, wälirend zur Rückwandlung in Schallwellen an 
der fernen Stelle Telephone dienen. Das Prinzip des 



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Das Rohmaterial der Auer-Glühstrümpfe. 


177 


Mikrophons (m) istaus beistehender Zeichnung ersicht¬ 
lich. Schaltet man in den Stromkreis von einem oder 
zwei Primärelementen (B) einen auf einer Kohlen¬ 
scheibe (p) lose stehenden Kohlenstab (k) ein und ver¬ 
setzt die Scheibe (m) durch Sprechen gegen dieselbe in 
Schwingungen, so ändert sich der Widerstand 
zwischen Kohlenstab und Scheibe, indem bei den 
Schwingungen bald eine grössere bald eine geringere 
Menge von Kohleteilchen in Berührung kommt. 
In demselben Umfange, in welchem sich der Wider¬ 
stand ändert, schwankt in einem solchen Apparate 
natürlich auch die Stromstärke, so dass die Strom- 
stösse genau den Schallwellen entsprechen. In den 
gegenwärtig im Gebrauche befindlichen Mikrophonen 
werden in der Regel mehrere Kohlenstäbe ange¬ 
bracht. Die Empfindlichkeit solcher Mikrophone 
kann aber durch Vermehrung der Kohlenstäbe nur 
bis zu einer gewissen Grenze gesteigert werden. 
Denn zu staAe Bewegungen der Kohlenstäbe, 
w'elche störende Nebengeräusche erzeugen würden, 
müssen durch leichte mit schwachem Druck auf 
den Kohlenstäben liegende Metallfedern oder Bors¬ 
tenpinsel gedämpft werden, wodurch wiederum die 
Empfindlichkeit des Mikrophons leidet. Die fort¬ 
schreitende Ausdehnung des Fernsprechverkehrs 
auf weite Entfernungen hat das Bedürfnis nach em¬ 
pfindlicheren Mikrophonen hervorgerufen. Unter 
den neueren Erfindungen verdienen besonders 
zwei Typen: das Kohlenkömer- oder Kohltngries- 
mikrophon und das Kohlenscheibenmikrophon Er¬ 
wähnung. In dem Kohlenkömermikrophon fliesst 
der elektrische Strom über Kohlenkömer, die sich 
zwischen zwei Kohlenplatten befinden. Bei den 
zahlreichen Berührunesstellen zwischen den Koh¬ 
lenteilchen sind diese Mikrophone sehr empfindlich; 
dabei treten wegen der geringen Beweglichkeit der 
einzelnen Körner gegeneinander keine störenden 
Nebengeräusche auf. Die gute Lautübertragung nahm 
jedoch bei den zuerst hergestellten Kömermikro- 
phonen bald ab, weil die anfangs lose aufeinander 
liegenden Körner nach und nach sich setzten, — 
wie es in der Technik heisst: zusammenbackten. 
Dem Zusammenbacken der Kohlenkörner beugt die 
Aktien-Gesellschaft Mix und Genest in ihren 
neuen Mikrophonen dadurch vor, dass der zur 
Aufnahme der Kohlenkömer bestimmte Raum netz¬ 
artig mit Fäden durchzogen wird (s. Fig. 2) und 



hierdurch mehrere Abteilungen erhält, (s. Fig. 3 F 
u. K). Ausserdem ist das Mikrophon drehbar an¬ 
gebracht. Durch die Bewegung der Fäden wäh¬ 
rend des Sprechens und durch Umschütteln der 
Körner beim Drehen des Mikrophons ist ein dauernd 
sicheres Arbeiten desselben gewährleistet. Dies 



Mikrophon gibt die Sprache für die ^össten Ent* 
fernungen laut und deutlich wieder. Ein für grosse 
Entfernungen gleichfalls vorzüglich verwendbares 
Mikrophon wird neuerdings auch von der Firma 
Stock & Co. in Berlin hergestellt. Statt der Koh¬ 
lenstäbe finden hier auf einer Achse aus Kohle leicht 
drehbar an^eordnete Kohlenscheiben Verwendung, 
welche mit ihrem äusseren ziemlich breit gehaltenen 
Rande gegen eine Kohlenplatte schleifen. Beim Spre¬ 
chen drehen sich die Kohlenscheiben fortgesetztum ein 
geringes, so dass immer wieder andere Kohlenteil¬ 
chen in Berührung kommen. Die verhältnismässig 
grossen Berührungsflächen' zwischen Kohlenachsc 
und Scheiben bewirken die gute Lautübertragung, 
während das Drehen der Kohlenscheiben eine gleich- 
mässige Abnutzung und infolgedessen ein stets zu¬ 
verlässiges Arbeiten des Mikrophons sichert. In¬ 
folge der erwähnten Vorzüge verdienen die neuen 
Mikrophone besondere Beachtung. m. 


Das Rohmaterial der Auer-Glühstrümpfe. 

Über thorhaliige Mineralien und ihre Bedeutung 
für die Gasglühlicht - Industrie berichtete Dr. F. 
Krantz kürzlich in den Sitzungsberichten der Nie¬ 
derrheinischen Gesellschaft für Natur- und Heilkunde 
zu Bonn. 

Die Auer’sche Erfindung beruht bekanntlich 
auf dem starken Lichtausstrahlungsvermögen von 
sogenannten „seltenen Erden“ beim Glühen. Der 
Glühstrumpf wird herg^tellt, indem man ein Baum- 
wollgewebe in Form eines runden Dochtes mit einer 
wässrigen Lösung der Nitrate jener „seltenen Erden“ 
tränkt, trocknen lässt und das Gewebe verbrennt 
Es bleibt alsdann das bekannte Skelett übrig, das 
in der Gasflamme das glänzende Licht ausstrahlt 
Unter „seltenen Erden“ versteht man die Oxyde 
der Metalle, die der Cergruppe und der Didym- 
gruppe angehören. Die grösste Bedeutung hat aber 
die Thorerde erlangt, da durch ihre Einflihrung 
der früher grüne Farbenton des Glühlichtes bedeu¬ 
tend verbessert wurde. Heutzutage enthalten die 
Glühstrümpfe ca. 98 pCt. Thoroxyd, ca. r pCt Cer¬ 
oxyd und 1 pCt andere Beimengungen. Infolge 
dessen wurde der Gehalt an Thorerde für den Wert 
der zur Verarbeitung kommenden Mineralien be¬ 
stimmend. 

Die Gewinnung der Thorpräparate stiess bald 
auf Schwierigkeiten, weil die in Norwegen vorhan¬ 
denen Mengen von Thorit und Orangit, aus welchen 


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178 


Betrachtungen und kleine Mitteilungen. 


Mineralien man sie früher allein herstellte, in kurzer 
Zeit erschöpft waren; denn wenn diese Mineralien 
auch namentlich in der Nähe des Langesundfjords 
in weiter Verbreitung angetroffen wurden, so kamen 
sie doch immer nur in ganz geringen Mengen vor. 
Ein grösseres Vorkommen von Uranothorit ist in 
den letzten Jahren in Süd-Norwegen bei Arendal 
ausgebeutet worden; vollständig erschöpft ist die 
älteste Fundstelle von schwarzem Thorit bei Brevik. 

Es lag nur zu nahe, dass die mit der Verbreit¬ 
ung der GasglOhlichl-Industrie stetig grössere Nach¬ 
frage nach diesen Mineralien ein wahres „Thorit 
fieber" hervorrief. Allerorten suchte man im Gebiet 
der Syenit-Pegmadtgänge und der Augit und Nephe¬ 
lin-Syenite des südlichen Norwegens nach „Thoriten“. 

Von diesemThoritfieber entwirft L.Schmelck 
ein ergötzliches Bild. Männer, Frauen, Knaben, Mäd¬ 
chen hämmerten und meisselten an den unglaub- 
lichstep Stellen; die kleinen nackten Felseninseln stie¬ 
gen enorm im Preise, es entstanden Mineralkontore 
mit Schaufenstern, die Papierhandlungen hielten ge¬ 
druckte SchOrfanmeldezettel vorrätig, man riss 
Quadersteine aus Gebäudemauern, eine Frau ver¬ 
kaufte die Ballaststeinc ihrer Wäschemangel für 
mehrere hundert Kronen . . ., kurz alles dachte nur 
und sprach nur von Thorit. 

Natürlich hatte dies auch bald zur Folge, dass 
unter dem Namen „Thorit“ alle möglichen Mineralien 
auf den Markt gebracht wurden, mit e nem recht 
schwankenden, oft auch völlig fehlenden Gehalt an 
Thorerde, dabei zu ungeheuren Preisen. Weder 
Verkäufer noch Käufer waren im Stande, brauch¬ 
bares und wertloses Material so recht auseinander¬ 
zuhalten, so dass auch des öfteren beide Teile 
Verluste erlitten. 

Die eigentlichen Thorite und Orangite blieben 
nach wie vor seltene Mineralien, sie verloren aber 
auch schliesslich an Bedeutung, da man Ersatz für 
sie fand. Auch andere Minerale erwiesen sich wie¬ 
gen ihres Gehaltes an seltenen Erden für die Gas- 
glQhlicht-Industrie geeignet; von diesen besitzen 
ÄschynU z. B. 15’,4 pCt., Thororthit 15 — 17 pCt., 
Monazit 7—32 pCt. Thorerdegehalt. Es stellte 
sich auch bald heraus, dass von diesen ur¬ 
sprünglich für sehr selten gehaltenen Mineralien 
namentlich Monazit und Xenotim eine grosse Ver¬ 
breitung in Australien, Brasilien und in Carolina 
besitzen, so dass der Bedal'f für die Gasglühlicht- 
Industrie auf weithin gedeckt werden kann. 

Monazit und Xenotim wurden als Gemengteile 
von Graniten und granitischen Gneissen nachge¬ 
wiesen. 

Derby fand Monazit in einer Menge von Punk¬ 
ten in dem Gneiss der brasilianischen Küstenketten 
und in den dortigen granitischen Gangmassen (z. B. 
Serra de Tijuea, bei Rio Serra de Tinguä, sodann 
in einem roten Syenit der Serra do Jauba, Provinz 
Bahia. Auch in verschiedenen z>on Nord- 
und Süd-Carolina, von Connecticut und Canada wur¬ 
den Monazitsande gefunden. Im Allgemeinen be¬ 
stehen die gereinigten Monazitsande aus 7ou|o Mo¬ 
nazit-Körnchen von goldgelber bis schmutzigbrauner 
Farbe; der Rest sind Verunreinigungen durch Titan, 
Magnetit, roten Granit, Quarz, Zirkon und Rutil. 

Der Thorgehalt ist verhältnismässig gering, es 
bedarf daher immer grosser Mengen von Material, 


das keineswegs immer gleichwertig ist; auch hier 
ist lediglich die chemische Untersuchung für den 
Handelswert massgebend. Im Allgemeinen werden 
auf dem Markte die feinkörnigen Brasilsande den 
grobkörnigen Carolinasanden vorgezogen, obwohl 
die guten Sorten der letzteren mehr Thorerde ent¬ 
halten, als die ersteren, dafür aber erst gemahlen 
werden müssen, während die Brasilsande direkt 
durch Schwefelsäure aufgeschlossen werden können. 
Der durchschnittliche Gehalt an Thorerde beträgt nur 
4—6“’ 0, trotzdem werden zur Zeit fast ausschliesslich 
nur die Monazitsande für die Fabrikation desl'horium- 
nitrats und derCerpräparate herangezogen. Während 
die Vorkommen in Carolina bereits etwas, wegen der 
hohen Abbaukosten, zurückzutreten beginnen (die 
ursprünglichen Flussbettablagerungen sind erschöpft, 
die jetzt gewonnenen Monazite stammen aus einer 
I— i'!» Fuss mächtigen, von 4 6 Fuss Abraum be¬ 
deckten Schw'emmsandschicht), hat sich Bi'asilien 
als unerschöpflich erwiesen; hier interessiert sich 
jetzt die Genera'regierung für die Gewinnung der 
Monazitsande und ist bemüht, der schrankenlosen 
Ausbeutung zu steuern und die Produktion zu 
regeln. In Amerika schreitet man bereits zur Selbst¬ 
darstellung des Thoriumnitrats, ein Versuch, der 
z. B. in Brasilien wegen des teuren Preises der 
Reagentien, des Mangels an Chemikem und der 
geringen Entwicklung der chemischen Industrie 
überhaupt noch nicht möglich ist. 

Neuerdings kommen Nachrichten, dass auch in 
russischen Flüssen fabrikmässig verwertbare Men¬ 
gen von thorhaltigem Monazit gefunden worden 
seien, ferner grosse Mengen von thorhaltigen Mine¬ 
ralien in Texas und Conecticuf. 

Interessant ist auch ein Blick auf die Preisver- 
ünderungen : für Thorit wurden zeitweise über 500 M., 
für Orangit über 600 M. und für Monazit bis 30 M. 
per Kilo bezahlt. Bei Tliorit gingen die Preise auf 
etwa 80 M. per Kilo zurück. — Amerikanischer 
Monazitsand mit 2-3 pCt. Thorgehall stellt sich 
jetzt loco Hamburg oder Amsterdam auf 70 -100 M. 
für 100 Kilo. Hand in Hand damit sank auch der 
Preis der Präparate: das Gramm Thoriumnitrat 
kostete noch vor 2 Jahren 4 M., während cs heute 
ca. 20 Pfennige kostet. r. m . 


Betrachtungen und kleine Mittheilungen. 

Die Verbesserungen am Gasglühlicht. Eine 
der wesentlichsten Verbesserungen liegt, wie oben 
schon mitgeteilt, in der schöneren Farbe des Lichts. 
Man lässt die Erbiumsalze weg, die ein grünes 
Licht erzeugten. Ferner ist cs gelungen, die Glüh- 
lichtstrünipfe viel haltbarer lm machen. Früher wur¬ 
den die präparierten Dochte nach den Verbrauchs¬ 
plätzen verschickt und von den dortigen Agenten 
möglichst an Ort und Stelle verbrannt, weil die 
Glühkörper so zerbrechlich waren, dass oft die 
kleinste Erschütterung sie zerstörte. -- Heutzutage 
werden die Glühstrümpfe von besondern Arbeitern 
im Grossen verascht; zunächst durch eine Hunsen- 
flammc (nicht leuchtende Gasflamme). Dann lässt 
man den Glühkörper in Pressgas (d. i. Leuchtgas 
unter erhöhtem Druck) zusammen sintern, wodurch 
er eine erhebliche Festigkeit gewjnnt. Das Ver¬ 
brennen erfolgt in Vorrichtungen mit kräftiger Ven¬ 
tilation, damit die Arbeiter von den nitrosen Gasen 


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Betrachtungen und kleine Mitteilungen. 


179 


nicht belästigt werden. Auch tragen die Leute, die 
das Sintern sehr aufmerksam beobachten müssen, 
dunkle Brillen, da sonst das Auge unter dem grel¬ 
len Licht sehr leidet. 


/ 


Über die Erzeugung künstlicher Diamanten auf 
elektrischem Wege liegen neue Versuche von Henry 
Moissan vor, bei welchen er das mit Kohlenstoff 
beladene Gusseisen dadurch zu einer noch schnel¬ 
leren Erkaltung brachte, dass ein Tropfen flüssigen 
Eisens, nachdem er sich im elektrischen Ofen mit 
Kohlenstoff gesättigt hatte, von einer gewissen Höhe, 
in ein Quecksilberbad fallen gelassen wurde. Un¬ 
ter dem Schrot finden sich Kugeln oder abgeplattete 
Elipsoide von regelmässiger Form sowie unregel¬ 
mässige , beim Herabfallen zerschaumte Massen. 
Letztere schliessen keine Hohlräume ein und ent¬ 
halten Kohlenstoff nur in der Form von Gra^t. 
Die regelmässigen Kugeln dagegen enthalten Via- 
Mauten, teils durchsichtige in sehr kleinen Krys- 
tallen von zuweilen grosser Regelmässigkeit, teils 
schwarze. Dr. PW. 

(Zeitschr. f. Ber^-, Hotten- u. Maschinen-Industrie. 1897. Nr. 3.) 


Über künstliche F&rbtmg von Krystallen. 
Das natürlich vorkommende Chlomatrium, das Stein¬ 
salz, ist zuweilen tief blau geförbt. Da über die 
Natur dieser Blaufärbung bislang nichts Sicheres 
bekannt war, hat es nicht an Bestrebungen gefehlt, 
dieselbe experimentell zu ergründen. Herrn Giesel 
ist dies in einfacher Weise nicht nur mit dem 
Steinsalz, sondern mit allen Haloldsalzen der Alkali¬ 
metalle*) gelungen. Er erhitzt in zugeschmolzenen 
Glasröhren die wasserfreien Krystalle der betr. 
Salze (z. B. Kochsalz) im Kalium- und Natrium¬ 
dampf bis zur beginnenden Rotglut. Für die Art 
der enstehenden Farbe ist es gleichgiltig, welcher 
Metalldampf angewand wird; sie hängt nur von 
dem betreffenden Haloidsalz ab. Bromkalium und 
Jodkalium färben sich prachtvoll cyanblau, Chlor- 
kaJium resp. Sylvin dunkelheliotrop, Chlomatrium 
resp. reines Steinsalz gelb bis braun. Die Färb¬ 
ungen durchdringen die ganze Masse des Krystal- 
les, ohne dass derselbe dadurch seine Klarheit ver¬ 
liert. Vor zwei Jahren hat Goldstein durch 
physikalische Hilfsmittel, nämlich durch Einwirkung 
von Kathodenstrahlen mehr oder minder intensive 
Färbungen an solchen Salzen erzeugt. Die 
chemisch gefärbten Salze verlieren bei genügend 
hoher Temperatur die Farbe wieder. Dasselbe 
Schicksal erleiden die durch Kathodenstrahlen ge¬ 
färbten Verbindungen und das natürlich gefärbte* 
Steinsalz. Besonders bemerkenswert ist, dass das 
künstlich gelb oder braun gefärbte Steinsalz beim 
Erhitzen mlmählich eine ganze Reihe von Farben 
durchläuft, unter denen sich auch das prächtige 
C^'anblau des natürlichen Salzes befindet. Jede 
emzelne Farbe bleibt erhalten, wenn man in dem 
betreffenden Stadium erkalten lässt. Ähnliche Far¬ 
benwandlungen zeigen auch das durch Kathoden¬ 
strahlen gelbbraun gefärbte Chlornatrium und das 
natürliche blaue Steinsalz. Diese Übereinstimmung, 
die sich noch in anderen Eigenschaften zeigt, macht 
die Identität der durch Kalium- bezw. Natriumdampf 
sowie der durch Kathodenstrahlen gefärbten Alkali¬ 
haiolde wahrscheinlich. Auch die Vermutung, dass 
das natürlich und das künstlich blau gefärbte Chlor¬ 
natrium gleichartig sind, entbehrt nicht der Wahr¬ 
scheinliche eit. Der Grund der Färbungen lässt sich 
noch nicht mit Sicherheit angeben. Man wird die 


<) So D«not man die Chlor-, Jod-, Brom- und Fluorverbind¬ 
ungen bes. von Kalium und Natrium. 


gefärbten Salze als feste Lösungen (Legirungen) von 
Metall una Metallsalz anzusehen haben, wie dies 
zuerst von Elster und G e i t e 1 hervorgehoben 
wurde. Bei der chemischen Synthese ist ja das 
Metall von vornherein gegeben, bei der Färbung 
auf physikalischem Wege müssten zunächst die 
Kathodenstrahlen die Zerlegung des Salzes und so¬ 
mit das Auftreten des freien Metalls bewirken. Die 

E efärbten Salze geben im Wasser eine farblose 
ösung. 

(Berichte d. deutsch, ehern. Ges. 30, 156). Dr. Schmidt. 

* * 

Über das Vorkommen von Pyrazinen im 
Fuselöl und in den Reaktionsprodukten aus 
Traubenzucker tmd Ammoniak. Das Vorkommen 
organischer Basen im Cährungsamylalkohol (Fuselöl) 
ist schon lange bekannt. Von hygienischer Seite 
wurde wiederholt auf die Gegenwart basischer 
Körper in den Alkoholen des Handels hingewiesen 
und ihnen eine giftige Wirkung zugeschrieben. Die 
Ermittelung der chemischen Natur dieser Substan¬ 
zen war bisher nicht geglückt, Haitinger kon¬ 
statierte nur die Anwesenheit von Pyridin im Amyl¬ 
alkohol. Neuerdings w’urden Bamberger und 
Einhorn bei Versuchen auf das Vorhandensein 
dieser Basen wieder aufmerksam und nahmen eine 
Untersuchung derselben vor.') Sie konnten dem 
„reinsten“ technischen Amylalkohol direkt durch 
Extraktion mit Schwefelsäure ein Gemisch von 
Basen entziehen und in demselben mit Sicherheit 
ausser Pyridin das 2,5-Dimethylpyrazin nachweisen. 
Der Basengehalt im Amylalkohol ist sehr schwankend 
und immer nur ein geringfügiger 0,1 pCt. Bei der 
geringen Menge der Basen in den Fuselölen ist 
eine giftige Wirkung derselben in den Alkoholen 
des Handels unwahrscheinlich. Fast gleichzeitig 
mit vorgenanriten Forschern haben Brandes und 
St Öhr die Resultate einer Untersuchung veröffent¬ 
licht*), in der sie den Nachweis erbringen, dass die 
vonTanret aus Traubenzucker und Ammoniak 
gewonnenen Basen, die „Glucosine“, ausser Pyridin 
Pyrazinbasen enthalten. Die beiden Untersuchungen 
ergänzen sich insofern, als daraus hervorgeht, dass 
die bei dem Zerfall des Traubenzuckermoleküls 
einerseits bei der Gährung (natürlich in Gegenw'art 
stickstoffhaltiger Substanzen) andrerseits bei der Ein¬ 
wirkung von Ammoniak bei höherer Temperatur 
entstehenden Basen ein und derselben Körperklasse, 
den Pyrazinen, angehören. Dr. Schmidt. 


Entladtmgsstrahlen. E. W i e d e m a n n hat 
eine neue Art von Strahlen aufgefunden, die er 
nach ihrer Erzeugung durch elektrische Entladungen 
Entladungsstrahlen nennt, und die besonders dadurch 
charakterisiert sind, dass sie die Eigenschaft haben, 
sogen. Thermoluminescenz zu erregen. Es gibt 
Substanzen, wie Flussspath, Marmor, die schon bei 
sehr massigem Erwärmen, z. B. auf 70®, im Dun¬ 
keln leuchten, also lange bevor sie glühen. Andere 
Körper, wie Schwefelkalcium, erlangen die Fähig¬ 
keit durch schwaches Erwärmen zu leuchten, erst 
dann, wenn sie vorher von Licht- oder Kathoden¬ 
strahlen getroffen sind. Alle derartigen Stoffe 
nennt man thermoluminescierend. Die Thermolumi¬ 
nescenz wird auch durch elektrische Funken erregt 
und E. Wiedemanh hat gezeigt, dass hierbei ausser 
dem Licht der Funken eine besondere Art von 
Stiahlen, die von der elektrischen Entladung aus¬ 
gehen, wirksam ist. Die Eigenschaften dieser Ent¬ 
ladungsstrahlen sind von Hoffmann näher unter¬ 
sucht. Sie gehen durch feste Körper nicht hindurch, 

j) Berichte d. deutsch, ehern. Ges- 30, »34. 

*) Journ. prakt. Chem. (54) 481. 


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i8o 


Betrachtungen und kleine Mitteilungen. 


werden schon von ganz dünnen Schichten Glimmer, 
Aluminium etc. zurückgehalten, auch von Gasen 
wie Sauerstoff und Kohlensäure, stark absorbiert. 
Sie pflanzen sich geradlinig fort, ihre Intensität 
nimmt mit der Entfernung vom erregenden Funken 
schnell ab, sie werden nicht reflektier^ in mancher 
Beziehung haben sie also ähnliche Eigenschaften 
wie Röntgenstrahlen, in anderer sind sie wieder 
von diesen und von Lichtstrahlen durchaus ver¬ 
schieden. Ausser durch elektrische Funken können 
die neuen Strahlen auch durch die Entladung in 
Geisslerschen- Röhren erzeugt werden und zwar in 
noch grösserer Stärke. Sie nehmen von jedem 
Teil der Entladung ihren Ausgang, ihre Bildung ist 
also' nicht, wie die der Kathoden- und Röntgen¬ 
strahlen, wesentlich durch das vpm negativen Pol 
ausgehende Licht bedingt. Durch den Magneten 
werden die Strahlen nicht abgelenkt, auch haben 
sie keine photographischen Wirkungen, ausser wenn 
sie bei starker Luftverdünnung erzeugt werden. 
Doch ist wahrscheinlich, dass sie in diesem Falle 
zu Kathodenstrahlen werden, denn sie zeigen deren 
charakteristische Eigenschaften, Auch durch elek¬ 
trische Schwingungen kann man unter gewissen 
Umständen die neuen Strahlen erzeugen. Dass sie 
weder mit Lichtstrahlen noch mit Röntgenstrahlen 
identisch sind, hat Hoffmann aufs Bestimmteste er¬ 
wiesen. (Wiedcm.mns Aonalcu 1897. Heft a.) Dr. Pr. 


y Eine neue Flugmaschine ist von dem Amerika- 
-Uer Graham Bell auf Grundlage der flugtech¬ 
nischen Studien des Professor Langley in New- 
York gebaut worden. Selbe hat als Versuchsobjekt 
sehr günstige Resultate erzielt, und diente als Be¬ 
weis der Richtigkeit dieser Segelflugtheorie. Die 
Flugmaschine besteht aus einer kleinen Dampf¬ 
maschine und aus 2 grossen horizontalen flügelar- 
tigen Segelflächen. Durch die Dampfmaschine werden 
2 Propellerschrauben, in entgegengesetzter Richt¬ 
ung sich bewegend, in Rotation erhalten. Diese 
erteilen dem Apparat die Vorwärtsbewegung, wäh¬ 
rend er durch die Reaktion der darunter befind¬ 
lichen Luft mit Hilfe seiner Flügel schwebend ge¬ 
tragen wird. Die zweipferdige Maschine ist ganz 
aus Stahl hergestellt, wiegt nur 3}^ Kgr. und ist 
zwischen den beiderseits raubvogelflOgelartigenAero.- 
plonflächen hängend befestigt. Es wurden sowohl 
vorwärtsbewegende, wie schraubenförmig aufstei¬ 
gende Versuche mit günstigen Erfolgen erzielt. Die 
mittlere GeschwindiÄeit bei den Experimenten 
w'urde mit 30 bis 35 Klm. pro Stunde taxiert. Dem¬ 
nächst sollen weitere Versuche mit einem neukon¬ 
struierten Apparat stattfinden, welcher eine grös¬ 
sere Maschine, in Bauart den leichten Torpedo¬ 
maschinen gleich, und einen gewandten Maschinis¬ 
ten, tragen soll. Durch die dabei erzielten Daten 
wird es ermöglicht sein, einen grossen Schritt der 
L«)sung der modernen Luftschifftahrt näher zu kom¬ 
men und ihr neue Bahn zu brechen. Gawey. 


Von den beiden französischen Luftschiffern Go- 
dard und Surcouf w’ird beabsichtigt, im Früh¬ 
jahr 1898 den Nordpol mit dom Luftballon zu er¬ 
reichen; der Ballon, 10000 Kbm. fassend, soll 60 
Tage in der Luft bleiben können. Die Kosten der 
Expedition werden auf 250000 Francs veranschlagt. 

(Verhandl. d. GescTlsch. f. Erdkunde. 1897, Nr. i.) 

M. 

• • 

* 

Neue Dächer. Man schreibt aus Spanien, ‘dass 
die Erfindung der Papierdachzigel durchschlagenden 
Erfolg sich sicherte und viele moderne Häuser da¬ 
mit gedeckt werden. Diese aus Papiennassc ge¬ 


pressten Ziegel und Kacheln haben dieselbe Grösse 
und Form, wie unsere. Häufig sind sie auch mit 
bunten Mustern versehen und zeichnen sich durch 
ihr minimales Gewicht aus. Um die Widerstands¬ 
fähigkeit der Masse gegen Witterungseinflüsse zu 
erhöhen, werden sie mit bitumiösen Stoffen getränkt. 
Zum Schutze gegen Feuergefahr ist die Imprägnir- 
ung mit Wasserglas die beliebteste und sicherste. 
Die Vorteile dieser Dächer sind in der Billigkeit 
der Ziegel an und för sich, sowie in der leichteren 
Dachkonstruktion, der geringen Belastung wegen, 
und in dem Gesamteindruck der bunt gezierten 
Dachflächen zu suchen. Ein neueres weniger be¬ 
kanntes Dachdeckungsmaterial hat eine Firma in 
Warschau hergestellt, welches aus mehreren über¬ 
einanderliegenden Holzfournierblätternbesteht. Diese 
werden der Festigkeit und Elastizität wegen, der¬ 
art übereinander geleimt, dass sich die Holzfasern 
der einzelnen Schichten kreuzen. In Folge der 
Grösse der Platten ist es sehr leicht, diese Holz¬ 
tafeln auf die Dachstuhlgerüstlatten aufzunageln. 
Gleichfalls wird, wie früher erwähnt, dieses Dach¬ 
deckungsmaterial gegen Witterungseinllüsse und 
Feuersgefahr ähnlich präpariert. Besonders grosse 
Fournierblätter w’erden an der Aussenseite noch mit 
einer besandeten Asphaltschichte bedeckt. Die ge¬ 
ringeren Anschaffungskosten, sowie die wen*' “r 
zeitraubende Arbeit beim Eindecken der Dachstüfiie, 
bilden auch hier die Hauptvorteile des neuen Deck¬ 
ungsmaterials. Gawey. 


Der Untergang von Sodom und Gomorrha. *) 

Uber die Natur dieses im 19. Kapitel der Genesis, 
Vers 23 — 29 geschilderten Ereignisses sind die Mei¬ 
nungen von jeher weit auseinandergegangen; erst 
neuere Forschungen und Beobachtungen im Gebiete 
des Toten Meeres gestatten eine Erklärung, die 
ziemlichen Anspruch auf Wahrscheinlichkeit macht 
und nicht ohne allgemeines Interesse ist. Das Tote 
Meer bezeichnet die tiefste Stelle der Jordanspalte, 
einer gewaltigen Furche, im Antlitz unserer Erde; 
seine Oberfläche liegt 394, sein Boden fasst 800 
Meter unter dem Niveau des Mittelländischen Meeres; 
es stellt eine ausdehnte Grabenversenkung dar, die 
sich an einem System meridional streichender Ver¬ 
werfungen zwischen den Plateaux von Judäa und 
Moab bildete, während diese gleichsam als Pfeiler 
stehen blieben. 

Diese Einsenkung der Erdrinde vollzog sich be¬ 
reits in der jüngeren Tertiärzcit, lange also Tfor 
jeder historischen Zeitrechnung. Seither sind als 
einzige Veränderungen zu verzeichnen: die Um¬ 
wandlung des ehemals fruchtbaren Thaies Siddim in 
einen Saizmorast und die Zerstörung der vier Städte 
Sodom, Gomorrha, Adama und Zebojim durch ein 
göttliches Strafgericht. 

Das Thal Siddim, dessen Überflutung durch das 
Salzmeer Gen. 14, 3 berichtet wird, ist in den süd¬ 
lichen Teil des Toten Meeres zu verlegen, der eine 
nur wenige Meter tiefe Lagune bildet und nach 
Süden in einen Salzmorast, die Sabcha, übergeht; 
diese Lagune birgt grosse Massen von Asphalt, die 
zeitweilig durch Erderschütterungen vom Untergründe 
losgelöst, auf der Oberfläche der Lagune sich 
schwimmend umhertreiben. Der Asphaltreichtum 
des Thaies Siddim wird in der Bibel ausdrücklich 

*) Nach einem von Dr. K. Diener am ra. Janu.-ir d. J, in der 
K. K. geographischen Gesellschaft in Wien gehaltenen Vorlragc. 



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Sprechsaal. 


i8i 


erwähnt. (Gen. 14, V. 10.) Unter den 4 Städten 
war Sodom die östlichste, noch ini Thale selbst, 
aber hairt am Rande des moabitischen Felsengebirges 
gelegen. 

. Die eigentliche Zerstörung der Städte wurde 
eingeleitet, dadurch „dass Jahveh über Sodom und 
Gomorrha „Gophnith" regnen Hess; die Bedeutung 
dieses von Luther mit „Schwefel“ übersetzten Wortes 
war bisher unverständlich. Die geologischen Be¬ 
obachtungen an Ort und Stelle gestatten eine ein¬ 
fache Erklärung. Am Ostufer des Toten Meeres 
kommen sehr junge vulkanische Bildungen vor; die¬ 
selben überdecken (z. B. im Dschölän) Flussablage¬ 
rungen mit Resten einer Süsswasserfauna, welche 
mit der heute in Palästina lebenden noch völlig 
identisch ist, sind also jünger als diese Absätze und 
es liegen gar keine Bedenken vor, das vulkanische 
Eruptionen hier möglicherweise noch bis in die 
historische Zeit angedauert haben. 

Die Schilderung von der Zerstörung selbst (Vers 
25) besagt, dass Jahveh die Städte „umwendete“, 
durch „Umkehrung“ vernichtete. Das deutet mit 
Sicherheit auf ein Erdbeben hin, welches das Thal 
Sfddim betraf, und welches um so zerstörender 
Wii’ken musste, da dieses fruchtbare Thal mit 
lockeren, von Grundwasser durchtränkten AUuvionen 
erfüllt war; die Begleiterscheinungen stärkerer Erd¬ 
beben in Grundwasser-Niederungen sind stets ein 
Aufpressen des Grundwassers und eine darauf hin 
erfolgte Senkung des durchtränkten Bodens, den hier 
das Tote Meer überflutete. Vielleicht lassen sich 
auch die Warnungen, die Lot auf die Gefahr auf¬ 
merksam machten, als seismische Zuckungen deuten, 
welche oft grösseren Erdbeben vorangehen. 

Beide Ereignisse, vulkanische Eruption und Erd¬ 
beben, stehen derartig im Zusammenhänge, d ass 
zunächst das Erdbeben die Städte zum Einsturz 
brachte, und alsdann durdi’den Erdstoss eine vor¬ 
übergehende Eruption in dem Krater eines der 
Vulkane von Moab am Ostrande des Sees hervor¬ 
gerufen wurde, deren Aschenregen vom „Himmel 
herab" die Städte über^hüttete. Das Zusammen¬ 
treffen von Erdbeben und vulkanischen Ausbrüchen 
ist eine bekannte Erscheinung. Auch die Geschichte 
von der Umwandlung von Lot’s Frau in eine Salz¬ 
säule findet eine ganz zwanglose Erklärung. Das 
Tote Meer, noch heute eine sehr konzentrierte Kocl)- 
salzlösung, deren Salzgehalt den des Oceans noch 
6 mal übertriflft, wird von Terrassen umgeben, die 
bis zu einer Höhe von 200 m Ober den heutigen 
Spiegel hinaufreichen; diese Ablagerungen, Schichten 
von Lisan genannt, stellen also die Niederschläge 
des Sees aus einer Zeit dar, wo sein Spiegel 200 
Meter höher stand als heute, und enthalten (im 
Dschebel Usura) ein 30—40 m mächtiges Lager von 
reinem Steinsalz. 

Von dieser senkrecht zerklüfteten Salzmasse 
lösen sich gelegentlich prismenförmige Stücke ab, 
die durch Verwitterung manchmal ein mehr oder 
weniger menschenähnliches Ansehen annehmen. 

Diese Thatsache scheint die Erzählung hervor¬ 
gerufen zu haben, die insofern also von den that- 
sächlichen Ereignissen zu trennen ist. r. m. 

• • 

Über einen eigentümlichen Vulkan-ähnlichen 
Ausbruch in Santos (Brasilien) entnehmen wir der 


in S. Paulo erscheinenden Germania vom 29. bezw. 
31. Dezember 1896 Folgendes: „Am 28. Dezember 
Abends 11 Uhr, verspürte man in der Stadt leichtes 
unterirdisches Getöse. Zugleich erfolgte bei einer 
Vorstadt, im Distrikt Outeirinhos, auf einem erst 
vor Kurzem entwaldeten Hügel, 150 m vom Meere 
entfernt, aus einer Erdspalte ein Ausbruch brenn¬ 
ender Gase, die zuerst 25 m hoch emporschlugen, 
dann sich noch vergrösserten, um grossen Massen 
heissen Wassers, Schlamm und Steinen, die bis zu 
150 m Entfernung geschleudert wurden, Platz zu 
machen. In der Näne der etwa 4 m im Umfange 
messenden Krateröffnung erhitzte sich der Boden 
auf 49® C. Dr. Orville Derby, der Landes¬ 
geologe von S. Paulo reiste sofort an die Ausbruch¬ 
stelle. Er kam zu der Ansicht, dass es sich nicht 
um einen Vulkan, wie man natürlich zuerst glaubte, 
sondern um den Ausbruch eines artesischen 
Brunnens handelte. In einer porösen Sandschicht, 
die zwischen zwei thonhaltigen Schichten liegt, war 
das Wasser unter einem ungeheuren Druck ange¬ 
sammelt worden. Durch Erdarbeiten, wobei die 
Arbeiter schon am Nachmittage Dämpfe aufsteigen 
sahen, ohne ihnen indess Wert beizulegen, wurde 
dem Drucke eine Ausbruchsstelle geschaffen. Über 
den Grund der Entzündung der Gase, die sich wahr¬ 
scheinlich durch Zersetzung organischer Bestand¬ 
teile in der Sandschicht gebildet hatten, ist noch 
nichts festzustellen. Dr. O. Derby glaubt, dass 
mit dem Aufhören des Druckes auch die Erschei¬ 
nung ihr Ende erreichen werde. Dr. L. Reh. 


Ein reiches und ausgedehntes Vorkommen von 
Tellurgold*) ist im Great Boulder Main Reef bei 
Kalgoorlie, Hannans Distrikt, Westaustralien durch 
den Bergingenieur Modest Maryanski nachge¬ 
wiesen worden. Die unzweifelhaft sicheren Funde 
sind für die Bergwerksindustrie der australischen 
Kolonie von der grössten Bedeutung. r. m. 


Sprechsaal. 

Sehr geehrter Herr Doktor! InNr.4derUmschau 
las ich mit grossem Interesse den Artikel Ober die 
Gefahren in chemischen Fabriken. Speziell mit dem 
Chlor habe ich nun vor wenigen Jahren eine Er¬ 
fahrung gemacht, die ich Ihnen nicht vorenthalte, 
da mich die Sache damals und immer noch in ganz 
besonderer Weise auf gewisse Wirkungen des 
schätzbaren Desinfektionsmittels, des Chlorgases, 
aufmerksam machte. Von dem banalen Ausdrucke: 
Chlor ist „Gift“ für die Lunge hatte ich bereits von 
jeher nichts gehalten, und bei den vorgenommenen 
chemischen Experimenten, die ich hie und da an¬ 
stellte, nahm ien mich auch durchaus nicht skrupu¬ 
lös in Acht. Vor einigen Jahren litt ich bereits an 
die zwölf Monate an einem stark entwickelten 
chronischen Bronchialkatarrh, den ich mir — ich 
weiss das ganz genau — durch das Einatmen von 
schweflicher Säure an einem Koksofen in kalter, 
regnerischer Nacht zugezogen hatte. Eine dazuge¬ 
tretene Erkältung befestigte das Leiden, und es hielt 
von da an Stand durch vier sich folgende Jahres¬ 
zeiten, nachdem frühere Anfälle sich immer wieder 

f ebessert hatten. So stand mein Fall, als ich eines 
äges in der Absicht, Chlprwasser zu irgendwelchem 
Zwecke anzufertigen, im Sandbade Chlorgas ent¬ 
wickelte. Ein Zufall, der meine Aufmerksamkeit 
gefangen nahm, verursachte es, dass ich die Gas- 


*) Nftheres in der Zeitschrift fflr praktische Geologie, Februar- 
Heft S. 73, 


jd 


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i82 


Sprechsaal. 


entwickelung nicht beobachtete und zu spät be¬ 
merkte, wie sich der ganze Raum, in dem ich mich 
befand, bis zur Höhe von ca. i*/s m mit dichtem 
gelbem Chlorgas angefilllt hatte, während es sich 
schon bis über 2 m hoch mit der Luft des Raumes 
ebenfalls vermischt hatte. Die Zeit, durch welche 
ich dibses Gemisch eingeatmet, mag immerhin meh¬ 
rere Minuten betragen haben; den Raum habe ich 
selbstverständlich hierauf sofort verlassen. Nun 
trat die Erscheinung ein, die mir anfänglich nicht 
ganz unbedenklich war, dass ich drei bis vier Tage 
lang eineji intensiven Chlorgeschmack im Munde 
hatte, der sich wesentlich bei den mir gewohnten 
Aushustungen des Bronchialschleimes verstärkte. 
Diese letzteren selbst traten in vermehrter Fülle 
auf, jedoch ohne Belästi^ng hervorzurufen; sie 
wurden schliesslich spärlicher, und das Endresultat 
War nach vielleicht zwei Wochen, dass ich den 
schweren, bleibenden, durch glasigen, schwärzlichen 
Auswurf mit reissenden Stichen in der Lunge ge¬ 
nau charakterisierten Bronchiaikatarrh gänzli<m ver¬ 
loren hatte. Ich muss gestehen, dass meine Lunge 
freilich wohl eine ganz vorzügliche Verfassung von 

i 'eher in jeder anderen Beziehung besass. Aber mit 
iezug auf die Hinweisung in Ihrem Artikel auf die 
^nsuge Statistik der Chlorarbeiter ist mir der von 
Ihnen erwähnte englische Fabrikant doch persönlich 
viel unverdächtiger, wenn ich meine eigene Erfahr¬ 
ung dazu halte. Auch weiter unten wird im ge¬ 
nannten Artikel gesagt, ein Chlorarbeiter, dessen 
Lunge geheilt sein kann, trete „mit einem Makel 
behaftet“ etw’a iri einen neuen Erwerbszweig. Nun 
wohl, welcher Art mag aber ein solcher Makel sein ? 
Ists eine grössere Empfindlichkeit der bekleidenden 
Häute? — Das bestreite ich. — Ist ein Gewebs- 
Verlust darunter verstanden? — Das ist wohl direkt 
unmöglich. Im Gegenteile wird die sogenannte 
„Giftigkeit“ des Chlorgases richtiger nur in ganz 
bedingtem Sirme zu behaupten sein. Von dem 
eminenten Nutzen, den diese scharfe Waffe im 
Kampfe gegen die mikroskopischen Zerstörer des 
Lebens aber noch bringen dürfte, fofeni sie sich in 
kundiger Hand befindet, bin ich fest überzeugt, wie 
ich auch hoffe, dass die Hygiene der nächsten Zeit 
sich dieses luftförmigen Feindes aller Bakterien - 
wie auch der schwefligen Säure -- mehr als bis¬ 
lang bedienen wird. 

Hochachtungsvoll 
H. W. 

An diesen interessanten Brief möchten w’ir fol¬ 
gende Bemerkungen knüpfen: Vor allem ist es jetzt 
schwer zu ents(meiden, ob der sogen. „Bronchial¬ 
katarrh“ des geehrten Herrn Einsenders wirklich 
durch Chlor heilte, oder vielmehr trotz Chlor. Das 
„post hoc, ergo propter hoc“ dürfte in diesem Falle 
sehr anzuzweifeln sein. — Davon abgesehen, ist die 
Bemerkung, dass Chlor eine scharfe Wafte gegen 
Mikroben sei, durchaus richtig. Ein Luftgemenge, 
in w’elchem Chlor im Verhältnis von i: 1500 ent¬ 
halten ist, tötet Milzbrandbazillen; dessen Sporen 
werden vom Chlorwasser nach 24stündiger Einwirk¬ 
ung vernichtet. (Als Vergleich diene folgendes; 
Sublimat (Quecksilberchlorid) tötet in der Lösung 
1:2000 Milzbrandsporen in 5 Minuten!) Ein Raum 
also, in dem Chlor entw’ickelt wird, ist sicher ziem¬ 
lich bakterienfrei und insbesondere Tuberkelbazillen 
werden sich kaum darin finden. Aber Versuche 
an Kaninchen und zufällige Chlorvergiftungen beim 
Menschen haben ergeben, dass infolge Einatmung 
von Chlor der Epithclbelag der Respirationsschleim- 
häute zerstört (verätzt) wird und fettig degeneriert. 
Das unverletzte Epithel aber ist der beste Schutz 
gegen das Eindringen von Mikroorganismen und 
infolge dessen wird ein Arbeiter, der in der Chlor¬ 


luft zwar gesund geblieben ist, seine Respirations¬ 
epithel aber zerstört hat, die denkbar beste Dispo¬ 
sition zur Acquirierung von Tuberkulose in einen 
anderen Beruf mitnehmen. Nach Flügge muss ein 
Chlorgehalt von 0,001—0,002 pro MUle in der Luft 
als unschädlich, 0,005 per Mille aber als durchaus' 
gesundheitswidrig, eine dauernde Einw'irkung als 
unzuläsag angesehen worden. — Anschliessend an 
die letzte Bemerkung des Herren Einsenders muss 
auf die Versuche Mehlhausens hingewiesen 
werden, nach welchen die schweflige Säure als 
Desinficiens vor dem Chlor den Vorzug verdient, 
sowohl ihrer energischeren Wirkung, als auch ihrer 
grösseren Billigkeit wegen. — 

S. Th. in Br. Wir rathen Ihnen, sich an die 
Karten-Handlung von Simon Schropp, Berlin, 
Jägerstrasse 61 zu w'enden, welche Ihnen Ober die 
in Europa aufzutreibenden guten Karten Auskunft 
geben kann Ausserdem verweisen w'ir Sie auf 
„Peter mann’s geogr. Mitteilungen“, in denen die 
neuen Bücher und Karten besprochen werden, und 
auf das Verzeichnis von „Dr. Baschin, Bibliot. 
geographica“. 

A. G. in Homburg v. d. H. S t ö c k h a r d t ’s 
Schule der Chemie (Verlag v. Fr. Vieweg, Braun¬ 
schweig) ist immer noch das beste Buch ftlr Ihre 
Zwecke; auch Arendt, Experimentalchemie (Ver¬ 
lag V. L. Voss, Hamburg) ist recht gut, wenn auch 
etwas zu breit angelegt. 

Herrn G. M. in Nürnberg. Auch wir haben von 
der neuen Umdrehungsdamp/maschine gehört, die 
angeblich von einer amerikanischen Schiffsbauge- 
selTschaft zu 28,000,000 Mark erworben worden sei. 
Wir haben sofort die nötigen Schritte gethan, um 
näheres zu erfahren und werden s. Z. in der „Um¬ 
schau“ berichten. Zunächst macht uns der etwas 
amerikanische Preis noch skeptisch. Vielleicht will 
der Erfinder erst den Preis dafür haben? 

Ihr Lob über die „Umschau“ erfreut uns 
sehr. Der bisherige ^yosse Erfolg zeigt uns aller¬ 
dings, dass ein Bedün^nach einer solchen Zeit¬ 
schrift bestanden hat.^Rfc ^ 

Herrn R. L. in Ihre Zwecke dürfte in 

Betracht kommen „ZÄschrift für Psychologie und 
Physiologie der Sinnesorgane“ Herausgegeben von 
Prof. Dr. H. Ebbinghaus und Prof. Dr. A. König. 
Verlag von Leopold Voss in Hamburg. Jährlich 
6 Hefte. Preis M. 15. 

Herrn K. F. in S. Sie unterschätzen die Schwie¬ 
rigkeit der Lösung der Frage „Warum bleibt das 
Fahrrad aufrecht?" Uber die Theorie der Zentral- 
bew'egung, des Kreisels imd was damit zusammen¬ 
hängt, enthalten die Lehrbücher der Mechanik tuid 
Phvsik solche Unklarheiten und Unrichtigkeiten, dass 
auf Grund des hier gebotenen Materials das Pro¬ 
blem nicht zu behandeln ist. Dasselbe erfordert 
vielmehr eine ganz selbständige Bearbeitung, zu der 
wir bei dem Interesse der Frage einen unserer 
Herren Mitarbeiter zu gewinnen hoffen. Mit der 
landläufigen Darstellung, die die Schwierigkeiten, 
statt sie zu erklären, nur verhüllt, dürfte Ihnen ge¬ 
wiss nicht gedient sein. 

_ A _. 

No. 11 der Umschau wird eDthBlten.- 
Valcuca, Die Photographie in den natürlichen Farben. — Die 
europäischen Heere der Gegenwart. II. Die Balkanataaten. — 
Ettlinger, Die moderne Komödie. — Reeker, Giftgehalt der para¬ 
sitären Pilze. - Peiser, Die Entstehung des Alphabets. 


G. Horstmann’s Druckerei. Frankfurt a. M. 


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DIE UMSCHAU 

ÜBERSICHT ÜBER DIE FORTSCHRITTE UND BEWEGUNGEN AUF 
DEM GESAMTGEBIET DER WISSENSCHAFT, TECHNIK, 
LITTERATUR UND KUNST 

herau8geg;ebeii von 

DR. J, H. BECHHOLD 


Wöchentlich eine Nummer. 

Zu beziehen durch 
alle Bachhandlun|;en und 
Postanstalten. 

PoatzeitungspreislisC« No. 7391 a. 

Verlag von : 

H. Bechhold Verlag, Frankfurt a. M. 


Neue Krame 19131. 


Preis vierteljährlich 
M. a.50. 

Jahres* Abonnement 
Preis M. 

Im Ausland nach Court. 
VerantwMtlicher Redakteur: 

Otto Adolf Wolters, Frankfurt a. H. 


II. I. Jahrg. 


Nmhdruck aus (Um Inhall cUr Zritschrift ahnt ErlatAnU 
der Rtdahtion vtrboUn. 


1897. 13. Marz. 


Die moderne deutsche Komödie. 

Von Josef Ettlinger. 

Wenn man die Kultur eines Landes nicht 
nur nach seinem Verbrauch an Seife, sondern 
auch nach dem litterarischen Wert seiner Lust¬ 
spiele einschätzen wollte, so hatten wir Deut¬ 
sche bis vor kurzem alle Ursache, einer solchen 
Probe vorsichtig aus dem Wege zu gehen. 
Wir nannten wohl Lustspiele unser, zahllos 
wie die Sterne der Milchstrasse, aber ein Lust¬ 
spiel in dem höheren Sinne einer poetischen 
Kunstform besassen wir nicht. Anno 1763 
war, um die Zeit des Hubertusburger Friedens, 
das Fräulein von Barnhelm zum ersten 
Male seinem widerspenstigen Major Teil¬ 
heim an den Hals geflogen. Fünfundvierzig 
Jahre später stand der spitzbübische Dorf¬ 
richter Adam aus Huisum zum ersten Male 
vor einem Publikum. Nach weiteren fünfund¬ 
vierzig Jahren mächte der Redakteur und 
Schriftsteller Konrad Bolz als Bühnenheld 
sein Glück und das seines Autors. Seither 
sind nun abermals vierzig und etliche Jahre 
ins Land gegangen, und wenn man auch in 
den Sphären der Kunst an eine Art Konstel¬ 
lation der Gestirne glauben will, so müsste 
jetzt für die deutsche Lustspieldichtung wieder¬ 
um ein Kometenjahr herangebrochen sein. 

Ist dem so? — 

Als Lessing sein „Soldatenglück'' in 
Breslau schrieb, war es mit dem Lustspiel in 
Deutschland nicht besser, aber auch nicht 
eben schlechter bestellt, als mit Tragödie, 
Epos und Lyrik. Was damals die Geliert, 
Schlegel, Hippel, Weisse, die Gott¬ 
schedin und Andere inmitten der sonst noch 
üblichen Hanswurstiaden und Schäferspiele 
für die Bühne schrieben, stand kaum unter 
dem Gesamt- und Durchschnitts-Niveau der 
übrigen gleichzeitigen Litteratur, die sich die 
volle Verachtung des grossen Preussenkönigs 
gefallen lassen musste. Schlegel’s „ Triumph 

UmschAu 1897. 


der guten Frauen" nennt Lessing soga 
bescheiden „die beste deutsche Komödie“ 
was freilich zu jener Zeit noch kein aus¬ 
schweifendes Lob bedeutete. Das folgende 
klassische Zeitalter unserer Dichtung blieb 
leider gerade für das Lustspiel unfruchtbar. 
Von den Stürmern und Drängern hätte allein 
der unglückliche Lenz das Zeug zu einem 
scharfen Komödiendichter gehabt, wenn er 
nicht zu früh, ein vom Ehrgeiz verblendeter 
Phaöthon, aus seiner Bahn geschleudert worden 
wäre. Während der Dauer von Weimar’s 
Vorherrschaft war das Lustspiel fast ganz in 
die Hände Ifflands und vor allem Kotze¬ 
bu es gegeben: in Weimar war es auch, wo 
Kleistens „zerbrochener Krug" beim ersten 
Erscheinen „verunglückte“, wie der Dichter 
selbst es bezeichnete. Romantik und Schick¬ 
salsdrama Hessen das befreiende Lachen der 
am Realen haftenden Komödie nicht aufkom- 
men; Grabbe, der vielleicht allein in jener 
Zeit, gleich dem ihm schicksalsverwandten 
Lenz, eine Ader für das satirische Lust¬ 
spiel besass, Hess sie unausgenutzt. Dem 
jungen Deutschland blieb es in gewitter¬ 
schwüler Zeit versagt, seine freiheitlichen 
Ideen auf die Bühne zu tragen; das Sturmjahr 
Achtundvierzig fand keinen Beaumarchais, 
nur einen Holtei vor, dem weiterhin dann 
Bauernfeld sich anschloss. Das politisch 
unverdächtige historische und Litteraturlust- 
spiel allein gelangte zu einer gewissen Blüte. 
Dann datiert, von GustavFreytags „Jour¬ 
nalisten" an, die 1853 erschienen, die Ära des 
neueren deutschen Lustspiels. Als sie kam, 
beherrschte bereits der unheimlich emsige 
Benedix die Bühne, die er mit weit Ober 
hundert seiner Iffländereien überschwemmte. 
In seine Spuren trat mit noch grösserem 
äusserem Erfolge und gleicher Fruchtbarkeit 
Gustav von Moser, der Olympier von 
Görlitz, der namentlich mit klugem Zeit¬ 
verstand dem seit dem Kriege erwachten 

II 


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184 


Ettlinger, Die moderne deutsche Komödie. 


Bedürfnis nach sporenklirrenden Uniform- 
Stücken ausgiebig Rechnung trug. Sein erster 
Collaborator, Adolf L’Arronge, wandte 
sich bald selbständig dem Volkstück und 
Familienlustspiel zu und gewann hier durch 
eine gut bereitete Mischung von nüchternem 
Humor und sanft gezähmter Hausmoral mit 
gefühlvoller Rührsamkeit die allgemeine Gunst, 
aus der ihn auch Paul Lindaus aufgehen¬ 
der Stern nicht zu verdrängen vermochte. 

Was Lindaus Erfolge und nachher die 
seiner Nachahmer und Satelliten, wie Blumen¬ 
thal, Lubliner, Schönthan etc. zeitigen 
und emportragen half, war nicht allein die 
Reaktion gegen die philiströse Altbackenheit 
der herrschenden Lustspielproduktion; es 
waren noch mancherlei andere Umstände und 
Voraussetzungen im Spiele. Berlin war die 
Reichshauptstadt geworden und wuchs mit 
Windesschnelle zur millionenbergenden Welt¬ 
stadt heran. Das öffentliche und gesellschaft¬ 
liche Leben schlüg höhere und stärkere Wellen, 
als je zuvor irgendwo in Deutschland. Der 
politische Mittelpunkt des Reiches zog, wie 
das Licht die Motten, massenhaft Kolonisten 
aus allen Provinzen, auch aus dem Auslande 
an, und es bildete sich etwas heran, was zwar 
noch lange keine Gesellschaft im Sinne des 
französischen „monde*' war, aber doch ein 
bunter Knäuel grossstädtischer Existenzen, 
interessant genug, dass ein findiger Kopf sich 
daraus die farbigen Fäden zu seinen drama¬ 
tischen Geweben herausziehen konnte. Das 
that Paul Lindau zuerst, der nicht umsonst 
ein halbes Jahrzehnt vorher in Paris verlebt 
hatte und jetzt nach französischem Vorbild 
das deutsche Salon- und Konversationsstück 
schuf. „Die Franzosen verstehen sich," hatte 
zwanzig Jahre früher Julian Schmidt ge¬ 
schrieben, „auf eine lebhafte, anziehende, zum 
Teil geistreiche Konversation; der Mangel 
derselben in Deutschland ist der Hauptgrund, 
dass kein gutes Lustspiel aufkommt.“ Eine 
Konversation allerdings oder besser gesagt: 
eine Kunst der Konversation gab es in Deutsch¬ 
land und seiner Hauptstadt auch jetzt noch 
nicht, so wenig wie es sie heute giebt: aber 
eine Art Surrogat dafür hatte sich entwickelt, 
dessen Ingredienzen teils das moderne Feuille¬ 
ton — eine Frucht des jungen Deutsch¬ 
lands — teils der Witz als solcher war, wie 
er speziell seit der Mitte des Jahrhunderts in 
den „Fliegenden Blättern“, dem „Kladdera¬ 
datsch“ und ähnlichen, heute schon nicht mehr 
zählbaren Journalen zugleich seine Organe 
und seine Vorratskammern gefunden hatte. 
Witze und epigrammatische Feuilletonfloskeln 
wurden das schillernde Gewand, in das sich 
das moderne Konversationslustspiel kleidete. 
Dazu bedurfte es nur einer kleinen, gut ein¬ 


gefädelten Liebesintrigue und einiger komischer 
Nebenfiguren, so war alles erforderliche bei¬ 
sammen, und der Erfolg blieb nicht aus. 

In diesem Zeichen hat die deutsche Lust¬ 
spielproduktion, so weit sie nicht schon in die 
&:hwank- und Possenkategorie hinuntergerückt 
werden muss, bis vor fünf Jahren ausschliesslich 
gestanden. Ihr idealer Lebenszweck war das 
eminent ethische Problem, eines oder mehrere 
liebende Paare über allerhand scherzhafte Hin¬ 
dernisse und Umwege bis zu dem beseeligenden 
Momente zu geleiten, wo sie sich als Verlobte 
empfehlen durften. Hartherzige Väter, spinöse 
Schwiegermütter, adelstolze Hohlköpfe, schnei¬ 
dige Veilchenfresser, zerstreute Professoren, 
schüchterne Kandidaten, emancipierte Ama¬ 
zonen, heiratswütige alte Jungfern, schrullige 
Erbtanten und ähnliche Typen zweibeiniger 
Verschrobenheit wandelten in schöner Mannig¬ 
faltigkeit jahraus jahrein über die Bretter. 
Aber das Juwel des deutschen Lustspiels 
und zugleich seine stolzeste nationale Eigen¬ 
tümlichkeit war und blieb doch die „Naive“, 
das zarte, süsse Geschöpf, das so entzückend 
kindlich zu plappern, so unverfälscht zu er¬ 
röten, so silbern zu lachen, so fröhlich in die 
kleinen Hände zu klatschen wusste und, dem 
noch deutlich sichtbar die Eierschalen des 
schweizer Pensionats in dem meistens blonden 
Mozartzopfe und den Ponylöckchen hingen. 
Ja, diese Naivei Sie trug nicht mehr die¬ 
selben Kleider, wie vor hundert Jahren ihre 
Ahnfrau Gurli, aber noch ganz ihre Züge, 
Stumpfnäschen und Grübchen in den Wangen. 
Sie schwärmte für Lieutenants, Pralinös, Heines 
Buch der Lieder und Walzertanzen. Sie war 
das tonangebende Element auf der Lustspiel¬ 
bühne, und nichts wurde gesprochen, was ihre 
unverdorbenen kleinen Ohren, Gott behüte! 
nicht hätten hören dürfen, ohne sich höher 
zu färben. Sie hatte das natürliche Privi¬ 
legium, ab und zu eine Albernheit zu sagen, 
und sie machte von diesem Recht oft einen 
verschwenderischen Gebrauch. Sie war mit 
einem Worte die porträtähnliche Verkörperung 
der Lustspielmuse unseres Zeitalters, dieses 
Lustspiels, das menschenähnliche Marionetten 
nach einer ausgesonnenen Schablone vorge¬ 
schriebene Figuren tanzen Hess und keinen 
höheren Zweck kannte, als einem mehr oder 
minder gedankenlosen Publikum den Abend 
auf amüsante Weise totschlagen zu helfen. 

Bei solchem flüchtigem Rückblick auf die 
Geschichte des neueren deutschen Lustspiels 
ergiebt sich die betrübliche, aber durch gar 
nichts wegzustreitende Thatsache, dass seit 
dem Erscheinen der „Journalisten“ auch nicht 
ein einziger Dichter von Geblüt ihm je seine 
Gestaltungskraft geliehen hat, — den jungen 
W i 1 b r a n d t vielleicht ausgenommen, dessen 


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Ettlinger, Die moderne deutsche Komödie. 


185 


„Maler*^ (1872) sich immerhin auf der Grenze 
zwischen Lust- und Schauspiel halten. Auf 
der Bank der Lustspielfabrikanten, deren Waare 
fort und fort den Markt beherrschte, sassen 
findige Rechenköpfe und angenehme Spass- 
macher. Mit der Kunst der höheren drama¬ 
tischen Dichtung verband sie nur die äussere 
Form und das gemeinsame Terrain. Nicht 
eine Gestalt von echterrt und dauernden Humor 
haben sie der deutschen Litteratur geschenkt, 
keinen Wachtmeister Werner, keinen Richter 
Adam, keinen Bolz — man müsste denn 
etwa den Lieutenant Reiff-Reifflingen, den 
Musikpolen Krasinsky oder den „soge¬ 
nannten“ Kutscher l.ubowsky diesen klas¬ 
sischen Figuren zur Seite stellen — einfach 
deshalb, weil sie nie von Persönlichkeiten 
und Charakteren, sondern stets nur von einem 
zurechtgedachten Stoffschema ausgingen oder 
auch nur von einer einzigen komischen 
Scene, um die herum sich dann die Handlung 
krystallisieren musste. Auf innere Wahr¬ 
scheinlichkeit und Lebenswahrheit machten 
weder die Autoren, noch das besser nicht 
gewöhnte Publikum irgendwelchen Anspruch. 

Das Streben, die deutsche Lustspiel¬ 
dichtung aus dieser Verflachung zu einem 
nichtigen, flüchtigen Zeitvertreib in die höhere 
Sphäre schöpferischer Kunst zu retten, ist erst 
in den letzten Jahren da und dort durch¬ 
gebrochen. Der vielgeschmähte Realismus, 
der zuerst die Bühne unter Ibsens mächtig 
wirkendem Einfluss eroberte und eine ganz 
neue Technik des Dialogs, derSzenenfllhrung, 
der Charakteristik heraufführen half, hat auch 
die alte, bequeme, vertrottelte Lustspielscha¬ 
blone gründlich in Misskredit gebracht und 
den Blick für Unwahrscheinliches und Un¬ 
mögliches, fllr innere Widersprüche und 
theatralische Verlogenheit ungemein geschärft 
~ weniger bei der grossen Menge, die für 
solche Dinge über einen unverwüstlichen 
Straussenmagen und einen bedeutenden Fonds 
an Urteilslosigkeit verfügt, als bei dem kleineren 
Kreis der künstlerisch Gebildeten- und der 
Autoren selbst. Die Gewohnheit, den ver¬ 
gleichenden Masstab des wirklichen Lebens 
und seiner Natur an die Vorgänge und Per¬ 
sonen auf der Bühne anzulegen, übertrug sich 
naturgemäss auch auf das bis dahin so glimpf¬ 
lich behandelte Lustspiel. Es entstand die 
Anschauung, dass jeder dargestellte Vorgang 
und'jede dargestellte Figur, im Ganzen wie 
im Einzelnen, stets die Goldprobe auf ihre 
innere und äussere Wahrscheinlichkeit ver¬ 
tragen können müsse. Zugleich ward man 
inne, dass das Lustspiel ein unendlich weiteres 
Wirkungsfeld besitze, als nur das humoristische 
Hindernisrennen nach dem Standesamt und 
die Schilderung mehr oder minder karrikirter 


Salon- und Familientypen. Man entsann sich 
der grossen Lustspielgenies der Weltlitteratur, 
des Aristophanes, der alten Spanier, des 
Moli^re, des Holberg, des Goldoni und kam 
so ganz von selbst dazu, mit der alten 
kosmopolitischen Bezeichnung auch die ur- 
eigentliche Gattung der „Komödie'* wieder 
aufleben zu lassen. 

Darum ist es kein Zufall und auch nicht 
Willkür, wenn mit diesem ausser Gebrauch 
geratenen Untertitel im letzten Jahrfünft eine 
ganze Reihe dramatischer Arbeiten und Ver¬ 
suche an die Öffentlichkeit gegeben wurden, 
denen allen das Streben gemeinsam ist, dem 
Humor auf der Bühne eine selbständige 
künstlerische Geltung zu verschaffen. That- 
sächlich bedeutet uns heute das Wort Komödie 
etwas anderes, höheres, als die deutsche Wort¬ 
form Lustspiel, die zu Anfang des vorigen 
Jahrhunderts aufkam. In dem Begriff „Ko¬ 
mödie“ schwingen ironische Obertöne mit, die 
dem naiven Ausdruck „Lustspiel“ abgehen. 
Eine leicht satirische Absichtlichkeit wittert 
uns daraus entgegen, etwas Anzügliches, Be¬ 
deutungvolles, die Tendenz, durch die Ober¬ 
fläche der menschlichen Dinge hindurch an 
ihren Kern zu dringen. In diesem echten 
Sinne ist jede Komödie ein innerlich ernstes 
Schauspiel durch das Prisma des Humors 
gesehen. Sie kann mit Beibehaltung ihrer 
Struktur jederzeit aus dem heiteren Dur in 
das tragische Moll transponiert werden, ohne 
damit ins Unmögliche zu fallen. Sie wirft 
immer einen ethischen Schatten, während das 
sogenannte Lustspiel gleich dem armen Peter 
Schlemihl einen Schatten überhaupt nicht 
besitzt. Sie geht entweder von einem Cha 
rakter aus, der durch Behauptung seiner Eigenart 
mit seiner Umgebung in Konflikt gerät, wie 
Hauptmanns Professor Crampton, wie 
Peter Krön, der Musikus in Ernst Ros- 
mers „Te Deum“ wie Ibsens „Volksfeind'*, 
der unstreitig eine ganz echte Komödie, 
nur leider keine deutsche is:. Oder sie zeigt, 
wie sich nur zu oft die gemeine Wirklichkeit 
zu unseren chimärischen, anerzogenen Vor¬ 
stellungen von Gesetz und Recht, von Sittlich¬ 
keit und Majestät verhält, wie ein gestohlener 
Biberpelz seinem Diebe statt der Strafe eine 
Belobigung durch die Obrigkeit eintragen und 
wie ein absolutistischer König in Unterhosen 
sich vor der arglosen Unschuld eines Kindes 
höchst unköniglich blamieren kann. Sie nimmt 
gesellschaftlicher Heuchelei die Maske ab und 
lässt die heimliche Unmoral einer tugendstolzen 
Bourgeoisie sich gar herrlich offenbaren, sei’s 
in der Art, wie hier die „Erziehung zur Ehe** 
betrieben wird — in Hartlebens danach 
benannter Komödie — sei’s in einem Weichsel¬ 
zopf von Corruption, wie er in Josef Rüderers 

II* 




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i86 


Ettlinger; Die moderne deutsche Komödie. 


„Fahnenweihe** seinesatirische Apotheose findet. 
Auf dem Grenzgebiet zwischen dem Lä¬ 
cherlichen und dem Erhabenen siedelt sie sich 
an; der hohnvolle Gegensatz zwischen Sein 
und Schein ist ihr Element; alles was shoddy 
ist, donquixotisch, verwahrlost und allzu¬ 
menschlich, bietet sich ihr als dankbarer 
Gegenstand dar. Darum ist beispielshalber 
Wolzogens „Lumpengesindel" trotz einer 
dürftigen und wenig originellen Handlung 
eine kostbare Komödie, ungleich wertvoller, 
als Paillerons stoffverwandte „Cabotins“ 
oder gar als der vieraktige Kunstfrevel, den 
Theodor Barriere an Murgers „Seines 
de la vie de Boheme“ verübt und den Lindau 
dann ins Deutsche weitergesündigt hat. 

Doch das ausgiebigste Feld vielleicht fiir 
den unverzagten Komödiendichter ist das der 
sexuellen Fragen und Zerwürfnisse, das Rü¬ 
derer in seinem schon genannten Sittenstück 
aus Oberbayern und Max Halbe in seinem 
derben, ostpreussischen KnüttelversstOck vom 
„Amerikafahrer" versuchsweise, der eine 
zager, der andere kecker betreten haben.*) 
Man kann das sagen, ohne gerade aufs innigste 
zu wünschen, dass die künftige Produktion 
auf diesem Gebiete seiner Ertragsfähigkeit 
entsprechen möge: dank den arg verschränk¬ 
ten Sittlichkeitsbegriffen, die bei uns — dem 
Schutze des Publikums empfohlen — in öffent¬ 
licher Geltung stehen, ist eine solche Befürch¬ 
tung oder Hoffnung ohnedies ausgeschlossen. 
Das widerlegt aber nicht die nackte That- 
sache, dass Prüderie und Begehrlichkeit, Heu¬ 
chelei und Brutalität nirgendwo so dicht bei 
einander nisten und den strafenden Spott des 
Beobachters so unmittelbar herausfordern, als 
eben hier. Und darum kommt auch das mo¬ 
derne Lustspiel der Franzosen, selbst da, wo 
es sich zur Posse lockert, dem Begriff der 
Komödie um so vieles näher, weil es in der 
Wahl und Behandlung seiner Stoffe eine fast 
souveräne Ungebundenheit entfalten darf. Des 
jüngeren Dumas „Francilion", „Monsieur Al- 
phonse", Sesdows „Cyprienne"", Henri Becques 
„Pariserin", „Tante Leontine" von Boniface 
u. a. m. sind Beispiele solcher spezieller 
Sittenkomödien, für derengleichen es uns in 
Deutschland weniger an Stoff, als an einer 
gewissen öffentlichen Ehrlichkeit gebricht und 
auch wohl an der Neigung, solche Fragen 
scherzando zu behandeln. Bei uns ensteht 
in diesen Fällen stets ein im Grundton ern¬ 
stes Drama, und es schliesst entweder mit 
einem Stich ins Herz der sündigen Gattin, 

*) Als vereinzelter, wertvoller Vorläufer auf die¬ 
sem Gebiete darf auch Anzengrubers Bauern¬ 
komödie „Doppelselbsimord“ nicht unerwähnt bleiben, 
die allerdings erst in den letzten Jahren auf die 
Bühne und so zur Wirkung gekommen ist. 


wie etwa Philippis „Das alte Lied", oder 
mit einem Stich ins Bürgerlich-Moralische, 
wie Nordaus „Recht zu lieben". Es wäre 
aber Selbsttäuschung, in diesem scheinbaren 
Mangel an Frivolität einen wirklichen Vorzug 
unserer ernsteren und schwerblütigeren Volks¬ 
natur zu sehen. Will man die Schaubühne 
in der That als moralische Anstalt betrachten, 
so ist die Komödie für den moralischen 
Zweck ein ungleich geeigneteres Vehikel, als 
das strenge Drama. „Ihr wahrer, allgemeiner 
Nutzen“, den ihr schon Lessing nachrühmte, 
„liegt in dem Lachen selbst, in der Übung 
unserer Fähigkeit, das Lächerliche zu bemer¬ 
ken ; es unter allen Bemäntelungen der Lei¬ 
denschaften und der Mode, es in allen Ver¬ 
mischungen mit noch schlimmeren oder mit 
gfuten Eigenschaften, sogar in den Runzeln 
des feierlichen Ernstes leicht und geschwind 
zu bemerken.“ Mit etwas anderen Worten: 
ihr Nutzen besteht in einer Art moralischer 
Hygiene, oder wenn man das Bild noch 
spezieller fassen will: in einer Art Schutz¬ 
impfung, die uns vor der Ansteckung durch 
ähnliche Gebrechen, Schwächen und Eitel¬ 
keiten, wie der dargestellten, bewahren soll. 
Nicht vorhandene Schäden und Krankheiten 
zu heilen, liegt in ihrer Macht, aber vorzu¬ 
beugen, abzuhärten, zu kräftigen durch das 
stärkende Elixir des ewiggöttlichen Humors, 
ist ihr Beruf. 

Und wahrhaftig, es gab noch nie eine 
Zeit — selbst die Verfallperiode des römi¬ 
schen Weltreichs nicht ausgenommen — de¬ 
ren ganze Atmosphäre nach dem erquicken¬ 
den Ozon der ächten Komödie so lechzend 
verlangte, wie die heutige, die sich in der 
Gesamtheit ihrer Erscheinungen beinahe selbst 
wie ein ungeheurer Komödienstoff darbietet. 
Nie zuvor hat Ja das Leben der Menschen 
diese wirbelnde Gestaltenfülle, diese betäu¬ 
bende Vielstimmigkeit, diese atemlose Unrast 
gekannt, nie hat sein kreisender Strudel so 
unzählige schillernde Blasen aufgeworfen und 
zerplatzen lassen. Der einfache Webstuhl, 
an dem früher die Zeit gesessen hat, ist längst 
durch eine sausende, stampfende Riesenfabrik 
mit Motorbetrieb verdrängt. Alle die tausend¬ 
fach gesteigerten Mittel des Verkehrs schüt¬ 
teln täglich die Menschen durcheinander, wie 
die Steinchen des Kaleidoskops, und spannen 
ein dichtes Netzwerk feiner Leitungsdrähte 
aus, in denen Hass, Liebe, Neid und Ehrgeiz 
ihr unsichtbares Wesen treiben. Grössen¬ 
wahn und Strebertum, Gründungswut und 
Sektiererei stehen in schönster Blüte, die 
Weltverbesserei ist ein Sport geworden, lär¬ 
mende Schlag^wörter müssen den Mangel an 
Ideen verdecken, selbst die Überzeugungen 
sind der schnellwechselnden Mode unterwor- 


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Valenta, Der heutige Stand der Photographie in natOrl. Farben. 


187 


fen, und Ober allem waltet, zugleich geschäf¬ 
tig und majestätisch, die öffentliche Meinung, 
die mit Hilfe von Johann Gutenbergs 
Erfindung und einer Anzahl Rotationsmaschi¬ 
nen hergestellt und auch dem Ärmsten heute 
schon täglich mindestens einmal fertig zum 
Gebrauche zugetragen wird. 

So sind die Vorbedingungen zu einer Neu¬ 
geburt der Komödie schier in Überzahl vor¬ 
handen, und es fehlt nicht an Anzeichen, dass 
ihre neue Ära bereits seit einigen Jahren be¬ 
gonnen hat. Noch können wir uns freilich 
nicht rühmen, eine Meisterkomödie modernen 
Stils zu besitzen, in deren Kielwasser die Pro¬ 
duktion auf diesem Gebiete sich künftig zu 
halten hätte; aber auch schon in dem, was 
an Komödien und Auchkomödien das letzte 
halbe Jahrzehnt gebracht hat, stecken die 
wertvollen Ansätze zu einer neuen Kultur 
des Humors, hier mehr, dort weniger. Die 
Stücke alle, die hierher zu rechnen sind, ein¬ 
zeln aufzuzähten und auf ihren Gehalt zu 
untersuchen — zum Teil geschah ihrer vor¬ 
hin schon Erwähnung — ist hier nicht der 
Ort und auch nicht der Zweck dieser kurzen 
Betrachtung. Was sie erweisen sollte, war 
nichts als die von jedem ästhetischen Stand¬ 
punkte aus erfreuliche Thatsache, dass der 
Sinn für das Komödische, der uns unter der 
jahrzehntelangen Alleinherrschaft des tom- 
backenen Familiert- und Verlobunglustspiels 
abhanden gekommen war, sich wieder einzu¬ 
stellen und eine eigene litterarische Provinz 
zu erobern beginnt. Hier wartet noch manche 
befreiende, starke That ihres Vollbringers. 
Hier ist das Rhodus, auf dem die junge lit¬ 
terarische Gesellschaft noch weiterhin zeigen 
muss, dass sie springen kann. 


Der heutige Stand der Photographie in 
natürlichen Farben. 

• VOQ E. VA1.BKTA. 

Wer sich mit Photographie beschäftigt, 
wird, wenn er das auf der Mattscheibe des 
Apparates erscheinende farbige Bild des zu 
photographierenden Gegenstandes betrachtet, 
gewiss schon bedauert haben, dass die 
Photographie statt all der schönen Farben 
nur ein schwarzes Bild des betreffenden Ge¬ 
genstandes liefert. Seit Erfindung der Pho¬ 
tographie war das Bestreben der Erfinder 
auf Lesern Gebiete darauf gerichtet, dieses 
farbig« Bild festzuhalten und es wurden sehr 
verschiedene Mittel und Wege mit mehr oder 
weniger Erfolg etngeschlagen dieses Ziel zu 
erreichoi. 

Ich wfl! im folgenden einen kurzen Über¬ 
blick Ober diese Bestrebungen geben und 


diejenigen, welche uns heute wirklich gestat¬ 
ten solche Bilder herzustellen, soweit es der 
Raum erlaubt, etwas ausführlicher besprechen. 

Die Beobachtung, dass das im weissen 
Lichte geschwärzte (angelaufene) Chlorsilber 
im farbigen Lichte die betreffenden Farben 
wiederzugeben vermag, wurde von Seebeck 
im Jahre 1810*) also weit vor Daguerre’s 
Erfindung der Photographie gemacht und 
gab Becquerel und Niepce zuerst die 
Mittel an die Hand, empfindliche Platten her¬ 
zustellen, welche die Farben, die auf sie ein¬ 
wirken, wiederzugeben vermögen. Sie stellten 
diese Platten in der Weise her, dass sie Sil¬ 
berplatten entweder der Wirkung von Chlor 
in statu nascendi aussetzen oder in Lösungen 
gewisser Chloride (Kupferchlorid, Eisenchlo¬ 
rid) badeten; in beiden Fällen bildet sich 
auf der Oberfläche der Platte eine violett¬ 
schwarze Schicht von Silbersubchlorid. Die¬ 
ser Körper ist jene Substanz, welche unter 
Einwirkung des farbigen Lichtes die Farben 
wiederzugeben vermag, und auf deren Ent¬ 
stehen die alten photochromischen Prozesse 
beruhen; es bildet sich auch, wenn Chlor¬ 
silber am weissen Lichte anlaufen gelassen 
wird, und diese Eigenschaft des Chlorsilbers 
benutzte Poitevin 1865 zur Herstellung 
seiner farbigen Bilder auf Papier. Er badete 
Papier in einer Lösung von Chlornatrium und 
darnach in Silbernitratlösung, wodurch Chlor¬ 
silber auf der Oberfläche des Papieres nie¬ 
dergeschlagen wurde, welches er durch An¬ 
laufenlassen im zerstreuten Tageslichte für 
die Zwecke der Wiedergabe von Farben ge¬ 
eignet machte. 

Die Bilder, welche Poitevin und seine 
Vorgänger erzielten, gaben unter Umständen 
einzelne Farben recht gut wieder, hatten aber 
den Nachteil, dass sie am Lichte nicht bestän¬ 
dig waren, und alle Versuche sie zu fixieren 
misslangen. 

Die Nachfolger Poitevins, welche es 
versuchten, mit Hülfe von Silbersubchlorid 
Photographieen in natürlichen Farben herzu¬ 
stellen, hatten bezüglich der Fixierbarkeit der¬ 
selben keine bedeutenden Erfolge erzielt. 

Erwähnenswert sind die diesbezüglichen Ar¬ 
beiten von Veröss und Kopp. Der letzt¬ 
genannte, ein junger schweizer Gelehrter, 
hatte insofern bessere Erfolge zu verzeichnen, 
als es ihm 1890 gelang, das Papier, welches 
in der gewöhnlichen Weise mit Chlorsilber 
überzogen wird, für alle Farben empfänglich 
zu macTien und die Bilder durch eine Art 
Fixage haltbarer zu gestalten als dies bei 
jenen von Poitevin und Ver^ss der Fall 
war. Er behandelte sein Papier nach dem 

*) Siehe Goethes Farbenlehre in seinen ge¬ 
sammelten Werken. Aug. Hempel, B. 36. S. 431. 


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i88 


Valenta, Der heutige Stand der Photographie in natürl. Farben. 


Anlaufen im diffusen Tageslichte (unter 
einer Zinkchloridlösung) mit einer Chrom¬ 
quecksilber und Chromkupfer enthaltenden Flüs¬ 
sigkeit, wodurch das blaugraue Papier entfärbt 
wird. Hierauf tauchte er es wieder in die 
Chlorzinklösung bis es blau geworden war, 
wusch es dann mit Wasser gut aus und setzte 
es feucht dem Einflüsse der farbigen 
Strahlen aus. Nachdem gewisse Farben er¬ 
schienen waren, wurde das Bild durch ein 
Bad von 2prozentiger Schwefelsäure her¬ 
vorgerufen, in welchem die Farben deutlich 
hervortraten. 

Seine „Fixage“ der Farben bestand in 
einer 5proz. gummihaltigen Schwefelsäure; 
dadurch werden die Bilder allerdings haltbarer 
aber durchaus nicht völlig lichtbeständig. 

Das Problem der direkten Wiedergabe 
der Naturfarben mit Hülfe der Photographie 
wurde kurze Zeit nach dem Tode Kopps 
im Jahre 1891 durch den Franzosen Prof. 
Lippmann in Paris in geistvoller Weise 
gelöst. Lippmann sagte sich: wenn es 
mir gelingt in einer durchsichtigen Schicht 
Lamellen von spiegelnden Silberteilchen her¬ 
vorzubringen, deren Entfernung von einander 
der halben Wellenlänge desjenigen Lichtes 
entspricht, welches sie hervorbrachte, so müs¬ 
sen diese spiegelnden Lamellen beim Betrach¬ 
ten des Bildes im auffallenden Lichte durch 
Interferenz genau die Farben wiedergeben. 

Solche Lamellen zu erzeugen gelang ihm 
in der Weise, dass er eine auf Glas befind¬ 
liche kornlose durchsichtige lichtempfind¬ 
liche Schicht mit einem Quecksilberspiegel 
hinterkleidete und dadurch die durch das 
Glas der Platte und durch die Schicht 
dringenden Lichtstrahlen zur Bildung „stehen¬ 
der Wellen“ veranlasste. 

Da bei solchen „stehenden Wellen“ das 
Maximum der chemischen Wirkung genau in 
die Mitte zwischen zwei Knotenpunkten liegt, 
so entstehen an dieser Stelle bei der Ent¬ 
wicklung der Platte mit einem geeigneten 
Entwickler zuerst Abscheidungen von Silber, 
welche nach dem Fixieren spiegelnde Schich¬ 
ten darstellen, deren Entfernung von einander, 
jener der einzelnen Knotenpunkte und daher 
einer halben Wellenlänge jenes Lichtstrahles 
entspricht, welcher dieselben hervorge¬ 
bracht hat. 

Bei Durchführung seiner Methode bediente 
sich Lippmann anfangs der Taupeno t’schen 
Methode der Plattenpräparation, bei weichereine 
Eiweissschicht den Träger der lichtempfind¬ 
lichen Substanz bildet. Die Platten waren sehr 
unempfindlich und die Schicht sehr leicht ver¬ 
letzlich. Durch zahlreiche Versuche gelang es 
dem Schreiber dieser Zeilen, sowie den Gebr. 
Lumi^re in Lyon, Bromsilbergelatineplatten 


herzustellen, welche den Anforderungen des 
L ippm an n’schen Verfahrens der Photochromie 
(Kornlosigkeit der Schicht) vollkommen ent¬ 
sprachen, und ef hat das Verfahren zur Her¬ 
stellung solcher Platten im Jahre 1892 ver¬ 
öffentlicht, während die Gebrüder L u m i d r e 
in Lyon, welche allerdings auch seit 1892 
mit solchen Bromsilbergelatinetrockenplatten 
arbeiteten, ihr Verfahren erst im Jahre 
1893 ausführlichst publizierten. M Mit 
solchen Bromsilbertrockenplatten wurden nach 
der Lippmann’schen Methode vom Schreiber 
dieser Zeilen, von den Gebrüdern Lumiöre 
in Lyon, von Dr. Neuhauss in Berlin u. A. 
recht schöne Resultate erhalten. Es gelang 
nicht nur die Farben des Sonnenspectrums 
naturgetreu wiederzugeben, sondern es wurden 
auch zahlreiche Aufnahmen mit der Camera 
gemacht, welche überraschend schöne Resul¬ 
tate lieferten. 

Die Nachteile des Lippmann’schen Ver¬ 
fahrens sind aber bei alledem heute noch 
solche, dass man kaum hoffen darf, dass die¬ 
ses Verfahren, trotz aller Verbesserungen, 
welche es bis • heute erlebt hat, für die 
Zwecke der Praxis in absehbarer Zeit Ver¬ 
wendung finden dürfte. Die Bromsilberplat¬ 
ten, selbst die empfindlichsten, welche heute 
für diesen Prozess hergestellt werden 
können, sind nur ^jsnooo so empfindlich als 
eine gute Trockenplatte des Handels, mit wel¬ 
cher die Photographen von heute zu arbeiten 
pflegen. Die Aufnahme nimmt infolgedessen 
sehr lange Zeit in Anspruch und das Resul¬ 
tat hängt ausserdem noch von vielen Factoren 
ab, deren nähere Besprechung uns hier zu 
weit führen würde. Die Bilder, welche die 
Farben allerdings sehr brillant wiedergeben, 
sind Spiegelbilder, welche_^ die Einhaltung ge¬ 
wisser Bedingungen beim Betrachten derselben 
erfordern, wenn man sie vollkommen er¬ 
blicken will, und können nicht wie die ge¬ 
wöhnlichen Photographieen von der Matrize 
beliebig oft kopiert werden. 

Dr. Zenker*) erklärte das Zustandekom¬ 
men der Bilder bei den Eingangs geschilder¬ 
ten alten Verfahren von Becquerel, 
Poitevin etc. durch das Auftreten von Inter¬ 
ferenzfarben, wie dies beim Lippmann’schen 
Prozesse in der That der Fall ist; diese 
Erklärung wurde zum Teil durch die geist¬ 
vollen Untersuchungen Dr. O. Wieners*) 
widerlegt, welcher nachwies, dass die Papier¬ 
bilder Poitevins keinesfalls Interferenz- 


') Nälieres hierüber siehe: E. Valenta, „Die 
Photographie in natürlichen Farben 1894. Verlag 
von W. knapp, Halle a. d. S. 

*) Lehrbuch der Photochromie 1868. 

®) Siehe EdePs Jahrbuch für Photogr. und Re- 
produktionsverfahren f. 1896. 


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POLAKOWSKY, DeR NiCARAGUA > KaNAL. 


189 


färben sondern wirklichen Körperfarben 
ihre Entstehung verdankten. Wiener er¬ 
klärt dies in der Weise, dass er auf die 
Thatsache verweist, dass beim Entstehen 
des Bildes von allen sich bildenden Farb¬ 
stoffen nur derjenige, welcher mit der Be¬ 
leuchtungsfarbe gleich ist, am längsten be¬ 
stehen könne, da er diese am besten reflek¬ 
tiert, also von derselben am wenigsten ver¬ 
ändert wird; die andersfarbigen dagegen 
können jene Beleuchtungsfarbe absorbieren 
und deshalb auch wieder zersetzt werden. 
O. Wiener konstatierte die Möglichkeit, 
dass farbige Beleuchtung gleichfarbige Kör¬ 
perfarben hervorbringt und damit auch die 
Möglichkeit, auf diesem Wege zu guten Er¬ 
folgen zu kommen. Angeregt durch diese 
Untersuchungen stellte V a 11 o t *) Photogra¬ 
phien in natürlichen Farben mit Hülfe eines 
Gemisches von drei sehr lichtunechten Farb¬ 
stoffen (Anilinpurpur, Victoriablau und Cur¬ 
cuma) her, welches Gemisch er in Lösung 
auf Papier aufb^g und dasselbe dann unter 
einem farbigen Diapositive 3 — 4 Tage dem 
Sonnenlichte aussetzte, wobei ein farbiges 
Bild erhalten wurde, welches das Aussehen 
der obig genannten alten Photochromie zeigte. 

Dieses Verfahren hat natürlich für die 
Praxis keinen Wert, ist jedoch ein Zeichen 
dafür, dass die von O. Wiener angedeutete 
Richtung möglicherweise bald zu wirklichen 
Erfolgen ftlhren wird. 

(Schluss folgt.) 


Der Nicaragua • Kanal. 

Von Dr. H. PoLAKOWsicy. 

Ein Blick auf die Karte von Mittel-Amerika 
zeigt, dass der Isthmus vom Nicaragua sehr 
geeignet zur Erbauung einer Verbindung 
zwischen beiden Ozeanen ist, ja die Natur 
scheint hier einen Kanal vorgezeichnet zu 
haben. Da der Kanal den See von Nicaragua 
mit benutzen muss und dieser 33,4 m über 
dem mittleren Niveau beider Meere liegt, 
muss der zu erbauende Kanal natürlich ein 
Schleusen-Kanal sein. — Die Regierung von 
Nord-Amerika hat sich seit 25 Jahren ganz 
speziell für die Erbauung des interozeanischen 
Kanales auf dem amerikanischen Isthmus in¬ 
teressiert. Es ist dies erklärlich, da keine 

‘) Körperfarben nennt man solche Farben, die 
der betreffenden Substanz eigentümlich sind, z. B. 
Indigo ist stets blau, Krapp stets rot, während die 
verschiedenen Farben alle auch von einer einzigen 
Substanz unter Umständen erzeugt werden können, 
z. B. ein ultropfen auf Wasser zeigt die verschie¬ 
densten Farben: man nennt diese Interferenzfarben. 

*) Photogr. Wochenblatt 1895, S. 417. 



andere Grossmacht solche Vorteile aus diesem 
Kanäle ziehen wird, wie die Vereinigten 
Staaten. Ja der Kanal wird in gewissem 
Grade nur einen Teil der Kü^enlinie der 
Union bilden. Nach zahlreichen Expeditionen 
und einer genauen Untersuchung des ganzen 
Isthmus vonTehuantepec bisDarien undbiszum 
Atrato und seinen westlichen Zuflüssen, hat 
man sich nun in Nord-Amerika seit etwa 
IO Jahren definitiv fUr den Nicaragua - Kanal 
entschieden. ^) In Frankreich ist das Interesse 
für den Interozeanischen Kanal in Folge der 
mit Panama gemachten Erfahrungen völlig 
geschwunden, in Deutschland hat ein solches 
bisher leider noch nicht bestanden und Eng¬ 
land überlässt den Vereinigten Staaten den 
Vortritt. 

Mit Übergehung der Projekte von Childs 
(1852), Lull {1873) und Menocal {1885), 
will ich hier nur kurz das 1890 definitiv von 
der Mark. Can. Comp, of Nicaragua ange¬ 
nommene Projekt, dessen Autor auch Herr 
Menocal (geborener Cubaner) ist, be¬ 
schreiben.*) Die gesamte Gesellschaft über¬ 
trug 1890 einer Baugesellschaft (Nie. Can. 
Construct. Comp.) die Ausführung dieses Baues. 
Wegen Geldmangel wurden die Arbeiten be¬ 
reits im Mai 1893 eingestellt. Der Kanal — 
wie er bis heute geplant und bereits in An¬ 
griffgenommen ist — besteht aus dem Scheitel¬ 
becken, der Ost- und West-Sektion. Das 
Scheitelbecken bildet der Nicaragua-See, der 
San Juan-Strom bis zum Damme von Ochoa, 
östlich der Mündung des San Carlos und 
weiter die drei Becken (künstliche Seen), die 
nordöstlich vom Ochoa-Damme gelegen und 
durch Aufstauen der drei Flüsse Machado, 
San Francisco und Deseado gebildet worden 
sind. Auch der San Juan tritt durch das Auf¬ 
stauen an verschiedenen Stellen zwischen den 
Toro-Schnellen und dem Ochoa-Damme über 
seine Ufer, sie überschwemmend. Erst östlich 
vom Deseado - Becken, zwischen km. 252 bis 
258 der ganzen Trace (vom Pacifisch. Ozean an 
gerechnet) liegen kurz hinter einander die 
drei Schleusen von je ii m Gefälle und dann 
führt der Kanal in gerader Linie durch Al¬ 
luvium, Sümpfe und angeschwemmten vulka¬ 
nischen Sand, nach Greytown (San Juan del 
Norte). Über den Nicaragua-See geht die 

*) Man lese bes. die zusammenfassenden Be¬ 
richte: Charles H. Davis, Report on Inter- 
oceanic Canals and Railroads betw. the Atlantic and 
Pacific - Oceans. Washington, 1867 und John T. 
S u 11 i V a n, Problem of Interoc. Communic. by way 
of the Americ. Isthmus. Report Washington, 1883. 

*) Die Originalberichte sind: Report of Explorat. 
and Surveys for the locat. of a Ship-Canal through 
Nicaragua 1872—1873. Under the direct of George 
M. Robeson, Secty. of the Navy. Washington, 
1^4, und A. G. Menocal, Report of the M. S. 
Nicaragua Surveying party, 1885. Washington, 1886. 


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POLAKOWSKY, DeR NiCARAGUA - KaNAL. 


190 


Route im N. der Insel von Solentinam^ und 
Sonate nach La Virgen an der Mündung des 
Rio Lajas. Auch hier an der Westseite wird 
das Scheitelbecken Über den See hinaus fort¬ 
gesetzt und zwar bis zum Damme bei La 
Flor, der den oberen Teil des Rio Grande 
zum Tola-Becken aufstaut. Der Kanal geht 
zwischen Lajas und Rio-Grande durch die 
niedrige Wasserscheide im Thale des Rio 
Grande durch das Tola-Becken. Gleich hinter, 
d. h. westlich vom Damme bei La Flor, liegen 
zwei Schleusen und dann die dritte Schleuse 
in der Nähe des Hafens von Brito. Nähere 
Beschreibung und Karte dieser Route findet 
der Leser in meiner Mitte 1893 im Verlage 
von A. Solbrig, Neustadt-Leipzig erschie¬ 
nenen Broschüre: „Panama- oder Nicaragua- 
Kanal?“ wo auch die bisherigen Leistungen 
der beiden nordamerikanischen Kanal-Gesell¬ 
schaften beschrieben sind.*l 

Dass diese Route nicht als die beste und 
also definitive zu betrachten ist, wird Jeder¬ 
mann befürchten und erwägen, der die zahl¬ 


malen Zustand darstellen, gönnt nämlich seiner 
„befreundeten und benachbarten Schwester- 
Nation" Costa-Rica den Mitbesitz am Kanäle 
nicht und gab Herr Menocal und der Mar. 
C. C. of Nie. nur unter der Bedingung eine 
sehr vorteilhafte Konzession, dass der ganze 
Kanal auf dem Gebiete von Nicaragua erbaut 
werde. Costa-Rica sollte vollständig ausge¬ 
schlossen bleiben, nicht gefragt werden. Das 
ging nun aber doch nicht, da Costa-Rica 
erstens das Recht der freien Schifffahrt auf 
dem San Juan zusteht und dieser Strom durch 
die Kanalbauten wesentlich geändert wird, und 
weil zweitens durch das Aufstauen des San 
Juan der untere Teil des San Carlos mit ge¬ 
hoben wird und weite Gebiete an seinen Ufern 
überschwemmt werden. Der Weltverkehr und 
besonders die Interessen der Vereinigten 
Staaten erfordern gebieterisch die baldige Er¬ 
bauung des Nicaragua-Kanales, und da wird 
man sich durch die Wünsche einer „Schlacht¬ 
haus-Republik“, wie es Nicaragua ist, nicht 
abhalten lassen, die beste Trace zu erwählen. 



Übersichtskarte des projektierten Nicaragua-Kanals. 


reichen Berichte über den Nicaragua-Kanal 
aufmerksam gelesen und die zahlreichen Karten, 
Pläne und Profile genau geprüft hat. Die 
Wasserscheide an der Ostseite ist ziemlich 
hoch und breit und die künstlichen Becken 
von San Francisco etc. existieren zum grossen 
Teil wohl nur auf dem Papiere oder in der 
Phantasie, d. h. ihre wirMiche Ausführung 
wird eine sehr grosse Anzahl von Dämmen 
erfordern, welche die Lücken in den umge¬ 
benden Höhenzügen ausfüllen sollen. Unver¬ 
ständlich erscheint, weshalb der Kanal vom 
Ochoa-Damme nicht weiter in der Tiefebene, 
im Thale des Hauptarmes des San Juan, fort¬ 
gesetzt wird und bei der Mündung des tiefen 
Colorado-Armes endet. Ich neige der Ansicht 
zu, dass man bei einer neuen, genauen Prüfung 
der Route diese zuletztgenannte Trace erwählen 
wird, ohne sich um die alberne Eifersucht 
und die Proteste des halbbarbarischen Nica¬ 
ragua zu kümmern. Dieses Land, in dem 
die Revolutionen und Bürgerkriege den nor- 

*) S. auch m. Aufsätze in Petermann’s Geo¬ 
graphischen Mitteilungen. Jahrg. 1887 und 1890. 


Sind die Nicaraguaner nur ein klein wenig 
klug, und besitzen ihre leitenden Klassen eine 
Spur von wahrem Patriotismus, so betragen 
sie sich endlich anständig, stellen die ewigen 
Revolutionen, die das reiche Land ruinieren, 
es zur Hölle machen, ein und retten so ihre 
Unabhängigkeit und ihre Herrschaft über den 
Kanal. Es ist nämlich sicher, dass die ge¬ 
bildete Welt die den Kanal baut, nicht dulden 
kann, dass dieses Riesenwerk, welches etwa 
150 Millionen Dollar kosten wird, dem Mut¬ 
willen und der Zerstörung durch revolutio¬ 
nierende Patrioten, d. h. herrschsüchtige und 
geldgierige Halbindianer preisgegeben wird. 

Nachdem alle Versuche, das Geld zur Er¬ 
bauung des Kanales von Privaten zu erlangen, 
in den Vereinigten Staaten und in England 
gescheitert waren, (in Deutschland hatte man 
keine ernsthaften Versuche angestellt), sahen 
die Interessenten (Kaufleute und Seefahrer) 
und die Politiker und Finanzleute in den 
Vereinigten Staaten, die sich seit Jahren 
eifrig für den Kanal interessiert und bemüht 
hatten, endgiltig ein, dass das Baukapital nur 


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POLAKOWSKY, DeR NiCARAGÜA • KaNAL. 


I 9 I 


dann beschafft werden kann, wenn die Re¬ 
gierung der Vereinigten Staaten oder eine 
Vereinigung aller interessierten seefahrenden 
Nationen (Grossmächte), also in erster Linie 
Nordamerika, England, Deutschland und Frank¬ 
reich, die Sache in die Hand nehmen, die 
Zinsen der Baukosten garantieren. Die ganze 
Angelegenheit, die den Kongress der Ver¬ 
einigten Staaten schon oft beschäftigt hat, kam 
im Senate im Januar 1895 abermals zur Sprache 
und es wurde am 28. Januar beschlossen: Eine 
Kommission von Ingenieuren solle zur „Prü¬ 
fung der Ausführbarkeit, Erhaltung und Kosten 
des Baues und der Vollendung des Kanales“ 
nach dem Isthmus von Nicaragua gesandt 
werden. Die Repräsentantenkammer stimmte 
diesem Beschlüsse am 2. März 1895 zu und 
am 25. April ernannte Präsident Cleveland 
zu Mitgliedern der Kommission die Herren 
Will. Ludlow, Obcrstlieuten. im Ingenieur- 
Korps der Armee, Mondecal, T. Endicott, 
Civil-Ingenieur der Marine, und A 1 fr. N o b 1 e, 
Civil-Ingenieur. In der Instruktion des Staats¬ 
sekretärs W. Q. Gresham wurde den Herren 
aufgetragen: „i. Nach New-York zu kommen 
und dort das Material der Kanal-Gesellschaft 
und ihrer Ingenieure einzusehen. 2. Nach 
Greytown zu reisen und die ganze Route zu 
untersuchen. 3. Auf Grund ihrer Studien in 
den Vereinigten Staaten einen Bericht auszu¬ 
arbeiten“. — Die-^Witglieder konnten alle Ma¬ 
terialien, Instrumente etc. ankaufen, Hilfskräfte 
engagieren. Der Bericht musste bis zum 
I. November 1895 eingeliefert sein. Die 
Kommission reiste am 7. Mai ab, traf am 13. 
in Greytown ein, blieb in Nicaragua bis zum 
24. Juni, machte dann einen Abstecher nach 
der Hauptstadt von Costa-Rica (über Limon) 
und nach dem Isthmus von Panama, wo der 
im Verfalle befindliche Kanal inspiziert wurde. 
Am 21. Juli war die Kommission wieder in 
New-York und ging an die Ausarbeitung des 
Berichtes, der vom 31. Oktober 1895 datiert. 
(Nicaragua-Kanal. House of Representat. 
54= Kongr., 1= Sess. Docum.-Num. 279), 
Die zahlreichen Anlagen und Karten, die dem 
Berichte beigegeben, sind leider nicht gedruckt 
worden. Der gedruckte Bericht selbst kam 
erst Ende September in meine Hände. 

Dieser Bericht verdient die grösste Be¬ 
achtung, da er die Vorarbeiten zum Nicaragua- 
Kanale zum Abschlüsse bringt, die Ausführung 
aber wieder auf eine Reihe von Jahren hin¬ 
ausschiebt. Die Kosten berechnet die Kom¬ 
mission auf 133,472,893 Doll. Der Schlussatz 
des Berichtes lautet; „Zur Erlangung der not¬ 
wendigen Daten zur Bildung eines endgiltigen 
Projektes sind 18 Monate Zeit (zwei trockene 
Jahreszeiten) und eine Ausgabe von 350,000 
Dollar notwendig. — Also erst, wenn der 


General-Bericht dieser neuen, noch zu ernen¬ 
nenden Kommission mit allen Karten und 
Plänen vorliegt, ist daran zu denken, dass die 
Regierung der Vereinigten Staaten dem Pro¬ 
jekte wieder näher tritt, mit dem Kongresse 
prüft, ob und wie der Bau zu übernehmen, 
die Zinsen zu garantieren sind. Noch vor 
5 Jahren war zu hoffen, dass die Regierung 
der heut verkrachten N. C. C. C. mit solcher 
Garantie zu Hilfe kommen werde und der 
Kanal also zu Beginn des zwanzigsten Jahr¬ 
hunderts dem Verkehr übergeben werden 
könne. Diese Hoffnung ist heute vollständig 
geschwunden, vor 1905 kann der Kanal nicht 
fertig sein. Seine Rentabilität ist aber ge¬ 
sichert, auch wenn er 200 Millionen Dollar 
kosten sollte, da er auf einen Verkehr von 
mindestens 7 Mill. tons rechnen kann und 
jede Tonne, resp. Kubik-Meter des Schiffs¬ 
raumes unter der Wasserlinie einen Zoll von 
mindestens 2*/2 Doll, zahlen soll, jeder Pas¬ 
sagier mindestens 10 Doll. — Doch sehen 
wir uns den Bericht der Kommission etwas 
näher an. 

Zuerst einige Worte über die Kosten. Die 
M. C. C. of Nie., resp. Herr Menocal, hatte 
die Kosten auf 66,466,880 Dollar berechnet. 
Die Kommission sagt, dass alle Preise und 
Löhne viel höher als in den Vereinigten 
Staaten angesetzt werden müssen. Hierzu 
trägt besonders das Klima bei. In der Um¬ 
gebung von Greytown regnet es fast alle 
Tage, es fällt 5 bis 6 mal so viel Regen im 
Jahre, als an der atlantischen Küste der Ver¬ 
einigten Staaten. Sehr starke Regengüsse 
sind häufig. So fielen 35 Zoll in 8 Tagen, 
5,8 Zoll in 24 Stunden, 9 Zoll in 9 Stunden. 
Die Temperatur schwankt zwischen 70 und 
90® F. und wirkt durch den sehr hohen 
Feuchtigkeitsgehalt entnervend, schwächend. 
Der viele Regen wird auf der ganzen Ost- 
Sektion sehr erschweren und verteuern: die 
Arbeiten zur Aushebung der Moräste, die 
Durchschneidung von Thonschichten, die Er¬ 
bauung von Dämmen, die Cementarbeiten an 
den Schleusen und Wehren. Man wird solche 
Arbeiten unter Schutzdächern ausftlhren 
müssen. Auf der Westsektion, wo eine Trocken¬ 
zeit von 5 Monaten herrscht, verursacht das 
Klima keine Schwierigkeiten. — Als Arbeiter 
können fast nur Neger aus West-Indien, (be¬ 
sonders Jamaika) gebraucht werden; sie er¬ 
halten den halben 'Lohn wie amerikanische 
Arbeiter, aber ihre Leistungen und Kräfte 
seien auch geringer, was ich mir zu bezweifeln 
erlaube. Die zahlreichen Maschinen, die zur 
Erbauung Verwendung finden werden, müssen 
ganz in Rechnung gestellt werden, da sich 
nur bei sehr wenigen der spätere Rücktrans¬ 
port nach den Vereinigten Staaten lohnen 

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192 


POLAKOWSKY, Der NICARAGUA-KaNAL. 


wird. Reparaturwerkstätten sind einzurichten. 
Erfahrene Arbeiter, Handwerker, Aufseher 
etc. sind im Lande nicht zu haben; sie müssen 
mindestens den doppelten Lohn wie in den 
Vereinigten Staaten erhalten und müssen die 
Reisekosten gezahlt werden. Die Feuerung 
wird mehr als das Doppelte kosten, die Frachten 
werden sehr hoch zu stehen kommen. Die 
sanitären Verhältnisse sind günstig; von den 
Jamaika»Negern, die an der ^ngl. Meilen 
langen Eisenbahn bei Greytown gearbeitet 
haben, sind nur wenige erkrankt, obgleich 
sie fast immer bis zur Brust im Wasser und 
Schlamme stehend, gearbeitet haben. Die 
folgende Kostenberechnung ist sehr speziell 
und vorsichtig ausgeführt. Bei der Berechnung 
der auszuhebenden Erd- und Felsmassen sind 
meist die Profile der M. C. C. of Nie. zu 
Grunde gelegt. 

Die Oberfläche des Sees Hegt je nach der 
Jahreszeit 102—iii F. engl, über dem Meer- 
Niveau ; abnorm niedrige Wasserstände gingen 
bis 98 F. Die Kommission betrachtet die 
Frage der Regulierung der Höhe des Scheitel¬ 
beckens, die von der M. C. C. of Nie. mit 
iio F. angenommen war, noch nicht für ge¬ 
löst. Der Hafen von Greytown ist mehr und 
mehr seit 1832 versandet. Jetzt aber nimmt 
die Masse des vulkanischen Sandes, welche 
der' San Juan, San Carlos und Sarapiqu^ mit¬ 
führen, von Jahr zu Jahr ab. Gegen die 
Sandmassen, welche die Meeresströmung von 
O. und S. dem Hafen zuführt, muss der Kanal- 
Eingang durch zwei Dämme, von denen der 
östliche 3000, der westliche 2000 F. lang sein 
soll, geschützt werden. Der Hafeneingang 
bleibt 600 F. weit. Das Material für diese 
Dämme sollen die Felsbrüche bei der ersten 
Schleuse liefern. 

Besonders interessant sind die Angaben 
über den Stand der Arbeiten, die im Mai 1893 
eingestellt wurden. Der grosse Seedamm, 
973 F. lang, 42 F. breit, ausgefüllt mit Felsen 
und Cementmasse, erfüllt seinen Zweck nicht 
mehr. Das Ufer ist durch Ansammlung von 
Sandmassen an der Ostseite bis zur Damm¬ 
spitze vorgerückt und die Strömung führt neue 
gewaltige Sandmassen mit sich, welche den 
ausgebaggerten Einfahrtskanal wieder ausfüllen. 
Die Pfeiler der Brücke waren beim Besuche 
der Kommission, obgleich das Holz stark mit 
Kreosot imprägniert worden war, bereits zum 
grössten Teile durch den Bohrwurm (Teredo) 
zerstört. Der grosse Seedamm hat 164,507 
Doll, gekostet, nützt aber schon heute sehr 
wenig zum Schutze des Hafeneinganges. Im 
Hafen und Kanaleingange sind 727,861 Kubik- 
Yards (meist vulkanischer Sand) ausgebaggert 
worden, welche Arbeit 80,000 DolU kostete, 
ohne Berücksichtigung der Kosten der ersten 


Einrichtung und der Erhaltung. Die von der 
Can. Comp, errichteten Gebäude sind, soweit 
sie aus Holz bestehen, in schlechtem Zustande; 
gut aber haben sich die aus galvanischem 
Eisenbleche gehalten. Viel wertvolles Material 
liegt ohne Schutz herum. Die iiVi Meilen 
lange Eisenbahn war in leidlich gutem Zu¬ 
stande, die Dämme und der Unterbau hatten 
sich bewährt, aber die Schwellen waren zer¬ 
stört, obgleich verschiedene, besonders harte 
und gut imprägnirte Hölzer benutzt waren. 
Man wigd für die Eisenbahn, die zur Seite 
des Kanales erbaut werden muss, nur guss¬ 
eiserne Schwellen verwenden können. Sehr 
gut haben die Durchstiche durch Thonschichten 
dem Einflüsse der Witterung widerstanden. 

Der Kanal soll durchweg 30 F. tief sein. 
Die Breite ist in der Ost-Sektion auf 100 F. 
festgestellt mit 3 je 600 F. langen und 180 F. 
breiten Ausweichstellen. Die Schleusenkam¬ 
mern sollen 650 F. lang und 80 F. breit sein. 
Die Kommission schlägt vor, statt der ge¬ 
planten 3 Schleusen, deren 4 zu erbauen, von 
denen drei ein Gefälle von 28 und eine von 
20 F. haben sollen. Der Durchschnitt durch 
die östliche Wasserscheide ist 324 F. tief, 
11,70 Millionen Kubik-Yards sind auszuheben, 
davon sind 70^6 Felsen. Diese Masse wird 
sicher noch grösser werden, da die von der 
M. C. C. of Nie. angenommene Steigung der 
Böschungen von i. Basis zu 5. Höhe (in den 
Felsen) zu steil sein dürfte. Die Kommission 
fordert, dass der Kanal auch in den weiter 
nach W. folgenden künstlichen Seen 100 F. 
breit und 30 F. tief sein soll. Das San Fran- 
cisko'Becken erfordert 67 Dämme von zusam¬ 
men 6 englischen Meilen Länge. Einige sind 
über 80 F. hoch. Diese zahlreichen Dämme 
zur Bildung eines von der Natur nicht ge¬ 
schaffenen Beckens, bilden einen der schwäch¬ 
sten Punkte des ganzen Projektes und werden 
es wohl zu Falle bringen. Das Scheitelbecken 
muss nach Ansicht der Kommission in der 
ganzen Länge iio F. hoch liegen, nicht 106 F. 
(nach Osten zu), wie Herr Menocal annahm. 
Deshalb müssen alle Dämme im San Francisco- 
Becken und in den anderen Seen erhöht 
werden. Diese Dämme erfordern 7 Millionen 
Yards Thonerde, die zum Teil aus einiger 
Entfernung herbeigeschafft werden müssen. 
Die Eisenbahn von Greytown bis Ochoa muss 
doppeltes Geleise, haben. 

Der untere San Carlos muss gleichfalls 
durch Dämme zu einem See umgewandelt 
werden. Hier sollen Überfallwehre und 
Schleusen zur Regelung des Wasserstandes 
bei Hochwasser angelegt werden. Der grosse 
Damm von Ochoa, der den San Juan auf¬ 
staut, wird 1,200,000 Kubik-Yards Felsen 
erfordern. Da der Untergrund nicht aus Felsen 


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Änderungen und Fortschritte im Militärwesen. 


193 


besteht, ist es sehr fraglich, ob der Damm 
den furchtbaren Druck des Stromes aushalten 
wird und überhaupt an dieser Stelle’ erbaut 
werden kann. Auch kann der Strom während 
des Dammbaues nicht abgelenkt werden. Auf ' 
die weiteren Details bezüglich der Erbauung i 
des Ochoa-Darames und der Einfassung des | 
unteren San Carlos kann ich hier nicht ein- i 
gehen. Sie würden auch unverständlich bleiben 
ohne Beigabe von Spezialkarten und Profilen. 

Der Kanal folgt von Ochoa dem San Juan 
bis zum See. Der San Juan ist ein mächtiger 
Strom, der an seinem Austritte aus dem See 
beim Fort San Carlos, 800 F. breit ist und 
eine mittlere Tiefe von 10 F. zeigt. Bei 
San Carlos fliessen durchschnittlich in der 
Sekunde 10,000 bis 12,000 Kubik-Fuss vor¬ 
bei. Vier Stromschnellen oder Fälle von 
6—7 Fuss Höhe, erschweren die Benutzung 
des Stromes. Die kleinen Flussdampfer, die 
ihn heut befahren, können diese Schnellen 
bei niedrigem Wasserstande stromaufwärts 
nicht passieren. Durch das Aufstauen des 
Stromes werden zwei dieser Stromschnellen 
unschädlich gemacht und nur in den Castillo 
und besonders in den Toro-Schnellen werden 
Sprengungen von Felsen unter Wasser not¬ 
wendig sein. Sonst erfordert der Strom, der 
69 engl. Meilen weit als Kanal benutzt wer¬ 
den soll, wenig Regulierungarbeiten. Nur die 
letzten 20 Meilen, d. h. die in der Nähe des 
Nicaragua-Sees, müssen durch Bagger und 
zum Teil durch Felssprengungen vertieft 
werden. Der Kanal muss im Strome am Grunde 
mindestens 250 F. breit sein. Zu diesem Zwecke 
müssen im Strombette 3,75 Mill. Kub.-Yards 
Felsen und 8,52 Million Kubik-Yards Sand, 
Schlamm etc. fortgeräumt werden. 

Im See soll der Kanal am Grunde min¬ 
destens 300 F. breit sein. Da die Steigung 
der Wände unter Wasser in dem morastigen 
Sande sehr sanft sein muss, sind im See 
22,87 Kub.-Yards auszubaggern. Der Kanal¬ 
eingang am Westufer des Sees muss durch 
1800 resp. 2400 F. lange Dämme geschützt 
werden. Der untere Lauf des Lajas-Flusses 
muss durch einen besonderen Kanal in den 
See gelenkt werden. Die Wasserscheide liegt 
5 engl. Meilen vom See in einer Höhe von 
44 F. Ober dem Niveau desselben, so dass 
die Durchstiche eine Höhe von 74 F. haben 
werden. Die Entfernung vom See bis zur 
Tiefe von 30 F. im Stillen Ocean beträgt 
17,7 engl. Meilen. Die Schaffung des Tola- 
Beckens und die Erbauung des 90 F. hohen 
Dammes bei La Flor hält die Kommission 
für unopportun, für zu schwierig und kostspielig, 
da eine Fundierung des Dammes fast un¬ 
möglich sein wird. Der Untergrund besteht/ 
100 F. tief aus Sand, Morast, Thon und nur 


an wenigen Stellen aus weichem thonhaltigen 
Felsen. Die Kommission schlägt also vor, 
die vier Schleusen auf der westlichen Sektion 
zu verteilen, so dass sie 9,2, 10,8, 14,4 und 
16,4 Meilen vom See liegen. Der Tola-Fluss 
muss in den Kanal aufgenommen werden, 
dann aber eine kurze Strecke weiter westlich 
durch Wehre in den unteren Rio-Grande ge¬ 
leitet werden, oder — noch besser — der 
Kanal wird südlich von Rio Grande gegraben 
und so dieser und sein Nebenfluss der Tola 
vom Kanäle ganz fern gehalten. 

Grosse Schwierigkeiten bietet auch der 
Hafen von Brito, der eigentlich erst durch 
zwei mächtige Dämme zu schaffen, d. h. gegen 
die See und die Anschwemmungen des in 
seiner Nähe mündenden Rio Grande geschützt 
werden muss. Die ganze West-Sektion ist 
noch sehr unvollständig durchforscht, es müssen 
hier noch viel Bohrungen angestellt werden, 
um die besten Stellen zur Erbauung der 
Schleusen zu finden. — Diese Daten, die ich 
dem Berichte der letzten Untersuchungs-Kom¬ 
mission entnommen habe, werden dem Leser 
genügen, um zu erkennen, welche eingehenden 
Untersuchungen und Beobachtungen auf der 
Nicaragua-Linie noch gemacht werden müssen, 
ehe man sich definitiv für eine bestimmte 
Trace wird entscheiden können und die Ar¬ 
beiten mit begründeter Aussicht auf Erfolg 
in Angriff genommen werden dürften. 


Änderungen u. Fortschritte im Militärwesen. 

II. Die Balkan-Staaten. 

Anfangs war es nicht unsere Absicht, die 
in ihren militärischen Verhältnissen noch in 
einem Anfangs-Stadium der Entwicklung oder 
aus finanziellen oder sonstigen Gründen recht 
minderwertigem Zustand sich befindenden 
Staaten der Balkan-Halbinsel mit in den Kreis 
unserer diesmaligen Betrachtung zu ziehen. 
Die kriegerischen Ereignisse, die sich daselbst 
vorzubereiten scheinen, mögen eine kurze Be¬ 
sprechung vielleicht doch angezeigt sein lassen, 
und wir lassen dieselbe deshalb den Heeres¬ 
einrichtungen der übrigen Grossmächte vor¬ 
ausgehen. 

Das Heerwesen Serbiens ist während der 
Herrschaft der radikalen Partei in stetigem 
Niedergang begriffen gewesen, die jetzige 
Regierung mit dem jungen König an der 
Spitze ist eifrig bestrebt, dasselbe in jeder 
Richtung zu heben und zu fördern; bis in¬ 
dessen das serbische Heer die seiner Organi¬ 
sation entsprechende Gefechtskraft erreichen 
wird, dürfte noch eine geraume Zeit vorüber¬ 
gehen. Die Wehrverfassung beruht auf 
dem Volksheer mil einem Stamme als stehen- 




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194 


Änderungen und Fortschritte im Militärwesen. 


des Friedensheer. Jeder Serbe ist dienst¬ 
pflichtig in drei Aufgeboten vom 20.— 28. 
bezw. bis zum 37. und 50. Lebensjahr; etwa 
eine gleiche Anzahl Ausgehobener (6—7000 
Mann) haben je 2 Jahre bezw. nur 5 Monate, 
und etw_a 2000 Mann nur einen Monat bei 
der Fahne zu dienen; für die Reserve sind 
30tägige, für den „i. Bau des Volksheeres" 
iStägige und für den „2. Bau" 5tägige Übun¬ 
gen vorgeschrieben. Nach dem zu Ende 1895 
angenommenen Reorganisationsplan soll fort¬ 
ab die Hälfte des auf 16,000 Mann zu er¬ 
höhenden Rekruten-Kontingents eine 2jährige, 
die andere Hälfte eine ijährige aktive Dienst¬ 
pflicht abzuleisten haben, wodurch die Aus¬ 
bildung wesentlich gefördert würde; ferner 
sollen die im Frieden bestehenden Infanterie¬ 
truppen verdoppelt werden, um grössere Kadres 
für die Kriegsformationen zu erhalten. Als 
Stamm für die letzteren besitzt jede der fünf 
Territorial-Divisionen nur ein Infanterie-Regi¬ 
ment zu vier Bataillonen. Nach dem Gesetz 
von 1893 sollen im Frieden vorhanden sein: 
5 Inf.-Regt. zu 4 Batl. 

3 Kav.-Regt. zu 4 Eskadrons, und i Garde- 
Kav.-Regt. zu 2 Eskadrons, 

5 Feld-Artill.-Regt. zu 3 Abteil, zu 3 Batter., 
und mit den übrigen Truppen die Friedens¬ 
stärke im Ganzen 18,600 Köpfe betragen, je¬ 
doch wird diese Stärke nicht erreicht. 

Das Kriegsheer besteht aus: i) der Regu- 
gulären Armee, 2) dem Volksheer „i. und 2. 
Bau“. Es soll stark sein: 

r) die reguläre Armee mit 5 Divisionen zu 
je 4 Inf.-Regt., V* Kav.-Regt. und i Feld- 
Art.-Regt. unter einem Armee-Oberkom¬ 
mando: ca. 148,000 M. 

2) Volksheer i. Bau „ 123,000 „ 

„ 2. „ „ 64,000 „ 

(ebenfalls in 5 Div. geglied.) - 

Somit die Gesamtkriegsstärke 335,000 M., 
von welcher indessen selbst bei günstigen 
Verhältnissen und genügenden finanziellen 
Mitteln höchstens etwa die Hälfte wirklich 
zur Aufstellung gelangen kann; die Kadres 
für den 2. Bau fehlen ganz, für den i. Bau 
sind sie durchaus ungenügend, und an Offi¬ 
zieren ist ein ganz ausserordentlicher Mangel; 
von dem Kriegsbedarf an Pferden, 45,000, 
sind im Frieden kaum 3500 taugliche im Lande 
vorhanden. Was nun die Ausbildung anlangt, 
wie sie sich in den seit einigen Jahren ab¬ 
gehaltenen Manövern bekundet, so soll die¬ 
jenige der Infanterie befriedigend, der Ka¬ 
vallerie aber schlecht und der Artillerie nicht 
gut sein. — Auch bezOgl. der Bewaffnung 
steht Serbien mit veralteten Gewehrsystemen 
noch weit hinter seinen Nachbarstaaten zu¬ 
rück, deren Fusstruppen mit neuen Magazin- 
Gewehren ausgerüstet sind. 

Auf einem besseren Standpunkt bezügl. 


Organisation und Ausbildung stehen die 
Armeen Rumäniens und Bulgariens : Geist 
und Disziplin in denselben werden indessen 
sehr beeinträchtigt durch das Hervortreten 
des starken parteipolitischen Getriebes, an dem 
das Heer lebhaften Anteil nimmt. Durch 
Kommandierung von Offizieren in das Aus¬ 
land sind die Regierungen beider Länder be¬ 
strebt, die besseren Einrichtungen anderer 
Staaten kennen zu lernen und sie durch die 
Ausbildung der betr. Offiziere für ihre Län¬ 
der nutzbar zu machen. Beide Heere befinden 
sich in stetiger guter Fortentwicklung auf 
organisatorischem und technischem Gebiet, wie 
auch bezügl. der Ausbildung. Insbesonders 
wird über die stattgehabten Herbstübungen 
der bulgarischen Armee berichtet, dass mit 
Ausnahme der Kavallerie — der wundeste 
Punkt aller Balkanstaaten — alle übrigen 
Waffen und Truppen mehr geleistet haben, 
als man von den Armeen der Balkan-Halb¬ 
insel erwartete. In beiden Ländern beruht 
die Dienstpflicht auf der allgemeinen persön¬ 
lichen Wehrpflicht. In Rumänien ist das Heer 
im Krieg und Frieden in 4 territoriale Armee¬ 
korps mit 8 territorialen Divisionen, sowie in 
eine selbständige Infanterie- und Kavallerie- 
Division gegliedert. Die Friedensstärke be¬ 
trägt ca. 44 —45,000 M., die Kriegsstärke ca. 
167 — 168,000 M., wovon ca. 140—141,000 
Mann fechtende Truppe. — Die Bulgarische 
Armee ist in 6 Territorial-Divisionen einge¬ 
teilt mit 24 Inf.-, 4 Kavall.- und 6 Feld-Artill.- 
Regimentern und einer Gesamtstärke von ca. 
36,000 M. Im Kriege wird formiert: i) die 
„aktive Armee“ mit 6 Infanterie-Divisionen 
und I Kavallerie-Division in einer Stärke von 
ca. 127,000 M.; 2) die „Reserve-Armee“, 

ebenfalls 6 Divisionen, mit ca. 82,000 M. und 
3) die „Volkswehr“ mit etwa 28,000 M., die 
Gesamtkriegsstärke also =* 237,000 M., wo¬ 
von ca. 186,000 M. fechtende Truppe. 

Die Türkei. Alle die Reorganisations-Be¬ 
strebungen, die schon seit Jahren mit Hülfe 
einer Anzahl von in die türkischen Dienste 
übernommenen deutschen Offizieren im Gange 
sind, werden immer wieder durch Geldmangel, 
Unschlüssigkeit und den Widerstand des alten 
Systems lahm gelegt. Wenn auch einige in 
der letzten Zeit vorgenommenen Probemobil¬ 
machungen von einzelnen Divisionen ein 
überraschend gutes Ergebnis gehabt haben, 
so sind doch die allgemeinen inneren Organi¬ 
sationsverhältnisse ftlr die Mobilmachung noch 
sehr ungünstig. Die Wehrpflicht ist eine all¬ 
gemeine und umfasst eine Dienstpflicht 
von 3' Jahren bei der Fahne l Nizamie 1 | 

» 3 » » » Reserve I 

„ 8 „ „ » Landwehr (Redif) 

„ 6 „ „ demLandst. (Mustahfiz) N 


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Änderungen und Fortschritte im Militärwesen. 


195 


Die Christen sind gegen eine jährliche 
Steuer von ca. 3.60 M. von der Dienstpflicht 
befreit. 

Im Frieden gliedert sich die Armee in 
7 Armeekorps (territorial) und 3 selbständige 
Divisionen, und zwar mit folgenden Bereichen: 
I. Konstantinopel, 2. Adrianopel, 3. Salonik, 
4. Erzerum, 5. Damaskus, 6.Bagdad, 7. Yemen; 
selbständige Divisionen in Hidschas (Besatz¬ 
ung der heiligen Orte des Islam), Tripolis 
und bisher auch auf Kreta. Im Anfänge von 
1896 wurden verschiedene Neuordnungen und 
-Formierungen angeordnet, welch’ letztere je¬ 
doch noch nicht vollständig durchgeführt sein 
dürften. Die Besetzung des 3. Korpsbereichs 
bestand zum grossen Teil noch aus Batail¬ 
lonen des I. und 5. Armeekorps, welche zum 
3. Korps Obertraten, so dass dieses nun aus 
4 Divisionen mit 68 Bataillonen bestehen soll; 
von den 4 Divisionen, deren Bezirke der 
politischen Landeseinteilung entspricht, steht 
je I Division an der griechischen, montene¬ 
grinisch-bosnischen, serbisch-bulgarischen und 
bulgarischen Grenze mit den Hauptquartieren 
Janina, Skutari, Üskup und Salonik. Die bis¬ 
her selbständige Division auf Kreta in der 
Stärke von 2 Infanterie - Regimentern mit 7 
Bataillonen und 4 Gebirgsbatterien wurde 
als Ersatz für den Abgang dem 5. Korps 
unterstellt. Die Besatzung von Kreta ist Ende 
1895'und im Laufe von 1896 durch mehrere 
Bataillone verstärkt worden. Die Friedens¬ 
stärke des Heeres wird sich für gewöhnlich 
auf ca, 200,000 M. beziffern. 

Für die Mobilmachung bestehen 6 Armee- 
Ergänzungsbereiche, von denen ein jeder 4 
Armeekorps aufstellen soll, und zwar 1 Linien-, 
2 Landwehr- und i Landsturmkorps. Jedes 
Korps soll bestehen aus 2 Infanterie-Divisio¬ 
nen zu 8 Regimentern (26 — 34 Bataillone, 
72 Geschütze), i Kavallerie-Division (24 — 30 
Eskadrons, 18 Geschütze), Korps • Artillerie 
mit 36 Geschützen, i Geniebataillon, i Tele- 
graphen-Kompagnie, 6 Train-Kompagnien mit 
Sanitäts- nnd Intendanz-Abteilung. Diese For¬ 
mationen sind bei den Linienkorps des stehen¬ 
den Heeres im Grossen und Ganzen bereits 
vorhanden, für die Landwehr-Korps bestehen 
teilweise Infanterie-Kadres, für die Landsturih- 
Korps ist im Frieden nichts vorbereitet. — 
Da die Linien-Kavallerie für die Aufstellung 
der Kavallerie-Divisionen nicht ausreicht, wird 
seit einiger Zeit eine Art von Miliz-Kavallerie- 
Regimenter („Hamidie“) aus Kurden aufge¬ 
stellt, deren militärischer Wert ausserhalb 
ihres Heimatlandes gleich Null sein dürfte, 
während sich diese Reiterstämme durch Un- 
botmässigkeiten aller Art auszeichnen. Was 
die Gesamt-Kriegsstärke des türkischen Heeres 
betrifft, so kann man wohl annehmen, dass 


bei einer allgemeinen Mobilmachung inner¬ 
halb 2 — 3 Monaten 400,000 Mann zur Ver¬ 
fügung sein werden, und für den späteren 
Verlauf eines lang dauernden Feldzuges viel¬ 
leicht nach und nach ebensoviel. — Die 
kriegsgemässe Ausbildung' lässt so gut wie 
Alles zu wünschen übrig. Trotzdem in den 
Arsenalen in Konstantinopel grosse Vorräthe 
an neuen Magazin-Gewehren schon lange ge¬ 
lagert haben, ist erst seit Kurzem die Linien- 
Infanterie mit denselben versehen worden, 
während die Landwehr noch mit dem ver¬ 
alteten Martini-Peabodi-Gewehr ausgerüstet 
ist; die gesamte Artillerie führt Krupp-Ge¬ 
schütze. 

Der Bildungsgrad des Offizierskorps ist 
im Durchschnitt ein sehr geringer, giebt es doch 
selbst unter den Generalen nicht so gar selten 
Analphabeten, und von letzteren soll allein 
die Linie aller Waffen über 2000 aufweisen, 
sie führen im Gegensatz zu den schieibkun- 
digen Effendi die besondere Bezeichnung Agha. 
Jährlich wird zwar eine ziemlich grosse An¬ 
zahl von Offizieren behufs ihrer Ausbildung 
auf mehrere Jahre in andere Armeen, insbe¬ 
sondere nach Deutschland kommandiert, welche 
bei ihrer Rückkunft als Instruktoren oder in 
den Stäben Verwendung finden sollen, allein 
bei dem allgemein herrschenden Schlendrian 
geht der Erfolg dieser Massregel meist wie¬ 
der verloren. — Bei alledem darf man aber 
doch nicht übersehen, dass das türkische 
Soldatenmaterial an sich ein sehr gutes ist, 
das vorzügliche Eigenschaften besitzt; an¬ 
spruchslos im höchsten Grade, willig, aus¬ 
dauernd bei Entbehrungen und Anstrengun¬ 
gen und namentlich bei Entflammung des 
religiösen Fanatismus von hervorragender 
Tapferkeit ist der türkische Soldat vor Allem 
in der Verteidigung ein immerhin nicht ge¬ 
ring rii schätzender Gegner. 

Griechenland. Das Wehrgesetz Griechen¬ 
lands von 1887 ist demjenigen von Frank¬ 
reich nachgebildet worden. Jeder Unterthan 
ist vom 21. —51. Lebensjahr wehrpflichtig, 
und zwar 

2 Jahre im stehenden Heere, 

10 „ in der Reserve, 

8 „ „ „ Territorial-Armee (Landw.) 

10 „ „ „ Reserve der Territ.-Armee. 

Wer vom aktiven Dienst befreit ist, hat 
12 Jahre in der Reserve zu dienen; die Land¬ 
wehr darf nur im Kriegsfall einbenifen, ihre 
Reserve nur im eigenen Lande verwendet 
werden. — Im Frieden bestehen 3 Territorial- 
Generalkommandos mit im Ganzen 

IO Iqfant.-Rgt. zu 30 Batl. (die 3. Batl. nur 
als Kadres), 

8 Evzonen- (Jäger-) Batl., 


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196 


Änderungen und Fortschritte im Militärwesen. 


3 Kavall.-Regt. mit 12 Eskadrons, 55 Batl. Fusstruppen 

3 Feld'Art.-Regt. mit ii fahrenden und 18 Eskadrons Kavallerie 

9 Gebirgsbatterien. 27 Batterieen Artillerie mit \ Im Ganzen 

Unter den Spezialwaffen i Telegraphen- ^5^ Geschützen ca. 82,000 M. 

Kompagnie. Die Gesamt-Friedensstärke soll entsprechenden Spe- 

sich auf ca. 23,500 Köpfe belaufen, kommt zialwaffen. 
aber nicht über 19,000 Mann, von welchen Territorial-Armee mit Reserve 
nach Abzug von ca. 2000 Offizieren, 4000 wird zur Einstellung ergeben 1 34 * 5 °^ » 

Unteroffizieren, 2000 Ordonanzen, 4000 Gen- Gesamtkriegsstärke 216,500 M. 

darmen und etwa 2000 Hülfsarbeitern etc. Da aber für die Territorial-Armee und 

kaum 5000 Mann zum eigentlichen Dienst deren Reserve keine Spur von Kadres vor- 
ohne Charge verbleiben. Dass bei solch nie- handen ist, es auch an Gewehren und Ge- 
drigem Stand der Truppeneinheiten und bei schützen fehlt, überhaupt die Vorbereitungen 
der noch vielfach anderweitigen Verwendung für die Mobilmachung mangelhaft sind, so 
der Truppen zu Polizeidienst, Grenzwache wird obige Stärke keinenfalls erreicht werden, 
u. s. w. die Ausbildung schon an und ftlr In einem besonders kläglichen Zustand be¬ 
sieh nur eine beschränkte sein kann, liegt findet sich das Pferdematerial. Da die Landes- 
auf der Hand. Dieselbe erleidet aber noch Rasse sich zum Kavalleriedienst nur schlecht, 
weitere Einbussen dadurch, dass es einerseits für die Artillerie aber gar nicht eignet, so 
sehr viele alte Offiziere giebt, die am praktischen muss vom Ausland gekauft werden, das kostet 
Dienst nicht mehr viel Interesse haben, und aber viel Geld, infolge dessen hat man sich 
dass andererseits die Offiziere am politischen schon seit vielen Jahren immer mit demsel- 
Leben den allerregsten Anteil nehmen; bei benPferdebestand beholfen; es wird berichtet, 
den Parlamentswahlen waren über 100 Offi- dass infolge dessen ca. 50 pCt. desselben 
ziere Kandidaten, von denen 30 zu Deputirten nicht kriegstauglich sind. Alle diese Schwächen 
gewählt wurden. Wegen Geldmangels mussten des Heeres sind erkannt worden undimVer- 
zeitweise bei der Infanterie und Artilldrie.so- folg der Ereignisse auf Kreta erliess am 
gar die Schiessübungen eingestellt werden. Die 4. Dezember 1896 der König eine Botschaft, 
Infanterie ist noch mit dem Einzellader-System deren Inhalt wir in den Hauptpunkten zum 
Gras bewaffnet. Die Altersgrenzen der Offiziere Schlüsse wiedergeben: Die im vorigen Früh¬ 
sind für den Oberst 70, Major 65, Kapitain 56, Jahr abgehaltenen Manöver hätten die Not- 
Lieutenant 52 bezw. 50 Jahre, aber auch selbst wendigkeit ergeben, die Manöver durch 
bei Erreichung dieses Alters darf nach der stärkere Einheiten abzahalten. Die griechische 
griechischen Konstitution ein Offizier nur dann Armee, die ihren Hauptzweck aus dem Auge 
zwangsweise pensioniert werden, wenn er verloren habe, solle ihrer Aufgabe wieder 
physisch vollkommen untauglich ist oder in- würdig werden und sich einer Ausbildung zu¬ 
folge eines Verbrechens oder Vergehens 1 — schnelle Heeresformterung 

Über die Gliederung der Armee im Kriege gestatte; der König halte es daher für er- 
kann Bestimmtes nicht angegeben werden; forderlich, dass ein permanentes Lager er- 
voraussichtlich wird bei einer allgemeinen richtet werde, in welchem sich das Heer ganz 
Mobilmachung eine „Armee i. Linie“ auf- der militärischen Ausbildung widmen könne, 
gestellt werden, die den 3 Generalkommandos ausserdem sei es für diesen Zweck nötig, 
entsprechend vielleicht in 3 gemischte Trup- dass ein Ausschuss von höheren Offizieren 
penkörper eingeteilt wird mit einer Gesamt- gebildet werde, der sich mit der Wahl eines 
zahl von: Gewehres für das Heer zu beschäftigen habe. 

Nachstehende Tabelle gibt eine vergleichende Zusammenstellung der mobilen Gefcchtskrajl 
der Balkanstaaten nach dem Stande von 1895, die auch zur Zeit im Wesentlichen Gültig¬ 
keit haben dürfte.^) Es ist jedoch zu beachten, dass die Gesamtstärken, namentlich in Grie¬ 
chenland und Serbien bei allen Waffen, in Bulgarien bei der Kavallerie bei Weitem nicht 
erreicht werden, und die Heeres-Einrichtungen hinter der Front — Etappen-, Train-, Sani¬ 
tätswesen — meist nur in sehr bescheidenen Anfängen vorhanden sind. 


1—6 Armeekorps mit je 29,220—56,880 Gewehren 
3,366 - 4,194 Säbel 

126 Geschütze 

Zusammen mit Landwehr und Landsturm 
bei Beginn eines Feldzugs ca. 400,000 Mann, 
im Verlauf desselben „ 800,000 „ 

(etwa 650 Bad., 200 Schwadronen, 1400 Ge¬ 
schütze und 49 Kompagnieen Genie). 

Loebel, Jahrtsberichte 2895. 


Griechen land. 

Armee i. Linie mit Reserve: 

61,130 Gewehre 
2,700 Säbel 
156 Geschütze 

(55 Bad. Fusstruppen, 18 Elskadrons, 27 Batten, 15 
techn. KompaCTieen Train und Sanitäts • Abteil. 
Zusammen mit Territor.-Armeeu. Reserve 
216,525 Mann 
27,000 Reiter 
156 Geschütze. 


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Mehler, Die Verwertbarkeit der Röntgenstrahlen in der Medizin. 


197 


Bulgarien. 

Aktive Armee: 


6 Infanterie-Divisionen mit je 15,084 Gewehren 

373 Säbeln 
52 Geschützen, 

I Kavallerie-Division mit 2,480 Säbeln 
90,504 Gewehre, 4718 Säbel, 312 Geschütze 
(etwa 96 Bataillone, 64—70 Schwadr., 6 Pion.-Batl.). 


Reserve-Armee: 

6 Div.: 60,996 Gewehre, 2364 Säbel, 120 Geschütze 


Volkswehr: 

48 B ad. 28,000 Gewehre_ 

ImGanz. 179,500 Gewehre, 7082 Säbel, 432 Geschütze. 


Rumänien. 

F eld-Armee: 

4 Armeekorps mit je 25 Bataillonen 
12 Eskadronen 
16 Batterieen 
4 technische Kompagn. 

= 35i 088 Mann und 96 Geschütze. 

Im Ganzen 140,352 Mann in 100 Bataillonen 

48 Eskadrons 
64 Batterien 
16 techn. Komp. 

Ausserdem sollen seit 18^ bei jedem Infanterie- 
Regiment ein Miliz-Bataillon aufgestellt werden 
= 34 Bataillone. 


Serbien. 


Reguläre Armee: 5 Divisionen mit 80,000 Gewehren \ 

4,000 Säbeln J in 80 Bad., 30 Komp., 24 Esk., 56 Batter. 
316 Geschützen } 

Volksheer 1. Bau: 5 Divisionen mit 80,000 Gewehren 1 

1,800 Säbeln > in 80 „ 20 „ 10 „ 20 „ 

80 Geschützen / 


Volksheer 2. Bau: 5 Divisionen mit 


51,300 Gewehren 
790 Reiter 




in 60 


Im Ganzen: 211,300 Gewehre, 6590 Reiter, 396 Geschütze. 


Die Verwertbarkeit der Röntgenstrahlen in der 
Medizin. 

Von Dr. med L. Mehler. 

Am 28. Dezbr. 1895 hat Prof. Röntgen seine Ver¬ 
suche mit einer neuen Art von Strahlen und ihre 
merkwürdigen Ergebnisse der Würzburger medic.- 
physical. Ges. mitgeteilt. Der Würzburger Chirurg 
Prof. Schoenborn hat im Anschluss hieran auf 
die Wichtigkeit dieser Entdeckung für die Diagnose 
chirurgischer Erkrankungen hingewiesen und auf 
Antrag Kö 1 likers, des Senior der deutschen Ana¬ 
tomen, wurden die neuen Strahlen „Röntgen¬ 
strahlen“ genannt, ein Name, den die gesamte wis¬ 
senschaftliche Welt acceptiert hat. — Seitdem nun 
Röntgen zum erstenmal das Knochenskelett einer 
lebenden Hand photographiert hat, sind [eine Un¬ 
zahl Versuche zur Erkenntnis anderer Skelettab¬ 
schnitte des Körpers, zur Diagnose von Knochen¬ 
erkrankungen, Auffindung von Fremdkörpern und 
Erkrankungen nicht knöcherner Organe angestellt 
und veröffentlicht worden. Die Methoden zur An¬ 
wendung der Röntgenstrahlen sind wesentlich ver¬ 
bessert worden und heute ist es fast uftwissen- 
schaftlich, eine Nadel aus einem Finger zu schnei¬ 
den, ohne vorher Röntgenstrahlen zur exaktön Diag¬ 
nosenstellung angewandt zu haben. — Überblickt 
man die ganze medizinische Röntgenlitteratur, so 
lässt sich als vorläufiges Resultat der Verwendbar¬ 
keit der bedeutsamen Entdeckung Röntgens für die 
Medizin folgendes aufstellen. 

Zur Sicherung der Diagnose eingedrungener 
metallischer Fremdkörper sowie zur Feststellung 
des Sitzes der Fremdkörper dienen die Kathoden¬ 
strahlen in hervorragender Weise. Nun darf man 
nicht etwa glauben, dass man vor der Kenntnis : 
der X-Strahlen eine in den Körper eingedrungene 
Nadel nicht hätte diagnostizieren können, ebenso 
wie die Meinung irrtümlich ist, als ob Jetzt eine 
Elxstirpation derartiger Fremdkörper wesentlich 


leichter sei. Früher hatte man ausser den gewöhn, 
liehen diagnostischen Hülfsmitteln wie Palpätion etc. 
noch, wenigstens für Fremdkörper aus Stahl und 
Eisen, den Magnetismus. Mit Hülfe eines Elektro¬ 
magneten wurde der StahlspUtler magnetisch ge¬ 
macht und verursachte dann einen deutlichen Aus¬ 
schlag eines Galvanometers. Mit einem astatischen 
Nadelpar konnte sowohl der Sitz des Splitters als 
auch die Richtung ziemlich deutlich, in vielen Fäl¬ 
len genau, bestimmt werden. Auf der anderen 
Seite täuscht man sich bei den Röntgenbildern sehr 
leicht über die Tiefe des Sitzes. Immerhin ist eine 
Röntgenphotographie in diesen Fällen ein diagnos¬ 
tisches Hilfsmittel, das man nicht mehr entbehren 
möchte. Als Beispiel für die grosse Bedeutung 
mag ein von Eulenburg in der „D. med. W." ver¬ 
öffentlichter Fall dienen. Es handelte sich hierbei 
um einen Patienten, der behauptete eine Kugel im 
Gehirn zu haben und seine mannigfachen Beschwer¬ 
den von dieser Kugel herleitete. Da trotz aller Be¬ 
mühungen man sich von der Glaubwürdigkeit die¬ 
ser Behauptung nicht überzeugen konnte, wurde 
Patient schliesslich in Irrenhausbehandlung genom¬ 
men. Schliesslich gelang es, durch Röntgen, die 
Kugel im Gehirn zu photographieren und ihren Sitz 
genau zu bestimmen. — Auch die Kriegschirurgie 
wird unstreitig manche eingedrungene Kugel ver- 
ihittels Röntgenstrahlen aufnnden und nötigenfalls 
entfernen können. Hierbei muss aber auf eine Ge¬ 
fahr hingewiesen werden. Manch alte Kugel, die 
seit Jahren ruhig im Körper sass und keine Be¬ 
schwerde machte, wird jetzt „entdeckt" und ver¬ 
mittels Operation entfernt, uneingedenk des Satzes 
der modernen Chirurgie, derartige Fremdkörper 
ruhig sitzen zu lassen, solange sie keine oder nur 
geringfügige Beschwerden machen. — Ferner die¬ 
nen die Röntgenstrahlen zur Diagnose von Knochen¬ 
deformitäten, mag es sich nun um Defekte, Frakturen 
.oder Verrenkungen, entzündliche Prozesse oder Ge¬ 
schwülste der Knochen handeln. Man wird jetzt 


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198 


Ziehen, Der Panhellenismus. 


die Kombination einer Verrenkung mit einem Kno* 
chenbruch innerhalb der Gelenkkapsel leichter 
diagnostizieren und demgemäss auch richtiger be¬ 
handeln können. Allein immer wieder muss darauf 
hingewiesen werden, dass derartige Röntgenbilder 
manchmal recht schwer zu deuten sind, und ohne 
die alten bewährten diagnostischen Mittel, leicht zu 
bedauerlichen IrrtQmem führen dürften. 

Knochen mit Einlagen harnsaurer Salze (Gicht) 
geben auffallend helle Stellen, da wo die Salze lie¬ 
gen, während wahre Knochenverdickungen in ihrer 
Durchlässigkeit der Röntgenstrahlen analog den 
normalen Knoten sich verhalten. Die oft schwierige 
Differentialdiagnose zwischen Gicht, chron. Rheu¬ 
matismus etc. kann in manchen Fällen jetzt mit 
Sicherheit entschieden werden. 

Auch die innere Medizin hat versucht, sich dieses 
hervorragenden diagnostischen Mittels zu bedienen. 
Die Erkennung von Steinbildungen in der Harn¬ 
blase gelang bei Steinen gewisser chemischer Zu¬ 
sammensetzung, während Gallensteine nicht photo¬ 
graphiert werden konnten. Als ein diagnostischer 
Erfolg muss die frühzeitige Feststellung der Gefäss- 
verkalkung durch Röntgenstrahlen bezeichndl wer¬ 
den. Wenigstens konnten einige Forscher die Ver¬ 
kalkung der sogen. Pulsader am Arm früher nach- 
weisen, als sie für das Gefühl erkennbar war. Zur 
Sichtbartnachung von Hohlräumen des menschlichen 
Körperinnern hat man versucht, diese Räume mit 
einem für Röntgenstrahlen undurchlässigen Metall, 
wie Quecksilber, zu füllen oder mit Luft aufzubla¬ 
sen und dann zu photographieren, wodurch die 
Grösse dieser Räume und ihre Grenzen sichtbar 
wurden. Jetzt verfährt man so, dass der ganze 
Körper durchleuchtet und das Bild auf einen mit 
Kalium- oder Bariumplatincyanpulver präparierten 
Schirm projidert wird. Man hat auf diese Weise 
die Bewegungen des Herzens und des Zwerch¬ 
felles demonstrieren und mancherlei Schlüsse auf 
die Erkrankung dieser oder ihnen benachbarter 
Organe ziehen können. 

- Als Beispiel mag folgendes dienen: Verdicht¬ 
ungen des Lungengewebes, infolge Compression 
durch FlOssigkeitsansammlung im Brustfellraum, 
oder durch entzündliche Prozesse oder schliesslich 
infolge Geschwulstbildung sind deutlich durch dunk¬ 
lere Schatten charakterisiert. Höhlenbildungen 
(Cavernen tuberkulöser Natur) dagegen waren nicht 
nachweisbar. - Beim Herzen gaben Vergrösserungen 
deutliche Bilder, besonders instruktiv sind Bilder 
von sogen. Aneurysma der Aorta (Ausbuchtung der 
grossen Körperschlagader). Da sowohl Herz als 
auch der Aortasack pulsiert, so sieht man den Schat¬ 
ten zweier grosser pulsierender Körper. -• Das 
Zwerchfell wird ebenfalls jetzt der Besichtigung 
näher gerückt. Einen Hochstand desselben konnte 
man bei der weit verbreiteten Bleichsucht nach- 
weisen. 

ln der Geburtshilfe wurde versucht die schwangere 
Gebärmutter zu durchleuchten, um aus den sicht¬ 
baren kindlichen Skelettteilen die Kindeslage zu 
diagnostizieren, bisher aUerdings mit geringem Er¬ 
folge. Zum Schluss soll noch erwähnt werden, dass 
auch die gerichtliche Medizin sich der neuen Ent¬ 
deckung bemächtigt hat. Fraruösischen Forschem 
ist es gelungen, eine in dicken Büchern verborgene 


Höllenmaschine durch die Röntgenstrahlen zu ent¬ 
decken. 

Aus allediesem ergibt sich ohne Weiteres, dass 
die Diagnose ein mächtiges Hülfsmittel in den Rönt¬ 
genstrahlen erhalten hat. Leider aber sind die Hoff¬ 
nungen die man auf die therapeutischen Wirkungen 
des neuen Lichtes gesetzt hat, nicht in Erfüllung 
gegangen, wenigstens sind die Ergebnisse bis jetzt 
noch dürftig zu nennen. Vor allem hat sich ge¬ 
zeigt, dass Bakterien von den X-Strahlen gar nicht 
beeinflusst werden. — Dagegen scheint die Haut 
des menschlichen Körpers unter Umständen recht 
empfindlich gegen die Strahlen zu sein. 

Von italienischer Seite sind Heilungen von Lupus, 
von österreichischen Ärzten Bessemngen krebsiger 
Geschwülste beobachtet worden. Man thut einst¬ 
weilen gut daran, diesen Mitteilungen recht wenig 
Vertrauen entgegen zu bringen. So sah man, dass 
die Haut eines jungen Mannes, der öfters und längere 
Zeit durchleuchtet worden war, Destruktionen 
zeigte. 

Jedenfalls sind alle diese therapeutischen Ver¬ 
suche noch nicht spruchreif und erst die Zukunft 
muss lehren, ob die Röntgenstrahlen neben ihrer 
eminenten Bedeutung für die Diagnose auch beru¬ 
fen sind, therapeutisch erfolgreich sich verwerten 
zu lassen. 


Der Panhellenismus. 

Von Dr. J u LI u S ZIF. IIE K. 

Zu den zahlreichen Superlativeigenschaften der 
orientalischen Frage gehört unter anderen die, dass 
sie unter den schwebenden Fragen der internationalen 
Politik bei weitem die älteste ist, in ihren Entsteh¬ 
ungsgründen am weitesten zurückverfolgt werden 
kann in der Geschichte. Zurückverfolgt werden 
kan» — und muss : denn es ist schlechterdings un¬ 
möglich, die orientalische Frage der Gegenwart und 
der jüngeren Vergangenheit zu verstehen, wenn 
man nicht das Werden der ethnographischen Ver¬ 
hältnisse des Orients bis auf seine ersten Ursprünge 
zurOckzuleiten vermag. Es wäre eine gewaltige, 
aber auch eine bis in die Kreise der praktischen 
Politik hinein höchst nutzbringende Leistung, die Ge¬ 
schichte der orientalischen Frage einmal aufzurollen 
in dem Sinne, dass Gegenwart und Altertum 
einander, so wie es sich bei dieser Aufgabe gebührt, 
die Hand reichen. 

Freilich von der Möglichkeit einer solchen Leistung 
sind wir, wir müssen es offen eingestehen, noch weit 
entfernt; zahlreiche Grundbegriffe der orientalischen 
Fragen harren noch der wissenschaftlichen Klärung, 
geschweige denn, dass sie zum Allgemeingut der 
Gebildeten geworden wären; ich will die Behaup¬ 
tung hier mit einem Beispiel belegen. 

Langsam und schüchtern findet neben allgemein- 
läufigen Worten wie „Panslavismus“ und „Panis¬ 
lamismus“ nun auch der Begriff „Panhellenismus“ 
Aufnahme in das Konversationslexikon und gewannt 
damit das Recht, als ein Bestandteil des zur allge¬ 
meinen Bildung gehörigen Wissens betrachtet zu 
werden. Zaghaft genug ist immerhin noch sein 
Auftreten; Brockhaus schreibt in der neusten Auf¬ 
lage: Panhellenismus, Streben nach Vereinigung 
aller gnechischen Stämme zu einem nationalen Staat“; 
fast könnte man meinen, er meine Oberhaupt nur 
Bestrebungen des alten Hellenentums, von dem 
Panhellenismus der Neuzeit w’isse er nichts und 
wolle er nichts wissen. . . Und doch, was eben 


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Weierstrass t- — Betrachtungen und kleine Mitteilungen. 


199 


wieder im Osten Europa’s sich abspielt und bei 
einem unvorsichtigen Scnritt der beteiligten Gross¬ 
mächte zur Ursache eines europäischen Krieges 
werden kann, es ist im Grunde auf eine neue und 
starke Lebensäusserung eben des Panhellenismus 
zurQckzufÜhren, dessen Geschichte und Wesen bisher 
viel zu wenig beachtet worden ist. 

Ranke hat die Griechen im Gegensatz zu dem 
auf feste Staatsformen hindrängenden Römertum 
einmal als ein blosses Element bezeichnet; weithin 
dringen sie befruchtend Ober die Grenzen von 
Griechenland hinaus in fremde Völkerkreise ein, 
gewinnen durch ihren Erwerbstrieb und durch die 
Beweglichkeit ihres Geistes Bedeutung in der Fremde, 
sind bald viel zu entwickelt an dem fremden Ort, 
um ohne weiteres in dem anderen Volke aufzu¬ 
gehen und drängen demzufolge naturgemäss auf 
staatlichen Anschluss an das Mutterland hin. Das 
Missverhältnis zwischen der erfolgreichen Ausbrei¬ 
tung des Griechentums und seiner geschlossenen 
staatlichen Ausdehnung ist uralt, und ebenso alt wohl 
auch der Panhellenismus mit seiner Forderung: was 
ausserhalb des eigentlichen Griechenlands that- 
sächlich vorwiegend unter griechischem Kulturein¬ 
fluss steht, soll auch staatlich an Griechenland an¬ 
gegliedert werden. Die lange Leidensgeschichte der 
panhellenischen Idee kann natürlich hier nicht ein¬ 
mal skizziert werden; einmal in der Weltgeschichte 
bt ihr Ziel so gut wie völlig verwirklicht gewesen; 
ich kann mir mr die Geschichte des Byzantiner¬ 
reiches, deren Vertiefung neuerdings in so hoch- 
erfreulicher Weise durch Krumbacher in 
München ermöglicht worden ist, keine wichtigere 
Aufgabe denken, als die: festzustellen, wie weit das 
Byzantinerreich eine lebensfähige Verkörpehing des 
panhellenischen Gedankens gewesen ist. Für den 
heutigen Griechen hat im Gedanken an Konstanti- 
nope! der Name seines Kronprinzen, Konstantinos, 
eine symbolische, verheissungsvoUe Bedeutung; die 
Missgeburt diplomatischer Kompromisstreibereien, 
die das heutige Königreich Griechenland trotz 
der AngUederung von I hessaüen auch heute noch 
ist, drängt den Panhellenismus zu immer neuen 
Regungen. Da lohnt es wohl, sich bei der Geschichte 
Antwort zu holen auf die Frage: sind die panhel¬ 
lenischen Ideale der erfolgreichen Verwirklichung 
fähig, hat der grossgriechische Gedanke zu der Zeit, 
wo der byzantinische Staat ihm den festen Grund 
und Boden bieten konnte, die nötige Lebenskraft 
bewiesen? Nur der Hinweis auf die wissenschaft¬ 
liche Sachlage, nicht eine eingehende Behandlung 
derselben kann das Ziel dieser Betrachtung sein. 


Karl Weierstrass t* 

Am 19. Februar dieses Jahres starb zu Berlin 
einer der bedeutendsten Mathematiker dieses Jahr¬ 
hunderts, Professor Dr. Karl IVeierstrass. Geboren 
den 31. Oktober 1815 zu Osterfelde (Reg.-Bez. Münster) 
besuchte er das Gymnasium zu Paderborn und 
studierte 1834—1838 zu Bonn Jurisprudenz und 
Kameralwissenschaft. Dann erst widmete er sich 
1838—1840 seinem Lieblingstudium, der Mathematik, 
an der Akademie zu Münster. 1840 wurde er Gym¬ 
nasiallehrer daselbst, 1842 in Deutsch Krone, 1848 
in Braunsbei^. 1856 kam er als Professor der 
Mathematik an das Gewerbeinstitut zu Berlin und 
seit 1864 war er ordentlicher Professor an der dor¬ 
tigen Universität. Er war ferner Mitglied der Berliner 
.Äademie der Wissenschaften und zahlreicher an¬ 
derer gelehrter GeseUschaften. Zu seinem achtzigsten 
Geburtstage am 31. Oktober 1895 wurde ihm von 
der Deutschen Mathematiker-Vereinigung als wohl¬ 
verdiente Huldigung eine Adresse überreicht. Sein 


Schaffensgebiet war die Funktionentheorie, welche 
er durch Erschliessung neuer Hilfsmittel und Me¬ 
thoden in völlig neue Bahnen lenkte. Man verdankt 
ihm den Begriff der monogenen analytischen Funktion, 
welche durch Funktionseleraente, d. h. in einander 
fortsetzbare Potenzreihen mit teilweise zusammen¬ 
fallenden Convergenzgebieten definiert ist. Seine 
Hauptarbeiten beziehen sich jedoch auf das Gebiet 
der elliptischen, der Abel’schen und und (als Vorbe¬ 
reitung für diese) der algebraischen Funktionen. 
Seine Abhandlungen zeichnen sich durch Klarheit 
in der Anlage, vollendete Schönheit in der Durch¬ 
bildung, Strenge und Ordnung in der Gedanken¬ 
folge und Gewissenhaftigkeit in der Kritik der 
Beweise aus. Es war ihm nicht nur um die Ge¬ 
winnung von Resultaten, sondern namentlich auch 
um die Ermittlung ihrer inneren erkenntnis-theore¬ 
tischen Gründe zu thun, wobei er oft zur Richtig¬ 
stellung weitverbreiteter Anschauungen gelangte. 
In seinen gesammelten Werken, welche seit 1894 
unter Mitwirkung einer von der Berliner Akademie 
eingesetzten Kommission in acht Bänden herausge¬ 
geben werden (1894—1895 sind zwei Bände er¬ 
schienen), w'erden ausser zahlreichen Abhandlungen, 
von welchen ein Teil bereits unter dem Titel: „Ab¬ 
handlungen aus der Funktionenlehre, Berlin 1886“ 
gesammelt erschienen ist, auch seine bis jetzt nur 
im Kreise seiner Schüler bekannten Vorlesungen, 
namentlich diejenigen über Abel’sche Funktionen, 
veröffentlicht werden. Mit Weierstrass verliert 
die deutsche Mathematik einen ihrer Hauptvertreter, 
dessen Geistesrichtung jedoch in seinen zahlreichen 
Schülern fortleben wird. Dr. e. w’. 


Betrachtungen und kleine Mitteilimgen. 

Die Kanstschatze des Schlosses Chantilly. 

Der Herzog von Aumale ist jetzt, wie aus Paris 
berichtet wird, damit beschäftigt, die Kataloge der 
auf Schloss Chantilly befindlichen Kunstsammlungen, 
die er mit dem Schlosse selbst dem Institut de 
France testamentarisch vermacht hat, hersteUen zu 
lassen. Die verschiedenen Kataloge werden von 
hervorragenden Fachgelehrten verfasst und eine 
wahre künstlerische Encyklopädie bilden. Den Ka¬ 
talog der Kupferstiche besorgt GeorgesDuples- 
sis von der Akademie der schönen Künste. Henri 
Bouchot, der Kustos der Stiche der Nationalbib¬ 
liothek, hat eine Abhandlung über sechs Bleistift- 
Porträts des sechzehnten Jahrhunderts verfasst und 
Leon Heuzy von der Akademie der Schönen 
Künste und der Akademie der Inschriften eine solche 
über die Antiquitäten. Der Katalog der Bibliothek 
stammt aus der Feder Georges Picots, und der¬ 
jenige der Handschriften aus der des Direktors der 
Nationalbibliothek, Delisle. Die Kunstgegenstände, 
Möbel, Skulpturen und Nippsachen beschreibt Ger- 
main ßapst, und über die Gemälde der verschie¬ 
denen Schulen hat G r u y e r von der Akademie der 
Schönen Künste eine erschöpfende Abhandlung ge- 
fschrieben. Der Herzog von Aumale will eine Ein¬ 
leitung zu diesen verschiedenen Katalogen verfas¬ 
sen und darin die Geschichte des Schlosses Chan¬ 
tilly und seiner verschiedenen Besitzer behandeln 


Unter neuen Erwerbungen des Germanischen 
Nationalmuseums zu Nürnberg, über die die letzte 
Nummer des „Anzeigers“ ausführlichen Bericht er¬ 
stattet, sind besonders zw’ei Gegenstände in der 
Abteilung „Pracht und Schmuck“ hervorzuheben. 
Das eine Stück ist eine Almosentasche des 14. Jahr¬ 
hunderts in Leinen, auf der Vorderseite mit Seiden- 
/ 


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200 


Betrachtungen und kleine Mitteilungen. — Sprechsaal. 


fadenstickerei verziert, die ausser Ranken und 
Blättern auch einen mit Pfeilen über einem Liebes¬ 
paar schwebenden Amor zei^t. Der zweite be¬ 
merkenswerte Gegenstand hat eine hohe persönliche 
Bedeutung. Er besteht aus einer rotseidenen, ver¬ 
schossenen, mit grOnseidenen Litzen eingefassten 
Borde, die die mit grünen und weissen Seidenfäden 
und Majpskeln gestickten, durch Kreuze getrennten 
Worte trägt: „Gertrudistfiliat beate tElisabeth t 
meffecit“ (Gertrud, die Tochter der hlg. Elisabeth, 
hat mich verfertigti. Wir haben es hier also un¬ 
zweifelhaft mit einer eigenhändigen Arbeit der nach 
dem Tode ihres Vaters geborenen dritten Tochter 
der hlg. Elisabeth zu thun. Gertrud wurde in 
ihrem 26. Lebensjahre zur Abtissin des Klosters 
Aldenburg bei Wetzlar gewählt und starb 1297; 
die Stickerei gehört also noch dem 13. Jahrhundert 
an und stammt aus Aldenburg. Nach den Angaben 
des Vorbesitzers wurden beide Stücke in einer 
niederrheinischen Kirche bei Reliquien gefunden. 

Dr. D. 

• • 

• 

Über die kürzlich erfolgte Entdeckung tines neuen 
ausgedehnten römischen Gräberfeldes bei Worms 
benchtet der dortige verdiente iVltertumsforscher 
Dr. C. Koehl Folgendes: „Nachdem die Aus- 

f rabung römischer (Jräber „im Schild“, welche beit 
ommer v. Js. Freiherr Heyl zu Hermsheim zu 
Gunsten des Paulusmuseums vornehmen liess, mit 
ganz geringen Unterbrechungen bis Februar ange¬ 
dauert hat und binnen dieser Zeit nicht weniger 
als 295 unversehrte Gräber aufgedeckt und unter¬ 
sucht worden sind, haben Nachforschungen, welche 
wir im Südwesten der Stadt angestellt haben, ein 
weiteres anscheinend ebenso grosses römisches Grab- 
fetd ergeben. Während das erstgenannte Gräberfeld 
an der vom Niederrhein über Mainz und Strassburg 
nach dem Oberrheine ziehenderi römischen Heer¬ 
strasse sich befindet und noch lange nicht völlig 
untersucht ist, erstreckt sich das neu entdeckte Gräber¬ 
feld längs der auf dem linken Ufer des Eisbaches 
nach Westen ziehenden Römerstrasse. Auch diese 
Strasse ist in ihrem ganzen Verlauf von der Mitte 
der Stadt an bis zur äussersten Grenze derselben 
genau bekannt und in vielen Querschnitten blossge¬ 
legt worden. Dieselbe verläuft nach der nächst- 
grösseren römischen Station Eisenberg in der Pfalz 
hin, um von hier über das Gebirge nach Kaisers¬ 
lautern und in die Westpfalz zu ziehefi. Eine im 
Süden der Stadt neu angelegte Strasse wurde des¬ 
halb „Eisenbergerstrasse“ genannt. An der erstge¬ 
nannten Strasse wurden im frühen Mittelalter, als 
die Römerstrassen noch die alleinigen Verkehrswege 
bildeten, das Kloster Mariamünster und das längst 
verschwundene „Gutleuthaus“ erbaut, an der nach 
. Eisenberg ziehenden Strasse das Kloster Kirsch¬ 
garten. (ln ganz Südwestdcutschland kann man aus 
dem' Vorkommen der beiden Flurnamen „Gutleut" 
und „Kirschgarten" mit Sicherheit auf das Vorhanden¬ 
sein einer Römerstrasse schliessen.) Mit letzterer 
Strasse zusammen verlässt noch eine dritte Römer¬ 
strasse die Stadt, welche sich in der Nähe des neu 
entdeckten Grabfeldes von ihr trennt, um sofort 
westwärts zu ziehen. Dieselbe, Jetzt noch „Hoch¬ 
strasse“ genannt, zieht in gerader Linie auf der 
Höhe hin, und an der Stelle vorüber, wo seiner Zeit 
die im Mainzer und Bonner Museum befindlichen, 
berühnHcn, durchbrochenen und geschliffenen Gläser 

g efunden worden sind. Das jetzt aufgefundene 
räberfeld liegt in seiner ganzen Ausdehnung eben¬ 
falls auf v. Heyl’schem Fabrikgebiete. Es ist dies 
bis jetzt die fünfte der in einem grossen Halbkreise 
um die Stadt gelagerten römischen Nekropolen, an 
welche sich meist noch grössere fränkische Grab¬ 
felder anschliessen.. Mit der Exploricrung dieses 


neuen Gräberfeldes ist sofort begonnen worden. Es 
fanden sich bereits 6 Steinsärkophage und 6 Be¬ 
stattungen in Holzsärgen mit ihren charakteristischen 
Beigaben. Näherer hierüber wird demnäscht be¬ 
richtet werden. — Nachtrag. Ein aufgedeckter 
Sarkophag enthielt ein in Gyps gebettetes Skelett, 
welches 2 Münzen der Konstantinischen Zeit In der 
Hand hielt. Neben dem Sarg standen folgende 
Gegenstände: i grosse Schüssel aus roter (Sigillata) 
Erde mit Fabrikmarke, 1 Thonbecher, 2 grössere 
und 3 kleinere Teller; dabei fand sich ein noch 
näher zu bestimmendes Tiergerippe“. q. 

• 

* « 

Uebergang von Kohle in Graphit. Das 
chemische Element Kohlenstoff kommt in den ver¬ 
schiedensten Modifikationen vor; es gibt kaum grös¬ 
sere Gegensätze als der Diamant und die Holzkohle 
oder der Graphit. Auch in ihrem Verhalten gegen 
den elektrischen Strom sind sie durchaus verschie¬ 
denartig. Diamant, reine Holz- und Steinkohle, so¬ 
wie sämdiche festen Kohlenstoffverbindungen sind 
Nichtleiter, während der Graphit ein guter Leiter 
ist (Glühlampe, Bogenlampe, Bunsen’sches Element). 
— Nun gehen die meisten Modifikationen des Koh¬ 
lenstoffs, ebenso w’ie die Kohlenstoffverbindungen 
bei genOeendem Erhitzen in Graphit über, werden 
also aus Nichtleitern zu Leitern der Elektrizität. — 
Brion') untersuchte, bei welcher Temperatur 
Übergang stattfindet und verwendete zu seinen Ver¬ 
suchen Cellulose und Bambusfaser (die man auch 
in Glühlampen benutzt). Die Fasern wurden unter 
den erforderlichen Bedingungen erhitzt,, rasch heraus¬ 
gezogen und der Widerstand gemessen. Die Tem¬ 
peratur wurde mit dem Chateuer’schen Platin-Rho- 
dium-ElIement*) bestimmt. Es zeigte sich, dass 
zwischen 735" und 780" der Widerstand von 10400 
S.-E. rasch abnahm und bej 1060* auf 37 S.-E. gesun¬ 
ken war. — Ferner aber machte Brion die merk¬ 
würdige Beobachtung, dass nach dem Erkalten ein 
Rückbildungsprozess beginnt, dass nämlich der Wi¬ 
derstand tage- selbst wochenlang wieder etwas 2m- 
nimmt und zwar um so mehr, je weniger hoch die 
Faser erhitzt worden war. b. 


J. Stoklasa*) zeigt die hohe Bedeutung des 
Lecithin *) für das Leben der Pflanze, er beweist, 
dass Phosphor ein Bestandteil des Chlorophylls') 
ist und dass ohne ihn die Entwicklung des Chloro- 
hylls unmöglich ist. Nach seinen Untersuchungen 
esitzen die männlichen Geschlechtszellen höherer 
Phanerogamen einen hohen Lecithingehalt, womit 
eine neue Ähnlichkeit zwischen den tierischen und 
pflanzlichen Geschlechtszellen erwiesen ist. 

1) 'U'i cd e m a □ d's Annalen, Bd. LIX, S. 715. 

<1 In einer der nächsten Nummern werden wir einen Artikel 
über Messung hoher Temperaturen bringen. 

’l Ber. d. ehern. Ges. XXXIX. No. 17. 

<) Lecithin ist eine phosphorsfturehaltige organische Ver¬ 
bindung. 

Chlorophyll ist der grüne FarbatoflT der Pflansen. 


Sprechsaal. 

Herrn Dr. C. in R. Ihren Wunsch haben wir 
Herrn Dr, Tetzner vorgetragen. 


No. la der Umschau wird enthalten: 

Müsebcck, Vor hundert Jahren. — Landgerichurat D., Rechts- 
entwickeluDg J896. — Peiser, Die Entstehung des Alphabets. — 
Reeker, Giftgchalt parasitischer Würmer. — V’alenta, Die Photo¬ 
graphie in den natürlichen Farben. (Schlussl. — Ritterband, Die 
ägyptische Augenkrankheit. - Nestler, Ein Re/bmiprojekt. 


G. Horstmaun's Druckerei. Frankfurt a. M. 


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DIE UMSCHAU 


ÜBERSICHT ÜBER DIE FORTSCHRITTE UND BEWEGUNGEN AUF 
DEM GESAMTGEBIET DER WISSENSCHAFT, TECHNIK, 


Wöchentlich eine Nummer. 

Zu beziehen durch 
Alle Buchhandlung:ea und 
Postanstaltcn. 

Postzcitung^spreisliste No. 7331 a. 

Verlag von: 

H. Bechhold Verlag, Frankfurt a. M. 


LITTERATUR UND KUNST 

herausgegeben von 

DR. J. H. BECHHOLD 


Neue Krlme iQiaj. 


Preis vierteljlhrlich 
M. a.50. 

Jahres-Abonnement 
Preis M. 10.—. 

Im Ausland nach Cour«. 
Verantwortlicher Redakteur: 

Otto Adolf Wolters, Frankfurt a. M. 


^ 12. I. Jahrg. 


Nachdruck aus dem Inhalt der Zeitschrift ohne Erlaubnis 
der Redaktion verboten. 


1897. 20. Mafz. 


Vor hundert Jahren. 

Eine Betrachtung zur Centenarfeier. 

Von Erkst MOsebeck. 

Ein Säkulum ist in diesen Tagen ver¬ 
flossen, seitdem Kaiser Wilhelm I., der Be¬ 
gründer des deutschen Einheitsstaates, das 
Licht der Welt erblickte. All-Deutschland 
rüstet sich, die Gedenkfeier dieses Tages fest¬ 
lich zu begehen und sich die gewaltigen Er¬ 
folge dieses langen Lebens noch einmal vor 
Augen zu führen. 

Die Historie darf nicht allein an den Er¬ 
folgen haften bleiben. Bedeutsamer ist die 
Frage: Wie ist das, was ist, geworden, wie 
ist es entstanden? So lenken sich die Blicke 
des Geschichtsschreibers bei einer solchen 
Feier unwillkürlich zurück auf die ersten Le- 
bensjahre des Helden und suchen in jener 
Zeit den Anknüpfungspunkt zu finden, der 
in ihm ein vergangenes Zeitalter mit einem 
neuen verbindet und den ersten Keim jener 
Ideen und Gedanken, die in späteren Jahren 
feste Gestaltungskraft und Realität gewonnen 
und ihn zum Schöpfer des deutschen Reiches 
gestempelt haben. 

Jeder die tiefsten Tiefen der menschlichen 
Gesellschaft in Erregung setzende und auf¬ 
rüttelnde Fortschritt in der Geschichte beruht 
auf dem Konflikt der schwindenden und wer¬ 
denden Ideen, auf dem Konflikt des bestän¬ 
digen, zähen Festhaltens an Theorieen, die 
ihr Teil zur Entwickelung der Menschheit 
beigetragen haben und anfangen, sich zu 
überleben, mit dem frischen und ungestümen 
Vorwärtsdrängen neuer Prinzipien, die den 
Augenblick nicht erwarten können, wo sie 
menschen- und völkerbeglückend in den alten 
Staatengebilden ihren Einzug halten. 

Eine solche Zeit des Konfliktes waren das 
letzte Jahrzehnt des ausgehenden 18. und die 
ersten des beginnenden 19. Jahrhunderts. Ein 

Umschau 1897. 


Weltkampf war im Anzug, als Kaiser Wil¬ 
helm I. geboren wurde. 

Am Schluss des vorigen Jahrhunderts er¬ 
reichte die romanisch-germanische Staatsidee, 
wie sie sich seit der Reformation herausge¬ 
bildet hatte, mit ihren beiden Prinzipien, dem 
absolut monarchischen und ständischen, in 
dem aufgeklärten Despotismus ihren Höhe¬ 
punkt. Das herrschende war das monarchische 
Prinzip; das ständische sah sich in allen 
Staaten nach langen Kämpfen zurückgedrängt. 
In diese der Idee nach gleichgeformteri euro- 
päischen Welt kam von Nord-Amerika her 
eine neue Tendenz: die republikanische. — 
Unglücklicherweise gewann sie zuerst in 
Frankreich Eingang, wo die Schäden des 
alten Regime seine Vorzüge weit überwogen, 
und wo die gebildete Welt durch eine ma¬ 
terialistische Philosophie zu gleicher Zeit mit 
der gleichen Idee sich vertraut gemacht hatte. 
Nicht von oben herab, sondern von unten 
herauf sollte die Staatsgewalt geordnet wer¬ 
den. Beide proklamierten die Volkssouveräni¬ 
tät, die einen von idealen, reformatorischen, 
die andern von rein materiellen, revolutio¬ 
nären Gesichtspunkten geleitet. Trotz aller 
Reformversuche vermochte die bestehende 
Gewalt nicht mehr den Ansturm der durch 
jene Ideen und die soziale Not bewegten 
Volksmassen zu bändigen; gleich einer Hydra 
wuchsen sie an; in schneller Aufeinanderfolge 
wurde die konstituierende Nationalversamm¬ 
lung von der gesetzgebenden, und diese von 
dem Nationalkonvente abgelöst, der am 
21. Sept. 1792 das Königtum abschaffte und 
Frankreich zur Republik erklärte. Es war nur 
noch ein Schritt von der Verkündigung der 
Menschenrechte, der Aufhebung der privi¬ 
legierten Klassen und der Abschaffung des 
Königtums zur vollen Herrschaft des in voller • 
Gährung sich befindenden Pöbels, zur Hin¬ 
richtung des Königs, zum Terrorismus. Auf 
allen Gebieten des staatlichen Lebens herrschte 

la 




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202 


Müsebeck, Vor hundert Jahren. 


vollständige Auflösung: auf dem sozialen und 
wirtschaftlichen, dem politischen und mili¬ 
tärischen. Allein damit nicht genug! Von An¬ 
fang an machte sich das Bestreben geltend, 
die neuen verschwommenen Ideen von Frei¬ 
heit, Gleichheit, Brüderlichkeit, von Verfass¬ 
ung und Volkssouveränität auch den übrigen 
Staaten mitzuteilen und sie damit zu be¬ 
glücken. Es war die Frage, wie weit diese 
imstande sein würden, sie, soweit sie be¬ 
rechtigt waren, aufzunehmen und zu verarbei¬ 
ten, soweit sie aber unberechtigt waren, in 
ihre Grenzen zurückzuweisen. 

Ohne Frage war dasPreussen Friedrichs des 
Grossen die vollkommenste Erscheinungsform 
des aufgeklärten Despotismus. Allein bald 
zeigte es sich aufs deutlichste, dass ein Or¬ 
ganismus, wie der friedericianische Staat es 
war, eng mit einer genialen Persönlichkeit 
verknüpft war, die alle Fäden des Staatslebens 
in der Hand hielt, dass er ohne sie nicht 
bestehen konnte. Der Nachfolger Friedrich 
Wilhelm II. verstand es nicht, das Überkom¬ 
mene Erbe nach innen auszubauen; unsicher 
tastete er in Reformen umher und ging auf 
Einrichtungen Friedrich WHhelms I. zurück, 
anstatt einen Neubau zu unternehmen. Das 
Heer- und Finanzwesen, die beiden Stützen 
der friedericianischen Monarchie, wurden ver¬ 
nachlässigt; der Nationalstolz, der sich an 
den Heldenthaten des Vorgängers aufgerich¬ 
tet hatte, erlahmte; in den einzelnen Pro¬ 
vinzen machten sich partikularistische Be¬ 
strebungen geltend, eben weil die Persönlich¬ 
keit fehlte, welche die divergierenden und 
centrifugalen Strömungen zusammenhielt. An 
die Stelle des flachen Rationalismus trat eine 
mystische Frömmelei und platte Schöngeisterei, 
die in elende Sittenlosigkeit am Hofe und in 
der Gesellschaft ausartete. Von den neuen 
Ideen, die in Frankreich die Oberhand ge¬ 
wonnen, spürte man im politischen Leben in 
Preussen und Deutschland nichts; nur in der 
Theorie entstand eine Freiheitsbewegung, die 
in Kant ihren Höhepunkt fand. Sonst herrschte 
in Land und Stadt selbstzufriedene Ruhe¬ 
seligkeit. 

Wie sollte ein solches Land dem Ansturm 
der neuen Ideen, der mit elementarer Gewalt 
herannahte. Widerstand leisten? Kein trau¬ 
rigeres Bild in der neueren Geschichte als 
der Verlauf des ersten Koalitionskrieges gegen 
das republikanische Frankreich! Preussen 
schloss bereits 1795 den unglückseligen Se¬ 
paratfrieden zu Basel, um seine lüsterne Be- 
, gier nach der polnischen Beute befriedigen 
zu können. Es vergass seine deutsche Auf¬ 
gabe vollständig und verfiel in Süddeutsch¬ 
land allgemeiner Verachtung. Und im Innern 
blieb dieselbe Stagnation alles öffentlichen 


Lebens. Aus dem ehemals germanischen Staate 
war ein deutsch-slavisches Mischreich gewor¬ 
den; es fanden sich keine Kräfte, um die 
übermässigen Vergrösserungen dem alten 
Staatswesen anzugliedern. 

So befand sich der Staat Friedrichs des 
Grossen schon thatsächlich in vollster Auf¬ 
lösung, als Friedrich Wilhelm III. 1797 die 
Zügel der Regierung ergriff. Mit Jubel wurde 
der neue Herrscher'begrüsst, hoffte man doch, 
dass er den Wagen wieder in das alte, rich¬ 
tige Geleise bringen werde. Allein nicht da¬ 
rum handelte es sich, sondern um die Auf¬ 
findung eines neuen Geleises. Deshalb waren 
alle Einzelreformen vergeblich. Nach aussen 
setzte er die schlaffe Friedenspolitik seine# 
Vaters fort; er wollte strenge Neutralität in 
den Kämpfen wahren, die sich zwischen 
Frankreich und den übrigen Mächten ent¬ 
spinnen mussten. Denn dort hatte sich be¬ 
reits ein Mann an die Spitze des Staates 
geschwungen, der der ganzen Welt Gesetze 
vorzuschreiben und das alte karolingische 
Weltreich wiederherzustellen sich anmasste: 
Napoleon I. Ruhig sah Preussen dem Unter¬ 
gang der alten Staatsformen zu und Hess sich 
in eine Position drängen, die unhaltbar wurde. 
Bis zum letzten Augenblick hoffte Friedrich 
Wilhelm, dass Napoleon die Neutralität ge¬ 
gen Preussen bewahren werde. Von ihr er¬ 
wartete er alles. Sie war sein oberstes Prin¬ 
zip in jener Zeit, und von diesem aus hat 
man alle Handlungen des Königs bis 1806 
zu beurteilen. Und wie weit war ein Na¬ 
poleon davon entfernt! Systematisch brachte 
er Preussen in jene isolierte Lage, in der es 
sich 1806 bei dem Ausbruch des Kampfes 
befand, um es dann mit seiner erdrückenden 
Übermacht zu Boden zu werfen. 

Fürst, Armee und Volk, sie alle trugen 
die Schuld an dem Untergange des friede¬ 
ricianischen Staates. Keiner traute weder sich 
selbst noch einem andern. Beispiellos wie 
das Aufsteigen Preussens war auch sein Nie¬ 
dergang; mit froher Schadenfreude sah Na¬ 
poleon den Staat, auf dem allein Deutschlands 
Hoffnung nach der Gründung des Rheinbun¬ 
des noch beruhte, zusammenbrechen. In zwei 
Schlachten war die stolzeste Armee vernichtet. 
Ehrlos vergassen die Generale ihre Pflicht 
und lieferten die ihnen anvertrauten Festun¬ 
gen dem Feinde aus. Teilnamlos liess der 
gemeine Soldat das Unglück über das Vater¬ 
land ergehen. In niedriger Unterwürfigkeit 
schmeichelte ein Teil der Presse dem rück¬ 
sichtslosen Eroberer und rechnete es dem 
eigenen Vaterlande als ein Verbrechen an, 
dass es ihm auf seinem Siegeszuge hatte 
widerstehen wollen. 

Aber schon bei dem Einzuge Napoleons 


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MOsebeck, Vor hundert Jahren. 


203 


in Berlin zeigte sich ein Umschlag der Volks¬ 
stimmung. In dem alten preussischen Adel 
und Männern wie Schleiermacher, Fichte, 
Niebuhr erwachte die vaterländische Be¬ 
geisterung, im Volke zeigte sich wieder sitt¬ 
licher Ernst. Niebuhr schrieb auf der Flucht 
nach Königsberg: „Ich habe in diesen Tagen 
nirgends mehr so viel Kraft, Ernst, Treue 
und Gutmütigkeit vereinigt zu finden erwartet; 
mit einem grossen Sinne geleitet wäre dies 
Volk der ganzen Welt unbesiegbar gewesen.“ 
Allein das Mass des Unglücks war noch nicht 
voll: die deutschen Bundesgenossen fielen 
ab und traten in den Rheinbund ein, die 
Bewohner der polnischen Provinzen eilten 
unter die Fahnen des rettenden Imperators. 
Das Bündnis mit Russland konnte den wei¬ 
teren unglücklichen Verlauf des Krieges nicht 
aufhalten. Nach der Schlacht bei Friedland 
brach der Mut des weichherzigen Alexander I. 
zusammen, und er beeilte sich dem Gegner 
einen Waffenstillstand anzubieten. Beide 
schlossen ein unnatürliches Schutz und Trutz¬ 
bündnis mit einander, einigten sich zu einem 
Kriege gegen England, das allein noch dem 
Weltreiche erfolgreichen Widerstand geleistet 
hatte, und zwangen Preussen, sich ihrem ge¬ 
meinsamen Willen zu beugen. 

Der Friede war noch schlimmer als der 
Krieg; Preussen wurde, wenn nicht förmlich, 
so doch thatsächlich ein Vasallenstaat Frank¬ 
reichs. 

Und trotzdem: diese DemütigungPreussens 
war nötig. Kein geringerer als Bismarck sagt 
darüber: „Ich kann in dem ganzen Gange, 
den uns Gottes Vorsehung geführt hat, doch 
nur eine besondere Vorherbestimmung er¬ 
kennen. Selbst die Schlacht, die für ein 
preussisches Herz mit dem Namen Jena 
schmerzliche Erinnerungen weckt, war not¬ 
wendig, wenn die geistige Reaktion in Preussen 
erfolgen sollte.“ 

Eine geistige Reaktion, eine geistige Re¬ 
formation an Haupt und Gliedern ging in 
der That vor sich. Wirkt die französische 
Revolution in ihrem Ursprung und Fortgang 
niederdrückend, so hinterlässt die preussische 
Reorganisation in den Jahren 1807 — 1812 
einen erhebenden Eindruck auf Herz und Ge¬ 
müt. Den Menschenrechten wurden hier die 
Menschenpflichten gegenObergestellt; hatten 
sich in der französischen Revolution alle rein 
materiellen Kraftäusserungen entfaltet, so 
strebte die preussische Reorganisation nach 
einer möglichst grossen Stärkung der sitt¬ 
lichen Kraft. Kurz: Was Frankreich auf blu¬ 
tigem Wege zu erreichen vergebens sich be¬ 
müht hatte, das suchte Preussen auf fried¬ 
licher Bahn zu erlangen: Vernichtung der 
mechanischen Ordnung des Polizeistaates, Er¬ 


richtung eines auf persönliche und sittliche 
Freiheit, Selbstbestimmung und Selbstentfalt¬ 
ung jedes Einzelnen begründeten National¬ 
staates. Erst in diesen Jahren wurde Preussen 
der wahrhaft deutsche Staat, der es seitdem 
geblieben ist, in dem sich die Besten und 
Kühnsten des ganzen deutschen Volkes ver¬ 
sammelten, und in dem sich jetzt die Ver¬ 
söhnung des kriegerischen und soldatischen 
Volkstums mit der Gedankenfülle der modernen 
deutschen Bildung vollzog. Nicht die Zuge¬ 
hörigkeit zu den privilegierten Klassen galt 
als das, was den Menschen ausmacht, als der 
Wert des Menschen, sondern seine Kraft und 
Reinheit des Willens, seine freie Hingabe an 
das Vaterland. Diese Seelengrösse nebst einem 
hohen sittlich-religiösen Pflichtgefühl verband 
jene Männer mit einander, die trotz ihrer 
scharf ausgeprägten Charaktere sich zusam¬ 
menfanden, einig in dem Bestreben, die Frei¬ 
heit und Ehre des Vaterlandes wieder her¬ 
zustellen. Die Grundpfeiler unserer modernen 
Staatsbildung sind in jenen Jahren in Preussen 
zuerst in ihrer Gesamtheit ausgebildet: Her¬ 
stellung der persönlichen und wirtschaftlichen 
Freiheit, Begründung der Selbstverwaltung, 
Errichtung des Einheitsstaates in der Ver¬ 
waltung, Neugestaltung des Heeres zum Volks¬ 
heere, geistige und religiöse Durchbildung 
aller Bevölkerungsklassen. Es war ja unmög¬ 
lich, alle diese Prinzipien in vollem Umfange 
durchzuführen in einem Staate, der der po- 
litischeix, militärischen und finanziellen Selbst¬ 
ständigkeit entbehrte, aber dass sie in dieser 
Lage soweit durchgeftlhrt sind, wie es that¬ 
sächlich geschehen ist, ist das beste Zeichen 
von der sittlichen Grösse und geistigen Wil¬ 
lenskraft ihrer Begründer sowie des Volkes, 
das mit ihnen durch ein lebendiges Gefühl 
der Einheit verbunden war. 

Der König zeigte sich als eifriger För¬ 
derer dieser Reformgedanken. Seine aus¬ 
wärtige Politik wurde durch die äusserste 
Vorsicht bestimmt. 

Von Preussen allein erhoffte er keine Ver¬ 
nichtung des Weltreiches; nur eine Allianz 
der drei Ostmächte schien ihm eine solche 
vollbringen zu können. Darum lehnte er auch 
alle Vorschläge ab, die auf eine bewaffnete 
Volkserhebung oder Anschluss an Österreich 
allein und Kampf gegen Frankreich hinziel¬ 
ten. Ruhig und besonnen wartete er, bis ihm 
der rechte Augenblick gekommen schien. Und 
als er zum Streite rief, da strömte sein treues 
Volk von allen Seiten herbei zum Kampf für 
Freiheit und Recht, da gab es keinen Unter¬ 
schied zwischen Reich und Arm, Jung und 
Alt, Vornehm und Gering, Gebildet und Un¬ 
gebildet. Der eine Gedanke beseelte sie alle, 
mitzuwirken für die Errettung des Vaterlan- 

12 * 


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Reeker, Über den Giftgehalt parasitischer Würmer. 


des aus welscher Zwingherrschart. Friedrich 
Wilhelm gewann den Glauben an sein Volk 
wieder, den er in den Zeiten der Not ver* 
loren hatte. Die Befreiungskriege waren vor 
allem ein Werk Norddeutschlands, Preussens; 
der Süden lag tief befangen in den Banden 
Napoleons; erst allmählich erwachte auch hier 
das Volk zu einem besseren Morgen. 

Der Erfolg entsprach mit nichten den Er¬ 
wartungen, die die besten Männer auf jenes 
gewaltige Völkerringen für Deutschland ge¬ 
setzt hatten. Die idealen Träume eines Stein 
und Arndt von der Wiederherstellung des 
heiligen Römischen Reiches deutscher Nation 
zerrannen in ein Nichts. Weder Fürsten noch 
Völker waren reif, um den Gedanken eines 
deutschen Einheitsstaates zu erfassen; sie 
mussten erst dazu erzogen werden. Das we¬ 
sentlichste Resultat, welches durch die Frei¬ 
heitskriege für Deutschlands politische Ge¬ 
staltung erzielt wurde, ist und bleibt die Wie¬ 
derherstellung Preussens als Grossmacht. Los¬ 
gelöst von seinen überwiegend slavischen 
Interessen konnte es nun in einer Zeit inne¬ 
ren Ausbaues sich zu seinem ferneren Berufe 
rüsten, Deutschland unter seiner Führung zu 
einem einheitlichen Staatswesen zu gestalten. 
Dazu bedurfte eS noch der Durchführung 
zweier Ideen: des Konstitutionalismus und 
der engeren zweckmässigeren Verknüpfung 
Preussens mit Deutschland. Erst dann konnte 
das grosse Werk der Einigung vor sich 
gehen. 

Eine neue Zeit wurde in den Jugend¬ 
jahren Kaiser Wilhelm I. geboren: der im 
Fürsten und in seinem Willen verkörperte 
absolute Staat des i8. Jahrhunderts w'urde 
abgelöst von dem auf der Übereinstimmung 
zwischen Fürst und Volk begründeten reprä¬ 
sentativen Nationalstaate. Die Idee eines 
solchen war auch in Deutschland vorhanden, 
aber die reale Grundlage eines gesunden 
politischen Lebens in den Einzelstaaten und 
die Persönlichkeit, die Idee zu verwirklichen, 
fehlten. Kaiser Wilhelm ist daher iveder Jür 
deutsch-nationale Gedanken erzogen noch in 
ihnen aufgewachsen, sondern in ausschliesslich 
preussischen Bestrebungen und Grundsätzen; 
nur allmählich haben sich in seinem angebore¬ 
nen deutschen Gefühle die Gedanken einer 
deutschen Einheit gebildet, nachdem die Geschichte 
konkrete Vorbedingungen für sie geschaffen 
hatte. Erst in den sechziger Jahren ist die 
Idee des Einheitsstaates unter Preussens Führ¬ 
ung in ihm lebenskräftig geworden, erst da¬ 
mals hat er sie in ihrer Bedeutung als hi¬ 
storisch geworden erkannt. Sein eigenartiges 
l 'erdienst besteht darin, dass er sie noch in 
so späten Jahren aufgenommen und ^verarbeitet 


hat, dass er mit seiner ganzen Persönlichkeit 
für ihre Verwirklichung eingetreten ist. 


Über den Giftgehalt parasitischer Würmer. 

Von H. Re F. K ER. 

Schon in sehr früher Zeit waren die im 
Menschen schmarotzenden Würmer (Helmin¬ 
then) bekannt und gefürchtet. Sind auch die 
Zeiten des 17. und 18. Jahrhunderts vorüber, 
wo selbst hervorragende Pathologen, wie 
Leuwenhoek, Hartsoeker, Andryu. a., 
kaum eine gefährliche Krankheit kannten, 
welche sie nicht auf Parasiten, besonders auf 
Eingeweidewürmer zurückführten, so erblickt 
doch auch die heutige Wissenschaft in jenen 
schmarotzenden Würmern keineswegs harm¬ 
lose Gäste, sondern weiss, dass sie unter 
Umständen ihren Träger schwer an Leib und 
Leben zu schädigen vermögen. 

Uber die Art und Weise, wie diese Wirk¬ 
ung zu Stande kommt, unterschied man bis auf 
die Gegenwart mit dem Altmeister Leu ckart 
ein dreifaches. Einmal wirken die Schma¬ 
rotzer dadurch, dass sie auf Kosten ihres 
Wirtes wachsen und sich vermehren, mithin 
ihm Nahrungsstoffe entziehen. Die zweite 
Wirkung beruht auf ihrer räumlichen Aus¬ 
dehnung, indem sie auf ihre Umgebung drücken 
oder die Kanäle, in welchen sie leben, ver¬ 
stopfen. Drittens aber kommen ihre Beweg¬ 
ungen in Betracht, welche je nach den Um¬ 
ständen bald Schmerzen, bald Entzündungen 
verschiedenen Grades und Ausganges, bald 
auch Durchbohrungen und Zerstörungen der 
bewohnten Organe hervorrufen. 

In letzter Zeit aber hat man viertens noch 
erkannt, dass die Helminthen einen Giftstoff, 
ein Toxin oder Leukomatn absondern, welches 
krank machen und töten kann. Dem bekann¬ 
ten Helminthologen Dr. med. v. Linstow') 
gebührt das Verdienst, in einer zusammen¬ 
fassenden Abhandlung eine Reihe beweiskräf¬ 
tiger Fälle zu weiterer Kenntnis gebracht 
und damit das Interesse grösserer Kreise für 
diese bedeutsame Frage geweckt zu haben. 

Lassen wir nun einige bekanntere Hel¬ 
minthen vor uns Revue passieren, zunächst 
einmal die Bandwürmer, jene darmlosen Platt¬ 
würmer, welche ihre flüssige Nahrung direkt 
durch ihre‘Haut aus den Gewebssäften oder 
dem Speisebrei ihrer Träger aufnehmen, an¬ 
dererseits aber wohl jedem Leser noch durch 
zwei andere Merkmale bekannt sind; denn 
einmal ist der geschlechtsreife im Darme hei¬ 
matende Bandwurm durch seine Gliederung 

*) Internationale Monatsschrift f. Anat. u. Phy- 
siol. 1896. Bd. XIIl. Heft 5. 


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Reeker, Ueber den Giftgehalt parasitischer Würmer. 


205 


in einen Kopf (scolex) und meist zahlreiche 
Glieder (Proglottiden) gekennzeichnet, zum 
anderen besitzt er ein Larvenstadium, die 
Finnen (BlasenwQrmer oder Cysticerken), 
welche das Bindegewebe parenchymatöser 
Organe (Muskeln, Leber, Hirn u. s. w.) be* 
wohnen. 

Der grösste menschliche Bandwurm ist der 
Botriocephalus latus L., welcher bis zu 12 m 
lang und etwa i cm breit wird; der spatel- 
förmige Kopf weist 2 Sauggruben auf den 
schmalen Kanten auf, jedes reife Glied eine 
,.Wappenlilien"- ähnliche Zeichnung. Seine 
Larve bewohnt verschiedene Fische, wie 
Barsch, Quappe, Saibling, Lachsforelle, See¬ 
forelle, Äsche, Hecht, und gelangt beim Ge¬ 
nüsse derartig verseuchten, ungenügend ge¬ 
bratenen oder gekochten Fleisches in den 
Darm des Menschen, wo sie sich zum ge- 
schlechtsreifen Wurm entwickelt. Daher trifft 
man den Botriocephalus latus besonders in 
fischreichen Gegenden, so in den Ostseepro¬ 
vinzen, in der Schweiz und in Oberitalien. 
Dieser Bandwurm ruft nun in seinem Träger 
nicht selten sehr böse Krankheitserschein¬ 
ungen hervor, besonders eine schwere Anä¬ 
mie (Blutarmut), welche den Tod im Gefolge 
haben kann. So beschreibt Schuman 72 
Fälle, von denen 12 tötlich verliefen. Die 
Symptome dieses Leidens sind Blässe der 
Haut, Herzgeräusche, Fieber, Ödeme, grosse 
Hinfälligkeit, Abmagerung, blassrotes, oft 
dünnflüssiges Blut, sehr erhebliche Vermin¬ 
derung der roten Blutkörperchen, also genau 
die Erscheinungen der perniciösen Anämie; 
charakteristischer Weise tritt aber nach Ab¬ 
treibung des Parasiten sogleich vollständige 
Genesung ein. Man muss daher Schuman 
Recht geben, wenn er die Anämie auf ein 
vom Parasiten abgesondertes, vom Darm re¬ 
sorbiertes und im Blut cirkulierendes Gift zu¬ 
rückführt, welches die roten Blutkörperchen 
zum Zerfall bringt. — Übrigens hat schon 
Shapiro eine Giftwirkung vermutet. 

Noch zwei andere grosse Bandwürmer 
lassen es sich im Menschen wohl sein, Taenia 
solium L., deren Finnen im Schwein leben, 
und Taenia saginata Goeze (mediocanellata 
KOchenm.), deren Larven sich im Rinde 
finden. Die von diesen Bandwürmern her¬ 
vorgerufenen Erscheinungen sind weniger 
schwer, wenngleich sie ihren Wirten fast 
stets den Weg zum Arzte zeigen; .nach L. 
handelt es sich um kolikartige Schmerzen, be¬ 
sonders im nüchternen Zustande, krankhafte 
Verdauung, unregelmässigen Wechsel von 
Durchfall und Verstopfung; bei längerem 
Aufenthalte im Darm rufen aber auch diese 
Cestoden eine Anämie hervor, begleitet von 
nervösen Erscheinungen, Ohrensausen, Sin¬ 


nestäuschungen, Schwindel, Ohnmächten, 
Gliederschmerzen, Epilepsie und sogar Geis¬ 
teskrankheiten, und diese sämtlichen Erschein¬ 
ungen, welche man sicherlich auf eine Gift¬ 
wirkung zurückzufilhren hat, lassen sich durch 
eine Abtreibung des Parasiten heben. 

Wie erwähnt, lebt die Finne der Taenia 
solium, welche den Namen Cysticercus cel¬ 
lulosae führt, gewöhnlich im Schwein; indes¬ 
sen ist zu beachten, dass man sie auch wie¬ 
derholt im Menschen gefunden hat; in einer 
Reihe von Fällen wird die Verunreinigung 
der Nahrung mit den Bandwurmeiern die Ur¬ 
sache gewesen sein, in anderen Fällen aber 
wohl eine Selbstinfektion, indem durch starke 
Brechbewegungen Bandwurmglieder in den 
Magen befördert und hier verdaut wurden, 
sodass die Embryonen die Freiheit erhielten 
und auswandern konnten. Gerät also diese 
Finne in den menschlichen Organismus, so 
ruft ihre Anwesenheit nicht stets eine Stör¬ 
ung hervor; im Muskel- und Unterhautbinde¬ 
gewebe sind sie meist ganz unschädlich und 
verkalken und vergehen, ohne dass der Trä¬ 
ger es merkt; an anderen Stellen aber, zu¬ 
mal in zarteren Organen, erweist sich die 
Larve als giftig; setzt sie sich z. B. in der 
Tiefe des Auges fest, so führt sie im Laufe 
der Zeit zur völligen Vernichtung des Seh¬ 
vermögens; am gefährlichsten jedoch ist ihr 
Vorkommen im Gehirn, wo sie Erscheinungen 
verschiedener Art hervorrufen kann. Nach 
L. sind die konstantesten Symptome Schwin¬ 
del und dumpfer Kopfschmerz, geistige Stumpf¬ 
heit bis zum Blödsinn, Verwirrtheit, Schlaf¬ 
sucht, Blindheit, Zittern, Schwäche und Er¬ 
starrung der Extremitäten, selbst stellenweise 
Lähmung. Indessen bleibt es selten bei die¬ 
sen'mehr chronischen Leiden; in der Regel 
gesellen sich partielle oder totale Krämpfe, 
epileptische Anfälle, Delirien u. s. w. hinzu, 
die nicht selten einen plötzlichen Tod herbei¬ 
führen. Jedoch auch in der Haut kann der 
Cysticercus nach v. Linstow Schmerzen, 
Rötung und Eiterung erzeugen, was er auf 
ein vom Parasiten abgesondertes Leukoma!n 
zurückführt. — Auch bei Schweinen führt 
die Finne häufig unter den Erscheinungen 
der Kachexie (Abzehrung) zum Tode. 

Im Darm des treuen Gefährten des Men¬ 
schen, des Hundes, der überhaupt für seinen 
Herrn die schlimmste Herberge gefährlicher 
Parasiten bildet, lebt ein kleiner, höchstens 
5 mm langer Bandwurm Namens Taenia 
echinococcus Sieb. Gelangen die Eier des¬ 
selben in den menschlichen Darm (durch 
Streicheln, Küssen der Hunde), so schlüpfen 
die Embryonen aus und erzeugen, besonders 
in Leber und Lunge, ungeheuere Geschwülste 
bis zu 10, ja 30 Pfund Schwere. In diesen 


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Reeker, Ueber den Giftgehalt parasitischer Würmer. 


Blasen ist nun ein schweres Gift enthalten; 
so ist schon lange bekannt, dass das Platzen 
von Echinococcus-Blasen die heftigste Perito¬ 
nitis (Bauchfellentzündung) hervorruft, welche 
in einigen Tagen, oft schon in wenigen Stun¬ 
den den Tod nach sich ziehen kann. Dabei 
ist es gleichgiltig, ob die Cyste operativ ge¬ 
öffnet wird oder durch einen Stoss oder von 
selbst platzt, öffnet man aber eine Echino¬ 
coccus-Blase unter den üblichen antiseptischen 
Vorsichtsmassregeln, sodass nichts von ihrer 
Flüssigkeit in die Gewebe oder eine Körper¬ 
höhle gelangt, so treten keinerlei üble Er¬ 
scheinungen auf. Nach Achard ist das gif¬ 
tige Prinzip ein Ptomain, während Gautier 
die in lebenden Organismen gebildeten Toxine 
Leukomalne nennt. 

Noch häufiger beobachtet man bei unse¬ 
ren Haustieren eine Echinococcen-Krankheit, 
die nach Röll sehr oft tötlich verläuft. 

Von den vielen anderen Bandwürmern 
bezw. Finnen, welche man in Tieren beob¬ 
achtet hat, wollen wir nur noch den Coenurus 
cerebralis Rud. hervorheben, d. h. den Fin¬ 
nenzustand der im Hundedarm lebenden Taenia 
coenurus Küchenm. Diese Larve lebt im Gross- 
him, selten im Kleinhirn und Rückenmark' 
von Schafen (gelegentlich auch Rindern), be¬ 
sonders bei Lämmern. Bei massenhafter Ein¬ 
wanderung tritt nach 10—14 Tagen eine hef¬ 
tige Entzündung des Gehirns und seiner Häute 
ein, die Tiere bekommen Krämpfe, fressen 
nicht mehr und sterben 4 — 6 Tage nach dem 
Auftreten der ersten Krankheitserscheinungen 
soporös; die Sektion zeigt Trübung und 
Schwellung der weichen Hirnhäute, grossen 
Blutreichtum des Gehirns und eitrige Exsu¬ 
date in der Umgebung der Coenurus-Blasen. 
Wenn die Einwanderung nicht so massenhaft 
geschieht, so verläuft die Krankheit mehr 
chronisch; da die Parasiten meist nur eine 
der beiden Grosshirnhälften bewohnen, treten 
Störungen im Gange ein, die sogen. Manege- 
Bewegungen, welche der Volksmund als Dreh¬ 
krankheit bezeichnet; bald aber folgen Blut¬ 
armut und Abmagerung, weiterhin Krämpfe 
und Zuckungen und nach einigen Monaten 
sterben die Tiere unter den Erscheinungen 
der Auszehrung. — Dass die Coenurus-Blasen 
ein Gift enthalten, hat schon Leuckart be¬ 
wiesen; ein Hund, welcher zerschnittene Coe- 
nuren von Gänseeigrösse gefressen, ging nach 
18 Stunden an einer äuserst heftigen Ent¬ 
zündung des Magens und Dünndarmes zu 
Grunde. 

Verlassen wir nun die Bandwürmer, die 
Cestoden, und gehen zu den FadenwUrmern, 
Nematoden, über, bei denen wir eine noch 
viel intensivere Giftwirkung kennen lernen 
werden. 


Als den gewöhnlichsten menschlichen Ein¬ 
geweidewurm dürfen wir den gemeinen Spul¬ 
wurm, Ascaris luntbricoides L., betrachten, 
der seinen Beinamen von der Ähnlichkeit 
mit dem Regenwurm (Lumbricus) erhalten; 
jedoch unterscheidet er sich von diesem schon 
durch den Mangel der Gliederung, weiterhin 
aber durch seine Grösse und Schlankheit; so 
wird das Weibchen 20 — 25 (selten 40) cm 
lang, das Männchen 15—17 (selten 25) cm. 
Für die starke Verbreitung dieser Tiere kommt 
ihre ungeheuere Fruchtbarkeit in Betracht, 
indem das Weibchen gegen 64 Millionen 
Eier enthält. — In vielen Fällen belästigt 
der Spulwurm seinen Träger gar nicht, in 
anderen aber ruft er Leibschmerzen, Übel¬ 
keit, Appetitmangel, Durchfall hervor, später 
Anämie und nervöse Erscheinungen bis zu 
Taubheit, Blindheit, Hysterie, Epilepsie, Ge¬ 
hirnkongestionen, Veitstanz, Halluncinationen, 
Geistesstörungen; in den schwersten Fällen 
erfolgt der Tod, wofür Leuckart eine ganze 
Reihe von Beispielen anführt. — Das heftige 
Gift der Spulwürmer spürt man schon, wenn 
man frische Exemplare aufschneidet; diesen 
entsteigt ein eigentümlicher, pfefferartiger Ge¬ 
ruch, der die Augen zum Thränen bringt; 
und hat man gar das Unglück, etwas von 
diesem Giftstoff auf die Bindehaut des Auges 
zu bekommen, so tritt eine äusserst heftige 
Entzündung ein, die sich nur nach geraumer 
Zeit mit Hilfe von Kokain und Kälte besei¬ 
tigen lässt. 

Ein anderer bösartiger Fadenwurm ist das 
Ancylostomum duodenale Dub., welches 1838 
von Dubini in Mailand entdeckt wurde. 
Noch im Jahre 1876 konnte Leuckart sagen, 
dass der Wurm diesseits der Alpen gänzlich 
fehle, da fand man im Jahre 1881, dass die 
Arbeiter des St. Gotthard-Tunnels nicht nur 
auf italienischer, sondern auch auf schwei¬ 
zerischer Seite massenhaft von diesem Para¬ 
siten befallen und teilweise auch dahingerafft 
wurden. Seitdem trat der Wurm im Gefolge 
der italienischen Arbeiter seine Wanderung 
nach Norden an und ist jetzt auch in Deutsch¬ 
land und Belgien verbreitet. Das Tierchen 
ist im männlichen Geschlecht nur 8—10, im 
weiblichen 12—18 mm lang, während seine 
Breite zwischen 0,5—1 mm schwankt. Seine 
Eier entwickeln sich in Schlamm, Kot und 
feuchter Erde zu kleinen Larven, welche in 
den Darm des Menschen zurückgelangt so¬ 
fort zum geschlechtsreifen Wurm heranwach¬ 
sen. Daher findet man diesen Parasiten vor¬ 
zugsweise bei Menschen, welche auf schlam¬ 
miges Trinkwaser angewiesen sind, wie die 
Fellahs in Ägypten, dann bei Leuten, welche 
mit feuchter Erde hantieren, wie die Ziegel¬ 
arbeiter, und neuerdings auch bei unsern 


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Reeker, Ueber den Giftgehalt parasitischer Würmer. 


207 


Bergarbeitern, bei denen ihn Italiener einge¬ 
schleppt haben, und bei denen er durch die 
Unreinlichkeit auf den unterirdischen Aborten 
und durch die gemeinsamen Vollbäder ver¬ 
breitet wird. Statt der vielen einzelnen 
Krankheitssymptome sei nur im allgemeinen 
bemerkt, dass der Wurm durch seine unheil¬ 
volle Thätigkeit im Dünndarm eine perniciöse 
Anämie, die sogen. Chlorosis aegyptiaca oder 
ägyptische Bleichsucht, hervorruft. Niemals 
beobachtet man eine einfache Blutarmut, son¬ 
dern stets auch Ernährungs- und Blutlauf¬ 
störungen, bis das Krankheitsbild endlich dem 
einer perniciösen Anämie gleicht. Wenn die 
Infektion andauert, ist Heilung ausgeschlos¬ 
sen; sehr bald oder nach einer chronischen 
Abzehrung erfolgt der Tod; wird die An¬ 
steckungsgefahr gehoben, der Parasit aber 
nicht beseitigt, so tritt eine langsame und 
unsichere Besserung ein, wenngleich der Tod 
nicht ausgeschlossen ist; als Lebensdauer die¬ 
ser Fadenwürmer gelten 3 — 4 Jahre. Bei 
Abtreibung des Schmarotzers erscheint die 
Prognose sehr günstig, nur bei schweren und 
veralteten Fällen, wenn schon Kachexie ein¬ 
getreten, bleibt sie zweifelhaft. — Hört, man 
nun, dass schon eine geringe Anzahl dieser 
Fadenwürmer (in einem Falle von Leich¬ 
ten st er n nur 29 Stück) die schwerste Anä¬ 
mie hervorzurufen vermag, so kann man das 
bösartige Leiden weder auf den winzigen 
Blutverlust noch auf die örtliche Darmreizung 
zurückftihren; man muss eine Giftwirkung, 
ein von dem Wurme abgesondertes Toxin 
annehmen; anders kann man es sich auch 
nicht erklären, dass an Ankylostomiasis Lei¬ 
dende bei der besten Ernährungsweise doch 
stets blutarmer wurden und weit mehr Stick¬ 
stoff im Harn und Kot absonderten, als sie 
mit der Nahrung einnahmen, während nach 
der Abtreibung der Parasiten der Eiweiss¬ 
zerfall sofort aufhörte; „da eine gewöhnliche 
Anämie keinen Ei weisszerfall bedingt und 
auch eine kleine Anzahl der Parasiten schwere 
Erscheinungen hervorrufen kann, so muss man 
annehmen, dass die Ankylostomen ein Proto¬ 
plasmagift absondern“. 

Ein sehr interessanter Nematode ist auch 
der Medina- oder Guineawurm, Dracunculus 
medinensis L., der bei den Einwohnern des 
tropischen Asiens, Afrikas und Amerikas im 
Unterhautbindegewebe oder in den serösen 
Höhlen lebt; während das Weibchen bis 80 cm 
lang wird, erreicht das noch nicht lange be¬ 
kannte Männchen nur 4 cm. Zunächst sind 
die durch den Wurm hervorgerufenen Be¬ 
schwerden minimal; bald aber tritt an der 
betreffenden Hautstelle eine furunkelartige 
Pustel auf, sodann Unbehaglichkeit und Kopf¬ 
schmerz, Fieber, Druck in der Magengegend 


und Übelkeit; der Herd des Wurmes wird 
schmerzhaft, beginnt zu eitern und liefert 
schliesslich einen Abscess, welcher von selbst 
aufbricht oder geöffnet wird; dabei können 
Konvulsionen und Delirien auftreten. In dem 
Geschwür tritt ein Teil des Wurmes zu Tage, 
den man seit uralter Zeit vorsichtig fasst und 
auf eine kleine Rolle wickelt, mit welcher 
man jeden Tag eine oder mehrere Umdreh¬ 
ungen macht, um das Abreissen zu vermei¬ 
den; denn dieses kann Gangrän, Verkrüppe¬ 
lung und Tod zur Folge haben, in allen 
Fällen aber bedingt es eine schwere Ent¬ 
zündung. Man könnte nun annehmen, dass 
der Parasit als Fremdkörper diese Entzünd¬ 
ungserscheinungen hervorruft; dem wider¬ 
spricht aber, dass die 150 Arten der Gattung 
Filaria (wozu der besprochene gehört) bei 
den Wirbeltieren unter der Haut, in den 
Lungen, zwischen den Magenhäuten, in der 
Brust- und Bauchhöhle, in der Augenhöhle, 
in Drüsen, in den Sehnenscheiden, im Herzen 
und in den Gefössen leben, ohne jemals Ent¬ 
zündungserscheinungen hervorzurufen; auch 
geht es nicht an, die beim Abreissen des 
Wurmes freiwerdenden Embryonen verant¬ 
wortlich zu machen, denn die Embryonen von 
Filaria Bancrofti leben zu Millionen im Blute 
des Menschen, wie man auch andere harm¬ 
lose Blutfilarien bei Wirbeltieren kennt; kurz, 
es bleibt nur die Annahme möglich, dass der 
Guinea-Wurm einen Giftstoff, ein Toxin, ab- 
sondert, welches besonders heftig beim Zer¬ 
reissen des Tieres zur Wirkung komiüt. 

Zu den gefürchtetsten Fadenwürmern ge¬ 
hört auch, seitdem ihre Kenntnis in weitere 
Kreise gedrungen, die Trichine, Trichina spi- 
ralis Owen. Man findet sie in zwei Stadien, 
die eingekapselte Muskeltrichine und die ge- 
schlechtsreife Darmtrichine. Erstere wurde 
schon 1836 bei der Sektion von Leichen ent¬ 
deckt und von Owen beschrieben, freilich 
alsProtozoe; die Darmtrichine hingegen wurde 
erst 1860 von Leuckart aufgefunden und 
ihr Entwickelungsgang von ihm, Virchow 
und Zenker aufgeklärt. Die Muskeltrichine 
liegt als ovale, zitronenförmige Kapsel (0,4 
bis 0,6 mm) in den Muskeln von Schwein, 
Ratte, Maus, Mensch, Kaninchen, Meer¬ 
schweinchen u. a. Säugetieren, nie bei Vögeln. 
In dieser Kapsel findet sich der i mm lange 
Wurm in spiraliger Aufrollung und bereits 
mit der Anlage der Geschlechtsorgane. Die 
Geschlechtsreife aber kann nur im Darme 
eines neuen Wirtes eintreten; sonst verkrei- 
den die Kapseln allmählich. Gelangen sie aber 
beim Genüsse trichinösen Fleisches etwa in 
die Magenhöhle eines Menschen, so werden 
sie durch den Magensaft aufgelöst; die Trichinen 
werden frei und geraten in den Dünndarm, 


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2o8 


Die Rechtsentwickelung im Jahre 1896. 


wo sie nach einigen Tagen geschlechtsreif 
{S 1,5 mm, 9 3—4 mm lang) werden. Ent¬ 
gegen der bisherigen Auffassung gebiert das 
Weibchen nicht schon hier seine mindestens 
1500 Junge, sondern durchbohrt die Darm¬ 
wand und setzt sie in die Lymphspalten ab. 
Durch diese Entdeckung As k a nazys erklärt 
sich auch die Ohnmacht der Therapie; denn 
bei der Eingabe von Gegenmitteln haben die 
Trichinen bereits den Darm verlassen. Die 
von Leuckart ausführlich beschriebenen 
Krankheitserscheinungen nehmen einen sehr 
stürmischen, von starkem Fieber begleiteten 
Verlauf, so dass man auf den Gedanken kom¬ 
men kann, Cholera, Typhus, Influenza, Rheu¬ 
matismus, Vergiftung (besonders durch Wurst¬ 
gift) vor sich zu haben. Zuerst treten sehr 
heftige Darmerscheinungen, Durchfülle und 
Erbrechen auf; demnächst ödem des Ge¬ 
sichtes, welches sich von dort weiter aus¬ 
dehnt, Schwerhörigkeit, Heiserkeit; der Harn 
erscheint nur in geringer Menge und rot von 
Farbe; weiter bemerkt man Ohnmachtsan¬ 
wandlungen, Bewusstlosigkeit, Delirien, der 
Puls wird unzählbar und verschwindend und 
vielfach erfolgt der Tod unter den Zeichen 
der Erschöpfung; das heftigste und unange¬ 
nehmste Symptom aber bilden die oft un¬ 
erträglich en Muskelschmerzen. Die Sektion 
zeigt intensive Darmentzündung, Anschwell¬ 
ung der Mesenterialdrüsen, Muskelentzündung, 
Infiltration der Lunge, sowie fettige Degene¬ 
ration der Leber und Nieren. Eine Erklärung 
fürdiCseKrankheitserscheinungen undSektions- 
befunde erhält man erst, wenn man sie auf 
ein von den Trichinen abgesondertes und im 
Blute kreisendes Gift zurückführt; „durch das 
von einem Toxin enthaltenden Blute ernährte 
Gehirn werden die typhösen Erscheinungen 
erklärt, in Lunge und Leber ruft das Gift 
die angeführten Veränderungen hervor und 
die Nieren erkranken, wenn sie dasselbe aus 
dem Blute aufnehmen und mit dem Harn ab¬ 
scheiden; die Trichinen gelangen in diese 
Organe nicht.“ Auch Askanazy hat sich 
zu der Annahme einer Vergiftung bekannt. 

Doch der Raum gebietet uns, zum Schlüsse 
zu kommen. Wir wollen daher nur noch kurz 
hervorheben, dass man auch bei einer ganzen 
Anzahl von warmblütigen Tieren beobachtet 
hat, wie sie durch zarte, kleine Fadenwürmer 
getötet wurden, und zwar unter Umständen, 
welche eine mechanischeWirkung ausschliessen 
und nur an eine toxische denken lassen. 

Wir haben also eine Reihe von Fällen 
kennen gelernt, die deutlich darauf hinweisen, 
dass bei der Schädigung, welche die Helmin¬ 
then auf den menschlichen Organismus aus¬ 
üben, die Hauptwirkung oft einem von ihnen 
abgesonderten Giftstoffe zukommt. 


Die Rechtsentwickelung im Jahre 1896. 

Zwiefach sind die Quellen des Rechts; 
es entsteht einmal durch die zwangsweise 
Anordnung der Staatsgewalt in Gestalt von 
Gesetzen, dann aber auch dadurch, dass ein 
bestimmter Grundsatz mit der Überzeugung 
von seiner rechtlichen Notwendigkeit in den 
Fällen, in welchen die Voraussetzungen für 
seine Anwendbarkeit gegeben sind, von den 
Angehörigen einer Volksgemeinschaft zur 
praktischen Anwendung gebracht wird. Im 
letzteren Falle sprechen wir von Gewohnheits¬ 
recht. Was in der Gesamtheit des Volkes 
sich abspielt, wiederholt sich in kleinerem 
Kreise: in lokal begrenzten Bezirken, in be¬ 
stimmten Berufskreisen,. Korporationen u. s. w. 
Die Produkte dieser Rechtsquellen treten 
häufig in Widerstreit mit einander. Die Ge¬ 
setzgebung würde sich selbst bankerott er¬ 
klären, wollte sie es dem Gutdünken der ihr 
Unterworfenen überlassen, ihre Anordnungen 
zu befolgen oder durch entgegengesetzte 
Gewohnheitsübung ausser Kraft zu setzen. 
Daher finden wir in fast allen Codificationen 
des Rechts von den Zeiten der römischen 
Kaiser bis in unsere Tage die ausdrückliche 
oder stillschweigende Anordnung, dass es dem 
Gewohnheitsrecht nicht gestattet sein solle, 
das gesetzte Recht abzuändern. Und doch 
kann auch das kein Gesetz verhindern. 
Noch in unserem Jahrhundert ist in den 
Ländern des sogen, gemeinen Rechts nach 
der peinlichen Gerichtsordnung Carls des 
Fünften vom Jahre 1532, der sog. Carolina, 
in Strafsachen judicirt worden, deren Strafen, 
so sehr das Gesetz für seine Zeit sich als 
Fortschritt darstellte, unserer veränderten An¬ 
schauung als Barbarei erscheinen mussten. 
Die Urteile gingen deshalb nicht selten auf 
„Rädern von unten, gemildert durch die Praxis 
auf drei Monate Gefängnis“ oder ähnlich. 
Hier sehen wir eine Abart des Gewohnheits¬ 
rechtes ; die Praxis. Mit der Entwickelung 
des modernen Kulturlebens werden die Ver¬ 
hältnisse zu kompliziert, als dass sich eine 
gemeinsame Rechtsüberzeugung der gesamten 
Volksgemeinschaft leicht sollte bilden können ; 
nur die Gleichheit des Berufs schafft die Über¬ 
einstimmung auch der Rechtsüberzeugungen, 
und die Gesetzgebung selbst erkennt Gebräuche, 
w'elche sie nicht abzuändern, sondern zu er¬ 
gänzen bestimmt sind, als für die Angehörigen 
einzelner Berufsstande verbindlich an, ja sie 
erlässt selbst vielfach Bestimmungen, welche 
nur dann Platz greifen sollen, wenn die Be¬ 
teiligten selbst nicht etwas Anderes bestimmen 
oder sich nicht lokal ein anderer Gebrauch 
ausbildet, wie wir Beides im Handelsrecht 


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Die Rechtsentwickelung im Jahre 1896. 


209 


beobachten können. Aber auch die allge¬ 
meinen, an sich für Alle verbindlichen Gesetze 
zeigen Lücken, weil der Gesetzgeber nicht 
alle in der Praxis möglichen Fälle voraussehen 
kann. Diese Lücken müssen ausgefüllt werden, 
und das geschieht durch die Praxis der Gerichte. 
Die Arbeit, welche früher das ganze Volk 
verrichtete, übernimmt der Juristenstand: an 
die Stelle des Gewohnheitsrechtes tritt das 
Juristenrecht. 

Aber die wichtigste Rechtsquelle bleibt 
immer das Gesetz: wo sie versiegt, pflegt der 
Grund in der Mangelhaftigkeit der staatlichen 
Einrichtungen, der Schwäche der Staatsgewalt 
zu liegen, es sei denn, dass nationale Eigen¬ 
schaften ein Volk auch bei wohlorganisiertem 
staatlichen Leben mit Zähigkeit an den alten 
Gewohnheiten festhalten lassen, wie wir das 
im modernen England sehen. In den Ländern 
des Kontinents hat der Zug zur Einheit und 
die Erstarkung der Staatsgewalt last allent¬ 
halben dazu geführt, die alten Gebräuche zu 
beseitigen oder zurückzudrängen und ein ein¬ 
heitliches Recht zu schaffen oder das anderswo 
geschaffene zu übernehmen. Insbesondere der 
Code Napoleon, in welchem die Errungen¬ 
schaften der grossen Revolution, soweit sie das 
privatrechtliche Gebiet umfassen, in knapper 
Form zusammengedrängt sind, hat seinen 
Siegeszug über die Länder der civilisierten 
Erde angetreten. Auch deutschen Boden hat 
er im Westen occupirt, aber es ebensowenig 
vermocht, wie die Kodifikationen Friedrichs 
des Grossen und Josephs des Zweiten, welche 
um die Wende des Jahrhunderts ein von dem 
Geiste des aufgeklärten Absolutismus durch- 
tränktes einheitliches Recht für ihre Territorial¬ 
staaten schufen, zum gemeinschaftlichen Recht 
Deutschlands zu werden. Dem hinter pns 
liegenden Jahr 1896 ist es Vorbehalten ge¬ 
blieben, eine einheitliche grosse Kodifikation 
des gesamten bürgerlichen Rechts für das ganze 
deutsche Reich zum Abschluss zu bringen. 
Wer den Rechtszustand betrachtet, wie er bis 
zum heutigen Tage auf zivilrechtlichem Gebiet 
in Deutschland herrscht, wird einräumen 
müssen, dass der seit der Gründung des Reichs 
verflossene Zeitraum von einem Vierteljahr¬ 
hundert für die Bewältigung der Arbeit, welche 
hier zu leisten war, verschwindend klein er¬ 
scheinen muss. Noch heute sehen wir, bis 
mit dem letzten Glockenschlage der Sylvester¬ 
nacht i899'i 900 das bürgerliche Gesetzbuch 
seine Herrschaft antritt, neben unzähligen 
Partikularrechten, insbesondere auf dem Ge¬ 
biete des ehelichen Güterrechts und Erbrechts 
die drei grossen Rechtsgebiete des gemeinen, 
preussischen und französischen Rechts einander 
gegenüberstehen, alle drei nicht mit den 
Grenzen bestimmter Einzelstaaten zusammen¬ 


fallend, sondern beispielsweise in Preussen 
neben einander in Geltung. Dazu kommen 
der Codex Maximilianeus und das Sächsische 
bürgerliche Gesetzbuch. Und diese Kodifi¬ 
kationen sind dann wieder durchwachsen und 
überwuchert durch unzählige Einzelgesetze, 
in denen noch bestehende wie untergegangene 
Staatsgewalten einzelne Zweige des Rechts¬ 
lebens geregelt haben, wie beispielsweise die 
Veijährungsfristen, die Ansprüche aus ausser- 
ehelicher Geburt, die Anfechtung der Vieh¬ 
käufe wegen Mängel und vieles Andere. Das 
gemeine Recht selbst aber, gemischt aus 
römischen und deutschen Elementen, durch 
Wissenschaft und Praxis fortgebildet, lässt 
der Mannigfaltigkeit den weitesten Spielraum 
und wimmelt förmlich von sogen. Kontroversen, 
Auslegungsverschiedenheiten, welche nach Art 
und Zeit wechseln. Ein wie ungeheures 
Material musste verarbeitet werden, um aus 
diesem Chaos die Einheit zu schaffen. Und 
wie konnte es anders sein, als dass Wider¬ 
stände jeder Art zu überwinden waren? Unter 
dem Geschrei, dass ein „nationales" Recht 
geschaffen werden müsse, kämpften einseitig 
historisch gebildete Kathedergrössen mit wahrer 
Berserkerwut gegen die Errungenschaften des 
römischen Rechts, welches ein Kulturelement 
für die moderne Welt geworden ist, so gut 
wie die antike Kunst. Unter dem chauvi¬ 
nistischen Geheul verbarg sich vielfach die 
äusserste Reaktion, die Vorliebe für alle 
Zustände der Gebundenheit, für die Knebelung 
des Verkehrs durch ängstliche Form vorschriften 
und Bevormundungsgesetze, für pseudoaristo¬ 
kratische Bevorzugungen im Erbrecht, für 
eine kulturwidrige Gestaltung des Verhältnisses 
der Ehegemeinschaft und der Eltern zu den 
Kindern zu einem Gewaltverhältnis, wie es 
nur in mittelalterlichen Zuständen bestanden 
hat. Auf der andern Seite glaubten die An¬ 
hänger einer völligen sozialen Umgestaltung 
die Zeit gekommen, ein Stück Zukunftsstaat 
im Wege der Zivilrechtsgesetzgebung ein- 
zuführen. In der That bot der erste Entwurf 
des Gesetzbuchs durch seine abstrakten Kon¬ 
struktionen seine schwerfällige pedantisch 
korrekte aber darum vielfach unverständliche 
Formulierung der Kritik erhebliche Angriffs¬ 
seiten dar; politsche Ängstlichkeit verhinderte 
u. A. der Bedeutung, welche das freie Vereins¬ 
leben für unser Kulturleben gewonnen hat, 
gerecht zu werden. Die Kritik hat denn auch 
dem ersten Entwurf gegenüber ihres Amtes 
gewaltet, wie wohl selten einem Menschenwerk 
gegenüber. Aber sie hat nicht umsonst ge¬ 
arbeitet. In dem zweiten Entwurf waren die 
Fehler des ersten fast durchweg verschwunden, 
die parlamentarische Behandlung hat an man¬ 
chen Punkten, wie in dem erwähnten, die 


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210 


Die Rechtsentwickelung im Jahre 1896. 


privatrechtlichen Verhältnisse der Vereine be¬ 
treffenden weitere Fortschritte gebracht, in 
andern, wie auf dem Gebiete des Ehescheidungs¬ 
rechtes, ist es wenigstens gelungen, die ka¬ 
nonischen Rechtsanschauungen entsprungene 
Versuche, im Widerspruch mit den thatsäch- 
lichen Verhältnissen das Band der Ehe nahezu 
unauflöslich zu gestalten, abzuwehren. Alles 
in Allem kann das neue Gesetzbuch als der 
würdige Abschluss der Arbeit eines Jahr¬ 
hunderts deutscher Rechtswissenschaft und 
Praxis bezeichnet werden. Zu der Einheit 
des materiellen Strafrechts, welche ihr ftlnf- 
undzwanzigjähriges Jubiläum wie das Reich 
selbst begangen hat, zu der Einheit des Pro¬ 
zessrechts ist so die Einheit des materiellen 
Zivilrechts getreten. Freilich sie selbst bedingt 
wieder vielfache Änderungen des Bestehenden. 
Schon das Einführungsgesetz enthält zahlreiche 
Modifikationen anderer Reichsgesetze, ausser¬ 
dem aber sieht es weitere Gesetze, welche 
ebenfalls am i. Januar 1900 in Kraft treten 
sollen, vor. Änderungen des Gertchtsverfas' 
sungs-Gesetzes, der Zivilprozessordnung und 
der Konkursordnung, ein Gesetz über die 
Zwangsversteigerung und Zwangsverwaltung 
der Grundstücke eine Grundbuchordnung, ein 
Gesetz über die sogen, freiwillige Gerichts^ 
barkeit. Fürwahr ein reichliches Programm! 
Und doch keineswegs ein erschöpfendes. Schon 
liegt der Entwurf des revidirten Handels' 
gesetzbuchs vor, und die Änderungen, welche 
er bringt, sind nicht gering. Insbesondere ist 
der Begriff „Kaufmann“ und damit die An¬ 
wendbarkeit der handelsrechtlichen Vor¬ 
schriften selbst erheblich erweitert. 

Handelsgesetzbuch und Wechselordnung 
galten bekanntlich im ganzen Gebiete des 
Reichs — mit Ausnahme von Eisass-Loth¬ 
ringen — auch vor der Errichtung des Reichs. 
Aber der Bund selbst konnte ihnen diese 
allgemeine Gültigkeit nicht beilegen, es bedurfte 
der Einführung durch die Gesetzgebung der 
einzelnen Staaten. Daran ermessen wir am 
besten den Unterschied, welchen die Um¬ 
wandlung des Staatenbundes in den Bundes¬ 
staat für die Rechtsentwicklung in Deutschland 
im Gefolge gehabt hat. 

Der bevorstehenden Revision der Zivil¬ 
prozessordnung ist schon Erwähnung gethan. 
Aber in noch höherem Grade drängen die 
auf dem Gebiete des Strafprozessverfahrens 
seit dem i. Oktober 1879 gesammelten Er¬ 
fahrungen auf eine Inangriffnahme der Reform¬ 
arbeit. Die hierauf gerichteten Bestrebungen 
hatten in den populären Forderungen der 
Einführung der Berufung gegen die Ur¬ 
teile der Strafkammern und der Entschädigung 
für unschuldig erlittene Haft ihren Ausdruck 
gefunden. Beiden Forderungen — der Ent¬ 


schädigung allerdings nur für die durch Straf¬ 
haft, nicht für die durch Untersuchungshaft 
erlittenen Nachteile — wollte die im ver¬ 
gangenen Jahre gescheiterte Novelle zur Straf¬ 
prozessordnung gerecht werden. Sie hatte 
noch manchen anderen Reformgedanken ver¬ 
wirklicht, so die Einführung eines besonders 
schnellen abgekürzten Verfahrens, wo die Lage 
des Falles dieses erlaubt. Aber sie hatte 
diese Gabe beschwert durch eine Fülle an¬ 
derer Bestimmungen, welche teils der Justiz¬ 
verwaltung grösseren Einfluss auf die Zu¬ 
sammensetzung der Strafkammern einzuräumen 
beabsichtigten, teils die in der Strafprozess¬ 
ordnung bereits vorhandenen Garantien für 
ein gerechtes Urteil und gegen eine übereilte 
Eröffnung des Hauptverfahrens gefährdeten. 
Dennoch wäre eine Einigung über das Gesetz 
wohl zu erzielen gewesen, wenn nicht die 
Gestaltung der Berufung unüberbrückbare 
Gegensätze hervorgerufen hätte. Die ver¬ 
bündeten Regierungen wollten das Rechts¬ 
mittel an die Oberlandesgerichte gehen lassen 
bei gleichzeitiger Besetzung der Strafkammer 
mit drei, statt der bisherigen fünf Mitglieder. 
Dadurch hätte sich auch das Stimmenverhältnis 
zu Ungunsten des Angeklagten geändert, da 
bisher zur Bejahung der Schuldfrage ein Mehr 
von vier zu eins erforderlich war. An diesem 
Punkte ist hauptsächlich die Einigung ge¬ 
scheitert, und es ist leider zutreffend, dass 
wesentlich finanzielle Gründe, in erster Linie 
wohl der Einfluss des preussischen Finanz¬ 
ministers, massgebend gewesen sind. 

Von den sonstigen Gebieten, auf welchen 
die Gesetzgebung des Reichs und vorher schon 
die des norddeutschen Bundes sich bethätigt 
hat, ist es namentlich die Gewerbegesetzgebung, 
welche nicht zur Ruhe kommen will. Auch 
das Jahr 1896 hat wieder eine der üblichen 
Novellen gebracht, welche namentlich auf Ein¬ 
schränkung des Hausierhandels und des Ge¬ 
schäftsbetriebs der Handelsreisenden abzielt. 
Daneben hat durch das Börsengesetz die 
Organisation der Börsen und der Verkehr an 
denselben eine Regelung erfahren, welche zum 
grossen Teil auf Misstrauen und übelwollender 
Gesinnung beruhend, zum Schaden aller an 
der kräftigen Entwickelung des deutschen 
Handels beteiligten Berufsstände die bestehen¬ 
den Einrichtungen zum Teil zerstört, an ihrer 
Stelle ungenügende Ersatzmittel geschaffen und 
eine allseitige Verstimmung und Verbitterung 
zurückgelassen hat. Auch das Gesetz über 
den unlauteren Wettbewerb kann als glück¬ 
liche Lösung des Bestrebens, im geschäftlichen 
Verkehr Wahrheit und Ehrlichkeit zur An¬ 
erkennung zu bringen, nicht betrachtet werden. 
Es züchtet ein wenig erspriessliches Delatoren¬ 
wesen und giebt oft gerade dem Waffen in 
! 


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Valenta, Der heutige Stand der Photographie in natürl. Farben. 


2 II 


die Hand, der keineswegs als der Lauterste 
der beiden Konkurrenten sich herausstellt. 

Mit der grossen K^ic\\sversicherungsgesetz- 
gebung hatte das deutsche Reich einen bisher 
nirgends betretenen Weg eingeschlagen und 
ein kühnes Wagnis unternommen. Es kann 
als geglückt angesehen werden: der Wunsch 
einer völligen Beseitigung taucht nur vereinzelt 
auf und kann seine Verwirklichung schon 
deshalb nicht finden, weil eine derartige für 
die weitesten Volkskreise zum Schutz gegen 
die alltäglichsten Ursachen von Not und 
Mangel unternommene Fürsorge, einmal ge¬ 
troffen, nicht wieder aufgehoben werden kann. 

Aber auch hier liegen Erfahrungen vor, 
welche Korrekturen im Einzelnen wünschens¬ 
wert erscheinen lassen. Auch zeigt sich, dass 
die gleichen Gefahren in anderen als den ur¬ 
sprünglich im Wesentlichen allein berück¬ 
sichtigten fabrikmässigen Betrieben eine Aus¬ 
dehnung der Versicherungspflicht auf weitere' 
Kreise gerechtfertigt erscheinen lassen. Diesen 
Forderungen beabsichtigte die im vergangenen 
Jahr dem Reichstag zugegangene Novelle zum 
Unfallversicherungsgesetz gerecht zu werden. 

Parallel mit der Rechtsentwickelung im 
Reich geht die in den Einzelstaaten. Ihre 
Bedeutung nimmt, je mehr das Reich von seiner 
Gesetzgebungsgewalt Gebrauch macht, desto 
mehr ab. Auch in Preussen ist von der vor¬ 
jährigen Gesetzgebung auf zivilrechtlichem 
Gebiete nur das Gesetz über Einführung des 
Anerbenrechts, eines bäuerlichen Erbrechts mit 
erheblicher Bevorzugung eines Erben, des 
sogen. Anerben, welcher den Hof übernimmt, 
auf den Renten- und Ansiedlungsgütern 
erwähnenswert. 

Die Schweiz ist in der Entwickelung zur 
Rechtseinheit hinter dem deutschen Reich 
zurückgeblieben. Sie hat die Begründung eines 
gemeinschaftlich alle Kantone umfassenden 
Zivilrechts stückweise in Angriff genommen, 
im Strafrecht herrscht noch Mannigfaltigkeit. 
Am 28. November v. J. hat nun aber der 
Bundesrat eine Botschaft betreffend die Revision 
derBundesverfassung zurEinführung derRechts- 
einheit an die Bundesversammlung erlassen. 
Kurz darauf am 5. Dezember ist ein das 
Familien- und Personenrecht umfassender Ent¬ 
wurf des Professors Huber in Bern vorge¬ 
legt worden. Da das Obligationenrecht bereits 
einheitlich geregelt ist, und für das Erbrecht 
ebenfalls Vorarbeiten vorliegen, so ist zu hoffen, 
dass auch die Schweiz in absehbarer Zeit zur 
Vereinheitlichung des gesamten Zivilrechts 
gelangen wird. Auch für ein gemeinsames 
Strafgesetzbuch liegt ein tüchtiger Entwurf des 
Professors Stooss vor. Möge er der viel¬ 
fachen Schwierigkeiten, welche der Erlass 
eines Bundesgesetzes in der Schweiz zu über¬ 


winden hat, glücklich Herr werden. Auch in 
der Eidgenossenschaft wird das einheitliche 
Recht ein neues Band zur Festigung der 
bundestaatlichen Einheit bilden. 

Noch ein anderes Land arbeitet an dem 
Erlass einer umfassenden Zivilrechtskodifi¬ 
kation ; Japan, das Land der aufgehenden 
Sonne. Dem zur Zeit vorliegenden zweiten 
Entwurf hat mit Ausnahme einiger Partien 
des Sachen- namentlich des Pfandrechts, unser 
deutscher Entwurf zum Muster gedient. 

In Österreich wird emsig an der Vor¬ 
bereitung der praktischen Einführung der Zivil¬ 
prozessordnung vom I. August 1895 gearbeitet. 
Auch hier kann die deutsche Zivilprozess¬ 
ordnung sich rühmen, wesentlich Vorbild 
gewesen zu sein. 


Der heutige Stand der Photographie in ' 
natürlichen Farben. 

Von E. Valenta. 

(Schluss.) 

Da man bis heute mit keinem der ge¬ 
schilderten Verfahren im Stande ist, mehrere 
Bilder nach einer Aufnahme herzustellen und 
dieselben für die Zwecke der Praxis nicht 
verwenden konnte, hat man sich in neuerer Zeit 
wieder mit erneutem Eifer dem Studium 
jener Verfahren der Wiedergabe der Natur¬ 
farben zugewendet, welche, seit Du cos du 
Hauron in den 6oer Jahren die ersten 
Versuche damit anstellte, so sehr ausgebildet 
wurden, dass sie heute ganz Schönes leisten, 
ich meine die indirekten Methoden. 

Nach der Theorie nimmt man an, dass 
die allmählich ineinander übergehenden unend¬ 
lich mannigfaltigen Farbennuancen im reinen 
Spectrum auf drei Grundempfindungen der 
Endorgane des Sehnerves, in der Netzhaut 
des Auges zurückzuführen sind, nämlich auf 
die drei Grundfarben, röt, gelb und blau 
oder nach der von Young-Helmholtz 
aufgestellten Theorie rot, grün und violett. 
Gelingt es, auf photographischem Wege diese 
drei Grundfarben auszulösen und die drei 
resultierenden Bilder mit den betreffenden 
Grundfarben über einander zu drucken oder 
in diesen Farben übereinander zu projicieren, 
so erhält man als Resultat ein Bild des Ge¬ 
genstandes in natürlichen Farben. 

Die ersten diesbezüglichen Vorschläge gin¬ 
gen vonMaxwell (1861) und später von einem 
Österreicher Ransonnet aus, dessen Idee es 
war, von dem zu reproduzierenden Gegenstände 
drei Aufnahmen in den drei Grundfarben rot, blau 
und gelb durch Vorschalten entsprechend gefärb¬ 
ter Gläser vor das Objektiv des Apparates 
zu machen, dieselben dann photolithographisch 


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212 


Valenta, Der heutige Stand der Photographie in natürl. Farben. 


zu übertragen und unter Verwendung ent¬ 
sprechend gewählter Farben zu drucken. 

Diese Idee konnte damals (1865) 
nicht realisiert werden, da man kein Mittel 
hatte, die photographische Platte für die 
gelben und roten Strahlen empfindlich zu 
machen. Erst seit Entdeckung solcher Mittel 
(optischeSensibilisatoren*)durch H. W. Vogel 
und später durch J. M. Eder war es Du cos 
du Hauron und Cross in Frankreich und 
J. Albert in München möglich geworden, 
die Idee Ransonnets praktisch durchzu¬ 
führen. Das Verfahren des Letzteren, wel¬ 
cher mittels Lichtdruckes seine Bilder her- 
stellte, gab manche recht gute Resultate. 
H. W. Vogel in Berlin hat den Dreifarben¬ 
druck neuerer Zeit wesentlich verbessert, in¬ 
dem er das Verfahren von Ducos du 
Hauron in folgender Weise modifizierte; 

„I. anstatt eines einzigen optischen Sensi¬ 
bilisators (wie bei Ducos), werden deren mehrere 
und zwar jeder 
für sich in beson¬ 
derer Platte ver¬ 
wendet, so z.B. 

ein Sensibili¬ 
sator für rot, ei¬ 
ner für gelb, ei¬ 
ner für grün, 
einer für blau- 
grün (flirblau ist 
keiner nötig, da 
Bromsilber oh 
nehin blauem¬ 
pfindlich ist).“ 

„2. sollen die 
optischen Sensi¬ 
bilisatoren zu- (Voo aosiCD) 



lieh für Reclamezwecke, Plakatdruck etc. in 
Amerika sehr beliebt. 

In Verfolgung eines ähnlichen Gedanken¬ 
ganges, wie derselbe dem Vogel-Ulrich- 
’schen Naturfarben - Lichtdruckverfahren zu¬ 
grunde liegt, gelangten Leon Vidal in Paris 
und nach ihm der Amerikaner Frederik C. 
Ives in Philadelphia zur Zerlegung farbiger 
Vorbilder in drei Platten für den Projektions¬ 
apparat oder die Laterna magica. 

Die Farbenzerlegung findet in einer mit 
drei identischen Objektiven versehenen Ca¬ 
mera statt, wobei Je ein Objektiv, durch 
Einschaltung eines grüneu, orangegelben, 
beziehungsweise violetten Glases die Pri¬ 
märfarben isoliert. Das Objektiv mit grü¬ 
nem Glase erzeugt ein Bild, aus wel¬ 
chem rot ausgeschieden ist, durch das 
orangefarbige Glas wird blau ausgeschieden 
' und das violette Glas erzeugt ein Bild, in 
I dem die gelbe Farbe fehlt. Die so herge¬ 
stellten Negative 
werden in einen 
mit drei Ver- 
grösserungslin- 
sen versehenen 
Projektionsap¬ 
parat gebracht, 
und das von 
diesen auf eine 
helle Fläche ge¬ 
worfene Licht 
wird durch ein¬ 
geschobene ge¬ 
färbte Gläser 
oder zwischen 
Glastafeln ein- 
(VoB inoea.) gefügte farbige 



gleich dieDruck- Das Photopolychromoskop von Zincke. Flüssigkeiten 

färbe für die da- rot, blau und 


mit gewonnenen Platten bilden, oder aber, 
wenn die Sensibilisatoren selbst hierzu nicht 
verwendet werden können, ihnen spektros¬ 
kopisch möglichst ähnliche Farben substituiert 
werden.“ 

„Die letztere Bedingung ist verständlich 
wenn man in Betracht zieht, dass die Druck¬ 
farbe jene Farbenstrahlen reflektieren muss, 
welche von der betreffenden farbenempfind¬ 
lichen Platte nicht verschluckt werden.“ 

Dr. E. Albert in München wendete das 
Dreifarbendruck-System ftlr den Zinkdruck an 
und erhielt damit im Buchdruck sehr nette 
Resultate. Heute wird der Dreifarbendruck 
sowohl unter Verwendung des Steindruckes, 
Lichtdruckes, wie auch des Zinkdruckes von 
vielen Anstalten ausgeübt und ist hauptsäch- 

*) Es sind dies verschiedene rote und blaue 
Farbstoffe. 


gelb gefärbt. Setzt man nun vor jedem 
der drei Objektive das betreffende Negativ 
ein und stellt so ein, dass alle Bilder ge¬ 
nau aufeinander treffen, so entsteht ein stark 
vergrössertes, ziemlich getreu dem Vor¬ 
bilde entsprechendes, leuchtendes f'arbenbild. 
Es ist hiebei zu bemerken, dass die Wahl 
der Farbstoffe für die Farbfilter zur Isolier¬ 
ung und Wiedervereinigung bedeutende 
Schwierigkeiten bereitet. Zur bequemen Be¬ 
trachtung dieser Bilder ohne einen Projektions¬ 
apparat verwenden zu müssen, konstruierten 
Ives, Leon Vidal, Zincke u.a. kleine Ap¬ 
parate, deren jüngsten, das Zincke ’sche Poly- 
chromoskop die obenstehende Figur veran¬ 
schaulicht. Es besteht aus einem Kasten, 
welcher bei A, B und C stufenförmige vier¬ 
eckige Rohre besizt, deren Enden mit farbigen 
Gläsern versehen sind und zwar ist bei D 
ein blaues, bei E ein grünes und bei F ein 




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Valenta, Der heutige Stand der Photographie in natürl. Farben. 


21 3 


rotes Glas angebracht. Über diesen Gläsern 
befinden sich die photographischen Glas-Dia- 
positive, welche den betreffenden Farben ent¬ 
sprechen ; die Photographie ist in schwarz 
gehalten, so, dass die Farbe nur dadurch ent¬ 
steht, dass die leeren Stellen der Glasbilder 
das farbige Licht durchlassen, während die 
schwarzen Bildstellen das Licht zurückhalten. 
Der Apparat wird gegen die Lichtquelle 
(Fenster) gerichtet und es werden nun durch 
die durchsichtigen Spiegel i, 2 und 3 die 
drei farbigen Bilder gleichzeitig an der rich¬ 
tigen Stelle vom Auge wahrgenommen. Der Ef¬ 
fekt ist ein wirklich schöner zu nennen, wie ich 
mich des öfteren zu überzeugen Gelegenheit 
hatte. 

In neuester Zeit trachtete man die drei 
Bilder für Projektionszwecke durch ein ein¬ 
ziges, welches alle drei enthält, zu ersetzen. 
Derartige Versuche rühren von Ives, Lumiöre 
und Seile her. 

Ives stellt seine Projektionsbilder in der 
Weise dar, dass drei Negative für rot, gelb 
und blau wie üblich von dem zu photo¬ 
graphierenden Objekte erzeugt werden, nach 
diesen Negativen werden mit Chromatgelatine 
ohne Pigment drei Kopien gemacht, welche 
in entsprechenden FarbstofFlösungen gefärbt, 
getrocknet und übereinander geklebt werden. 

A. und L. Lumi^re**) benutzten zur 
Farbenauslese orangerote, grüne und violette 
Lichtfilter und stellten diesen Lichtfiltern ent¬ 
sprechende Trockenplatten her, deren Sensi- 
bilisierungsmaxima der Farbe, welche von 
diesen Filtern durchgelassen wird, entsprechen. 

Zur Auswahl und Superposition benutzten 
die Genannten das Chromleimverfahren. Eine 
Chromleimschicht wird unter dem betreffen¬ 
den Negative belichtet, der löslich gebliebene 
Leim ausgewaschen und das Bild mit ent¬ 
sprechenden Theerfarben gefärbt. Da der 
Chromleim an und ftlr sich zur Wiedergabe 
der Halbtöne nicht geeignet ist, setzen die 
Gebrüder Lumiere dem Chromleim Brom¬ 
silbergelatine zu und fixierten vor dem Färben 
das Bromsilber aus. 

Man bringt nun nacheinander auf dersel¬ 
ben Platte die den drei Negativen entsprechen¬ 
den Bilder zur Deckung und trennt dieselben 
durch Collodionschichten. Das Verfahren er¬ 
möglicht es, durch Anwendung mehr oder 
weniger konzentrierter Farbstofflösungen oder 
durch Auswaschen des überschüssigen Farb¬ 
stoffes die relative Intensität des monochromen 
Bildes verschieden zu gestalten und man kann 
die Wirkung der drei ersten Schichten 


*) St. Louis, Photogr. 1895. 

**) Vorgelegt der franz. Akad. der Wissensch. 
*895. 


durch eine 4. und 5. Schicht nach 
Bedürfnis verändern. Das Zusammenfügen 
soll leicht durchzuführen sein und wird hier¬ 
durch die praktische Verwendbarkeit des Ver¬ 
fahrens eine grössere als jene von anderen 
ähnlichen Methoden. 

Ähnlich wie Ives verfährt Seile in 
Berlin bei Herstellung seiner farbigen Pro¬ 
jektionsbilder, welche ebenfalls mittels des 
Chromleimverfahrens erzeugt und überein¬ 
ander gelegt projiziert werden. 

Schliesslich sei noch eines originellen 
Versuches der Wiedergabe der Farben mit 
Hülfe des indirekten Verfahrens Erwähnung 
gethaft; nämlich desjenigen von Joly*) in 
England. Nach diesem Verfahren wird mit 
einer einzigen Aufnahme auf einer gewöhn¬ 
lichen Bromsilbergelatinetrockenplatte ein in 
der Durchsicht farbig erscheinendes Positiv 
erhalten. 

Zu diesem Zwecke werden auf einer Glas¬ 
platte, ähnlich wie bei einer sogen. Raster¬ 
platte (durchsichtige Platte mit sehr feinen 
parallelen schwarzen Linien) durchsichtige, 
jedoch farbige Striche (9 pro mm) ange¬ 
bracht und zwar derartig, dass die ganze 
Platte dadurch in aufeinanderfolgende schmale 
Abschnitte zerfällt, welche in den drei Grund¬ 
farben gefärbt sind. Der eine Strich dieser 
Abschnitte ist so gefärbt, dass er das Licht 
absorbiert, welches die rotempfindlichen Ner¬ 
ven des Auges erregt, der andere die grün- 
und der dritte in gleicher Weise die blau- 
violettempfindlichen. Die so vorbereitete Glas¬ 
platte lässt also an keiner Stelle weisses Licht 
durch, jedoch nebeneinander abwechselnd 
rotes, grünes und blauviolettes Licht. Presst 
man nun die Platte gegen die Schichtseite 
einer Trockenplatte, so wird, wenn man diese 
in der Camera so anbringt, dass das Licht 
erst die Rasterplatte passieren muss, auf der¬ 
selben ein Bild des betreffenden farbigen 
Gegenstandes entstehen, bei dem sich alle 
in der Natur roten Teile des Gegenstandes 
nur auf denjenigen Stellen abbilden können, 
wo sich rote Rasterlinien befinden; dasselbe 
gilt für die anderen Farben. Wenn man 
dann das Bild entwickelt, von dem erhaltenen 
Negative ein Diapositive anfertigt und dieses 
durch eine ebensolche farbige Rasterplatte 
betrachtet, so müssen die Gegenstände, wenn 
die farbige Platte richtig orientiert ist, in 
natürlichen Farben erscheinen. 


*) Photogr. Chronik 1895. 


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214 


Ritterband, Die ägyptische Augenkrankheit. 


/ Die ägyptische Augenkrankheit 

/ Von Dr. D. Ritterband. 

Der diesjährige preussische Etat enthält 
eine Position von 75000 M., zu deren Ein¬ 
stellung sich die Regierung durch die er¬ 
schreckende Ausbreitung der sogenannten 
granulösen Augenentzündung in den östlichen 
Provinzen veranlasst sah. In einer der letz¬ 
ten Sitzungen der Berliner medizinischen Ge¬ 
sellschaft entwarf Dr. Kirchner ein anschau¬ 
liches Bild der Verbreitung der Krankheit 
und erörterte die Mittel, die zu ihrer Be¬ 
kämpfung in Aussicht genommen sind. Die¬ 
ses Bild wurde von dem berühmten BvHner 
Ophthalmologen, Professor Hirschberg in 
manchen Punkten ergänzt und berichtigt. 

Die ägyptische Augenentzündung gehört, 
wie die Cholera und die Tuberkulose zu den 
Volkskrankheiten und ist wie diese Seuchen 
über weite Strecken der bewohnten Erde ver¬ 
breitet. Sie entwickelt sich äusserst schleichend, 
und es dauert zuweilen mehrere Jahre, bevor 
der Krankheitsprozess abgelaufen ist. 

Beim gesunden Auge ist das Weisse und 
die Innenfläche der Lider mit einem zarten, 
glänzenden Häutchen bekleidet, der Konjunk- 
tiva oder Augenbindekaut. In ihr entwickeln 
sich beim Ausbruch der Krankheit gelbe, 
rötliche oder graue Körnchen von sulzigem 
Aussehen. Die vorher spiegelglatte Haut er¬ 
scheint nun rauh und warzig und sondert 
eine eitrig-schleimige Flüssigkeit ab, die in 
hohem Grade ansteckend ist. . 

Wegen dieser Veränderungen hat man die 
Affektion auch Trachom (von rprej^i'i; - rauh) 
oder granulöse Augenentzündung (von Granu- 
lum-Körnchen) oder Körnerkrankheit genannt. 

Nur in leichtern Fällen tritt Heilung ohne 
dauernde Schädigung des Auges ein. Meis¬ 
tens endet der Prozess nach Monaten oder 
Jahren mit einer Verkürzung oder Verkrümm¬ 
ung der Augenlider und relativ häufig mit 
gänzlichem Verlust der Sehkraft. Das Trachom 
ist bei seiner grossen Verbreitung diejenige 
Augenkrankheit, die die meisten Erblindungen 
zur Folge hat. 

Die Geschichte der ägyptischen Augen¬ 
entzündung ist uralt. Sie findet bereits in 
dem vor 3400 Jahren geschriebenen Papyrus 
Ebers Erwähnung. Ebenso in der sogenann¬ 
ten pseudohippokratischen Schrift „Über den 
Gesichtssinn“, in der bereits dieselbe Behand¬ 
lung empfohlen wird, die die heutigen Augen¬ 
ärzte als allerneueste Methode bei dem Übel 
zur Anwendung bringen. Auch Celsus und 
Galen, sowie die arabischen und europäischen 
Ärzte des Mittelalters haben zum Teil vor¬ 
zügliche Beschreibungen der Krankheit ge¬ 
liefert. Dem Gros der Ärzte blieb sie jedoch 


fremd bis zum Jahre 1798, in welchem Na¬ 
poleon seinen Feldzug nach Ägypten unter¬ 
nahm. Dort wurde die 3200 Mann starke 
französische Armee von der Krankheit be¬ 
fallen und fast ganz durchseucht. Während 
der Befreiungskriege ergriff das Trachom 
nacheinander die Preussen, Österreicher und 
Russen, und diese infizierten allmählich auch 
die bürgerliche Bevölkerung fast ganz 
Europas. 

Heute ist die Krankheit fast überall auf 
der Erde verbreitet. Bei uns in Deutschland 
liegt ihr Hauptherd in den Provinzen Ost- 
und Westpreussen, Posen und Oberschlesien. 
In anderen Gegenden, wie in Sachsen und 
dem Eichsfelde kommt sie nur vereinzelt vor. 
Eine umfassende Statistik, die uns genauen 
Aufschluss über den Stand der Seuche geben 
könnte, fehlte bisher. Immerhin kann man 
aus den Sanitätsberichten des preussischen 
Heeres einen guten Überblick über ihre Ver¬ 
breitung in Deutschland gewinnen. Von 1873 
bis 1889 gab es im jährlichen Durchschnitt 
auf 100000 Mann der Iststärke 
im I. Armeekorps (Ostpreussen) 

2099 Trachpmkranke 
„ 2. „ (Pommern) 1639 „ 

„ 5. „ (Posen) 1031 „ 

„ 6. „ (Schlesien) 750 „ 

„ IO. „ (Hannover) 368 „ 

; „ 9. „ (Schlesw.-Holst.) 245 „ 

„ 3. „ (Brandenburg) 204 „ 

In den übrigen Armeekorps kommt die Krank¬ 
heit nur vereinzelt und im süddeutschen 
Heere überhaupt nicht vor. 

Merkwürdigerweise findet die Krankheit 
in Berlin keinen Boden, obwohl sie vielfach 
eingeschleppt wird. Nach Hirschbergs Be¬ 
rechnungen kamen dort früher auf 1000 Au¬ 
genkranke 38 Trachomatöse, die aber in den 
letzten Jahren auf 12—14 heruntergegangen 
sind. Es waren meistens Ortsfremde, die in 
den Berliner Kliniken Hilfe suchten. Für 
Bonn lautet die entsprechende Zahl iio, für 
Posen 150, für Königsberg 270 — 400, so dass 
hier also nahezu jeder zweite Augenkranke 
trachomatös ist, für Limburg (Belgien) 278, 
für Warschau 300 und für Dorpat 500. In 
Frankreich und England sind nur einzelne 
Bezirke von der Krankheit befallen. Russ¬ 
land dagegen und Österreich-Ungarn sind 
stark verseucht. In letzterem wird von Staats¬ 
wegen am energischsten gegen das Übel vor¬ 
gegangen. Die Regierung hat dort einen 
eigenen „Trachominspektor“ ernannt, dem 
die Leitung aller.Massnahmen zur Bekämpf¬ 
ung der Krankheit obliegt. Es bestehen dort 
eigene Trachomkrankenhäuser mit besonderen 
Ärzten an der Spitze und auch die Statistik 
der Krankheit ist dort am besten ausgebil- 


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Ritterband, Die ägyptische Augenkrankheit. 


215 


det. Die Anzahl der Trachomatösen wird in 
Ungarn auf 30000 geschätzt. Auch die Mit* 
telmeerstaaten, ferner Algier, Tunis, Ägypten 
und die Länder bis Persien hin sind ganz 
durchseucht. Dasselbe gilt von Indien, China 
und Japan. In Kanton (Südchina) sind unter 
1000 Äugenkranken 700 trachomatös. Merk¬ 
würdigerweise ist Ceylon ganz frei und eben¬ 
so die Neger in allen Ländern. In Nord¬ 
amerika sind vorzugsweise die Iren und 
Skandinavier befallen und in Südamerika die 
Bewohner Brasiliens. Selbst nach Australien 
ist die Seuche gedrungen. 

Wie man sieht, handelt es sich hier um 
eine der verbreitetsten Volkskrankheiten, die 
in allen Himmelsstrichen heimisch ist und 
überall, besonders in den ärmeren Volks¬ 
schichten unsägliches Elend erzeugt. 

.Es ist bis jetzt noch nicht gelungen, den 
Erreger dieser eigentümlichen Infektions- 
Krankheit zu finden. Nur weiss man aus 
Erfahrung, dass sie niedrige Gegenden mit 
steigenden Sümpfen und Gewässern bevorzugt, 
während sie in Höhen von mehr als 600 m 
über dem Meeresspiegel, wie in der Schweiz 
und in Tirol, Oberhaupt unbekannt ist. Dem¬ 
gemäss ist in Europa Finnland am stärksten 
befallen. Ebenso Ostpreussen, das ähnliche 
Bodenverhältnisse hat. 

Prof. Hirschberg, der im Aufträge der 
preussischen Regierung die Provinzen Ost-, 
und Westpreussen bereiste, unterzog die Be¬ 
völkerung zweier Dörfer im Kreise Lyck 
einer genauen Untersuchung und fand hier 
nicht weniger als loo/o der Bevölkerung er¬ 
krankt. Von grossem Einfluss auf Zahl und 
Schwere der Erkrankungen zeigte sich das 
soziale Milieu. In den Dorfschulen fanden 
sich 20 — 48^/0 Trachomatöse, welche i3Proz. 
schwere Formen aufwiesen. In den Stadt¬ 
schulen sank diese Zahl auf 15 Proz. mit 
1 — 2 Proz. schweren Erkrankungen. Und in 
den Gymnasien waren nur 5 Proz. der Schü¬ 
ler in' leichter Weise von der AfFektion er¬ 
griffen. 

Dass das Trachom Oberhaupt in den öst¬ 
lichen Provinzen eine so ungeheure Verbreit¬ 
ung gewinnen konnte, ist wesentlich der 
ausserordentlich traurigen wirtschaftlichen 
Lage der dortigen Bevölkerung zuzuschreiben. 
Die Haupterwerbsquelle ist in jenen Gegen¬ 
den die Landwirtschaft mit ihren oft ganz 
unzureichenden Löhnen. In niedrigen Lehm¬ 
hütten mit kleinen, engen Fenstern hausen 
1—2 Familien von 10—12 Köpfen, die sich 
ohne Unterschied des Geschlechts mit 2 — 3 
Betten begnügen. Die Armut erzeugt Unrein¬ 
lichkeit und Stumpfsinn. Wo die Leute sich 
überhaupt regelmässig waschen, da dient ein 
Handtuch und eine Waschschüssel der gan¬ 


zen Familie. In dem sich überall anhäufen¬ 
den Schmutz und Unrat haben Ansteckungs¬ 
keime reichlich Gelegenheit, sich zu konser¬ 
vieren und weiter zu verbreiten. Der Winter, 
weicher der landwirtschaftlichen Thätigkeit 
ein Ende macht, verdammt diese Unglück¬ 
lichen vollends zum Müssiggang, da in jenen 
zurückgebliebenen Gegenden fast gar keine 
industriellen Betriebe existieren, in denen die 
Leute auch während des Winters Arbeit fin¬ 
den könnten. Was Wunder, wenn sie dann 
im Alkohol Not, Kälte und Hunger zu ver¬ 
gessen suchen? 

Die Seuche in den östlichen Provinzen 
ist eine stete Drohung für das übrige Deutsch¬ 
land. Zur Zeit der ErntCj imd wenn die 
Zuckerkarapagne anhebt, flutet der Strom der 
Wanderarbeiter aus Russland, Ost- und West¬ 
preussen und Posen (Sachsengänger) nach dem 
Zentrum und dem Westen Deutschlands. Hier 
winkt ihnen, was die Heimat ihnen versagt, 
Arbeit und hoher Lohn. Sie sind es vor 
allem, die das Trachom in bisher unverseuchte 
Gegenden tragen. 

So fügt diese schreckliche Krankheit Jahr 
für Jahr unserem Volke unermesslichen Scha¬ 
den zu. Wir haben bereits den hohen Pro¬ 
zentsatz Trachomatöser erwähnt, den Prof. 
Hirschberg in ländlichen Schulen vorfand. 
In einer Lehranstalt Posens waren 80 Proz. 
der Schüler und in einem Seminar Preussens 
sämtliche Präparanden und Lehrerfamilien 
von der Seuche befallen. So wird es häufig 
nötig, für Wochen und Monate die Schulen 
zu schliessen, wie sehr auch dadurch die 
geistige Ausbildung der Bevölkerung beein¬ 
trächtigt werden mag. Aber auch die Er- 
werbsthätigkeit muss schliesslich darunter lei¬ 
den, dass die Krankheit so häufig zu einer 
Schädigung und in verhältnismässig zahlrei¬ 
chen Fällen zu einer völligen Vernichtung 
der Sehkraft führt. Dann fallen die unglück¬ 
lichen Kranken der öffentlichen Wohlthätig- 
keit anheim und vermehren dadurch in er¬ 
heblichem Masse die Lasten der ohnehin 
armen und oft arg verschuldeten Gemeinden. 

Endlich ist die Gefahr nicht zu unter¬ 
schätzen, die unserer Wehrkraft aus dem 
Bestehen der Seuche erwächst. Die Armee 
kann sich vor ihr nur durch strenge Aus¬ 
musterung der Augenkranken schützen. Sollte 
einmal die Landwehr oder gar der Land¬ 
sturm zur Aushebung kommen, so würden 
in unseren östlichen Provinzen ganze Regi¬ 
menter fast nur aus Trachomatösen bestehen. 

Was nun die Behandlung der granulösen 
Augenentzündung betrifft, so sind deren 
Grundsätze im ganzen auch heute noch die¬ 
selben, wie im grauen Altertum. Man kann 
diese Thatsache als einen Beweis des hohen 




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2i6 


Ritterband, Die ägyptische Augenkrankheit. 


Standes der damaligen Medizin ansehen 
vieleicht legt sie aber eher Zeugnis davon 
ab, wie unendlich langsam trotz allen For- 
scherschweisses die Wissenschaft in Wirk¬ 
lichkeit fortschreitet. Die Aufgabe der The¬ 
rapie besteht bei dieser Krankheit darin, die 
entzündete und durch Einlagerung von Körn¬ 
chen verdickte Augenbindehaut zu ihrer nor¬ 
malen Zartheit und Glätte zurückzuftlhren. 
Die alten Ärzte suchten dies dadurch zu er¬ 
reichen, dass sie mit einem Ätzmittel die 
erkrankten Stellen abrieben, oder die Körn¬ 
chen mechanisch herausquetschten, etwa so 
wie wir einen Mitesser aus unserer Haut 
herausdrücken, oder dass sie endlich die er¬ 
krankten Bindehautpartien mit dem Messer 
radikal entfernten. Über diese Methoden 
sind wir wie gesagt, auch heute noch nicht 
hinausgekommen. Nur dass sich die alten 
als Ätzmittel des Grünspans bedienten, wäh¬ 
rend die Chemie uns heute für diesen Zweck 
zahlreichere und weniger primitive Stoffe an 
die Hand gibt, den Höllenstein, das schwe¬ 
felsaure Zink und Kupfer, das Quecksilber¬ 
sublimat. Wie bekannt ist letzteres eines 
unserer stärksten Antiseptica. Und die Er¬ 
wägung, dass es sich beim Trachom zweifel¬ 
los um eine bakterielle Erkrankung handelt, 
hat zur Empfehlung gerade dieses Mittels 
wohl das meiste beigetragen. 

In einem Punkt aber unterscheiden wir 
uns prinzipiell von den alten Ärzten, nämlich 
in der Tendenz, die allen unseren Massregeln 
zur Bekämpfung der Seuchen innewohnt. 
Mit der Erkenntnis, die uns die letzten Jahr¬ 
zehnte gebracht haben, dass die Infektions¬ 
krankheiten durch das Eindringen kleinster 
Lebewesen in den menschlichen Körper ent¬ 
stehen, gewannen alle Bestrebungen der Seu¬ 
chenprophylaxe erst die sichere, erfolgver¬ 
sprechende Grundlage. Gewiss, auch heute 
noch suchen tausend fleissige Forscher in 
Laboratorien und Kliniken mit dem Ernste, 
den keine Mühe bleichet, nach Mitteln, um 
Kranke zu heilen und Schmerzen zu lindern, 
lohnender aber und verheissungsvoller er¬ 
scheint uns die Aufgabe, Krankheiten zu ver¬ 
hüten und dadurch vielen Tausenden von 
vornherein die Qual des Siechtums mit allen 
ihren unheilvollen Folgen zu ersparen. Die¬ 
ser Standpunkt allein kann uns die wirksamen 
Waffen im Kampfe gegen das Trachom lie¬ 
fern. Was der ungeheueren Verbreitung der 
Krankheit am meisten Vorschub leistet, das 
ist die Indolenz der Landbewohner in unse¬ 
ren östlichen Provinzen, ihr mangelndes Ver- 
antwortlichkeitsbewnistsein, endlich ihre Un¬ 
kenntnis von dem Wesen der Krankheit und 
deren unheilvollen Folgen. Hier muss vor 
allem der Hebel angesetzt werden. Durch 


Anschläge an öffentlichen Orten, an Bahn¬ 
hofsgebäuden, Postanstalten, in den Bureaux 
der Polizei- und Standesbeamten und nicht 
zuletzt in Restaurationen und Schanklokalen 
ist auf die Natur, die Verbreitungsweise und 
die Folgen der Krankheit in eindringlicher 
und allgemein verständlicher Darstellung hin¬ 
zuweisen. Diese Hinweise müssen durch münd¬ 
liche Belehrungen ergänzt und eindringlicher 
gestaltet werden, mit denen am besten die 
Pfarrer, Lehrer, Standesbeamten, Gutsbesitzer, 
Fabrikleiter und andere Autoritätspersonen, 
zu betrauen wären. Die Ärzte könnten sich 
ein grosses Verdienst um die Volksgesund¬ 
heit enverben, wenn sie in geselligen Zirkeln, 
Bildungs- und Handwerker-Vereinen Vorträge 
über diesen Gegenstand hielten. 

Bei der grossen Armut der dortigen Be¬ 
völkerung und der steten Bedrohung, die 
das Bestehen dieses Seuchenheerdes für das 
ganze übrige Deutschland bildet, ist die Ge¬ 
währung freier ärztlicher Behandlung und der 
nötigen Medikamente und Verbandmaterialien 
an alle, die einen Anspruch darauf erheben, 
eine absolute Notwendigkeit. Nun hat sich 
aber gezeigt, dass auch in diesem Falle die 
Kranken, die noch arbeitsfähig sind, den Arzt 
nicht aufsuchen, weil sie auf ihren Arbeits¬ 
verdienst nicht verzichten können. Das all¬ 
gemeine Wohl verlangt dringend, ihnen den 
entgangenen Arbeitslohn zu ersetzen, trotz 
aller Bedenken, die vielleicht dagegen spre¬ 
chen mögen. 

Bei mangelnder häuslicher Pflege und un¬ 
günstigen Wohnungsverhältnissen wird in vie¬ 
len Fällen die Aufnahme dieser Kranken in 
Kliniken geboten sein. Dazu reichen die be¬ 
stehenden Krankenhäuser nicht aus, einmal 
wegen der zu grossen Zahl der Kranken, 
und namentlich wegen der grossen Ansteck¬ 
ungsgefahr des Trachoms. Hieraus ergiebt 
sich die Notwendigkeit in den grössten Städten 
der östlichen Provinzen Spezialanstalten für 
Trachomkranke zu errichten, die von eigens 
für ihren Beruf ausgebildeten Ärzten geleitet, 
und von denen regelmässig poliklinische 
Sprechstunden abgehalten werden müssten. 

Da das Trachom im Zentrum und im 
Westen der Monarchie zum Glück so äusserst 
selten vorkommt, so ist die Kenntnis der 
granulösen AugenentzOndung bei denjenigen 
Ärzten, die auf den Universitäten der west¬ 
lichen Provinzen ihre medizinische Ausbild¬ 
ung genossen haben, im ganzen eine sehr 
mangelhafte. Werden sie als Amts,- Mili¬ 
tär- oder Zivilärzte nach Trachomgegenden 
verschlagen, so stehen sie der Krankheit viel¬ 
fach ohne alle praktische Erfahrung gegen¬ 
über. Hier wird sich der Staat der Ver¬ 
pflichtung nicht entziehen können, regelmäs- 


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Betrachtungen und kleine Mitteilungen. 


217 


sige Unterrichtskurse zu veranstalten, in 
denen die betreffenden Ärzte das Trachom 
und die Mittel zu seiner Bekämpfung prak¬ 
tisch und theoretisch in gründlicher Weise 
kennen lernen. 

Aber auch gegen die Verbreitung der 
Krankheit durch die Schulen und die rus¬ 
sischen, polnischen und deutschen Wander¬ 
arbeiter müssen energische Massregeln er¬ 
griffen werden, wenn man nicht auf halbem 
Wege stehen bleiben will. Den Familien¬ 
vorständen, Lehrern und Arbeitgebern ist 
die Pflicht aufzuerlegen die Krankheit zur 
polizeilichen Anzeige zu bringen, und die 
Augenkranken vom Schulbesuch resp. von 
der Arbeitsannahme auszuschliessen. Wan¬ 
derarbeiter sollten ohne ein ärztliches Attest, 
das die Gesundheit ihrer Augen zu beschei¬ 
nigen hätte, nicht zur Arbeit angenommen 
werden dürfen und endlich hätten staatlich 
angestellte Ärzte in regelmässigen Zwischen¬ 
räumen Schüler und Arbeiter einer genauen 
Untersuchung zu unterziehen und darüber an 
ihre Vorgesetzte Behörde zu berichten. 

Dass alle diese Massregeln eine Besold¬ 
ungserhöhung der Amtsärzte, eine Creirung 
von Schulärzten • und die Schaffung einer 
Reichsseuchenordnung zur notwendigen Vor¬ 
aussetzung haben, kann nur zu ihren Guns¬ 
ten sprechen. Denn diese Forderungen wer¬ 
den von den berufenen Vertretungen der 
Ärzte seit vielen, vielen Jahren immer wieder 
erhoben, ohne je an massgebenden Stellen 
Gehör zu finden. 

Erwägt man das Alles, die Grösse der 
Aufgabe, die sich dem Staate, wenn anders 
er es flir seine Pflicht hält, für das Wohl 
und die Gesundheit seiner Angehörigen zu 
sorgen, ich möchte sagen, förmlich aufdrängt, 
die tiefen Schädigungen, die das Trachom 
der Bevölkerung unserer östlichen Provinzen 
schon jetzt zufügt und die grosse Gefahr, 
mit der die Seuchenherde im Osten ganz 
Deutschland bedrohen, so muss man einem 
unserer angesehensten medizinischen Fach¬ 
blätter beistimmen, welches in der Bereitstel- 
ung ganzer 75 000 M. zur Bekämpfung der 
Granulöse im diesjährigen Etat den reinen 
Hohn sieht und eine solche Kärglichkeit eines 
Kulturstaates wie Preussen unwürdig findet. 


Betrachtungen und kleine Mittheilungen. 

Die Sulfit • Cellulose vor Gericht. 

Der vor iV« Jahren, im Sommer 1895, schon 
einmal vor dem I. Senat des Oberlandesgerichts 
zu Frankfurt a. M. zur Entscheidung gebrachte 
Prozess des Professors Mitscherlich vonFreibui^ i.B. 
des Erfinders der Sulfit-Cellulose, gegen eine Gruppe 
seiner Konzessionäre beschäftigte neuerdings den¬ 


selben Gerichtshof. Wir entnehmen darüber den 
„Frkf. „Der dem Rechtsstreite zu Grunde 

liegende Sachverhalt ist kurz folgender: Mitscherlich 
hatte Mitte der siebziger Jahre als Professor der 
Forstakademie in Hannover-Münden gegenüber dem 
bis dahin in der Papierstofffabrikation allgemein 
Üblichen Natronverfahren, ein anderes, auf Behand¬ 
lung mit doppeltschwefeöiuem Kalk gegründetes 
Verfahren erfmden, mittelst dessen er durch zwei 
getrennte Prozesse zur Darstellung der sogenannten 
Sulfit-Cellulose gelangte. Er liess sich den einen 
Teil seiner Erfindungpatentieren,währendderandeTe, 
das sogenannte Geheimverfahren, als integrierender 
Bestandteil des Ganzen ergänzend daneben herlief. 
In einer kleinen Versuchsfabrik, die er sich zu 
Münden errichtet hatte, setzte er dann seine Er¬ 
findung ins Praktische und gelangte zu dem Er¬ 
gebnis, dass damit Papierstoff in besserer Qualität 
und zu bedeutend billigerem Preise hergestellt w’er- 
den könne, wie durch Natron-Cellulose und ausser¬ 
dem noch die nötigen maschinellen Anlagen erheblich 
billiger sich gestalten, wie bei dem seitherigen Ver¬ 
fahren. So konnte es denn nicht ausbleiben, dass 
die Erfindung bei den interessirten Kreisen bald 
grosses Aufsehen erregte und eine grosse Zahl von 
Industriejlen sich fand, die zur Erwerbung des neuen 
Verfahrens mit Mitscherlich Verträge abschlossen, 
in welchen diesem ein Gewinnanteil von 12 Prozent 
zugesichert war. Auf Betreiben eines Konsortiums 
von Natron-Cellulose-Fabrikanten, welches die Nich- 
tigkritsklage anstrengte, gelang es nun aber im 
Jahre 1884, das Patent Mitscherlich’s zu Fall zu 
bringen. Es wurde nämlich mit Erfolg nachgewiesen, 
dass das, was in der Mitscherlich’schen Patentschrift 
stehe, bereits in einer viel früheren englischen Pa¬ 
tentschrift des Amerikaners Tolkmann enthalten 
sei. Nachdem so Mitscherlich ausser Stande ge¬ 
setzt war, seinen Kontrahenten den Schutz des 
Patentes angedeihen zu lassen, erklärten sich diese 
an die abgeschlossenen Verträge nicht weiter ge¬ 
bunden und verweigerten die fernere Entrichtung 
der prozentualen Gewinnabgabe. Mitscherlich seiner¬ 
seits berief sich darauf, dass ja das Patent nur ein 
kleinerer Teil seines Verfahrens, die Hauptsache 
dagegen das sog. Geheimverfahren sei, ohne welches 
das Patent nicht nutzbringend verwertet werden 
könnte. Es entstanden nun endlose Prozesse, von 
denen eine ganze Reihe noch jetzt, nach 12 Jahren 
anhängig sind, ln dem ersten Prozesse in Karlsruhe 
wurde der Beklagte zur Zahlung der Hälfte der 
vertragsmässigen Abgaben verurteilt; in einem 
zweiten FaUe der in Württemberg spielte, wurde 
die Klage abgewiesen, ein dritter, in Kolmar ver¬ 
klagter Fabrikant, dessen Fabrik sich in Frankreich 
befand, wurde gleich dem ersten zur Entrichtung 
der Hälfte der Abgaben verurteilt, und ein vierter 
Rechtsstreit in Berlin, wo allerdings besondere Um¬ 
stände Vorlagen, endete mit der vollständigen Ver¬ 
urteilung des Beklagten. Ebenso entschied das 
Gericht in Dresden gegen den Teihaber einer kon¬ 
zessionierten Fabrik in Böhmen. Auch in Jena und 
Halle wurden die Gerichte in dieser Sache angerufen 
und beim Oberlandesgericht in Naumburg ist gegen¬ 
wärtig ein Prozess gegen eine Anzahl von Fabrik¬ 
besitzern und Konzessionären des Klägers im Gange. 
Ebenso schweben in Österreich noch eine ganze 
Reihe von Prozessen in der Mitscherlich’schen Sache. 
Für die Gruppe der im vorliegenden Falle beklagten 
Konzessionäre wurde vom Reichsgericht seiner Zeit 
das Landgericht Limburg als Forum bestellt und 
dieses verurteilte die Beklagten zu einer Pauschal¬ 
summe von 90,000 Mark. Dagegen erhoben beide 
Teile Berufung. Dhs Frankfurter Oberlandesgericht 
erklärte darauf die Klage ziu' Feststellungsklage und 
entschied dahin, dass dem Kläger nach dem Fall 


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2i8 


Betrachtungen und kleine Mitteilungen. 


seines Patentes noch diej Hälfte der ihm durch die 
Verträge zugesicherten Abgaben zustehe. Dieses 
Urteil hob -das Reichsgericht wieder auf und ver¬ 
wies die Sache zu anderweitiger Verhandlung nach 
Frankfurt zurück. Der Kläger beantragt jetzt in 
erster Linie, die Beklagten zur Vorlegung ihrer 
Produktionslisten zu verurteilen und weiterhin wird 
ein vorläufig berechneter Betrag von 710,694 Mark 
verlang^ dessen Änderung jedoch Vorbehalten ist, 
da es sich zunächst um die Feststellung der Zah¬ 
lungsverpflichtung der Beklagten handelt. Nach den 
vom Reichsgericht gegebenen Direktiven werden 
sowohl vom Kläger, wie von einigen Beklagten über 
behauptete spezielle Zusicherungen Eide zu leisten 
sein. Ferner ist die Einziehung neuer Gutachten 
beantragt, eine Sache, die wegen der Auswahl der 
Sachverständigen auf die grössten Schwierigkeiten 
stösst, da fasst alle Autoritäten auf dem einschlägigen 
Gebiete in dieser Sache als Gutachter schon gehört 
wurden. Von dem Kläger sind nunmehr Kom¬ 
merzienrat Moser von der Stuttgarter Verlags¬ 
anstalt und der Direktor des Polytechnikums in 
München, v. Hoyer, vorgeschlagen, welch’ Letzterer 
auch in der Naumburger Sache sein Gutachten ab- 

g eben soll. Allem Anschein nach wird also die 
ache das Oberlandesgericht noch geraume Zeit in 
Anspruch nehmen. 


Galileo Ferraris 

Die physikalische Wissenschaft und ganz spe¬ 
ziell die Elekfroiechnik hat einen schmerzlichen Ver¬ 
lust zu verzeichnen: am 7. Februar d.J. verschied 
der verdienstv'olle Gelehrte Prof. Galileo Ferraris 
in Turin. 

Im Jahre 1847 zu Livorno geboren, bekleidete 
er bereits mit 25 Jahren das Amt eines Dottore 
Aggregato an der Universität Turin. 1877 leistete 
er einem Rufe als Professor der Physik am Reale 
Museo Industriale daselbst Folge und wurde später 
Director dieses Instituts. Seine wissenschaftlichen 
Arbeiten bewegten sich fast ausschliesslich auf dem 
Gebiete der Elektrizität; dieser damals ja ganz 
jungen Wissenschaft widmete sich Ferrari^ glej^h 
nach seinem Eintritt in das praktische LeBfcn und 
wurde einer ihrer eifrigsten Förderer. Als im Jahre 
1883 in London die Transformatoren von Gaulard 
und Gibbs vorgeführt wurden, begriff er sofort 
deren hohe Bedeutung und verlegte sich ganz auf 
das Studium der Wechselströme, der Meinung ver¬ 
schiedener Gelehrter (Marcel Deprez u. a.), die 
Anwendung von Wechselströmen sei praktisch im- 
durchftihrbar, trat er mit Bestimmtheit entgegen. 
Seiner Initiative ist es zu verdanken, dass auf der 
Turiner Ausstellung im Jahre 1884 die Strecke 
Lanzo-Venario-Turm vom Bahnhof Lanzo aus mit 
Hilfe der Gaulard & Gibbs’schen Transformatoren 
beleuchtet wurde und hiermit die grosse Bedeutung 
des Transformators bew’iesen wurde. 

Seine weiteren Studien über 'Wechselströme 
führten Ferraris zur Erfindung des Drehfeldes. Im 
Jahre 1888 berichtete er der Akademie der Wissen¬ 
schaften in Turin Ober diese so überaus wichtige 
Erfindung und gab somit die Grundlage zur Ein¬ 
führung des allereinfachsten elektrischen Motors, 
den die Elektrotechnik überhaupt kennt und der 
der Elektrotechnik erst die allgemeinste Verwend¬ 
barkeit sichert. An dem frischen Grabe dieses be¬ 
deutenden Mannes ziemt es sich nicht zu disku¬ 
tieren, ob die Priorität dieser Erfindung ihm oder 
Nicola Tesla gebührt, dies Eine steht jedenfalls 
fest: Ferraris ist ganz selbständig ohne fremde Be¬ 
einflussung zu dem Drehfeld gelangt und das allein 
w’ürde vollkommen genügen, seinen Namen un¬ 


sterblich zu machen. Er veröffentlichte ausserdem 
sehr wichtige theoretische Untersuchungen, z. B. 
über Transformatoren (1886- 1887) und Wechsel¬ 
strommotoren (1893), welche die Konstruktionen 
mitunter auf ganz neue Bahnen gelenkt haben. 

Leider ward seinem erfolgreichen Wirken durch 
den Tod ein jähes Ende bereitet. Ferraris starb in 
vollster Manneskraft im fünfzigsten Lebensjahre. 


Samenbildung an abgeschnittenen Blüten¬ 
ständen. Es ist eine alte Erfahrung der Gärtner, 
dass die bekannte, prächtige Zierpflanze Liiium 
candidum (weisse Lilie) niemals zur Samenentwick¬ 
lung gelangt. Ebenso kann man bei unseren 
Hyazinthen nur selten ausgebildete und keimungs- 
füFiige Samen finden; die Vermehrung derselben 
geschieht nur durch Zwiebelbildung. .. ber derartige 
unfruchtbare Pflanzen hat Lindemuth kürzlich 
indess der deutschen botanischen Gesellschaft sehr 
interessante Beobachtungen veröffentlicht Lache- 
nalia Inteola, eine nach Werner de Lachenal (Pro¬ 
fessor der Botanik zu Basel, f 1800) benannte, vom 
Cap stammende Liliacee, brachte trotz der grössten, 
seit vielen Jahren auf die Bestäubung angewendeten 
Sorgfalt, stets nur taube Kapseln und Samen her¬ 
vor; nur bei trockenen Herbarexemplaren, an ab- 

f eschnittenen Blüten, wurde eine Anzahl keimfähiger 
amen gefunden. Die Wahrnehmung brachte Lin¬ 
demuth auf den Gedanken, dicht an der Zwiebel 
abgeschnittene Blütenstengel der genannten Pflanze 
und des Liiium candidum in Wasser zu stellen und 
die weitere Entwickelung derselben zu beobachten. 
Zu seiner Ueberraschung brachte er auf diese Weise 
eine reiche Samenbildung hervor. Dass die so ent¬ 
standenen Samen wirklich keimfähig waren, das 
zeigten die mit denselben angestellten Keimversuche. 
Achnliche, interessante Beobachtungen an anderen 
Pflanzen sind, wie von Jost nachgewiesen wurde, 
bereits vor hundert Jahren von Friedrich 
Kasimir Medicus gemacht worden, waren aber 
seitdem vollständig in Vergessenheit geraten. — 
Jene Erscheinung ist nach Lindemuth so zu erklären, 
dass zwischen Zwiebel- und Samenbildung eine 
gewisse Beziehung herrscht; die im Blütenstengel 
enthaltenen Baustoffe werden bei Beginn der Ruhe¬ 
periode der Pflanze, dem sogenannten „Einziehen“, 
nicht zur Bildung der Samen verwendet, sondern 
wandern abwärts, dienen der Zwiebel zur kräftigen 
Ausbildung und werden als Reservestoffe für die 
kommende Vegetationsperiode hier aufgespeichert. 
Weitere Beobachtungen lehrten, dass an abge¬ 
schnittenen Blütenstengeln von Lachenalia und 
Hyazinthen, kleine Bulben und Würzelchen entstehen 
können, ein Beweis, dass Baustoffe in den Stengeln 
vorhanden waren, welche für die unterirdischen 
Organe bestimmt waren. Lindemuth meint daher 
mit Recht, dass das bei Gärtnern übliche Abschneiden 
der BlOtenstengel zum Zwecke der kräftigen Aus¬ 
bildung der Zwiebeln, keineswegs von Nutzen sein 
kann, da gerade durch dieses Verfahren den Zwie¬ 
beln Nahrungsstoffe entzogen werden. Dagegen hält 
er das Entfernen der Blüten für vorteilhaft. n. 


No. 13 der Umschau wird «nthaltcn; 

WölfRng, Die Elektrizität des Luümeers. — W. von Oettingen, 
Daniel Chodowieekj- illlustr.) — Nestler, Der Stickstoff und die 
Pflanzen. — Bruck, Griechenland in der mvkenischen Periode. — 
Reh, Einfluss von Alter .tuf Krankheit iinä Knochen. — Tetzner, 
Sprachliche fragen. 


G. Horstinano's Druckerei. Frankfurt a. M. 


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DIE UMSCHAU 

ÜBERSICHT ÜBER DIE FORTSCHRITTE ÜND BEWEGÜNGEN AÜF 
DEM GESAMTGEBIET DER WISSENSCHAFT, TECHNIK, 


WOcheDtlich eine Nummer. 

Zu beziehen durch 
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Postzeitungspreisliste No. 7031«. 

Verlag von: 

H. Bcchhold Verlag, Frankfurt a. M. 


LITTERATUR UND KUNST 

herausgegeben von 

dr. j. h. bechhold 


Neue Krüine 19-31. 


Preis vierteljahriich 
M. a.50. 

Jahres-Abonnement 
Preis M. io.~. 

Im Ausland nach Cours. 
Verantwortlicher Redakteur: 

Otto Adolf Wolters, Frankfurt a. H. 


Ns 13. I. Jahrg. 


Naehäruck aus dem Itxhält der Zeitsehri/t ohne Erlaubnis 
der Kedaktion verboten. 


1897. 27. Marz. 


Die Elektrizität des Luftmeers. 

Von Dr. E. W 0 l f f i n c. 

Die Elektrizität, welche in ihren techni¬ 
schen Anwendungen unser tägliches Leben 
beherrscht und unserer Zeit so recht ihren Stem¬ 
pel aufdrückt, spielt auch im Luftkreise eine 
bedeutende Rolle und macht sich zu gewissen 
Zeiten in Form von Gewittern den mensch¬ 
lichen Sinnen gewaltig fühlbar. Wollten wir 
jedoch die Ursachen der Luftelektrizität er¬ 
forschen und zu diesem Zweck,zunächst das 
normale Verhalten derselben kennen lernen, 
so müssen wir unsere Beobachtungen bei 
heiterem Himmel anstellen. 

Es möge vorausgeschickt werden, dass 
man früher die Elektrizität für einen Stoff 
oder ftlr ein Fluidum hielt; man unterschied 
zweierlei solcher „Stoffe“, die positive und die 
negative Elektrizität und nahm an, dass in 
einem nicht elektrischen Körper beide ver¬ 
einigt (in neutralem Zustande) sich vorfinden, 
während durch Elektrisierung beide Elektrizi¬ 
täten sich trennen und jede auf eine Seite 
des Körpers sich konzentriert; dabei ziehen 
sich ungleichnamige Elektrizitäten an, gleich¬ 
namige stossen sich ab. Diese Ausdrucks¬ 
weise lässt sich auch jetzt nicht ganz ver¬ 
meiden, obwohl man längst vermutete und 
seit den Hertz'sehen Versuchen ziemlich 
sicher annimmt, dass die Elektrizität kein Stoff, 
sondern eine Wellenbewegung des Äthers, 
ähnlich wie das Licht ist und dass zwischen 
zwei mit verschiedener Elektrizität geladenen 
Körpern, die durch einen nichtleitenden Stoff 
(Isolator) getrennt sind, eine elektrische Span¬ 
nung, ein sogenanntes Potentialgefälle, sich 
vorfindet. Der Isolator verhindert zunächst 
den Ausgleich dieser Spannung; steigert sich 
dieselbe jedoch, so wird zuletzt der Wider¬ 
stand des trennenden Mittels überwunden und 
die Spannung gleicht sich aus durch Über¬ 
springen des elektrischen Funkens zwischen 

Umw'bau 1897. 


I beiden Körpern. Das Potentialgefälle heisst 
positiv, wenn es vom negativ geladenen Kör¬ 
per zum positiv geladenen gerichtet ist. 

Unter den Apparaten zur Messung der 
Luftelektrizität ist gegenwärtig meistens das 
von Exner angegebene Elektrometer im Ge¬ 
brauch. Stellt man mit demselben bei heiterem 
Himmel Versuche an, so zeigt der Apparat 
meistens positive Elektrizität an; wir schliessen 
daraus, dass die Erde gewöhnlich negativ, 
die Luft dagegen positiv geladen ist, und 
dass demgemäss ein positives Potentialgefälle 
nach oben existiert. Dasselbe nimmt bis zur 
Höhe von etwa 350 m vom Erdboden an zu; 
die Ursache muss nach Weber ^) in den 
ebenfalls negativ geladenen feinen Staub¬ 
körnchen gesucht werden, welche die unteren 
Luftschichten erfüllen. In weiterer Höhe nimmt 
das Gefälle ab und erreicht ein Ende in etwa 
3—5000m Höhe über dem Erdboden. Die 
elektrische Spannung ist aber, zumal in tiefe¬ 
ren Luftschichten, nicht konstant; sie hat 
eine tägliche Periode mit 2 Maxima (9 Uhr 
Morgens und nach Sonnenuntergang) und 2 
Minima (bei Tagesanbruch und Nachmittags). 
Die jährliche Periode weist ein Minimum im 
Juni, ein Maximum im Dezember auf. Im 
Einzelnen ergeben sich viele unregelmässige 
Schwankungen. 

Dieses normale Verhalten der Luftelek¬ 
trizität, wie es sich aus den Beobachtungen 
bei heiterem Himmel ergiebt, erleidet infolge 
atmosphärischer Vorgänge Störungen mannig¬ 
facher Art. Durch Auftreten von Nebel wird 
das Potentialgefälle verstärkt; hieraus schliessen 
wir, dass die Dunstbläschen, aus denen der 
Nebel besteht, positiv geladen sein müssen. 
Im Gegensatz hierzu vermindert sich das Po¬ 
tentialgefälle beim Auftreten einer Wolken¬ 
decke. Die schleierartigen Cirrus-oder Fcder- 
wolken, welche die höheren Luftregionen bc- 

’) Elektrotechnische Zeitschrift 1888 

*3 


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220 


Wölffing, Die Elektrizit/^t des Luftmeers. 


Völkern und durch ihr Aufziehen das Heran¬ 
nahen atmosphärischer Störungen verkünden, 
beschränken sich darauf, das Potentialgefälle 
zu vermindern; nähert sich aber eine Regen¬ 
wolke, so verschwindet das Potentialgefälle 
ganz oder kehrt sein Zeichen um, sodass 
wir nunmehr die Luft negativ geladen finden. 
Die Niederschläge selbst erweisen sich mei¬ 
stens ebenfalls als elektrisch und zwar ist 
Regen gewöhnlich negativ, Schnee häufig po¬ 
sitiv. Daher führt der Regen eine Ausgleich¬ 
ung der elektrischen Spannung herbei, wäh¬ 
rend letztere bei Schneefall noch zunehmen 
kann. Nach Elster und GeiteM) werden 
die in der Bildung begriffenen Tropfen durch 
Reibung an den bereits fallenden grösseren 
Tropfen negativ elektrisch; so entsteht schliess¬ 
lich eine mit negativer Elektrizität geladene 
Regenwolke; diese bringt, indem sie in 
Tropfen herabfällt, die negative Elektrizität 
zur Erde herab. Bleibt bei diesem Vorgang 
die Wolke nicht stehen, sondern zieht sie 
vorüber, so wird der vordere Teil derselben 
positiv, der hintere negativ geladen sein. 
Werden jetzt diese Teile durch Luftströmun¬ 
gen getrennt und in verschiedene Höhen¬ 
lagen getragen, so kommen Influenzerschein¬ 
gen wie bei einer Elektrisiermaschine zu Stande. 
Hierdurch wird die elektrische Spannung 
weiter verstärkt. Beobachtet man bei Regen 
ein starkes positives Potentialgefälle, so deu¬ 
tet dies auf Aufhören der Niederschläge und 
Bevorstehen trockenen Wetters hin. Diesen 
Umstand könnte sich nach Waitz*) die Wet¬ 
terprognose zu Nutze machen. 

Die bisher geschilderten Vorgänge sind 
nur durch empfindliche elektrische Instrumente 
wahrnehmbar; im übrigen entziehen sic sich 
der unmittelbaren Beobachtung. Anders ist 
es, wenn die elektrische Spannung infolge 
sogleich zu erörternder Ursachen einen so 
hohen Grad erreicht, dass eine gewaltsame 
Ausgleichung erfolgt. Diese ist durch Blitz 
und Donner wahrnehmbar; die ganze Er¬ 
scheinung, die meist von Wind, Regen, auch 
Hagel begleitet und mit Temperaturabnahme 
verbunden ist, nennen wir Gewitter. Seit 
vielen Jahren sind namentlich in Süddeutsch¬ 
land Beobachtungen angestellt worden, welche 
uns über den Verlauf der Gewitter ziemlich 
genau unterrichten. Indem man die Orte, an 
welchen der erste Donner zu gleicher Zeit 
vernommen wurde, auf der Karte durch Li¬ 
nien (Isobronten) verband, überzeugte man 
sich, dass die Gewitter in langer Frontlinie 
gleich einer marschierenden Armee über die 

*) Wien. Sitz.-Ber. Math. Nat. CI. 99 Ila 421—450. 

•) Über atmosphärische Elektrizität. Württ. Corr.- 
Blatt für Gel. u. Kealsch. Jahrg. 30. S. 462. 


Länder wegziehen. Dass es sich hierbei we¬ 
niger um fortschreitende Wolkenmf^ssen als 
vielmehr um die wellenartige Fortpflanzung 
eines Prozesses in der Atmosphäre handelt, 
sieht man daran, dass nicht nur einzelne Teile 
der Gewitterlinie voraneilen, andere Zurück¬ 
bleiben, sondern dass die ganze Erscheinung 
auch einzelne Gebiete überspringt, um jen¬ 
seits derselben wieder einzusetzen. 1 Die der¬ 
art verschonten Gebiete sind meist solche, 
in denen bereits früher ein Gewitter die 
elektrische Spannung ausgeglichen hat; aber 
auch Bergketten setzen dem Vordringen der 
Gewitter ein Ziel, während letztere dagegen 
gerne dem Lauf von Flussthälern folgen, so 
jedoch, dass der Fluss selbst nicht leicht 
überschritten wird. Es giebt auch Gegenden, 
in denen sich die Gewitter mit Vorliebe bil¬ 
den, sog. Gewitterherde, wie z. B. der Starn¬ 
berger- und der Ammersee in Oberbayern, 
die Umgegend von Tübingen u. a. 

Aus dem Gesagten geht hervor, dass der 
Wasserdampf bei der ganzen Erscheinung 
eine Hauptrolle spielt. Zum Zustandekommen 
eines Gewitters gehört ein aufsteigender Luft¬ 
strom, und je länger und wasserreicher die 
aufsteigende Luftsäule ist, desto eher steigert 
sich die elektrische Spannung bis zum ge¬ 
waltsamen Ausbruch. Dieser erfolgt teils zwi¬ 
schen den einzelnen Wolken, teils zwischen 
Wolke und Erde, Der erstere Fall setzt das 
Vorhandensein von Wolken voraus, die mit 
entgegengesetzter Elektrizität geladen sind. 
Dass solche, namentlich in verschiedenen 
Höhenlagen, infolge von Influenz leicht Vor¬ 
kommen können, wurde schon oben erwähnt. 
Nach Hess*) spielt sich der Vorgang etwa 
in folgender Weise ab: Ist der dampfreiche 
aufsteigende Luftstrom in eine solche Höhe 
gelangt, dass sich Wassertropfen auszuschei¬ 
den beginnen, so bleiben diese zurück und 
werden durch Reibung an der durchströmen¬ 
den Luft positiv, diese dagegen negativ elek¬ 
trisch. Letztere bildet oberhalb der eigent¬ 
lichen tiefdunkel gefärbten Gewitterwolke eine 
lockere Wolke (den Cirrusschleier); die ne¬ 
gative Elektrizität derselben zieht die positive 
der Gewitterwolke an und verzögert das Nie¬ 
dersinken der Tropfenmasse, bis endlich durch 
Blitze zwischen den Wolken die Spannung 
sich ausgeglichen hat und alsdann der Nie¬ 
derschlag zu fallen beginnt. Vollzieht sich die 
Erscheinung in Folge hoher Temperatur und 
grosser Feuchtigkeit mit besonderer Heftig¬ 
keit und in bedeutender Höhe, so kann es 
geschehen, dass der fallende Regen auch 
Luft mit herabreisst und so einen absteigen¬ 
den Luftstrom erzeugt. In einem solchen be- 

*) Die Hagelschläge in der Schweiz, Programm 
der Thurgau’schen Kantonschule. Fraüenfeld 1894. 


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Wölffing, Die Elektrizität des Luftmeers. 


221 


Steht aber die Möglichkeit, dass sich beson¬ 
ders grosse Tropfen bilden, welche plötzlich 
zu Hagelkörnern gefrieren können. Dabei 
zeichnen sich die Hagelwolken durch auffal¬ 
lend weissliche Färbung aus. Bei Gewittern 
kommt der zur Hagelerzeugung erforderliche 
absteigende Luftstrom um so leichter zu Stande, 
als nach den Untersuchungen K öppe ns die 
Axen der Gewitterwirbel horizontale Lage 
besitzen. 

Etwas anders verläuft der ganze Vorgang, 
wenn ausser den aus Wasserbläschen be¬ 
stehenden Wolken auch solche aus feinen 
Eisnadeln vorhanden sind. Geht nämlich der 
aufsteigende Luftstrom zuerst durch die Was¬ 
serwolke, dann durch die Eiswolke hindurch, 
so wird durch Reibung erstere zwar auch 
positiv, letztere aber noch viel stärker posi¬ 
tiv geladen, so dass das Potentialgefälle jetzt 
von unten nach oben gerichtet ist. Sohncke 
dachte sich die Sache so, als ob direkt die 
Eiswolke durch Reibung an der Wasserwolke 
positiv, diese negativ elektrisch würde. Aber 
auf diesem Weg würde die Erklärung der 
ausgedehnten elektrisch geladenen Flächen 
schwierig sein, während die Sache sofort ver¬ 
ständlich wird, wenn man das Potentialgef^lle 
als Wirkung der durchstreichenden Luft an¬ 
sieht. 

So lange die elektrischen Entladungen 
sich nur in den obern Regionen des Luft¬ 
meers und zwischen den einzelnen Wolken 
abspielen, zeigen die elektrischen Instrumente 
an der Erde gewöhnlich keinerlei Anzeichen 
des herannahenden Gewitters. Aber, wie wir 
sahen, ist auch die Erde elektrisch geladen, 
meist negativ, selten positiv; zwischen ihr 
und einer anders geladenen Wolke kann zum 
Ausgleich der Spannung der Funke über¬ 
springen: der Blitz schlägt ein. Nach Elster 
und GeiteP) ergaben die Beobachtungen 
auf dem Sonnblick einen merkwürdigen Unter¬ 
schied der Farbe der einschlagenden Blitze; 
sie waren rötlich, wenn die Erde positiv, 
bläulich, wenn sie negativ geladen war. Die 
schädliche Wirkung des Blitzes beruht auf 
der plötzlichen Wärmeentwicklung (zündender 
Blitz), ferner auf den mechanischen Zerstör¬ 
ungen, die er anrichtet (kalter Schlag). Töd¬ 
lich wird er für Menschen und Tiere durch 
den plötzlichen Induktionsstrom, den er be¬ 
wirkt. Mit dem Niederfahren des Blitzes ver¬ 
liert die Luft ihre Isolierungsfähigkeit; daher 
folgen die Blitze häufig denselben Wegen. 
Vergleichungen mit früheren Zeiten schienen 
zwar nicht eine Zunahme der Zahl der Ge¬ 
witter, wohl aber eine solche der gefährlichen 


‘) Elmsfeuer auf dem Sonnblick. Wien. Sitz.*Ber. 
Math. Nat. CI. loi Ila S. 1485—1504. 


Blitzschläge zu ergeben. Man hat hierftJr bald 
die zunehmende Entwaldung (die ja auch die 
Hagelfälle vermehren soll), bald den durch 
industrielle Unternehmungen massenhaft in die 
Atmosphäre gelangenden Rauch, bald gar die 
vielen Telegraphen- und Telephondrähte ver¬ 
antwortlich gemacht, ohne dass sich bisher 
etwas Sicheres feststellen Hesse. Dass Bäume 
sich gegen Blitzschläge sehr verschieden ver¬ 
halten, ist längst aufgefallen; die Lösung 
dieses Rätsels gab Jonescu*) durch den 
Nachweis, dass der Öl- und Fettreichtum ge¬ 
wisser Bäume ein Schutzmittel derselben ge¬ 
gen Blitzgefahr bildet. 

Die jährliche Zahl der Gewitter ist sehr 
verschieden, sie varÜrt von über 100 in den 
Tropen bis zu 3 — 5 in den polaren Gegen¬ 
den. Man unterscheidet zweierlei Arten: Wir¬ 
belgewitter, welche (namentlich im Winter) 
am Rande grosser Cyclonengebiete auftreten, 
und Wärmegewitter, welche im Sommer bei 
grosser Hitze meist in den Mittagsstunden 
entstehen und nach Durchwanderung eines 
gewissen Gebiets in den späten Abendstun¬ 
den erlöschen. Sie sind mehr lokaler Natur, 
werden in ihrem Lauf, der im Ganzen der 
herrschenden Luftströmung folgt, durch die 
Feuchtigkeits- und Kulturverhältnisse des 
Landes beeinflusst und üben auf das Wetter 
meist nur geringen Einfluss aus. Man hat 
gefunden, dass sie gewöhnlich bei mittlerem 
Barometerstand zum Ausbruch kommen. Die 
Wirbelgewitter, namentlich auch die winter¬ 
lichen, zeichnen sich durch besondere Heftig¬ 
keit und verheerende Kraft aus; bei ihnen 
muss augenscheinlich, was dem aufsteigenden 
Luftstrom an Gewalt des Auftriebs infolge 
geringerer Wärme- und Feuchtigkeitsdiffe¬ 
renzen fehlt, durch die Stärke der Luftbe¬ 
wegung infolge grosser Luftdruckunterschiede 
ersetzt werden. 

In der bisherigen Darstellung erscheint 
wesentlich der Wasserdampf als Ursache der 
Luftelektrizität. Nicht nur, dass das Vorhan¬ 
densein desselben das Potentialgefälle beein¬ 
flusst, sondern Exner*) hat geradezu be¬ 
hauptet, dass das Potentialgefälle nur von dem 
sog. Dunstdruck, d. h. von der absoluten 
Luftfeuchtigkeit abhänge. Hieraus erklärt sich 
leicht die jährliche Periode (s. oben); aber 
in den Einzelftlllen herrscht doch keine völ¬ 
lige Übereinstimmung zwischen Theorie und 
Erfahrung. Elster und Geitel*) glauben 
diese Unterschiede zwischen den beobach- 


*) Über die Ursachen der Blitzschläge in Bäume. 
Württ. nat. Jahreshefte 1893, S. 33—62. 

*) Wien. Sitz.-Ber. Matth. Nat. CI. 96 Ila S. 149; 
99 Ila S. 621. 

*) Wien.Sitz.-Ber.Math.Nat.Cl. loi lIa.S.703-856. 

13 * 


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222 


Wölffing, Dif Elektrizität des Luftmeers. 


teten und den nach Exner’s Formel berech¬ 
neten Werten des Potentialgcl^lles dadurch 
erklären zu sollen, dass dem negativ gelade¬ 
nen Erdboden auf photoelektrischem Weg 
durch die violetten und ultravioletten Sonnen¬ 
strahlen negative Elektrizität entzogen und 
an die Luft übertragen wird. Gegen diesen 
bereits früher von Arrhenius*) unternom¬ 
menen Erklärungsversuch „durch aktinische 
Strahlung“ erhebt jedoch R. Schuster*) den 
gewichtigen Einwand, dass gerade für die 
Substanzen, welche vorzugsweise den Erd¬ 
boden zusammensetzen, die photoelektrische 
Einwirkung noch nicht nachgewiesen ist. 

Die Ausgleichung der elektrischen Span¬ 
nung zwischen der Erde und den höheren 
Lagen der Atmosphäre kann nicht nur ge¬ 
waltsam durch den Blitz, sondern auch lang¬ 
sam und allmählig durch Ausströmen erfolgen. 
Namentlich Spitzen, an denen sich die Elek¬ 
trizität massenhaft ansammelt, kommen hier¬ 
für in Betracht, und der Umstand, dass ge¬ 
fährliche Blitzschläge in Städten viel seltener 
sind als auf dem Lande, findet eine einfache 
Erklärung in der 'I'hatsache, dass die zahl¬ 
reichen Blitzableiter in der Stadt ausgleichend 
und verteilend die elektrischen Vorgänge be¬ 
einflussen. Mit dem Ausströmen können auch 
knisternde Geräusche und Lichterscheinungen 
(sog. Glimmlicht) 'verbunden sein; bekannt ist 
das St. Elmsfeuer, das im Hochgebirge Staub¬ 
schneefälle und Gewitter zu begleiten pflegt 

‘) Meteorologische Zeitschrift 1888. S. 297. 

*) Athmospheric KIcetririt}', Nature vol. 53. 
S. 207 — 12. 


— nach Ansicht von Elster und Geitel') 
begünstigt der niedrige Luftdruck jener Re¬ 
gionen sein Auftreten —, aber auch bei den 
Stürmen, welche die Weltmeere durchtoben, 
häufig mitten im Aufruhr der Elemente von 
den Masten der Schiffe erstrahlt. Ob auch 
die Polarlichter der hohen Breiten solche lang¬ 
same Ausgleichprozesse von magnet-elektri¬ 
schen Spannungen sind, wer weiss es zu 
sagen? Durch die langsame Ausstrahlung er¬ 
leidet die Erde einen wohl geringen, aber 
beständigen Verlust ihres Vorrats an nega¬ 
tiver Elektrizität. Derselbe muss irgendwie 
wieder ersetzt werden und hierfür kommt in 
erster Linie der negativ geladene Regen in 
Betracht, der die negative Elektrizität wieder 
zur Erde zurückführt. Eine weitere Quelle 
aber sind die Meereswellen, da das Meerwasser 
durch Reibung mit Luft nicht wie reines 
Wasser positiv, sondern negativ wird und 
daher jede zerstäubende Welle negative Elek¬ 
trizität liefert.*) 

im Vorstehenden haben wir versucht, 
unter den zahlreichen Erklärungsversuchen für 
die luftelektrischen Erscheinungen diejenigen 
herauszugreifen, welche gegenwärtig die 
grösste Wahrscheinlichkeit für sich besitzen, 
wollen aber nicht verhehlen, dass das Pro¬ 
blem der atmosphärischen Elektrizität bis zu 
seiner vollständigen Aufhellung noch zahl¬ 
reiche Beobachtungen und Versuche erfor¬ 
dert und noch lange die Thätigkeit der For¬ 
scher beschäftigen wird. 

') Wien. Sitz.-Ber. Math. Nat. CI. loi Ila S. 14850 

*) Vergl. die Beobachtungen von Exil er Wien. 
Sitz.-Ber. Math. Nat. CI. 98 Ila. 



Das Brandenburger Thor in Berlin. 

Radierung von Daniel Chodowieeki. 


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VON Oktungen, Daniel Chodowiecki. 


223 



Die Einwanderung der Franzosen. 


Daniel Chodowiecki.*) 

Von Woi,F<iANli VON OETTlN<itN. 

.Das achtzehnte Jahrhundert, das Jahr¬ 
hundert des Pietismus und der Aufklärung, 
des Despotismus und der Revolution, des 
Rococo und des Zopfes, also ein Jahrhun¬ 
dert der Gegensätze wie kaum ein zweites, 
bedeutet für Deutschland eine Zeit politischer 
Zerfahrenheit ohne Gleichen, zugleich aber 
eine Blütezeit der Kunst, oder, genauer ge¬ 
sagt, da auch innerhalb der Künste ein Gegen¬ 
satz herrschte, eine Blütezeit einiger der 
Künste und den Verfall anderer. Denn wäh¬ 
rend die Dichtkunst und die Musik einen 
Stern nach dem andern am deutschen Him¬ 
mel aufgehen Hessen, blieben die bildenden 
Künste vernachlässigt, im Hintergründe. Archi¬ 
tektur und Sculptur, sofern sie im verarmten 
Lande überhaupt mit höherem Anspruch auf 
Monumentalität gepflegt wurden, was eigentlich 
nur von seiten einzelner weltlicher und geist¬ 
licher Fürsten geschah, hielten sich meist ganz 
unselbständig im Gefolge ausländischer Vorbil¬ 
der ; und die Malerei führte ein Scheinleben, 
das eine Hoffnung auf glücklichere Wend¬ 
ungen vorläufig kaum gestattete: sie krankte 
ebenfalls an dem Mangel gesunder, eigenar¬ 
tiger Erfindung und Empfindung und wurde 
mühselig von französischen und italienischen 
Hofmalern sowie von einheimischen Mittel- 
mässigkeiten wie von Kurpfuschern behandelt. 

Diese traurigen Verhältnisse haben die ; 
deutsche bildende Kunst des vorigen Jahr¬ 
hunderts so sehr in Verruf gebracht, dass 
wir, wenn wir etwas von den Schöpfungen ' 
der Periode geniessen wollen, den Blick ohne 
Besinnen nach Frankreich zu wenden pflegen, 
wo denn freilich unleugbar der Ausgangs- und 
Mittelpunkt der wesentlichen Bewegungen in der ! 
Kunst jener Zeit zu finden ist. Aber wir ver- ! 
gessen darüber gar leicht unsere Pflicht, der j 


*) Die Illustrationen sind entnommen aus: .Daniel Chodo- 
wiecU. Ein Berliner Kdnstlerleben aus dem 18. Jahrhundert. 
Von WoIfganrvonOettingcn. Mit Tafeln und Illustratiuiien 
im Text nach Originalen des Meisters. Berlin. G. Grote’ 
sehe V erlag sbuch Handlung. Preis eleg. geh. M. 16.50. 


eigenen Heimat soweit cs angeht gerecht zu 
werden. Daher übersehen wir oft man¬ 
ches unerwartete und doch naheliegende 
Gute, und berauben uns nicht nur eines er¬ 
freulichen Kunstgenusses, sondern schmälern 
auch unsere historische Erkenntnis. Wer 
irgend Sinn für geschichtliche Entwickelungen 
hat, wird stets danach streben, das Werden 
und Wirken der angestammten Nation mög¬ 
lichst lückenlos zu begreifen: welch eine Lücke 
lassen wir aber, wenn wir eine der charak¬ 
teristischsten Offenbarungen des Volksgeistes, 
die bildende Kunst eines ganzes Jahrhunderts, 
nur oberflächlich und geringschätzig be¬ 
handeln? 

Und bei näherer Betrachtung dieser ge¬ 
schmähten Künste und Künstler überraschen 
uns hier und da sogar kraftvolle und selbst 



Illustration zu „Minna von Bamhelm". 


in hohem Grade originelle Leistungen; man 
denke, was die Baukunst betrifft, z. B. an 




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224 


VON Oettingen, Daniel Chodowiecki. 



Die Karawane, 


den herrlichen Zwinger in Dresden oder an 
die ThStigkeit der Asam in Süddeutschland. 
Da wusste deutscher Geist das aus der 
Fremde Übernommene doch ganz zu durch¬ 
dringen und mit eigenster Phantasie zu ver¬ 
schmelzen. Ebenso aber wird uns auffallen, 
dass ein lebhaftes Ringen und Suchen, wie 
es aus dem Bewusstsein eines Übergangszu¬ 
standes hervorgeht, die wackeren deutschen 
Maler aufregt und antreibt; wissen auch gar 
Manche sich trotzdem nicht zu helfen, so 
geht es doch im Allgemeinen mit ihnen 
sachte, Schritt vor Schritt, vorwärts. Wohin, 
in welcher Richtung? Das Ziel dieser Be¬ 
strebungen ist es, das das Erfreuliche und 
Tröstliche in der grossen Verworrenheit aus¬ 
macht; haben wir es erkannt, so gewinnt das 
ganze Treiben erst seine rechte Bedeutung. 
Das Ziel heisst: Rückkehr zur Natur, zur 
inneren Wahrheit. 

Diese Rückkehr war allerdings ebenso 


schwer als sie der in Convention, Pose und 
Phrase ganz verkommenen Malerei notwen¬ 
dig war. Sie vollzog sich nur mit Hülfe ein¬ 
zelner Vorläufer und Pfadfinder. Solche Er¬ 
leuchtete werden daher unsere Aufmerksam¬ 
keit ganz besonders herausfordern. Für die 
Oelmalerei darf man als einen sehr tüchtigen 
Vorkämpfer Anton Graff bezeichnen; seine 
Bildnisse sind von ausserordentlicher Leben¬ 
digkeit und echter Energie. Aber sein Ge¬ 
biet war beschränkt, seine Arbeiten kamen 
als Vorbilder wenig zur Geltung. Da trat 
Daniel Chodowiecki neben ihm; ein Mann, 
der Maler hatte werden wollen, aber Kupfer¬ 
stecher wurde und nun als solcher einen gros¬ 
sen Einfluss nicht nur auf andere Künstler, 
sondern vorzüglich auf den Geschmack des 
Publikums gewann. 

Chodowiecki, 1726 in Danzig geboren und 
in Berlin als Kaufmann und Miniaturenmaler 
aufgewachsen, träumte davon, die Historien- 



Aus „Basedow’s Elementarwerk". 


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VON Oettingen, Daniel Chodowiecki. 



/»■O ry/. ^ 


Aus „Blumauers Aeneis". 

malerei von dem barocken Schwulst zu be¬ 
freien und zur edlen Einfachheit zu führen. 
Die Gedanken, aus denen sich das Ideal 
einer solchen Klassicität ergeben würde, 
fand er nicht nur in der Antike und bei den 
grossen italienischen Meistern, sondern vor¬ 
züglich in der Natur. So wurde er einer 
der ersten, die mit Leidenschaft der Natur 
nachgingen; die beobachtend und skizzierend 
nichts auf- und anzunehmen verschmähten, 
das irgend etwas malerisch Reizvolles an 
sich hatte. Versagten ihm nun auch ein 
enges Schicksal und die deutlich sicht¬ 
bare Grenze seiner Begabung eine vorbild¬ 
liche Thätigkeit als Maler, so fand er daftir 
einen glücklichen Ersatz in der Kunst der 
Radierung, ftlr die er als Miniaturist die 
Übung langer Jahre in manchen Beziehungen 
mitbrachte. Als Radierer konnte Chodo¬ 
wiecki, der allmählich viele hundert Kompo¬ 
sitionen schuf und sie in tausenden von Ab¬ 
drücken verbreitete, der Welt mit grösstem 
Nachdruck sagen, was er ihr zu sagen hatte. 
Indem er zahllose Bücher, besonders aber 
die damals sehr beliebten, zierlichen Taschen¬ 
kalender illustrierte und ausserdem in freier 
Erfindung viele Einzelblätter ausgehen Hess, 
offenbarte er einen unerschöpflichen Reich¬ 
tum an Empfindung, an Auffassung der Men¬ 
schen, an belebendem, fesselndem Humor 
und entzückender Grazie. Dadurch zeigte er, 
dass der Maler nur seine Augen zu öffnen 
brauche, um Darstellenswertes sofort zu finden; 
denn was er gab, entnahm er unmittelbar 


aas 


oder mittelbar seiner 
nächsten Umgebung, 
er studierte und be¬ 
nutzte die Gesell¬ 
schaft, die er täglich 
im Hause, auf den 
Strassen, in ihrem 
Berufe oder im Ver¬ 
gnügen betrachten 
konnte. Ja er lieferte 
zugleich und zwar 
unwillkürlich eine 
Gegenprobe, die die 
glückliche Wahl seines Verfahrens bekräftigt 
und übrigens auf seiner Inkonsequenz beruht. 
Indem er sich nämlich scheute, religiöse und 
allegorische Gegenstände anders als in den 
herkömmlichen, stark stilisierten Formen aus¬ 
zudrücken, und indem er nicht vermied, ge¬ 
legentlich Dinge zu zeichnen, von denen er 
keine sichere Vorstellung besass, wie z. B. 
von Vorgängen aus alten Zeiten, geriet er, 
so oft er sich an solche Stoffe wagte, in ein 
ganz unerfreuliches Formenwesen, das sich 
höchstens durch einen sauberen Vortrag, eine 
geschicktere Technik, von dem schlechten 
Gemeingut der Zeit unterscheidet, während 
er mit Darstellungen aus den Kreisen seiner 
Zeitgenossen immer Glück hatte. Wo er sich 
also einer noch üngelenken Phantasie überliess, 
blieb er im Rückstand, wo er aber auf 
grund der frisch erfassten Natur arbeitete, 
machte er Fortschritte und wies den übrigen 
damit den Weg. Denn jetzt leuchtete die 





Aus dem Göttinger Almanach 
ftlr 1780. 



Das lesende Kind. 


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226 


Nesti.er, Der Stickstoff und die Pflanzen. 


neue, gesunde Anscliauung allen strebsamen 
Künstlern ein, und das Publikum seinerseits 
begriff allmählich, dass cs nur zu lange mit 
hohlen und rohen Kunstprodukten ergötzt 
worden war, während vollgiltigc ihm förder¬ 
lich gewesen wären. Man beanspruchte nun¬ 
mehr Höheres, und dieser Anspruch wurde 
der Hebel zu einem Aufschwünge der deut¬ 


schen Malerei, der freilich erst im Laufe un¬ 
seres Jahrhunderts erfolgte, aber unmöglich 
geblieben wäre ohne jene vorbereitenden 
Elemente im vorigen. Das ist die Bedeut¬ 
ung Chodowiecki’s, dessen anmuthige Blätter 
noch heute die Freude des Kunstkenners 
sind, wie denn jede wahr empfundene 
Kunst ihre Wirkung niemals verliert. 


Landschaftsstudie. 



y Der Stickstoff und die Pflanzen. 

Von Dr. A. Nestle k. 

Als die moderne Chemie Ende des vorigen 
Jahrhunderts sich zu entwickeln begann, in¬ 
dem man neben den bisher allein gebräuch¬ 
lichen , qualitativen Untersuchungen auch 
quantitative durchführte und eine genaue Unter¬ 
scheidung von organischen und anorganischen 
Körpern kennen lernte, wurden auch die ersten 
sicheren Mittel an die Hand gegeben, jene 
in wissenschaftlicher wie praktischer Hinsicht 
bedeutungsvollen Fragen einer endgiltigen 
Lösung näher zu führen, welche sich auf die 
Ernährung der Pflanzen beziehen. Ein tieferer 
Einblick in das Leben eines pflanzlichen 
Organismus ist eben nur mit Hilfe der Chemie 
möglich. Dass der von den Wurzeln einer 
höheren Planze durchzogene Erdboden und 
die die oberirdischen Teile derselben uni- 
spülende Luft, Quellen der Pflanzenpahrung 
sind, war längst bekannt, wenn man auch 
über die einzelnen Elemente, welche zum 
Leben einer Pflanze unbedingt notwendig sind, 
vollkommen im Unklaren war. Erst durch 
die Anwendung der heutzutage jedem Pflanzen¬ 
physiologen bekannten, künstlichen Nährstoff¬ 
lösungen, welche aus gewissen, der Art und 
der Menge nach bestimmten Substanzen be¬ 
stehen, konnte festgestellt werden, welche 
Elemente der Pflanze zu ihrer normalen Ent¬ 
wickelung gereicht werden müssen, welche 
Stoffe aus dem Erdboden, und welche aus der 
Atmosphäre bezogen w'erden. Man lernte 
durch dieses einwandsfreie Experiment neben 
Anderen die überaus wichtige Thatsache 
kennen, dass die grüne Pflanze aus anorga- 


; nischen Substanzen organische herzustellen 
I vermag, und dass der in der gesamten or- 
j ganischen Welt so verbreitete Kohlenstoff 
einzig und allein aus der Kohlensäure der 
atmosphärischen Luft durch die Thätigkeit des 
Blattgrüns gewonnen wird. Der zum Atmen 
' notwendige' Sauerstoff wird von den Pflanzen 
ebenfalls aus der Luft gewonnen. (Episcia 
bicolor, eine aus den Tropen stammende Treib¬ 
hauspflanze, geht, wie von Molisch kürzlich 
nachgewiesen wurde, bereits in 24 Stunden 
zu Grunde, wenn ihr der Sauerstoff fehlt.) 
* Während bekanntlich der Kohlenstoff einen 
relativ sehr geringen Bestandteil der 'Atmos¬ 
phäre ausmacht — auf 1000 Liter Luft 
kommen nur etwa 2 gr. Kohlenstoff — ist 
der Stickstoff in ungeheurer Menge in der 
Luft vorhanden. ‘) — Im Pflanzenkörper ist 
der Stickstoff von der grössten Bedeutung; 
bildet er doch einen Bestandteil jener Sub¬ 
stanz, welche das Wesentliche einer jeden 
lebenden Pflanzenzelle ausmacht, des Proto- 
j plasmas; auch die Samen sind bekanntlich sehr 
j stickstoffreich: im Roggen sind 16%, in der 
Gerste 17, im Weizenkorn 21, in der Erbse 
sogar 22 % Stickstoff enthalten. Aus welchen 
Quellen und mit welchen Organen bezieht 
nun die Pflanze dieses so wichtige Element, 
etwa mit Hilfe ihrer Blattorganc aus dem 
, grossen Vorräte in der Luft oder durch ihre 

’) Ob das 1895 durch Rainsay und Raleigh 
I entdeckte, neue, gasförmige Element, Argon, 
welches ebenfalls in bedeutenden Quantitäten in der 
, atmosphärischen Luft vorkommt, in irgend einer 
5 Bezieliung zum Leben der Pflanze stehe, wurde 
I bisher nicht untersucht, doch ist dies nicht gerade 
I wahrscheinlich, da sich das Argon chemisch un- 
! gemein indifferent verhält. 


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Nestler, Der Stickstoff und die Pflanzen. 


227 


Wurzeln aus dem Boden, in welchem dasselbe 
in Form von stickstoffhaltigen Salzen vor* 
kommt, oder aus beiden gleichzeitig? — 

Wenn man beispielsweise Rosskastanien¬ 
oder Ahombäumchen unter günstigen Licht*, 
Luft* und Temperaturverhältnissen in einer 
künstlichen Nährstoßlösung kultiviert, welche 
alle den höheren Pflanzen notwendigen Ele¬ 
mente in anorganischer Form enthält — es 
sind im Ganzen 9 Elemente, den Kohlenstoff 
bezieht die grüne Pflanze wie gesagt, aus der 
atmosphärischen Luft, — so gedeihen sie 
durch Jahre hindurch vortrefflich, blühen und 
tragen Früchte. Lässt man aber den Stick¬ 
stoff aus der Nährstoftlösung weg, den man 
gewöhnlich durch Beifügung von Salpeter* 
sauremKalk verabreicht, so fangen die Pflanzen 
bald zu kränkeln an und gehen endlich zu 
gründe, obwohl ihre in die Atmosphäre ragen¬ 
den Teile, Stengel und Blätter, von einer an 
Stickstoff reichen Atmosphäre umgeben sind; 
sie können eben nur durch die Wurzeln dieses 
zur Bildung von Eiweissstoffen notwendige 
Element aufnehmen. 

Derartige bereits sehr oft und mit den 
verschiedensten Objekten angestellten Versuche 
beweisen zur Genüge, das die höheren Pflanzen 
nicht im Stande sind, mit Hilfe ihrer ober¬ 
irdischen Organe den freien Stickstoff der 
Luft zu verarbeiten. Das grosse Heer der 
Bakterien und der höheren Pilze ist im allge¬ 
meinen auf organische Nahrung angewiesen; 
doch können gewiss einige Bakterien den 
freien Stickstoff der Atmosphäre assimilieren 
d. h. in organische Verbindungen bringen, wie 
Winogradski mit Sicherheit von Clostridium 
Pasteurianum nachgewiesen hat. Die Versuche 
mit Algen ergaben bisher ein negatives Re¬ 
sultat bezüglich der Aufnahme des atmos¬ 
phärischen Stickstoffes. Einige Forscher sind 
der Ansicht, dass gewisse niedere Algen den 
freien Stickstoff assimilieren können; ein¬ 
wandsfreie Experimente liegen jedoch darüber 
nicht vor. — 

Die im IVasser lebenden Pflanzen, Algen 
und auch höhere Gewächse finden in den 
hier gelösten, stickstoffhaltigen Salzen einen 
genügenden Vorrat an Stickstoff; die im 
Boden wurzelnden Pflanzen decken ihren Stick¬ 
stoffbedarf aus den hier vorhandenen salpeter- 
sauren oder Ammoniaksalzen, also durch 
Stoffe, welche durch die fortwährende Zer¬ 
setzung der Reste pflanzlicher oder tierischer 
Körper oder der Elemente der Letzteren sich 
bilden. Die verschiedenen Arten des Düngers, 
Gründüngung/ Excremente, Guano u. a. be¬ 
zwecken eben neben Anderen eine Bereicherung 
des Bodens an Stickstoff und erzielen einen 
höheren Ernteertrag. Es ist wahrscheinlich, 
dass bei den höheren Pflanzen die Gewinnung 


des Stickstoffes aus den stickstoffhaltigen 
Substanzen, welche von den Wurzeln in ge¬ 
löster Form aufgenommen werden, und die 
Bildung von Eiweissverbindungen wenigstens 
zum Teil in den Blättern erfolgt. Nach den 
neuesten Untersuchungen LaurenCs soll diese 
Assimilation nicht in der Dunkelheit stattfinden 
und die Einwirkung der ultravioletten Licht¬ 
strahlen, aber nicht die Mitwirkung des 
Blattgrüns erfordern. 

Obwohl die Resultate jener Experimente 
mit den Wasserkulturen keinem Zweifel unter¬ 
liegen, wurden doch beständig Stimmen laut 
— und sie sind auch heute noch hörbar — 
dass alle Pflanzen oder wenigstens ein Teil . 
derselben, den Stickstoff ganz oder teilweise 
durch ihre Blätter aus der atmosphärischen 
Luft beziehen und zu Eiweissverbindungen 
verwerten. Es ist nämlich eine alte Erfahrung 
der Landwirte, dass gewisse Kulturpflanzen, 
die Hülsenfrüchte und Kleearten, auch ohne 
künstliche Düngung durch Jahre hindurch auf 
ein und demselben Boden einen normalen Er¬ 
trag an stickstoffhaltigen Substanzen liefern 
und dass bei der sogenannten Gründüngung, 
wenn alle Teile der genannten Pflanzenarten 
der Erde wieder zugeführt werden, sogar eine 
Bereicherung des Bodens an Stickstoff statt¬ 
findet. Das dem gerade entgegengesetzte 
Resultat, nämlich ein Verbrauch von Stickstoff, 
konstatierte man bei den Getreidearten und 
nannte deshalb diese Pflanzen Stickstofffresser, 
die Hülsenfrüchte und Kleearten dagegen 
Stickstoffsammler. Schon durch diese Er¬ 
fahrungen war es offenbar, dass die zuletzt 
genannten Pflanzen eine ganz merkwürdige 
Ausnahme machen und dass ihnen auf irgend 
eine Weise wenigstens zum Teil noch eine 
andere Stickstoffquelle, als die im Boden vor¬ 
handene, zur Verfügung stehen müsse. Klarheit 
in diese auffallenden Verhältnisse konnten nur 
sorgfältig durchgeführte Experimente bringen. 
Hellriegel, dessen Name mit den Forschungen 
über die Stickstoffaufnahme der Pflanzen stets 
eng verknüpft bleiben wird, stellte bereits 
1862 und 63 fest, dass Rotklee in reinem 
Sande kultiviert und mit stickstofffreier Nähr¬ 
lösung begossen, schöne Blütenköpfe treibt 
und dass Erbsen, in stickstofffreier Nährlösung 
gezogen, sich normal entwickeln und zur 
Fruchtbildung gelangen; bei Getreidearten da¬ 
gegen, welche in ähnlicher Weise, wie der 
Klee, kultiviert wurden, fand nur eine spärliche 
Entwickelung statt. Durch diese und ähnliche 
Versuche wurde die Frage nach der Stickstoff- 
aufnahme jener Gewächse immer lebhafter und 
die Aufmerksamkeit auf eigentümliche Gebilde 
der Stickstoffsammler gelenkt, welche längst 
bekannt waren, aber ganz unrichtig gedeutet 
wurden. 


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228 


Nestler, Der Stickstoff und die Pflanzen. 


Wenn man die Wurzeln eines Wiesenklees, 
einer Lupine oder Bohne aufmerksam betrachtet, 
so findet man an denselben kleine rundliche 
Knöllchen in mehr oder minder grosser Zahl. 
Ein Querschnitt durch ein solches Knöllchen 
lässt unter dem Mikroskope in vielen Zellen 
eine unendliche Menge winzig kleiner Kör* 
perchen erkennen, eine Art jener merkwürdigen 
Lebewesen, deren Bedeutung im Leben der 
gesamten organischen Welt von Tag zu Tag 
zunimmt — Bakterien. Man zweifelte lange 
an der Bakteriennatur derselben; doch als es 
gelang, dieselben in Reinkulturen darzustellen 
und so ihr Leben genau zu studieren, musste 
jeder Zweifel verstummen: es sind echte 
Bakterien, welche nicht in die tote, sondern 
in die lebende Wurzel der Leguminosen ein- 
dringen und hier Wucherungen bewirken, 
welche als Knöllchen dem blossen Auge sichtbar 
werden. Diese Knöllchen sind nun nicht etwa 
als eine Krankheitserscheinung der betreffenden 
Pflanzen anzusehen, sondern es treten die 
Bakterien, wie wir gleich sehen werden, zu 
den betreffenden Pflanzen in ein gewisses, 
sich gegenseitig unterstützendes Lebensver¬ 
hältnis, in ähnlicher Weise, wie in jeder Flechte 
ein Pilz und eine Alge vereinigt sind. 

Welche Beziehungen zwischen den diese 
Wucherungen an den Wurzeln hervorrufenden 
Bakterien und ihren Wirtspflanzen bestehen, 
ob der freie Stickstoft' der atmosphärischen 
Luft auf diese Weise den Pflanzen zugeftlhrt 
werde, ob die oberirdischen oder unterirdischen 
Organe durch dieses Zusammenleben gefördert 
werden, zur Lösung dieser und vieler anderer 
Fragen wurden und werden noch heute zahl¬ 
reiche Versuche angestellt, welche nicht immer 
übereinstimmende Resultate erkennen lassen. 
Sicher aber ist das, dass die Knöllchenbakterien 
im Stande sind, den ‘ freien Stickstoff der 
Atmosphäre den von ihnen befallenen Pflanzen 
zugänglich zu machen, 

Erbsen und Bohnen wurden in der Weise 
kultiviert, dass man denselben alle notwendigen 
Nährstoffe, mit Ausnahme des Stickstoffes ver¬ 
abreichte und die einen derselben mit Bakterien 
inficierte, die anderen aber bakterienfrei Hess. 
Während die ersten sehr gut gediehen und 
schliesslich eine Zunahme an Stickstoff er¬ 
kennen Hessen, der nur durch das Zusammen¬ 
leben mit den Bakterien entstanden sein konnte, 
gingen die bakterienfreien Pflanzen zugrunde, 
weil ihnen jede Stickstoffquelle versagt war. 
Das bewies auch wieder, dass eine Pflanze 
mit den oberirdischen Organen keinen freien 
Stickstoff aus der atmosphärischen Luft auf¬ 
nehmen kann. In einem Boden, welcher frei 
von Bakterien, also sterilisiert ist, setzen die 
Leguminosen keine Knöllchen an die Wurzeln 
an und zeigen auch keine gute Entwickelung; 


wenn dieser sterilisierte Boden auch reich mit 
stickstoffhaltigem Dünger versehen ist, so bleibt 
der Ertrag an stickstoffhaltiger Substanz doch 
hinter jenen Kulturen zurück, welche in nicht 
sterilisiertem Boden gleicher Qualität wachsen. 
— Nobbe ist der Ansicht, dass die Knöllchen¬ 
bakterien für das oberidische Wachstum der 
Leguminosen, wenn sonst Stickstoff im Boden 
vorhanden ist, von keiner wesentlichen Be¬ 
deutung ist; wenn aber die Stickstoffquelle 
im Boden zu versiegen beginnt, dann bleiben 
die knöllchenfreien Pflanzen gegenüber den 
mit Bakterien inficierten in der Entwickelung 
zurück. 

Man hat lange Zeit darüber gestritten, ob 
jede Pflanzenart, die Erbse, Wicke, der Wiesen¬ 
klee, die Akazie u, s. w. ihre eigene Bakterien¬ 
art hat, oder ob es nur eine einzige Art sei, 
welche in jenes merkwürdige Zusammenleben 
mit den Bakterien treten könne. Nobbe ist 
auf Grund sorgfältiger Experimente zu der 
Ansicht gekommen, dass es nur eine einzige 
Bakterienart sei, der Bazillus radicicolla, dessen 
Eindringen in die gesunden Wurzeln der ver-. 
schiedensten Leguminosen (Lupinen, Erbsen, 
Wicken, Mimosen, Akazien u. s. w.) die Knöll¬ 
chenbildung verursacht und dadurch zu einer 
Stickstoffquelie werden kann. Die Wirtspflanze 
beeinflusst aber im Laufe der Zeit den Bazillus 
so sehr, dass derselbe später nicht mehr für 
alle Arten wirksam ist. So hat' z. B. der 
Bazillus aus den Knöllchen einer Erbsenpflanze 
für den Klee, für die Robinie u. a. keine 
Wirksamkeit mehr. Will man also mit voll¬ 
kommener Sicherheit die Ertragsfhhigkeit eines 
für Leguminosenanbau bestimmten Bodens mit 
Hilfe der Bakterien erhöhen, dann müssen 
sie von jener Pflanze genommen werden, welche 
eben hier kultiviert werden soll; für Klee¬ 
pflanzen dürfen also nur Kleebaktcrien zur 
Impfung des betreffenden Ackers verwendet 
werden. 

Damit dürfte auch die Erscheinung ihre 
Erklärung finden, dass die als Nahrungs- und 
Futterpflanze gleich wertvolle ostindische Soja, 
von Kirchner durch mehrere Jahre im bo¬ 
tanischen Garten zu Hohenheim kultiviert, 
keine Knöllchen bildete, obwohl in diesem 
Boden der Bazillus radicicolla vohanden war. 
Dieser Bazillus stammte jedenfalls von einer 
bestimmten Leguminosc her, so dass er bei 
der Soja unwirksam blieb. Sobald der Boden 
mit japanischer Erde geimpft war, zeigten 
sich auch die Knöllchen an den Wurzeln der 
genannten Pflanze, womit gleichzeitig eine 
Erhöhung des Samenertrages verbunden war. 

Ein Feld, auf welchem lange Zeit keine 
Leguminosen gebaut worden sind, soll den 
Bazillus radicicolla in neutraler Form enthalten, 


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Bruck, Griechenland in der Vorgeschichte, (mykenischen) Kulturepoche. 


229 


welche also bei jeder Art der Leguminosen 
wirksam sein könne. 

Was die näheren Vorgänge bei der Ge¬ 
winnung des freien Stickstoffs der atmos¬ 
phärischen Luft durch die Bakterien anbelangt, 
so ist es höchstwahrscheinlich, dass diese den 
Stickstoff in solche chemischen Verbindungen 
überführen, welche von der Pflanze als will¬ 
kommenes Nahrungsmittel aufgenommen und 
verarbeitet werden können, wofür die Pflanze 
als Gegenleistung die zum Leben der Bak¬ 
terien notwendigen Kohlenstoffverbindungen 
darbietet. 

Da es gewiss eine höchst auffallende Er¬ 
scheinung ist, dass gerade nur eine grosse 
Pflanzengruppe der Ordnung der Leguminosen 
auf die angegebene Weise ihren StickstofF- 
bedarf decken kann,^) so sind manche Forscher 
der Ansicht, dass vielleicht auch andere, nicht 
knöllchenbiidende Pflanzen mit Hilfe dieser 
oder anderer kleiner Organismen auch durch 
niedere Algen, denselben Vorteil geniessen 
können, wie die Leguminosen. Die bisher 
in dieser Hinsicht durchgeführten Experimente 
ergaben aber so verschiedene Resultate, dass 
darüber bis heute ein sicheres Urteil nicht 
gestattet ist. 

Die unzweifelhafte Thatsache, dass Bak¬ 
terien im Stande sind, den sonst so schwer 
in Verbindungen mit anderen Elementen über¬ 
zuführenden freien Stickstoff gewissen Pflanzen 
zugänglich zu machen und so die Bildung von 
Eiweissstoffen zu befördern, ist ein neuer 
Beleg für die überaus grosse Bedeutung jener 
kleinen Wesen im Haushalte der Natur, Wesen, 
welche die merkwürdigsten Eigenschaften 
zeigen — es giebt Bakterien, welche nur ohne 
Sauerstoff gedeihen, und solche, welche erst 
bei 60 — 70® C. das Optimum des günstigsten 
Wachstums besitzen, und wieder andere, welche 
leuchten u. s. w. Die Zukunft dürfte bei den 
gewaltigen Fortschritten unserer Untersuch¬ 
ungsmethoden noch Manches enthüllen, wovon 
wir gegenwärtig keine Ahnung haben. — 


Griechenland in der vorgeschichtlichen 
(mykenischen) Kulturepoche. 

Von I)r. SvLvics Bruck. 

Als vor nunmehr zwei Jahrzehnten Schlie- 
mann auf dem Burghügel von Mykenai die 
Königsgräber mit ihrem reichen und kost¬ 
baren Inhalte entdeckte, berührten die gefun¬ 
denen Gegenstände im Vergleich zu den bis- 

‘) Nach Hiltner (Landwirtsch. Versuchsstation 
18^5) soll auch die Erle (Ainus glutinosa) durch ihre 
Wurzelknöllchen das Vermögen haben, den freien 
Stickstoff der Atmosphäre aufzunehmen. 


her bekannten Überresten des klassischen 
Griechenlands so fremdartig, dass es sogar 
nicht an Stimmen fehlte, welche sie für un- 
griechisch, für Erzeugnisse der im Mittelalter 
nach der Balkanhalbinsel vorgedrungenen 
Barbarenvölker erklären wollten. Bald aber 
lichteten sich die Nebel. Nicht nur in My¬ 
kenai selbst, sondern an den verschiedensten 
Plätzen Griechenlands kamen zahlreiche Funde 
zum Vorschein, von den prächtigsten Kunst¬ 
werken bis hinab zu den einfachsten Geräten 
des täglichen Gebrauches, welche denen der 
mykenischen Burggräber völlig gleichstanden. 
Nach diesem ersten und berühmtesten Fund¬ 
orte werden sie sämtlich von der Wissen¬ 
schaft als „mykenisch“, die Kulturepochc, die 
sie repräsentieren, als die „mykenische“ be¬ 
zeichnet. Wohl bleibt noch manche wichtige 
Frage zu lösen; in den Hauptpunkten jedoch 
ist so weit Klarheit gewonnen, dass es jetzt 
möglich ist, in grossen Zügen ein Bild von 
den Zuständen Griechenlands in der myke¬ 
nischen Periode zu entw'erfen.*) 

Die Zeit, um die es sich handelt, liegt 
vor der sogen, dorischen Wanderung. In 
Mykenai wurden Gegenstände mit dem Namen 
des ägyptischen Königs Amenhotep III. (ca. 
1440—1400 V. Chr.) und seiner Gemahlin 
Ti zu Tage gefördert, in Ägypten lieferten 
Gräber und Stadtanlagen der 18. bis 20. 
Dynastie viele Gefässe rein mykenischer Tech¬ 
nik: der Höhepunkt der mykenischen Kultur 
lässt sich also mit Sicherheit auf die Zeit 
vom 15. bis II. Jahrhundert v. Chr. bestim¬ 
men, während die Anfänge der Entwickelung 
noch um Jahrhunderte weiter, bis an den Be¬ 
ginn des zweiten Jahrtausends v. Chr. zu¬ 
rückreichen müssen. 

Das griechische Festland war bereits da¬ 
mals von hellenischen Stämmen bevölkert, 
mit griechischer, nur mundartlich unter ein¬ 
ander abweichender Sprache. Die attische 
Landschaft hat ihre alte Einwohnerschaft 
stets unverändert bewahrt, die Vorfahren 
jener Athener, mit deren Namen steh 
unwillkürlich der Begriff von dem herr¬ 
lichsten Glanze griechischer Kultur verbindet. 
Ebensowenig haben die Bewohner Arkadiens 
gewechselt, doch haben sie sich in dem ab¬ 
geschlossenen, schwer zugänglichen Gebirgs- 
lande nicht zu einer liöheren Stufe der Ci- 
vilisation eniporgeschwungen. Den Arkadern 
nahe verwandte Stämme sassen an der Ost¬ 
küste des Peloponnes, bis zur Einwanderung 
der Dorier, durch welche sie teils vernichtet, 
teils über das Meer nach Osten gedrängt 

*) Vgl. hauptsächlich Ed. Meyer, Geschichte d. 
Altertums. Bd. II. (Stuttgart 1^3); Busolt, grie¬ 
chische Gesch. Bd. I. 2. Äufl. (Gotha 1893). 




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230 


Bruck, Griechenland in der vorgeschichtl. (mykenischen) Kultürepoche. 


wurden, wo wii* in historischer Zeit Spuren 
von ihnen noch in Cypern und Pamphylien 
antreffen; in der Argolis hatten sie den Na¬ 
men Danaer geftihrt, identisch mit den Dana- 
una, die in einer ägyptischen Inschrift Ram- 
ses’ III. erwähnt werden. Die Bewohner des 
südlichen Böotiens (Abanten, Graer u. s. w.) 
standen sprachlich den Attikern nahe, wäh¬ 
rend die Kopais-Ebene mit dem Hauptplatze 
Orchomenos von den sagenherühmten Minyern 
besetzt war. Zu den Völkerschaften, die sich 
in das thessalische Land teilten, gehörten die 
Hellenen, nach denen sich später die gesamte 
griechische Nation benannte, die Achäer, die 
lediglich durch das homerische Epos verall¬ 
gemeinert worden sind, und die Pelasger. 
Wie es an der Westküste Griechenlands um 
die Mitte des zweiten Jahrtausends v. Chr. 
ausgesehen hat, wissen wir nicht; von der 
mykenischen Kultur, deren eigentliche Hei¬ 
mat die Küsten und Inseln des ägäischen 
Meeres sind, haben sich dort bisher keine 
Überreste gefunden. Völlige Barbarei war 
noch, wie es scheint, über diese Gebiete aus¬ 
gebreitet. 

Das ganze Land zerfiel in eine Unzahl 
von Fürstentümern oder Herrschaften, zum 
Teil ■ recht beschränkten Umfanges. Eine 
kleine Ebene bildete stets den Kernpunkt des 
Gebietes, und auf einer Höhe, welche die 
Ebene beherrschte, hatte der Fürst seine 
Burg und seinen Palast errichtet. Aber der 
mykenische Fürst war kein Despot und kein 
aus der Fremde stammender Eroberer, dem 
seine Unterthanen feindselig gegenOberstanden; 
aus der Mitte des Volkes war sein Geschlecht 
zur Herrschaft emporgestiegen, und inmitten 
seines Volkes thronte er auf einer nur mas¬ 
sig sich erhebenden, leicht zugänglichen An¬ 
höhe, nicht auf einem steilen, abgeschlossenen 
Berggipfel. Die breite, bequeme, sanft anstei¬ 
gende Rampe, die am Abhange zum Haupt- 
thore emporführte, zeugt von dem regen fried¬ 
lichen Verkehr zwischen der Burg und dem 
Flachlande. Nur gegen äussere Feinde war 
der Herrensitz befestigt; an der gewaltigen 
Mauer, die viele Meter hoch und nicht min¬ 
der stark aus kolossalen, wenig bearbeiteten 
Steinblöcken rings um den Burghügel erbaut 
war, an den durch stattliche, vorspringende 
Thürme geschützten Thoren musste der An¬ 
griff des feindlichen Heeres zerschellen. Die 
höchste Erhebung des Hügels war gewöhn¬ 
lich durch eine Quermauer abgesondert und 
trug den eigentlichen Palast des Machthabers. 
Durch ein Hallenthor, ein Propylaion, ge¬ 
langte man in einen geräumigen freien Hof, 
aus diesem durch eine nach dem Hofe ge¬ 
öffnete Vorhalle und einen zweiten kleinen 
Vorraum in einen grossen Saal, dessen Mitte 


der runde Herd einnahm; es war der Män¬ 
nersaal, der Hauptraum des fürstlichen Wohn¬ 
sitzes. Hinter demselben und zu beiden 
Seiten war eine Reihe von Gemächern, für 
die verschiedenen Zwecke des täglichen Le¬ 
bens bestimmt, angebaut. Ganz in der Nähe, 
aber getrennt davon wiederholt die Frauen¬ 
wohnung die gleiche Anlage in etwas ge¬ 
ringeren Dimensionen. 

In welcher Weise das Terrain der Unter¬ 
burg benützt wurde, ist durch die bisherigen 
Ausgrabungen noch nicht genügend klar ge¬ 
worden, wenngleich alle Wahrscheinlichkeit 
dafür spricht, dass sich hier die ersten An¬ 
fänge einer städtischen Entwickelung abspiel¬ 
ten. Die verhältnismässig geringe Ausdehn¬ 
ung darf keine Bedenken erregen; beschränkt 
sich doch auch heutzutage das Städtchen 
Theben mit seinen dreitausend Einwohnern 
auf den Raum der einstigen mykenischen 
Burghöhe, auf die Kadmeia. Und in Mykenai 
sind thatsächlich innerhalb des Mauerringes 
die Fundamente eines ganzen Komplexes von 
einfachen, bürgerlichen Wohnhäusern freige¬ 
legt worden. Im Laufe der Zeit allerdings 
wurde der jungen Stadt der Raum zu eng. 
Wie aus einem Samenkorn streckte sie ihren 
Keim durch das Hauptthor hervor und brei¬ 
tete sich vor demselben unter dem Schutze 
der Burgmauer aus. In der mykenischen 
Befestigung zu Athen, dem Pelai^ikon, öff¬ 
nete sich das Thor nach Westen zu, und 
dementsprechend lag westlich von der Akro¬ 
polis, in der Einsenkung zwischen Akropolis, 
Pnyx und Areiopag, die älteste Stadt Athen. 
Erhalten haben sich Überreste einer Unter¬ 
stadt nur in Mykenai selbst, wo sie sich von 
der Mauerstrecke am Löwenthor aus in Ge¬ 
stalt eines langen spitzen Dreiecks gegen die 
Ebene hinabzieht, und zwar, was das Be¬ 
merkenswerteste ist, ebenfalls von einer 
Mauer umschlossen. — Am Ende der myke¬ 
nischen Epoche hatte sich also aus dem be¬ 
festigten Fürstensitze Mykenai eine grosse 
Stadtanlage, aus der kleinen primitiven Herr¬ 
schaft ein wohlorganisiertes Königreich ent¬ 
wickelt, in welchem neben dem Könige und 
dem unterthänigen Volke auch ein kriegerischer 
Adel nicht fehlte. In den Fehden, die zwischen 
den benachbarten Kleinfürstentümern begreif¬ 
licherweise beständig tobten, war es nämlich 
den Herren von Mykenai gelungen, ihre Ri¬ 
valen in der argivischen Ebene, wie Argos, 
Mideia, Tiryns, Nauplia, sämtlich zu unter¬ 
werfen, wobei manche Burg für immer zer¬ 
stört wurde, während andere vielleicht als 
Wohnsitze abhängiger Vasallen weiter fort¬ 
bestanden. Die Hauptstadt und der Mittel¬ 
punkt dieses mächtigen Königreiches war 
Mykenai, wohin die von dem Herrscherge- 


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Reh, Einfluss von Krankheit und Alter auf Knochen und Zahne. 


231 


schlechte in Krieg und Frieden angesammel¬ 
ten Schätze zusammenströmten, so dass noch 
die homerischen Sänger den Ruhm des „gold¬ 
reichen Mykenai“ preisen. Wenn wir er¬ 
wägen, welche Menge edlen Metalles und 
kostbarer Kunstwerke allein die sechs Schacht¬ 
gräber auf der Burg enthalten haben, obwohl 
sie noch vor die Blütezeit des mykenischen 
Staates fallen, dann können wir uns eine un¬ 
gefähre Vorstellung von den Reichtümern 
machen, die einst die grossartigen, prächtigen 
Kuppelgräber bargen. Und alles dies nur der 
geringe Bruchteil, den die Toten als pietät¬ 
volle Beigabe beanspruchten! 

Dem hohen Kulturstande des Reiches entspre¬ 
chend war für ein entwickeltes Strassennetz 
Sorge getragen, dessen Spuren in der Umgebung 
Mykenais erkennbar sind. Die Fundamente 
dieser 3,50 m breiten Kunststrassen bestehen 
aus grossen unbehauenen Blöcken, die Bach¬ 
einschnitte sind in gleichem Mauerwerke über¬ 
brückt, indem nach oben vorkragende Steine 
schmale, spitzbogenförmige Wasserdurchlässe 
bilden. Ausser einer gegen \das Heraion ge¬ 
richteten Hochstrasse führten drei nordwärts 
durch das Gebirge nach dem Isthmos. Wohl 
mochten sie dazu dienen, den Ausmarsch des 
Heeres zu erleichtern, vornehmlich aber 
.waren sie für den friedlichen Verkehr be¬ 
stimmt Nach Norden, über den Isthmos, 
ging es 4 n einen zweiten Grossstaat myke- 
nischer Zeit, der an Macht und Wohlstand 
mit dem argivischen wetteifern konnte: es 
war das Minyerreich mit dem Hauptorte Or- 
chomenos in der böotischen Kopais-Ebene. 
Ringsum von Bergen eingeschlossen, war die 
Ebene durch die Gewässer des Kephisos und 
anderer Flüsschen zum grossen Teil in einen 
seichten, sumpfigen See verwandelt, dem nur 
am Ostrande zahlreiche ‘unterirdische Fels¬ 
spalten (Kätawothren) einen Abfluss gewährten. 
Die Minyer nun unternahmen es, mit einem 
bewunderungswürdigen Geschick und Ver¬ 
ständnis für Wasserbauten, den See auszu¬ 
trocknen, indem sie quer durch denselben 
drei vermittelst standhafter Deiche geschützte 
Kanäle zogen, in denen alles zuströmende 
Wasser sich sammelte und den Katawothren 
zugeführt wurde. Dergestalt wurde das Ter¬ 
rain zwischen den Kanälen zu trockenem, 
nutzbarem Ackerboden, von einer Fruchtbar¬ 
keit, wie sie anderwärts in Griechenland 
schwerlich zu finden war. Und die Minyer 
wussten ihren einmal erworbenen Besitz sich 
zu sichern. Nicht nur wurden auf den Höhen 
an der Nordostecke der Seeebene, wo die 
meisten und wichtigsten Katawothren sich 
aneinanderreihen, mehrfach kleine Kastelle er¬ 
richtet zur Bewachung und zum Schutze der 
Kanäle und ihrer Ausmündungen, sondern 


auch die heutzutage Insel Gha genannte nie¬ 
drige und langgestreckte Erhebung ebenda¬ 
selbst wurde zu einer grossen und stark be¬ 
festigten mykenischen Burg umgestaltet. Zu¬ 
gleich mit dem minyischen Reiche verfielen 
auch die Deichbauten, ohne dass wir ent¬ 
scheiden könnten, welches der beiden Ereig¬ 
nisse als die Ursache und welches als die 
Folge zu betrachten wäre. Sicher ist nur, 
dass beim Beginne historischer Zeiten sowohl 
Orchomenos seine Bedeutung verloren hatte, 
wie die Kopais-Ebene wieder vom Wasser 
überflutet war; und so blieb es fast dreitau¬ 
send Jahre, bis es erst in jüngster Zeit aber¬ 
mals gelungen ist, nicht einmal den Griechen 
selbst, sondern fremdländischen Gesellschaften, 
den Kopais-See verschwinden zu lassen und 
dafür anbaufähiges Land zu gewinnen. Wer 
jetzt von den Randgebirgen aus seinen Blick 
über die üppig gedeihenden Getreidefelder 
hinschweifen lässt, der weiss, weshalb gerade 
das böotische Orchomenos solche Reichtümer 
aufspeicherte, dass der homerische Dichter es 
dem ägyptischen Theben an die Seite stellte. 

Nicht in allen Landschaften war es, wie 
in der Argolis tnd im nördlichen Böotien, 
bis zur Bildung eines Einheitsstaates gekom¬ 
men. In Attika reichen nur die Anfänge in 
die mykenische Epoche zurück, aber erst lange 
nach der dorischen Wanderung hat Athen die 
letzten der selbständigen kleineren Herrschaf¬ 
ten unterworfen, am spätesten ^as nahe Eleu- 
sis. Der Synoikismos, der Zusammenschluss 
der 12 attischen Gemeinden zu dem einheit¬ 
lichen Stadtstaate Athen, der Sage nach ein 
einmaliger friedlicher Regierungsakt des The- 
seus, war in Wirklichkeit eine Jahrhunderte 
lang dauernde Entwickelung, die manch har¬ 
ten Kampf gekostet haben mochte. Immer¬ 
hin muss bereits das mykenische Athen die 
übrigen Fürstentümer Attikas um ein Beträcht¬ 
liches überragt haben; denn der ganze Süd- 
und Westabhang des Akropolishügels war 
als Unterburg in den Bereich der Ringmauer, 
der sogen, pelargischen Mauer, mit einbezo¬ 
gen. Von dem Hauptthore, das dem Areio- 
pag gegenüber lag, gelangte man über meh¬ 
rere Terrassen allmählich ansteigend hinauf 
zur höchsten Spitze, wo in der Nähe des 
heutigen Erechtheions der Königspalast sich 
erhob. 

(Schluss folgt.) 


H. Allen. Einfluss von Kränkelt und hohem 
Alter auf Knochen und Zähne bei Säugetieren. 
(Science 19. 2. 97.) 

Von Dr. L. Reh. 

Krankheiten und hohes Alter rufen im tierischen 
»Organismus mancherlei Veränderungen hervor, wo- 


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232 


Reh, Einfluss von Krankheit und Alter auf Knochen und Zähne. 


bei der Unterschied in derWirkungsweise beider mehr 
scheinbar als thatsächlich ist. Beide streben danach, 
den Organismus kraftlos und unfähig zu seinen 
Verrichtungen zu machen. Viele Vorgänge des 
Altems ähneln Krahkheits-Erscheinungen selbst im 
Einzeln, wie in der Verkalkung, dem Absterben 
und Verschwinden und in der fettigen Umbildung 
von Geweben und Organen. Im Prinzip sind dies 
alles normale Vorgänge, wie sie auch bei den nor* 
malen Veränderungen im Körper auftreten. Sie 
unterscheiden sich von ihnen nur durch die Wirk¬ 
ung, indem sie bei letzteren die normale physio¬ 
logische Thätigkeit unterstützen, bei ersteren Ver¬ 
fall und Tod beschleunigen. 

Das Greisen-Alter ist kein bestimmter Lebens¬ 
abschnitt und daher ohne scharfe Abgrenzung. 
Charakterisiert wird es am besten dut'ch die in 
Folge des Gebrauches vollzogene Abnutzung von 
Geweben und Organen, die nicht wieder . ersetzt 
werden können. So schwinden besonders die Haut¬ 
gebilde (Haare und Zähne) und die Muskelfasern 
in den Capillaren, dem Gefäss-Netz zwischen Ar¬ 
terien und Venen, dem wir u. A. die Farbe und 
Frische der Haut verdanken. — Den Anfang des 
Greisen-Alters kann man an das Aufhören der 
Zeugungsfähigkeit setzen. 

Wie bei dem Individuum, so kann man auch 
bei ganzen Tiergruppen von Greisenalter reden, 
wenn sie die Höhe ihrer Entv^ckelung überschrit¬ 
ten haben; und es sind schon Versuche gemacht 
worden, beide Erscheinungen in ihren einzelnen 
Phasen mit einander zu vergleichen. 

Unter ii Rubriken glaubt H. Allen alle die 
entsprechenden Vorgänge einstweilen unterordnen 
zu können. 

/. Der greise menschliche Schädel zeigt oft An- 
klänge an niedere Säugetiere, — So w’ird das Sep¬ 
tum orbito-temporale, das zur seitlichen Begrenz¬ 
ung der Augenhöhle beiträgt, bei alten Menschen 
dünner oder schwindet ganz; und ausser den Affen 
haben keine anderen Säugetiere diesen Knochen. 

2. Bei zusammengesetzten Knochen erstrecken 
sich an ihnen vorkommende Absorptions - Prozesse 
oft nur auf einzelne ihrer ursprünglichen Bestand¬ 
teile. — Wenn z. B. die eine Hälfte des Unter¬ 
kiefers erkrankt, kann die andere gesund bleiben. 
Oder, ein besonders schlagender Fall: bei einem 
Syphilis-Kranken hatte sich ein Absorptionsprozess 
nur auf die untere Hälfte des einen Jochbeines be¬ 
schränkt, die allerdings ursprünglich selbständig, 
beim Menschen aber fast immer mit der oberen 
Hälfte und dem Oberkiefer 'fest verwachsen ist. 

). Knochen - Fortsätze vergrässern sich oft im 
Alter oder erscheinen an Stellen, wo früher keine 
waren, wo sie aber bei verwandten Formen Vor¬ 
kommen. — So vergrüssert sich der Griftelfortsatz 
des Schläfenbeines öfters bei Greisen durch Ver¬ 
knöcherung des von ihm zum Zungenbein flUiren- 
den Muskels, der bei niederen Tieren häufig als 
getrennter Knochen auftritt. — Nur bei ganz alten 
Hauskatzen findet sich ein Tuberkel am Thränen- 
bein, dessen Vorhandensein Regel ist bei niederen 
Arten dieser Familie, Ausnahme bei höheren. 

4. Ober- und Unterkiefer streben danach, sich 
in hohem Alter zu verlängern. — So treten oft bei 
alten Tieren die unteren Eckzähne vor, bis sie dem 


2. oder 3. oberen Schneidezahn gegenübertreten. 
Es scheint besonders der vordere, der Schnauzenteil 
der Kiefer, sich zu verlängern, wie denn auch am 
häufigsten Lücken zwischen den vorderen Backen¬ 
zähnen, den Praemolaren, auftreten. Bei der Haus¬ 
katze kann sich z. B. die Entfernung vom 2. zum 

3. Backenzahn um 2-5mm verlängern. Auch bei 
Hunden kann man Ähnliches beobachten, bei denen 
ja ohnehin die Länge der Schnauze wechselt. 

/. Sehr alte Individuen der einen Art können in 
wesentlichen Merkmalen den typischen Formen ver- 
wandter Arten ähneln. — Ein altes Exemplar einer 
Fledermaus-Art glich im Gebisse dem typischen 
einer nahe verwandten. 

6. Beträchtliche Variationen in den Zahnformen 
verwandter und hoch spezialisierter Tiere zeigen an, 
dass der Typus in der Fähigkeit sich anzupassen 
erschöpft und im Degenerieren begriffen ist. Die 
Formen, die die degenerierten Zähne annehmen, ent¬ 
sprechen Altersveränderungen weniger hoch organi¬ 
sierter Tiere. — Besonders die Form der Zähne 
steht unter dem Einflüsse langen Gebrauches. Ihre 
Grösse ist bis zu gewissem Grade proportional der 
von ihnen geleisteten Arbeit; die Krone ist ein Bild 
der Wirkung ihrer Thätigkeit. •— Bei Pflanzen¬ 
fressern schwinden die Spitzen der Backenzähne, 
wofür sich besonders schöne Beispiele bei den 
Fledermäusen finden, wo ganze Familien, oder ein¬ 
zelne Glieder anderer Familien aus Fleischfressern 
Fruchtfrescer geworden sind. Bei den meisten 
pflanzenfressenden Säugetieren wird die Krone der 
Zähne mit dem Alter immer kleiner. Auch alte 
Hunde zeigen diese Veränderungen. 

7. Auf den gänzlichen Verlust der Zähne bei 
alten Menschen folgt bisweilen eine Knochen-Wucher¬ 
ung, die drei neue, den drei Zahnformen in der Lage 
fast entsprechende Bildungen entstehen lässt. — Die 
besten Beispiele hierfür trifft man bei den Wildert. 

S. Die Art der Verwachsung der Schädelnähte 
kann ein wichtiges systematisches Merkmal sein. — 
So verschwindet von zwei Nähten des Schädel¬ 
beines, die beim Menschen unabhängig vom Alter 
verwachsen, nur die eine beim Hunde und erst zu 
Beginn des Grcisenalters. Bei den Schlangen gilt 
das völlige Verschwunden der Schädel-Nähte als 
charakteristisches Unterscheidungs-Merkmal von den 
anderen Reptilien. 

9. Die Muskeln verändern die Gestalt der langen 
(Röhren-) Knochen nach Massgabe der Zeit, die sie 
wirken. - Die stärkeren, Beuge-Muskel, halten die 
schw’ächercn, Streck-Muskcl der Gliedmassen so 
fest gegen die Knochen, dass in letzteren eine mit 
der Zeit immer tiefer werdende Grube entsteht. 
Bei einer alten Katze war eine solche Grube am 
Schienbein sogar zu einem Kanäle geworden. 

10. ln dir Ontogenie (Entwickelung des Indivi¬ 

duums) können senile Formen einer jährlich wieder¬ 
kehrenden Bildung der jugendlichen Form gleichen 
und dadurch der in (Entwickelung einer 

Tier-Gruppe) ursprünglichen. - Das Geweih eines 
alten Wapiti (Edelhirsch Nord-Amerikas) strebt die 
Form desjenigen eines Spiessers anzunehmen, das 
zugleich die Geweihform der ursprünglichen 
Hirsche ist. 

//. Entzündung eines Knochens verändert seine 
Gestalt an den Stellen, an denen die grösste physio- 


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Sprachliche Fragen. — Betrachtungen und Kleine Mitteilungen. 


233 


logische Thäiigkeit siattfindet, und diese bereiten den 
Weg für senile Veränderungen in den gleichen Re¬ 
gionen vor. — Die Tiefen der Streckmuskel-Gruben 
können sich durch Reibung entzünden, die wieder 
Knochen-Wucherungen zur Folge haben. — In 
einem gewissen Alter, in dem die vorderen Backen¬ 
zähne bereits durchgebrochen sind, die Schneide¬ 
zähne aber erst damit beginnen, ist die Bildung der 
Naht und der Zahnhöhlen des Unterkiefers der 
Katze so, dass leicht Krankheiten des Kinnes ent¬ 
stehen, die sich bei 33 unter 48 Skeletten auch vor¬ 
fanden. Bei alten Katzen finden sich häufig in die¬ 
ser Gegend krankhafte Veränderungen (Verlust der 
Schneidezähne, Lockerung oder auch Verlust der 
Eckzähne), die durch ein kleines Zuviel an Thätig- 
keit bei jungen Tieren verursacht sind. 

Durch weitere Vergleichung ähnlicher Erschein¬ 
ungen, wozu sich besonders die domestizierten 
Rinder einerseits, die aussterbenden Auerochsen 
andererseits, ebenso die alten Pferde eignen, 
glaubt H. Allen, dass interessante Resultate, beson¬ 
ders in Bezug auf Phylogenie gewf)nnen werden 
könnten. 


Sprachliche Fragen. 

Von Dr. F. Tetzner, Lcipzif;. 

8. Starke und schwache Beugung des Eigenschafts¬ 
wortes. 

Die Formenmischung und Unsicherheit im Ge¬ 
brauch starker oder schwacher Beugung deutete 
ich kurz im 6. Abschnitt an. Sie blüht lustig wei¬ 
ter, man schreibt statt Maide, Lurche, Brenze u.s.w. 
weit und breit schwache Formen. 

Am willkürlichsten verfährt man bei Eigen¬ 
schaftswörtern, die ja beide Beugungen haben. — 
Heisst es; wir Deutsche oder wir Deutschen? Da¬ 
rüber hat man schon manchmal gestritten. In 
der Einzahl steht die starke Beugung fest: du 
Deutscher. Sie gibt einen Fingerzeig für die Mehr¬ 
zahl. Beim Fehlen des Geschlechtsworts oder der 
Geschlechtswortendung müsste eigentlich die starke 
Form stehen. Also: wir Deutsche, ihr Deutsche, 
sie Deutsche. Freilich sagt man; wir deutschen 
Mämter tind kann „a'ir Deutschen“ als Abkürzung 
auffassen. Dann ist beides richtig. 

Steht die Geschlechtswortendung vor dem Eigen¬ 
schaftswort, mag sie nun im Geschlechtswort oder 
in einem hinweisenden Fürwort enthalten sein, so 
folgt immer die schwache Beugung (diesem Deut¬ 
schen, jenes Deutschen); fehlt jene, so nimmt das 
Zeitwort die Geschlechtswortendung an seinen 
Schluss (deutschem Manne, deutscher Frauen). 

Steht beim Geschlechts- oder hinweisenden Für¬ 
wort noch ein Eigenschaftswort, so hat dies schwache 
Form (diese schönen Mädchen, der tapferen Deut¬ 
schen, jenen tüchtigen Mann). 

Einem unbestimmten Zahlwort (einige, mehrere) 
und Eigenschaftswort folgt die starke Form (einige 
schöne Kinder, mehrere gute Frauen, solche tapfere 
Soldaten, mit schönem blauem Buche, in herrlicher 
grüner Seide. Nie steht aber die starke Form beim 
unbestimmten Artikel: er beschenkte ihn mit einem 
schöne« Hause. Man sollte nicht glauben, dass 
selbst diese einfache Regel oft sogar Gebildeten 
nicht in Fleisch und Blut übergegangen ist. Ein 


Gelehrter behauptete allen Ernstes entgegen der 
historischen Grammatik, es müsse eigentlich auch 
im Adjektivum das m stehen, man ersetze es nur 
des Wohlklanges wegen durch n. 

Die Eigenschaftswörter treten in starker und 
schw’acher Form als Familiennamen auf: Grün, 
Grüner; Weiss, Weisser. Die weibliche Endung 
(in) für die Frau besteht in der Volkssprache, ähn¬ 
lich wie im Slavischen fort; in der Schriftsprache 
hat man Formen wie Frau Schlegelin für Frau 
Schlegel ausgemerzt, um die urkundliche Form in 
Streitfällen zu bewahren. Die Formen Grüner, 
Weisser, Schwarzer begegnen Familiennamen mit 
gleicher Endung aber anderen Ursprungs: Walther, 
Günther. Hier geht die Endung auf ein altes Haupt¬ 
wort „Herr“ zurück, das in Herresangehörigen ym- 
gedeutet wird und nichts mit Herr zu thun hat. 
(Vgl. Tetzner, „Deutsches Wörterbuch“ unter Herr. 
Leipzig, Reclam' Nr. 3168—70 der Universalbiblio¬ 
thek.) Des Wohlklangs wegen ist an das Ende 
jener Familiennamen oft der Verschlusslaut t ge¬ 
treten : Grünert, Weissert, Schwarzer^ Gühthert; 
dasselbe Anhängsel begegnet uns in einst, entweder, 
meinetwegen. Jene Formen aber kommen in der 
Endung mit anderen Namen Oberein, die, wie Dank¬ 
wart (Denkert), Eckert, Volkhart, Volkwart (Vol- 
kert), Gerhart (Gert) in der zweiten Silbe auf die 
Wörter hart und warten zurückgehn. Die Schreib¬ 
weise der Endung (d^ t, dt, tt) ist meist völlig will¬ 
kürlich. Wenn nun aus Schwarz, Schwarzer ein 
Schwarzerd, Sch\varzerdt, Schwarzert entstand, so 
ist die Endung bedeutungslos. Im 16. Jahrhundert 
wusste man die Endung nicht zu deuten und nahm 
das Nächstliegende. So entstand in „Melanchthon" 
eine Namensform die uns heute genau so scherz¬ 
haft scheint wie die Umdeutung des Dichters Haug 
in Hophthalmos = H - Aug*. Heute würde sich 
Luthers Freund, wenn er mit seinem deutschen 
Namen nicht zufrieden wäre, Melas oder mit einem 
von Melan- abgeleiteten Wort benennen. 

Ich bin aufgefordert worden, mich gegen die 
langweiligen Wörter „ersterer“ und „letzterer“, zu 
wenden, sowie gegen den Ausfall des Hilfsworts 
nach dem Perfektpartizip z. B. „nachdem ers ge¬ 
sagt" statt „nachdem ers gesagt hatte“. Die erste 
Wendung ist bei öfterem Gebrauch unschön, die 
zweite verrät lateinisch-französische Beeinflussung. 


Betrachtungen und kleine Mitteilungen. 

Alter des organischen Lebens auf der Erde. 
An jeden Geologen wird sehr oft die Frage gerich¬ 
tet nach dem Alter der versteinerungsführenden 
Felsen, welche sich an der Oberfläche der Erde 
befinden und insbesondere nach dem Zeitraum, 
welcher seit dem Auftauchen des organischen Le¬ 
bens auf der Erde verflossen sein dürfte. Der 
Wissenschaft ist eine zuverlässige Antwort auf 
diese Fragen natürlich noch lange nicht möglich; 
immerhin liegen mannigfache Schätzungen vor, 
welche unlängst Upham’) zusammengestellt hat. 
Lord Kelvin schätzt auf Grund der Zunahme 
der Erdwärme nach innen und ihres Verlustes 
nach aussen die geologische Zeit auf 100 Millionen 
Jahre. Merkwürdigerw^eise ist man auf einem 

•) EKlimjites of Roologic time. Amcr. Joiirn.il of .Science 30er 
VoL 45 S. aop-aao. 


y 


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Betrachtungen und kleine Mitteilungen. 


ganz andern Weg zu einem ähnlichen Resultate 
gekommen. Die einzelnen geologischen Zeiträume 
verhalten sich nämlich ungelähr wie die Dicke der 
während derselben abgesetzten Schichten. Da diese 
gemessen werden können, kennt man die Dauer 
aller dieser Zeiträume mit einiger Wahrscheinlich¬ 
keit, sobald man die Längö eines einzigen bestimmt 
hat. Nun ergiebt sich aus den Beobachtungen von 
Winchell, Gilbert, Andrews, Wright und 
Emerson, welche sich auf die Erosionserschein¬ 
ungen der Wasserfälle, Seen und Flüsse beziehen, 
dass seit dem Ende der Eiszeit etwa 8000 Jahre 
verflossen sein dürften. Man erhielte unter dieser 
Voraussetzung seit Ende der Tertiärzeit 100000, 
seit Ende der Kreide 3 Millionen; seit Ende 
der Trias 10 Millionen, seit dem mittle¬ 
ren Devon 30 Millionen, seit dem Anfang des Cam- 
brium, wo sich die ältesten Versteinerungen finden, 
50 Millionen Jalire. Die vorcambrische Zeit, in 
welcher sich das Leben aus seinen Uranfängen bis 
zu seiner damaligen Höhe entwickelte, muss eben¬ 
falls auf 50 Millionen Jahre geschätzt werden, wo¬ 
mit die .^ahl Lord Kelvins erreicht wäre. Wie un¬ 
sicher trotzdem diese Zahlen sind, sieht man aus 
dem Umstand, dass die Schätzungen der geolog¬ 
ischen Zeit von seiten anderer Gelehrten siim 
zwischen 7000 Millionen (Mac Gee) und 10 Millionen 
Jahre (Tait) bewegen. Dr. E. W. 


Über den Ursprung des Luftsauerstoflfes. Die 
Luft besteht der Hauptsache nach aus Stickstoff (in 
100 Volum. 79 Volum.) und Sauerstoff (in 100 Vol. 
20,8 Vol.) äe enthält ferner kleine Mengen Koh¬ 
lensäure und andrer Körper. Man darf nicht an¬ 
nehmen, dass ihr diese Zusammensetzung von An¬ 
fang an eigentümlich war. K o e n e hat die Be¬ 
hauptung aufgestellt, dass sie ursprünglich nur 
SticKSton und Kohlensäure enthielt. Da die Pflan¬ 
zen durch ihre Lebensthätigkeit Sauerstoff erzeugen, 
so lag der Gedanke nahe, dass sie das Mittel wa¬ 
ren, dessen sich die Natur bediente, um dieses Gas 
für die Luft zu liefern. Phipson hat denselben 
experimentell näher zu ergründen versucht.') Er 
studierte w’ie sich niedrig organisierte Pflanzen*) in 
einer Atmosphäre von Stickstoff, von Kohlensäure 
und in einem Gemische dieser beiden Gase verhiel¬ 
ten. Es zeigte sich dabei folgendes: Die Pflanzen 
können in der Kohlensäureatmosphäre zwar einige 
Zeit leben, aber sie gedeihen darin nicht. Im Stick¬ 
stoff kommen sie fort, wenn Kohlensäure in das 
Wasser eingeführt wird, das die Rolle des Bodens 
vertritt. Im Stickstoff, der Kohlensäure enthält, 
gedeihen sie sehr gut, und nach einigen Wochen 
ist die Zusammensetzung des Gasgemisches unge¬ 
fähr diejenige der Luft, ohne dass sich dabei das 
Volumen desselben geändert hat. Auf Grund die¬ 
ser Versuche führt Phipson über den Ursprung des 
Sauerstoffs der Luft folgendes aus: ln den geo¬ 
logisch frühesten Perioden bildete der Stickstoff 
den Hauptbestandteil der Luft; diese W'ar dank der 
Thätigkeit der Vulkane an Kohlensäure und Was¬ 
serdampf reicher wie die irdische Atmosphäre von 
heutzutage. In ihr haben die niedrigen Pflanzen 
gelebt und durch ihren Lebensprozess aus Kohlen¬ 
säure in beständiger stiller Arbeit Sauerstoff er¬ 
zeugt, so dass die relative Menge desselben durch 
die langen geologischen Epochen hindurch fortwäh¬ 
rend und allmählich angereichert wurde. Das Pflan¬ 
zenleben hat demnach notwendigerweise dem tier- 


I) Comptes Beudus it7,jv'.i; lai.Ti«. 

») Zu den Versuchen dienien: Poa, Ajrroslis, Trifolium, Myo- 
sotis, Anthirrhiiium und Convolvulus. (.'onvotvulus urveusis 
eignet sich am besicn. 


ischen Leben vorausgehen müssen, um den Sauer¬ 
stoff zu erzeugen, ohne welchen das letztere nicht 
möglich ist. Das geht auch aus Studien auf ande¬ 
ren Gebieten hervor. Wir wissen, dass das orga¬ 
nische Leben auf Erden stufenweise vorwärts ge¬ 
schritten ist auf der Bahn der Vervollkommnung; 
dass sich aus den formenarmen Anfängen, die uns 
aus frühesten Perioden überliefert worden sind 
ganz allmählich die Jetzige Pflanzen- und Tierfülle 
entwickelt hat. Dr. Schmidt. 

y 

y Der Kohlensäuregehalt der Luft. In Vor¬ 
stehendem ist erwähnt, dass die Luft wenig Koh¬ 
lensäure enthält(durchschnittlich 0,03 Volumprozente) 
und dass sie in früheren geologischen Perioden in¬ 
folge der Thätigkeit der Vulkane reicher an diesem 
Gase war. Die Aenderungen des Kohlensäuregehal¬ 
tes hat neuerdings Högbom*) dadurch zu beur¬ 
teilen versucht, dass er die in der Luft vorhandene 
Kohlensäuremenge mit der verbrauchten resp. pro¬ 
duzierten vergleicht. Er findet dabei vor allem, dass 
die Menge Kohlensäure, welche sich in den Kalk¬ 
steinen und anderen in der Natur vorkommenden 
Verbindungen der Kohlefisäure^j angehäuft hat, et¬ 
wa 250oomai so gross ist als diejenige der Luft. 
Da aber diese grosse Menge früher einmal in der 
Luft enthalten war oder mindestens durch dieselbe 
gegangen ist, so leuchtet eiUj dass der Kohlensäu¬ 
regehalt nicht immer so gering war wie Jetzt. Es 
muss vielmehr eine fortwährende Ergänzung des¬ 
sen, was durch Bildung von kohlensauren Salzen 
verbraucht wurde, stattgefunden haben, und als 
Quelle dafür bleiben nur die vulkanischen Prozesse. 
l 5 ie grosse Menge Kohlensäure, die in den Kalk¬ 
steinen gebunden vorliegt, ist auf ihrem Wege vom 
Vulkan zum Gestein vorübergehend als Bruchteil 
in der Atmosphäre vorhanden gewesen, so dass 
der Kohlensäuregehalt derselben in den verschie¬ 
denen geologischen Perioden ein schwankender 
war. Dr. Schmidi, 

Kritikstrahlen. Wir haben kürzlich eine Notiz 
über eine angeblich neue Art von Strahlen ge¬ 
bracht, durch die man lebendes und totes Gewebe 
unterscheiden könne. Einstweilen fehlt noch Jeder 
Beweis, dass man es hier mit andern als Röntgen¬ 
strahlen zu thun habe, denn Versuchsresultate, die 
den X-Strahlen gegenüber als neu zu bezeichnen 
wären, liegen noch nicht vor. Der Erfinder der 
neuen Schwarzglasröhren giebt seinen Ansichten in 
zwei Artikeln des Elektrotechnischen Anzeigers 
Ausdruck, die für Laien undFachmänner gleich unver¬ 
ständlich sind. Er unterscheidet kritische Moment¬ 
strahlen, unkritische Momentstrahlen, unkritische 
Zeitstrahlen. Die ersten sind „so scharf im Sinne 
von kritisch, dass sie zwischen dem Äther selbst 
und seiner lebendigen Kraft insofern einen haar¬ 
scharfen Unterschied machen, als sie allein und 
ausschliesslich den von der lebendigen Kraft des 
Äthers durchdrungenen Körper augenblicklich durch¬ 
leuchten, den nur noch mit dem Äther selbst ge¬ 
ladenen toten Körper dagegen nicht“. Unter einem 
toten Körper versteht der Verfasser nicht einen 
toten Körper, sondern kranke, zum Beispiel tuber¬ 
kulöse Stellen im lebenden Organismus. Soweit 
aus der unklaren Darstellung zu entnehmen, be¬ 
steht die neue Röhre aus schwarzem Glas und hat 
einen aus schwarzem Glas.. gebildeten Kathoden- 
strahlenauftänger, ähnelt im Übrigen den bekannten 
Röhren mit Platinspiegel. Nach den bisherigen Er- 


*) Jahrbuch f. Mineral. 1897 1. 43. 

Es sind die Carbotiate der sedimentären Formationen 
l'cmcint. 


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Betrachtungen und kleine Mitteilungen. 


235 


fahrungen ist es nicht wahrscheinlich, dass durch Menge von pprozentigem Ammoniak. Die Farbe 

eine solche Röhre eine ganz neue Strahlengattung des so erhaltenen keimfreien Wassers ist klar, der 

erzeugt würde. Jedenfalls sind alle darauf bezOg- gerii^e Gehalt an Bromsalzen ist ohne Einfluss auf 

liehen Mitteilungen mit grosser Vorsicht aufzuneh* den Geschmack und absolut unschädlich. Mit einem 

men, so lange nicht klare und unbezweifelbare Ver- kg Brom iPeis 5-6 M.), kann man i6coo Liter 

suche bekannt werden. Aus der rationellen Ver- Wasser sterilisieren. Dr. Schumburg weist mit 

dunkelung der Röhre, durch die sie für das kon- Recht auf die grosse Bedeutung dieses seines Ver- 

kurrierende weisse Licht undurchsichtig gemacht fahrens, sowohl im Kriege zur Versorgung der 

wird, schliesst der Erfinder auf die ausserordent- Truppen, als auch in den Tropen, besonders für 

liehe Beständigkeit der Luftverdünnung in derselben. Expeditionen, für die Wassertanks von Schiffen in 

Dr. Pr. verdächtigen Häfen und schliesslich für den Haus- 
• • halt zu Zeiten von Epidemieen. — 

* • • • 

Färbemittel für Margarine. Die beiden wich- _ ^ • 

tigsten zur Erkennung der Margarine vorgeschla- Photographie in natürlichen Farben. Wie 
genen Färbemittel, das rhenolphtaleln (nach Soxhlet) Truemann Wood, der Sekretär der Society of 
und das sogen. Buttergelb (nach von Buchka) Arts in London, berichtet, hat der Franzose Vil- 
bieten bekanntlich den Nachteil, dass durch ihre ledieu Chassagne in seiner Gegenwart und 
Anwendung zur Unterscheidung von Butter und unter strenger Kontrolle ein Verfahren der Photo- 
Margarine in letztere erst ein chemischer Körper graphie in natürlichen Farben demonstriert, vt-elches 
hineingebracht werden muss, der eigentlich nicht zwar nicht erklärlich klingt aber geeignet wäre, all- 
hinein gehört, ganz abgesehen davon, dass die ab- gemeine Anwendung zu finden. Das Ver¬ 
solute Unschädlichkeit desselben bei dauerndem fahren besteht in Folgendem : Man macht eine 
Genuss noch nicht endgiltig nachgewiesen ist. Es Aufnahme auf einer Bromsilbergelatinetrocken- 
dürfte demzufolge ein neuer Vorschlag allgemeine platte, wie selbe von dem Photographen heute all- 
Beachtung verdienen, den Dr. H. Brehmer gemacht gemein verwendet wird, die aber vorher mit einer 
hat. (Pharm. Wochenschr.) Brehmer fand, dass Flüssigkeit, deren Zusammensetzung Chassagne ge- 
man mit einer Mischung von 50 ccm. reinen Alko- heim hält, präpariert wurde. Das N>gatiy wird 
hols, 50 ccm. konzentrierter Schwefelsäure und wie ein gewöhnliches entwickelt und giebt ein Bild, 
10 Tropfen Durfurol, welche unter möglichster Ver- welches gerade so aussieht wie ein gewöhnliches 
meidung jeder Erhitzung dargestellt werden muss. Negativ. Dieses wird auf eine Diapositivplatte oder auf 
SesamO! neben Liweissstoffen leicht nachweisen Albuminpapier, welche vorher gleichfalls mit der oben 
kann. Bringt man nämlich einen Tropfen dieser erwähnten Flüssigkeit imprägniert wurden, kopiert. 
.Mischung auf reine Butter und reibt denselben Man erhält wieder ein Posiüv, welches keine Spur 
mittelst eines Glasstabes etwas in die Butter hinein, tarbe zeigt Der Abdruck w’ird dann aufein- 

so bleibt die Farbe unverändert, höchstens ist die anderfolgend mit drei Farbstofflösungen ^blau, grün, 
Stelle graubraun gefärbt Besitzt dagegen die Butter behandelt, wobei jedesmal die entsprechenden 

einen Gehalt an Sesamöl, so nimmt die Stelle inner- Stellen des Bildes die betreffende Farbe annehmen, 
halb 1—2 Minuten eine tiefrote Farbe an. Die Ge- so dass das so behandelte Positiv ein richtiges Bild 
setzgebung braucht danach also nur zu bestimmen, ^cti Naturfarben darstellt Wie es kommt, dass 
dass alle Margarine und möglichst auch alle Kunst- Silberbild des Positivs diese auswählende Ab¬ 

speisefette einen Gehalt von ca. 5 % Sesamöl ent- sorptionskrafi für die Farben hat, dürfte wohl das 
halten muss, um eine leichte Identifizierung derselben Interessanteste an dem Verfahren sein; eine Erklä- 
zu ermöglichen. Da nun Sesamöl sowohl zu Speise- rung hierfür gibt es bisher nicht! Die Vertreter des 
z^'ecken, als auch zur Darstellung von Margarine Herrn Chassagne legten am 13. Februar d.J. dem 
und anderen Kunstspeisefetten bereits in grösseren Direktor der k. k. Lehr- und Versuchsanstalt für 
Mengen Verwendung findet, so dürfte durch das Photographie und Reproduktionsverfahren in Wien, 
Brehmer’sche Verfahren gewissermassen eine ganz Herrn RegierunKrat Prot. Dr. J.M. Eder, eine An¬ 
natürliche Kennzeichnung der erwähnten Ersatz- zahl derartiger Bilder vor, wobei sie jedoch keiner- 
mittel für reine Butter ermöglicht werden. a. lei Experimente zeigten und sich nur auf die Wie- 
, , dergabe obiger von Wood herrührenden Daten be- 

• schränkten. Regierungsrat Eder legte diese Bilder 

Ein neues Verfahren zur Herstellung keim- der letzten Plenarversammlung der „Photogra- 
freien Trinkwassers. In No. 10 der „Deutsch, phischen Gesellschaft in Wien“ vor und gab die 
med. Wochenschr.“ veröffentlicht Stabsarzt Dr. ihm von den Vertretern Chassagnes mitgeteilten 
Schumburg seine Versuche, durch Chemikalien Daten, wobei er betonte, dass er sich ein Urteil 
ein gut aussehendes, trinkbares, keimfreies Wasser über das Verfahren bis zur Klärung der Sache vor- 
darzustellen, die er auf Verfügung der Medizinal- behalte. Die Bilder machen den Eindruck von ge- 
abteilung des Kriegsministeriums unternommen hat. wöhnlichen mit Lasurfarben kolonerten Photogra- 
Die bisher bekannten Methoden erwiesen sich ihm ph'en. Die Farbenwiedergabe scheint, soweit man 
alle als unzuverlässig, da es zwar leicht war, Wasser dies beurteilen kann, ohne d)e Onginale zu kennen, 
keimfrei zu machen, sehr schwer aber, das Desin- «ne ziendich gute zu sein. Unter den BUdem be- 

ficiens wieder zu entfernen, resp. unschädlich oder fanden sich zwei Glasdiapositive iPortrait eines 

unmerklich zu machen. — Dagegen ist es ihm ge- Mädchens und Inteneur eines Glashauses) und zwei 
lungen, innerhalb fünf Minuten fast sämtliche Wasser- Papierbilder (Portrait eines Offiziers und Land¬ 
bakterien und sämtliche im Wasser nachgewiesenen Schaft) und e^egten dieselben das Interesse der 
pathogenen Keime durch sein Browu’assrr abzutöten. Anwesenden in um so höherem Grade, als, wie 
Nach weiteren fünf Minuten wird das Bromwasser uns mitteilte, die Herstellung der Bilder durch 

durch den Zusatz von Ammoniak unschädlich ge- jeden Photographen geschehen kann und diese 
macht, so dass ein klares und geschmackfreies nicht wesentlich höher zu stehen kommen dürften 
Wasser entsteht. - Sein Bromwasser ist eine Brom- als gewöhnüche Photographien. Wir werden bald 
BromkalUösung (Wasser roo.o gr, Bromkali 20,0 gr, wissen, was wir von der Sache zu halten haben 

Brom 30,0 gr). Hiervon genügen 0,2 ccm (0,06 gr nnd werden dann nicht ermangeln, an dieser 

Brom) zur Desinfektion von i Liter Wasser. Zur Stelle Nähere s mitzuteilen. e. v. 

Beseitigung der o,a ccm Bromlösung dient die gleiche •> .loum. Soc. aus. London. 39, j.inu.ir 1897. 


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236 


Betrachtungen und kleine Mitteilungen. 


Sprechsaal. 


Daniel Sanders t* 

Am n. März ist in Strelitz, seiner Vaterstadt, 
der deutsche ^rachgclehrte und Wörterbuchschrei¬ 
ber Prolessor Daniel Sanders gestorben. Am 
12. November 1819 geboren, wandte er sich nach 
seinen den neueren Sprachen gewidmeten Univer¬ 
sitätsjahren der Germanistik zu und trat nach einigen 
kleineren kritischen Arbeiten 1865 mit seinem drei¬ 
bändigen „Wörterbuch der deutschen Spracjie mit 
Belegen von Luther bis zur Gegenwart" auf den 
Plan. Das Werk war ausdrücklich als ein Seiten- 
stück und Konkurrenzunternehmen des zu Ende der 
fünfziger Jahre begonnenen Grimmschen Wörter¬ 
buches gedacht: es verfolgte im Gegensatz zu die¬ 
sem mehr praktische als gelehrte Zwecke, berück¬ 
sichtigte stärker als jenes den Sprachgebrauch der 
modernen Zeit und suchte die weit- und tief ange¬ 
legte Reichhaltigkeit des Grimmschen Werkes 
durch »vveckmässige, übersichtliche Anordnung wett 
zu machen. Als die umfangreichste Materialsamm¬ 
lung aus dem Sprachgebrauch der letzten Jahr¬ 
zehnte wird es immer seinen unbestrittenen Wert 
behalten, wenn es infolge seiner Vernachlässigung 
der geschichtlichen Vorstudien unserer heutigen 
Sprache auf germanistische Wissenschaftlichkeit im 
modernen Sinne auch keinen Anspruch erheben 
darf. Was Sanders, der eine ungemein rege Thä- 
tigkeit entfaltete, auf sprachwissenschaftlichem Ge¬ 
biete sonst noch geleistet hat, ist zum grössten 
Teile aus diesem grossen Sammelbecken seiner Ge¬ 
lehrsamkeit abgeleitet worden und teilt also mit 
ihm Vorzüge wie Schwächen, so sein „Handwörter¬ 
buch", sein „Wörterbuch deutscher Synonymen“, 
sein „Sprachschatz“, sein „Verdeutschungswörter¬ 
buch“, seine „Hauptschwierigkeiten der deutschen 
Sprache“ u. a. Seit 1887 gab Sanders eine gleich¬ 
falls populären Zwecken dienende „Zeitschrift für 
deutsche Sprache“ heraus; seine letzte Arbeit war 
der deutsch-englische Teil des jetzt bei Langen- 
scheidt als Seitenstück zu dem bekannten Sachs- 
Villatteschön Lexikon erscheinenden Muret-Sanders- 
’schen „Englischen Wörterbuches“. Dr. d. 

• • 

• 

XIL Deutscher Geographentag zu Jena 
20. — 25. April. 

An Vorträgen sind angemeldet: Wirkl. Geh. 
Adm.-Rat Prof. Dr. G. Neumayer: „Berichtüber 
die Thätigkeit der vom XI. Deutschen Geographen¬ 
tag in Bremen ernannten Kommission für Südpolar- 
Forschung.“ Dr. Herrm. Meyer-Leipzig: „Seine 
Expedition nach Zentral-Brasilien.“ Dr. Heinr. 
Zimmerer-München: „Deutsche Forschung in 
Klein-Asien.“ Roman Oberhummer jr. - Mün¬ 
chen : „Seine Reise durch Syrien und Anatolien im 
Jahre 1896.“ H. Fischer: „Zur äusseren Lage 
des Geographie-Unterrichtes in Preussen“. Prof. 
Dr. W. Sievers-Giessen: „Grössere geograph¬ 
ische Unterrichtsreisen mit Stu^erenden." Prof Dr. 
J. Palacky-Prag: „Die Einrichtung geograph¬ 
ischer Herbarien zum Zwecke des Unterrichtes in 
geographischer Botanik.“ Prof Dr. G. Gerland- 
Strassburg i. E.: „Der heutige Stand der seismischen 
Forschung.“ Prof. Dr. A. Supan-Gotha: „Vor¬ 
schläge zur systematischen Erdbebenbeobachtung 
in den einzelnen Ländern." Dr. Ad. Schmidt- 
Gotha: „Geographische Probleme der erdmagne¬ 
tischen Forschung." Privatdozent Dr. E. Nau¬ 
mann - München: „Geotektonik und Erdmagnetis¬ 
mus." Prof Dr. Semon-Jena: „Die Fauna Aus¬ 
traliens“. Dr. Ed. Hahn-Lübeck; „Transporttiere 


in ihrer Verbreitung und Abhängigkeit von geo¬ 
graphischen Bedingungen.“ Prof Dr. O. Schnei¬ 
der-Dresden: „Tienv'elt der Insel Borkum.“ Prof 
Dr. J. Walther-Jena: „Thüringer Landschafts¬ 
formen.“ Dr. K. Peucker-Wien: „Der Berg¬ 
schatten und seine Wirkungen in Alpen und Mittel¬ 
gebirge." 

Nähere Auskunft erteilt Dr. F. Römer, Jena, 
Zoolog. Institut. 


Sprechsaal. 

Herrn Dr. X. P. in D. giebt eine Reihe 
von Methoden, Lichtwellenlängen ohne Bestimmung 
von Winkelgrössen zu berechnen, die auch in den 
physikalischen Laboratorien vielfach in Gebrauch 
sind. Ausser der von Ihnen angewandten Methode 
mit Beugungsgitter, bei der Sie den Beugungswinkel 
durch zwei Längenmessungen ermitteln können, 
erwähnen wir die Methode der Newton’schen Ringe, 
die sich mit einem Brillenglas, einem Mikroskop 
und einem Maasstab ausführen lässt und die eben¬ 
so einfache Messung mit Fresnel’schen Spiegeln, 
bei denen nur die Einstellung Übung erfordert. Die 
allereinfachste Methode bedarf zu ihrer Ausführung 
nur eines Diaphragmas, einer Spaltöffnung, einer 
Lupe und eines Längenmaasses. Falls Sie Ihre 
Methode für neu halten, berichten Sie am besten 
darüber an die „Zeitschrift für den physikalischen 
Unterricht“, herausgegeben von Poske. Dr. Pr. 

Herrn IV. in ß. i. Die „Erzeugung der Röntgen¬ 
strahlen durch Influenzmaschinen“ ist bereits seit 
einem Jahre bekannt; es geht so sehr viel lang¬ 
samer als mit Induktionsapparaten, dass die Me¬ 
thode erst in Betracht kommt, wenn man mit 
grossen Maschinen, die kostspieliger sind als In- 
duktorien, arbeitet. 

2. „Edisons neueste elektrische Lampe“ ist seit 
einem halben Jahre abgethan, denn die Kosten 
sind so hoch, und es giebt so viele angenehmere 
Arten der Lichterzeugung, dass von irgend einer 
Bedeutung der Sache einstweilen nicht die Rede 
sein kann. 

Beide Notizen gehören zu der Unzahl von Mit¬ 
teilungen, die vor langer Zeit in Fachblättem stan¬ 
den und nun allmählich in alle möglichen Zeit¬ 
schriften als etwas Neues Obergehen. Mitteilungen 
wie die zweite lese ich zum achten Male seit län¬ 
gerer Zeit; es ist unglaublich, zu wieviel unsinnigen 
Vorschlägen und zu welcher Menge von Drucker¬ 
schwärze die Röntgenstrahlen Anlass gegeben ha¬ 
ben. Gegenwärtig ist beinahe alles in meser Be¬ 
ziehung mit grösster Vorsicht aufzunehmen. 

Dr. Pr. 

Herrn G. M. in N. Die Mitteilung des „Fränk. 
Kurier“ wird Sie interessieren, wonach es dem 
Werkmeister Heinr. .Wachwitz in Nürnberg gelun¬ 
gen ist, Aluminium mit einem dauerhaften Ueberzug 
aus anderen Metallen, Zinn, Nickel, Silber u. s. w. 
zu versehen. Die so hergestellten Bleche lassen 
sich ebenso löten, galvanisieren und weiter verarbei¬ 
ten, wie andere Metallbleche. 


No. 14 der Umschan wird enthalteo: 

Reh, Die Vorfahren des Menschen. — Bruck, Griechenland in 
der mykcnischen Periode. (Schluss.) — Schenkiing, Die Insekten 
als Verbreiter von Krankheiten - Wölfling, Die vierte Dimen¬ 
sion. - Ehlers, Das Geld. - Ritterband, Wirkungen körper¬ 
licher Überanstrengung beim Radfahren. 


G. HorsCmann’s Druckerei. Frankfurt a. M. 


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DIE UMSCHAU 

ÜBERSICHT ÜBER DIE FORTSCHRITTE UND BEWEGUNGEN AUF 
DEM GESAMTGEBIET DER WISSENSCHAFT, TECHNIK, 
LITTERATUR UND KUNST 


WochentJich eiue Nummer. 

Zu beziehen durch 
alle Buchhandlungen und 
Postanstalten. 

Poetzeitiingspreisliste No. 7991 a. 

Verlag von : 

H. Becbhold Verlag, Frankfurt a. M. 


herausgegeben von 

dr. j. h. bechhold 


Neue Krame 19,'ax. 


M. a.50. 

Jahres* Abonnement 
Preis M. 10,—. 

Im Ausland nach Court. 
Verantwortlicher Redakteur; 

Otto Adolf Wolters, Frankfurt a. M. 


14, I. Jahrg. 


Nachdruck aus dem Itütalt der Zeitschrift ohne Erlaubnis 
der Redaktion verboten. 


1897. 3. April. 


Die Vorfahren des Menschen. 0 

Von Dr. L. Reh. 

Fassen wir den alten schönen Weisheits* 
Spruch: „Erkenne dich selbst“, einmal in 
weiteremSinne auf. Lassen wir unsere eigene, 
die einzelne Persönlichkeit aus dem Spiele 
und suchen unsere Menschen-Natur zu er¬ 
kennen. Die erste und nächste Frage ist die: 
„Woher stammen wir?“ Denn die alte, so 
bequeme Anschauung, dass der Mensch als 
das Ebenbild Gottes geschaffen worden sei, 
hat dem skeptischen Geiste des neunzehnten 
Jahrhunderts nicht mehr Stand halten können. 
An ihre Stelle hat die Wissenschaft die ge¬ 
setzt, dass der Mensch aus niederen Tieren 
sich entwickelt habe. Wie, d. h. in welcher 
Reihenfolge dies geschah, ist, der Natur der 
Sache gemäss, nicht mit unfehlbarer Sicher¬ 
heit nachzuweisen. Wir sind immer nur auf 
Deutungen, Theorien und Hypothesen ange¬ 
wiesen, und da diese alle subjektiv sind, hat 
es eine ganze Masse gegeben, und giebt es 
immer neue. Sie alle hier zu besprechen, 
kann nicht der Zweck dieser Zeilen sein. 
Aber eine Übersicht über diesen Gegenstand 
an der Hand der anerkanntesten Theorien 
dürfte wohl allgemeines Interesse bean¬ 
spruchen. 

Zur Ermittelung unserer Vorfahren stehen 
uns dreTWege zu Gebote: 

1) Die Paläontologie, die Lehre von den 
Versteinerungen. Sie ist natürlich im höchsten 
Grade lückenhaft, so dass sie, die die ge¬ 
naueste Methode sein sollte, gerade am 
meisten der persönlichen Deutung anheim- 
giebt. 

2) Die vergleichende Anatomie. Dadurch, 
dass wir den Bau des Menschen mit dem der 
übrigen Tiere vergleichen, können wir uns 

') Wer sich genauer über die hier behandelten 
Fragen unterrichten will, sei auf die Werke von 
Haeckei hii^ewiescn. 

Umschau 1897. 


ein Bild machen von seiner näheren oder 
weiteren Verwandtschaft mit ihnen. Und, 
indem wir die Höhe der Ausbildung der gan¬ 
zen Tiere oder ihrer Organe mit einander 
vergleichen, können wir ihnen ihren Platz 
auf der Stufenleiter des Lebens anweisen und 
uns die Entstehung der höheren Tiere aus 
niederen veranschaulichen. 

3) Die Entwickelungs-Geschichte, die uns 
lehrt, wie jeder Organismus sich im Laufe 
seines Lebens heranbildet. Nach dem sogen. 
biogenetischen Grundgesetze, das zuerst Haeckei 
erkannte und sofort zu würdigen wusste, legt 
jeder Organismus in seiner Entwickelung an¬ 
nähernd denselben Weg zurück, den die 
Natur zurücklegen musste, um ihn überhaupt 
hervorzubringen, oder, wie das Gesetz kürzer 
gefasst lautet: Die Keimes-Geschichte ist eine 
kurze Rekapitulation der Stammes-Geschichte. 
— Wenn wir also in der Entwickelung eines 
Wesens Stufen vorfinden, die wir mit anderen 
lebenden oder fossilen Wesen vergleichen 
können, so dürfen wir schliessen, dass diese 
Stufen ähnlich gestalteten Vorfahren ent¬ 
sprechen. 

Wenn ich nun in Folgendem einzelne 
Stufen aus der Ahnen-Reihe des Menschen 
vorführe, so ist erstens nicht zu vergessen, 
dass alles mehr oder weniger theoretisch er¬ 
schlossen ist, und zweitens, dass die anzu¬ 
führenden Tier- Formen nie die wirklichen, 
direkten Vorfahren darstellen, sondern nur 
auf gleicher oder ähnlicher Entwickelungsstufo 
stehende Verwandte, die im Einzelnen aber, 
durch die äusseren Umstände, ganz anders 
gestaltet sein können, als die wirklichen Vor¬ 
fahren des Menschen. 

Wie man erst seit etwa i V* Hundert 
Jahren mit Bestimmtheit weiss, beginnt der 
Mensch, ebenso wie alle anderen höheren 
Lebewesen, sein Dasein als Et, ein kleines 
Protoplasma-Klümpchen, das im Innern noch 
einen festen Kern zeigt. Ich will nicht zu 

H 




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238 


Reh, Die Vorfahren des Menschen. 


erwähnen vergessen, dass das sog. Hühner- 
Ei eigentlich nicht diesen Namen verdient. 
Denn das eigentliche Ei ist nur ein ver¬ 
schwindend kleiner Teil davon, der sogen. 
Hahnentritt; das übrige sind sekundäre Zu- 
thaten zum Schutze oder zur Ernährung des 
kleinen Vogels. Das Ei ist keineswegs ein 
totes Gebilde, wie es bei den höheren Tieren 
den Anschein hat, sondern ebenso lebendig, 
wie jeder andere Organismus auch. Bei vielen 
niederen Tieren bewegt es sich sogar frei und 
selbständig innerhalb des mütterlichen Or¬ 
ganismus oder auch ausserhalb desselben. Es 
giebt aber auch ebenso gestaltete Tiere, die 
Amöben, die man überall im Süsswasser oder 
in feuchter Erde trifft. Da sie als die Nie¬ 
dersten an der Wurzel des ganzen Tier¬ 
reiches stehen, müssen wir sie auch als die 
ersten Vorfahren des Menschen ansehen. 
Das Ei durchläuft nun eine Reihe von Formen, 
für die sich z. T. die Gegenstücke im Tier¬ 
reiche finden. Sie alle anzuführen, würde zu 
weit führen und wäre zwecklos, da die mei¬ 
sten der Letzteren dem Laien zu wenig be¬ 
kannt sind. Nur eine Stufe will ich beschrei¬ 
ben, die von höchstem Interesse ist. Es ist 
die sogenannte Gastruh, die schematisch eine 
Blase mit zwei dünnen Zellwänden ist, und 
an ihrem hinteren Ende eine kleine Öffnung 
hat, durch die ihr Hohlraum, der Verdauungs-, 
Blutkreislaufs- und Atmungsraum zugleich ist, 
mit der Aussenwelt in Verbindung steht. 
Jedes höhere Tier durchläuft in seiner Ent- 
wickeliing ein solches Gastrula-Stadium. Aber 
es giebt auch verschiedene Tiere, die auf 
diesem Stadium stehen geblieben sind, von 
denen das bekannteste der kleine, grüne oder 
braune Süsswasser-Polyp ist, der sich beson¬ 
ders häufig an der Unterseite der Wasser¬ 
linsen sitzend findet, und dessen Beobachtung 
eines der reizendsten Vergnügen ist. 

Von der riesigen Masse der Übrigen wir¬ 
bellosen Tiere giebt es kaum noch eine Gruppe, 
die man nicht schon als Vorfahren der Wir¬ 
beltiere in Anspruch genommen hat, ohne 
dass einer dieser Versuche besonders geglückt 
wäre. Nur zwei Hypothesen sind es, die sich 
einigermassen Beliebtheit zu erringen wussten. 
Die eine ist die von dem vor wenigen Jahren 
verstorbenen Würzburger Professor Semper 
vertretene, nach der die Ringelwürmer die 
Wirbeltiere hätten entstehen lassen. Die be¬ 
kanntesten dieser Tiere sind unsere Regen¬ 
würmer und Blutegel. Aber es giebt im Meer 
noch höhere Vertreter dieser Klasse, die so¬ 
gar schon eine Art Gliedmassen haben, wie 
die Seeraupen. Semper stützte seine Ansicht 
11. A. darauf, dass ein Querschnitt durch einen 
Ringelwurm ein ähnliches Bild darbietet, wie 
durch einWirbeltier, nur dass die Hauptorgane, 


Rückenmark, Haupt-Blutgefäss (Aorta) und 
Darm die umgekehrte Lagerung einnehmen. 
Die Wirbeltiere seien also aus den Ringel¬ 
würmern unter Drehung der Längsachse uni 
180® entstanden. Auch jetzt hat diese Hypo¬ 
these noch viele Verfechter, die sie noch 
weiter vertieft haben und auf gewisse Ähn¬ 
lichkeiten der Entwicklung hinweisen. — Die 
zweite Hypothese, deren Hauptvertreter 
Haeckel ist, geht aus von den Plattwürmern, 
zu denen die kleinen schwärzlichen oder milch- 
weissen Planarien gehören, die in rasch- 
fliessenden Bächen an der Unterseite von 
Steinen herumkriechen. Bei ihnen treten zum 
erstenmale eine Anzahl Organe und zum Teil 
auch mit ähnlicher Entwickelung auf, die wir 
später bei den höheren Tieren wiederfinden, 
weshalb sie auch in neuester Zeit von Prof. 
Goette in Strassburg in direktere Verbind¬ 
ung mit dem Stammbaum der Wirbeltiere 
gebracht werden. Ihnen schliesst Haeckel 
an die Schnurwürmer oder Nemertinen, die 
besonders im Meere leben, und bei denen 
zum ersten Male rotes Blut auftritt, das so¬ 
gar durch denselben Stoff rot gefärbt wird, 
wie bei den Wirbeltieren. 

Die nächste Stufe ist dann der eben¬ 
falls im Meere lebende Eichelwurm, Ba- 
lanoglossus, dessen Atmungs-Apparat in¬ 
sofern sich mit dem der niederen Wirbel¬ 
tiere vergleichen lässt, als er, wie die 
Kiemen der Fische, ein besonders umgewan¬ 
deltes Anfangsstück des Darmrohres ist.') 
Denn alle anderen Wirbellosen atmen ent¬ 
weder durch die Haut, wie die meisten nie¬ 
deren, oder, wie Insekten und Schnecken, 
durch besondere Öffnungen, die sich an ver¬ 
schiedenen Körperstellen befinden und nach 
innen in verästelte, den Körper durchziehende 
Kanäle führen. 

Wahrend bis dahin alle angeführten Stamm¬ 
formen in ziemlich hohem Grade hypothetisch 
waren, und alle diese Hypothesen immer nur 
eine kleinere Anzahl Vertreter hatten, können 
wir uns von nun an auf sichererem Boden, 
in weit allgemeiner anerkannten bis fast kaum 
noch einen Zweifel erlaubenden Theorien be¬ 
wegen. 

Die Eigenschaft, die den Eichelwurm in 
die Ahnenreihe des Menschen gebracht hat, 
findet sich noch weiter ausgebildet bei den 
Manteltieren oder Tunikaten, einer hoch in¬ 
teressanten Tiergruppe, die fast alle in der 
Uferzone des Meeres leben. Ihr Äusseres ist 
ein harter Gallertklumpen, der merkwürdiger¬ 
weise aus Cellulose besteht, wie die Zell¬ 
wände der Pflanzen. Diese sackartige Hülle 

’) Indessen sind gerade in neuester Zeit ernste 
Bedenken gegen die Stammverwandtschaft des 
Balanoglossus mit den Wirbeltieren erhoben worden. 


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Reh, Die Vorfahren des Menschen. 


239 


umschliesst ein Tier, das in vielen Bezieh¬ 
ungen Anklänge an die Wirbeltiere darbietet. 
Der Anfangsteil des Darmkanals ist seitlich 
mit Spalten durchbrochen und dient wie beim 
Eichelwurm und den Fischen als Kieme. Be¬ 
stimmte Teile dieser Kieme bieten einen 
Dauerzustand dar, den wir bei den Wirbel¬ 
tieren in der Entwickelung des Hirnanhanges 
(der Hypophyse) und der Schilddrüse vor¬ 
übergehend finden. Noch interessanter sind 
die Larven der Seescheiden, einer Familie 
der Manteltiere, und eine andere freischwim¬ 
mende Familie, die Appendicularien, bei denen 
über dem Darm ein fester Strang, die Rücken¬ 
saite oder Chorda dorsalis, der Vorläufer 
unserer Wirbelsäule, sich hinzieht; und wie bei 
uns liegt über dieser ein Nervenstrang oder 
Rückenmark, der sogar vorne zu einem klei¬ 
nen Gehirne anschwillt. 

Noch mehr prägt sich die Wirbeltier-Na¬ 
tur aus bei dem Amphioxus, dem sog. Lanzett- 
Fischchen, das sogar von vielen Zoologen 
als ein direkter Vorfahre des Wirbeltier- 
Stammes angesehen wird. Dies kleine, 5 bis 
6 cm lange Tierchen lebt ebenfalls in der 
Strandzone aller Meere, im Sande wühlend. 
Im Jahre 1774 wurde es von dem Natur¬ 
forscher Pallas entdeckt, der es für eine 
Nacktschnecke hielt. Später teilte man es den 
Fischen zu. Erst seit 30 Jahren hat man seine 
wahre Natur erkannt und stellt es weit ab 
von den Fischen an den Anfang des Wirbel¬ 
tier-Stammes. Sein fertiger Bau zeigt im 
Wesentlichen dieselben Anklänge an den der 
Wirbeltiere, wie der der Manteltiere, teils 
weiter fortgebildet, teils einfacher, bezw. wie¬ 
der rückgebildet. Aber seine Entwickelung 
verläuft so, dass man sie als Schema für 
die der höheren Wirbeltiere bezeichnen kann. 
Auf Einzelheiten kann ich nicht weiter 
eingehen, da sie zu viel Spezial-Kennt¬ 
nisse voraussetzen. Aber es wird heute kaum 
noch von einer Seite bezweifelt, dass wir den 
Amphioxus als ein unserer Vorfahren-Reihe 
sehr nahestehendes Tier, wenn nicht als un¬ 
seren direkten Vorfahren ansehen müssen. 
Und wenn die Vorgeschichte irgend eines 
Organes des Wirbeltier-Körpers erforscht wer¬ 
den soll, hat man die Untersuchung mit ihm 
zu beginnen. 

Eine weit höhere Entwickelungsstufe bie¬ 
ten die Rundmäuler oder Cyclostomen dar, zu 
denen die Neunaugen und Lampreten ge¬ 
hören. Auch sie hat man lange Zeit zu den 
Fischen gestellt, bis man sie in neuester Zeit 
ebenfalls zum Range einer eigenen Klasse 
erhob. Die hauptsächlichsten inneren Organe, 
Herz, Leber und Niere, sind, wenn auch in 
niedrigster Ausbildung, vorhanden, ebenso 
ein richtiges, wenn auch auf sehr tiefer Ent¬ 


wickelungsstufe stehendes Gehirn und die drei 
höheren Sinnesorgane, Auge, Ohr und Nase. 
Die Atmung geschieht durch Kiemen, die 
eine Zwischenstufe zwischen denen des Am¬ 
phioxus und denen der Fische bilden. Das 
Skelett steht noch auf wenig höherer Stufe als 
das des ersteren. EchteGliedmassen fehlen noch. 
Sie treten erst auf bei der nächsten Stufe, 
der Klasse der Fische. Bei ihnen vollziehen 
sich alle wesentlichen Umbildungen zu den 
höheren Tieren. Das Skelett zeigt schon in 
der Hauptsache denselben Bau, wie bei die¬ 
sen; die inneren Organe, ebenso wie die 
Sinnesorgane, unterscheiden sich von denen 
der übrigen Wirbeltiere nur noch durch den 
Grad der Ausbildung. Die Fischflosse lässt 
schon alle die Teile erkennen, die später 
Arme und Beine zusammensetzen, wenn auch 
die erste Deutung, die der Begründer dieser 
„Homologien“, Prof. Gegenbaur in Heideh 
berg, der erste vergleichende Anatom unserer 
Zeit, ihnen gab, heute nicht mehr in allen 
Stücken anerkannt wird. Selbst das für die 
höheren Wirbeltiere charakteristischste Organ, 
die .Lunge, tritt schon auf, wenn auch vor¬ 
erst in Gestalt der das spezifische Gewicht 
regelndenSchwimmblase, einer Ausstülpung des 
Darmkanales, als welche sich auch unsere Lunge 
embryonal anlegt. Aber bei den Lurchfischen, 
Bewohnern der Tropen, dient sie schon wäh¬ 
rend der Trockenzeit als Lunge. — Fische, die 
der Ahnenreihe der Säugetiere mehr oder 
weniger nahe stehen, sind die in der Perm¬ 
formation besonders in Deutschland aufge¬ 
fundenen Pleuracanthiden, die den Haifischen 
verwandt sind, dann die zu Ganoiden oder 
Schmelzfischen gehörenden Crossopterygier, 
die alle ausgestorben sind bis auf den in 
Flüssen Afrikas lebenden Flösselhecht, schliess¬ 
lich die schon erwähnten Lurchfische oder 
Dipneusten, von denen jetzt nur noch drei 
Vertreter leben, je einer in Flüssen Süd- 
Amerikas, Afrikas und Australiens.') 

Dieser Ableitung der Säugetiere von den 
Fischen beginnt man in neuerer Zeit mehrfach 
entgegenzutreten. Im Anschlüsse an eine mo¬ 
derne Richtung, die den Ursprung alles Le¬ 
bens und die Entstehung der grösseren Tier¬ 
stämme nicht mehr wie bisher im Meere, 
sondern auf dem Lande sucht, will man auch 
Säugetiere und Fische von Landbewohnern 
oder wenigstens von kriechenden, nicht schwim¬ 
menden Wassertieren ableiten. Wieviel Rich¬ 
tiges diese Ansichten enthalten, lässt sich 
jetzt noch nicht absehen; indess scheint man, 
sich allzusehr auf biologischeund vergleichend¬ 
anatomische Erwägungen stützend, die wich¬ 
tigen Ergebnisse der Entwicklungsgeschichte 

’) Siehe Umschau No. 7 Seite 120. 

14 * 


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240 


‘Reh, Die Vorfahren des Menschen. 


zu übersehen. Denn in der That bietet diese 
bei beiden Klassen so viel Übereinstimmen¬ 
des, das uns gänzlich unverständlich wäre, 
ohne die Abstammung der einen aus der 
andern. 

Die Umwandlung unserer Wasser- zu 
unseren Land-Vorfahren können wir, natür¬ 
lich in mehr oder minder abgeänderterWeise, 
jedes Frühjahr an der Verwandlung der Kaul¬ 
quappen zu den Fröschen beobachten. Und 
Amphibien sind denn auch die weitere Stufe 
unseres Entwickelungsganges. Vor Allem kom¬ 
men dabei die besonders durch die ausge¬ 
zeichneten Untersuchungen des Leipziger Pro¬ 
fessors H. Credner bekannt gewordenen 
Stegocephalen oder Panzerlurche in Betracht. 
Der ganze Skelettbau macht bedeutende Fort¬ 
schritte, insbesondere bildet sich die Fünf¬ 
teiligkeit der Endglieder der Extremitäten, 
Hand und Fuss, aus, was den Grund legt zu 
dem unser ganzes Zahlenwesen beherrschen¬ 
den Dezimalsystem. Echte Zähne treten auf, 
und der Schädel beginnt seine spätere Gestalt 
vorzubereiten. Wie wir an den lebenden 
Lurchen feststellen können, geht die Ent¬ 
wickelung der Weichteile Hand in Hand mit 
der des Skelettes. — Lange Zeit glaubte man 
in den Amphibien die direkten Vorfahren der 
Säugetiere suchen zu müssen. Unter den 
vielen Gründen hierfür war besonders der 
eine wichtig, dass nur bei diesen beiden Wir¬ 
beltier-Klassen der Kopf mit zwei Gelenken 
auf dem Halse ruht, während bei den Vögeln 
und Reptilien nur ein Gelenkhöcker vorhan¬ 
den ist, was ihrem Kopfe die auffallende 
Drehbarkeit giebt. Aber die vergleichende 
Anatomie hat gezeigt, dass dieser Unterschied 
nicht massgebend ist, wie man auch seit we¬ 
nigen Jahren in den Gomphodontiern von 
Süd-Afrika fossile Reptilien kennt, bei denen 
sich der einfache Gelenkhöcker in einen dop¬ 
pelten auseinanderzieht. Trotzdem aber auch 
in neuester Zeit jene Theorie wieder neue, 
sich auf die Untersuchungen anderer Organ- 
Systeme stützende Anhänger gefunden hat, 
neigt man doch jetzt allgemein mehr dazu, 
die Reptilien als Zwischenstufe einzuschieben. 
Bei diesen wird der Schädel dem der höheren 
Wirbeltiere ähnlicher und das ganze Skelett 
wird im Gegensätze zu dem knorpeligen der 
Amphibien fast rein knöchern. An die Stelle 
der Kiemen treten endgültig die Lungen, das , 
Herz spaltet sich bereits in je eine Hälfte 
für das kohlensäurereiche (venöse) und das 
kohlensäurearme (arterielle) Blut, u. s. w. Als 
wichtigster Fortschritt tritt ein echtes Nieren¬ 
system auf, und in den damit eng verbun¬ 
denen Geschlechtsorganen die den Embryo 
schützend umhüllende Schaihaut. Auch unter 
den Reptilien finden sich unserer Ahnenreihe 


nahestehende Formen, so als niederste, direkt 
an die oben erwähnten Stegocephalen an¬ 
knüpfend, die Schnabelköpfe oder Rhynchoce- 
phalen, die, mit einer einzigen Ausnahme, 
der auf Neuseeland lebenden Brückenechse 
(Hatteria), alle fossil sind. — Über die höhe¬ 
ren, von diesen zu den Säugetieren über- 
führenden Reptilien sind augenblicklich die 
Meinungen noch zu sehr geteilt, als dass hier 
auf sie eingegangen werden könnte. 

Das Gleiche gilt für die niedersten Säuge¬ 
tiere. Die in Australien lebenden Monotremen^) 
(Schnabeltier und Ameisenigel) zeigen in ihrer 
ganzen Organisation so viel Übereinstimmen¬ 
des mit den Vögeln und Reptilien, dass man 
lange Zeit geneigt war, sie mit diesen in 
nähere Beziehung zu bringen. Wenn sie auch 
unzweifelhaft die niedersten Säugetiere sind, 
weiss man doch noch nicht recht, was man 
mit ihnen anfangen soll. Von den niedersten 
fossilen Säugern kennt man fast nur Unter¬ 
kiefer, so dass man bei allen Verknüpfungs- 
Versuchen fast ausschliesslich auf die Zähne 
angewiesen ist. Einstweilen sind die dabei 
erhaltenen Ergebnisse noch nicht völlig zu¬ 
friedenstellend; doch wird gerade in diesem 
Gebiete so viel gearbeitet, dass man auf bal¬ 
dige Aufklärung hoffen darf. — So ist man 
auch noch nicht ganz sicher, ob man die 
Beuteltiere als Vorfahren der übrigen Säuge¬ 
tiere oder als selbständige Seitenlinie ansehen 
soll. Indess dürfte Ersteres wahrscheinlicher 
sein, wenn man auch wohl kaum die einzel¬ 
nen Säugetier-Ordnungen auf, vielmehr durch 
gleiche Lebensweise ähnlich gewordene Beutel¬ 
tier-Familien beziehen darf, wie es früher viel¬ 
fach geschah und auch jetzt noch geschieht. 

Der wichtigste Fortschritt in der Organi¬ 
sation der höheren Säugetiere vollzieht sich 
erst nach den Beuteltieren: die Ausbildung 
der Placenta oder des Mutterkuchens, die die 
vollständige Entwickelung des Jungen in den 
Mutterleib verlegt. Denn die Monotremen 
legen ja noch ähnlich wie die Reptilien Eier, 
und bei den Beuteltieren wird das Junge 
schon sehr früh geboren und vollendet seine 
Entwickelung, an den Zitzen der .Mutter fest¬ 
gesaugt, in dem Beutel, einer Hauttasche 
des Weibchens. — Die Insektenfresser sind 
unter den übrigen, den Placental-Säugern, die 
niedrigsten, und sie sieht man auch meistens 
als Ausgangspunkt fast aller Übrigen Säuge¬ 
tier-Ordnungen an. Von diesen kommen für 
uns nur noch die Halbaffen und Affen in Be¬ 
tracht, die schon Linnö mit dem Menschen 
zu der Ordnung der Herrentiere oder Pri¬ 
maten vereinigte. Den späteren Zoologen war 
diese enge Gemeinschaft des Herrn der Schöpf- 


*) Siehe Umschau No. 7, S. 118—119. 


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Bruck, Griechenland in der Vorgeschichte, (mykenischen) Kulturepoche. 


241 


ung mit.jenen zu entwürdigend, und sie schie¬ 
den ihn aus. Aber die Neuzeit hat dem grossen 
schwedischen Naturforscher wieder Recht ge¬ 
geben, und fast jede neue Untersuchung be¬ 
stätigt seine Ansicht noch mehr. In den bei¬ 
den Gruppen der Halbaffen und Affen voll¬ 
zieht sich nun allmählich und bis in die 
Einzelheiten der Übergang zum Menschen, 
von dem sich die letzten Glieder der Reihe, 
die Anthropoiden oder Menschen- Affen in 
ihrem Bau kaum noch unterscheiden, auf je¬ 
den Fall unendlich weniger als von den An- 
fangsgliederu der Reihe. — Dass man die 
heute lebenden Affen nicht als die direkten 
Vorfahren des Menschen, sondern nur als 
seine Vettern ansieht, habe ich schon früher*) 
auseinandergesetzt. — Werfen wir heute noch 
einen Blickauf die unserer Ahnen-Reihe nächst¬ 
stehenden Formen, worüber besonders durch 
die an denPithecanthropusanknOpfenden Unter¬ 
suchungen ziemliche Klarheit geschaffen wurde. 
Als niederster der fossilen Menschen-Affen 
wird Dryopithecus betrachtet, von dem man 
einen Unterkiefer von auffallender Grösse, 
mit sehr menschenähnlichen Zähnen und stei¬ 
lem Kinn in Südfrankreich und andere Reste 
in Württemberg gefunden hat. Ihm schliesst 
sich an Piiopithecus, von dem man Unterkiefer 
aus Südfrankreich und der Schweiz kennt. 
Ihm sehr nahe steht Pliohylobates, von dem 
sich nur ein in Eppelsheim in Rheinhessen 
gefundener Oberschenkel erhalten hat. Die 
höchste bekannte Form ist Palacopithecus, Gau¬ 
men und Oberkiefer aus den wegen ihrer 
reichen und interessanten Fauna berühmten 
Sivalik-Schichten in Vorderindien. 

Damit ist die Reihe der echten Affen be¬ 
endet und als erste Übergangsform käme 
Pithecanthropus. 

Die wichtigsten der übrigen, von den 
meisten Anthropologen allerdings verleug- 
neten Übergangsformen sind folgende: der 
Engts Schädel, d. h. ein Teil einer Schädel¬ 
kapsel, der mit einigen anderen Skelett-Teilen 
zu Anfang dieses Jahrhunderts in der Höhle 
von Engis im Maasthale von Prof. Schmer¬ 
ling gefunden wurde; äex NeanderthalSchä- 
del, 1856 in einer Höhle des Neanderthales 
bei Düsseldorf von Prof. Fuhlrott entdeckt; 
zwei Unterkiefer, der eine von La Naulett/ 
in Belgien, der andere von der Schipka-WbhX^ 
in Mähren. Alle vier Teile, von denen be¬ 
sonders die beiden ersten sehr alt sind, zeich¬ 
nen sich durch grosse Dicke aus, die Schädel 
durch starke Augenbrauen -Wülste, flache 
Wölbung und niedrige Stirne, die Kiefer 
durch fehlendes Kinn und starkes Hervor¬ 
treten des Zahnteiles. — Während die Ent¬ 
decker und viele andere Sachverständige diese 
*) Siehe Umschau No. 3. 


Reste für die von Übergangsformen hielten, 
bezw. noch halten, erklärte Virchow sie für 
krankhaft veränderte echte Menschenknochen, 
und ihm schlossen sich die meisten Anthro¬ 
pologen an. Eine Erörterung dieser Streit¬ 
frage kann hier selbstverständlich nicht am 
Platze sein. Es mag nur darauf hingewiesen 
werden, wie wunderbar es erscheinen muss, 
dass von den Hunderttausenden, ja Millionen 
von Urmenschen aus jenen alten Zeiten nur 
die Reste von vier Kranken auf uns gekom¬ 
men seien, und wie viel wunderbarer noch, 
dass diese Kranken alle vier gerade nur solche 
Krankheiten hatten, die ihre Knochen affen¬ 
ähnlich umgestalteten. 

Fossile Menschenreste, die durch irgend 
welche Eigentümlichkeiten an unsere Ver¬ 
wandtschaft mit den Affen erinnern, kennt 
man unzählige. Sie führen unmerklich über 
zu den heute lebenden niederen Menschen¬ 
rassen. Dass Letztere von höchster Bedeutung 
für die Frage nach der Entstehung des Men¬ 
schen sind, wird heute von allen Anthropo¬ 
logen anerkannt. Denn der Kulturmensch der 
Jetztzeit ist wieder erst das Produkt einer sehr, 
sehr langen Entwickelungsreihe, in der er ähn¬ 
liche Stufen in der Ausbildung des Körpers 
und des Geistes durchlaufen hat, wie sie die 
sog. Wilden heute noch darbieten. Als die 
niedersten von diesen hat man lange Zeit 
die Buschmänner Süd-Afrikas und die Austral- 
Neger angesehen. In neuester Zeit sind aber 
eine Reihe fossiler und lebender Zwerg- *) 
oder richtiger-Völker entdeckt wor¬ 
den, wie von ersteren Skelette bei Schaffhausen, 
von letzteren die Akkas von Zentralafrika, 
die Hottentotten, die Veddas in Ceylon u.s.w., 
die noch eine tiefere Stufe darstellen und 
von vielen als direkte Vorfahren der übrigen 
Menschenrassen angesehen werden. 

Doch das sind Fragen, bei denen wir aus 
dem Gebiete der Zoologie in das der An¬ 
thropologie übergreifen, und deren Erörterung 
nicht mehr meine Sache ist. 


Griechenland in der vorgeschichtlichen 
(mykenischen) Kulturepoche. 

VoD Dr. Sylvius Bruck. 

(Schluss.) 

Prunkvoll, wie die Wohnungen der Fürsten, 
im Schmucke glänzenden Metalles und bunt¬ 
farbigen Gesteines, waren ihre Ruhestätten 
nach dem Tode, die Kuppelgräber, in der 
unmittelbaren Umgebung der Burgen ange- 

Da man mit dem Ausdrucke „Zwerg“ immer 
den Gedanken an eine Verkrüppelung verknöpft, 
von der bei diesen Völkern keine Rede ist, ver¬ 
meidet man ihn besser und ersetzt ihn durch „Pyg¬ 
mäen“. 


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242 


Bruck, Griechenland in der vorgeschichtl. (mykenischen) Kulturepoche. 



Durchschnitt des sogenannten Atreusgrabes. 


legt. Ganz in einen Abhang hineingebaut | 
und mit Erde überdeckt, wird der Grabraum | 
durch übereinander gelegte Steinringe gebil- ; 
det, deren Durchmesser nach oben zu stetig , 
abnimmt, so dass eine bienenkorbartige Wölb¬ 
ung (die Tholos) entsteht; zu der Eingangs- ' 
thür (dem Stomion) führt durch das abfallende 
Terrain ein längerer offener Gang (der Dro- 
mos). Die stattlichsten der uns bekannten 
Kuppelgräber, aus grossen, sorgfältig bear¬ 
beiteten Quadern und mit reich verzierter 
Eingangsfassade, gehörten den Grosskönigen 
von Mykenai und von Orchomenos an, wäh¬ 
rend die kleineren Herren in Thessalien, 
Attika und dem Peloponnes mit bescheideneren 
Bauten aus wenig behauenen Bruchsteinen 
und ohne jeglichen äusseren Schmuck sich 
begnügten. Und für die Adelsgeschlechter 
in Mykenai wurde die viereckige Grabkam¬ 
mer nebst Stomion und Dromos einfach in 
den Felsabhang ausgehauen. Alle mykenischen 
Grabaniagen waren Familiengrüfte; daher war 
in ihnen immer eine grössere Anzahl-Ver¬ 
storbener bestattet, und zwar in sitzender 
Stellung, jede Leiche inmitten reichlicher und 
bisweilen recht wertvoller Beigaben an Waf¬ 
fen, Schmucksachen, Geräten, 
Werkzeugen und dergleichen. 

Die hauptsächlichste Waffe 
bildete ein zweischneidiges, 
spitzes, bis i tn langes Bronze¬ 
schwert, das demnach eher 
zum Stossen als zum Schla¬ 
gen be.stimmt war. Daneben 
kommen kürzere Dolche, Jmh- 
zen- undPfeilspitzenausBronze 
vor: denn das Eisen war der 
mykenischen Periode noch 
unbekannt und begegnet erst 
gegen Ende derselben ver- j 
einzelt in Gestalt von Finger- ' 
ringen. Vollständig ver- i 
schwunden sind dagegen in I 
den Gräbern dieSchutzwaffen, | 
da sie aus Leder bestanden: ; 
höchstens haben sich die auf- > 
gesetzten Zierrate aus Gold¬ 
blech erhalten. Hier hieten 1 
jedoch die Bildwerke Ersatz, | 


und auf ihnen fällt zunächst ins Auge 
der sehr grosse gewölbte Schild, teils 
in viereckiger, teils in ovaler, in der 
Mitte der beiden Längsseiten eingedrück¬ 
ter Form, der an einem Riemen um den 
Nacken gehängt wurde. Um beim Gehen die 
Schienbeine gegen das Anschlägen dieses 
schweren Schildes zu schützen, scheint man 
eine Art lederner Gamaschen getragen zu ha¬ 
ben, die Vorläufer der späteren ehernen Bein¬ 
schienen. Den Kopf deckte eine Helmhaube 
aus Flechtwerk von Lederriemen, die häufig 
auch mit einem Helmbusch und mehrfach mit 
zwei weit ausladenden Hörnern ausgestattet 
war. Als Alltagskleidung der mykenischen 
Männer diente ein einfacher Schurz, und die 
Verschiedenheiten, welche hinsichtlich seiner 
Gestalt und Befestigung die Denkmäler auf- 
w'eisen, mögen zeitlicher oder örtlicher Natur 
sein. Demgegenüber erscheint das Gewand 
der Frauen äusserst eigenartig und merkwür¬ 
dig; es besteht aus zwei Teilen; einer kurz¬ 
ärmeligen, bis an den Hals reichenden Taille 
aus einfarbigem Stoffe, die an dem Körper 
knapp anliegt, so dass die Formen scharf her- 



Darstellung auf einem Goldring, charakteristisches 
Beispiel für die Frauentracht. 

Um die Brust li«^ das Gewand dicht an, aber den Hoflen ist 
cs greg^Ortet, nach unten aber fUllt cs weit herab, indem es vorn 
eine tiefe Falte bildet und bei den Füssen in eine Rogenlinie 
endigt. Der Rock zeigt vier oder mehr gebauschte Querfaltcn, 
Volants, zwischen denen, bei zweien weiiiMtens, eine schuppen- 
artige Musterung die glatte Fläche füllt. Der Kopf scheint mit 
einem Diadem geschmückt, von dem aus ein besonderer Zicrr.ith, 
etwa eine dreiteilige Blume emporragt, hinten hängt ein Haar¬ 
zopf herab. Den Hals zieren ein- oder zweireihige Ketten. 

vortreten, und einem ziemlich weiten und 
steifen, bis zu den Knöcheln reichenden Rocke, 
der stets entweder mit mehreren glatten 
Querstreifen oder mit gefältelten Kransen rings 
herum besetzt und bald aus einfarbigem, bald 
aus bunt gemustertem Stoffe verfertigt ist. 
Wahrlich, es kann keinen grösseren (Kon¬ 
trast geben als zwischen einer so gekleideten 



Darstellung auf 
einer grossen 
Vase. 

Vollständig ge¬ 
rüsteter Krieger. 


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Bruck, Griechenland in der vorgeschichtl. (mykenischen) Kulturepoche. 


243 


Frau und einer Griechin der historischen ZeitI 
Ein fundamentaler Unterschied liegt darin, 
dass die mykenische Frauenkleidung vollstän¬ 
dig genäht ist und vermutlich mit Knöpfen 
oder in ähnlicher Weise geschlossen wurde, 
* während die griechische mit Heftnadeln, mit 
jenen uralten, auch bei den indogermanischen 
Völkern des nördlicheren Europas gebräuch¬ 
lichen Fibeln, befestigt wurde. Die erstere 
ist eben nicht griechischen, nicht indoger¬ 
manischen Ursprungs, sondern aus dem 
Oriente entlehnt, wo sich auf babylonischen 
Cylindern thatsächlich Analogien zeigen. 

Auf orientalischen Einfluss weisen in der 
mykenischen Kultur, vor allem in der Kunst, 
zahlreiche Momente; er findet seine Erklär¬ 
ung in dem lebhaften Handelsverkehr, der die 
gesamte mykenische Welt beseelte. Nicht 
nur die Plätze Griechenlands, sondern alle 
Küsten und Inseln im Umkreise des ägäischen 
Meeres standen mit einander in regem Aus¬ 
tausch ihrer Erzeugnisse und technischen oder 
künstlerischen Fortschritte, in dem Masse, 
dass überall die einheimische Zivilisation sich 
mit fremden Elementen durchsetzte und 
schliesslich eine einheitliche Kultur, mit ge¬ 
ringen landschaftlichen Verschiedenheiten, sich 
über das ganze ägäische Meer, von dem 
griechischen Festlande über die Iftseln bis an 
die kleinasiatische Küste, ausbreitete. Und 
durch die Vermittelung der Kleinasiaten, 
speziell der Bewohner der südlichen Land¬ 
schaften, die einerseits mit Ägypten, anderer¬ 
seits mit Babylonien in stete mittelbare und 
zeitweise sogar unmittelbare Berührung kamen, 
wurden ihr auch die ägyptischen und assy¬ 
risch-babylonischen Elemente zugeführt. Denn 
für die gewöhnlich vorherrschende Meinung, 
dass die Phönizier bereits damals, um die 
Mitte des zweiten Jahrtausends v. Chr., das 
ägäische Meer durchstreift, die Gestade mit 
ihren Handelsfaktoreien erfüllt und die Ein¬ 
geborenen in orientalischem Sinne beeinflusst 
hätten, gewähren die mykenischen Funde 
keine Stütze. Nur wenige unter ihnen kön¬ 
nen als wirklich importiert gelten, kaum häu¬ 
figer sind sklavische Nachahmungen orien- 



Kleiderschmuck aus getriebenem Goldblech. 
Sphinx und Tintenfisch. 


talischer Originale; vielmehr wurden in der 
Regel blos die Typen und Motive dem ägyp¬ 
tischen oder semitischen Kulturkreise entnom¬ 
men, aber in hellenischem Geiste aufgefasst 
und umgestaltet, wie z. B. die Figuren der 
Sphinx und des Greifen unter der Hand des 
mykenischen Künstlers ein anderes Aussehen 
als in ihrer Heimat gewonnen haben. Na- 



Goldenes Ornament im Spiralmotiv. 

türlichkeit und Frische kennzeichnen die 
mykenischen Darstellungen, und bei den Me¬ 
tallarbeiten verbindet sich hiermit auch eine 
anerkennenswerte technische Fertigkeit der 
Ausführung. Welchen Höhepunkt die my¬ 
kenische Kunst erreicht hat, lehren uns zwei 
Goldbecher aus dem Kuppelgrabe von Vafio 
(in Lakonien), auf denen in getriebener Ar¬ 
beit das Einfangen halbwilder Stiere darge¬ 
stellt ist. Sie sind das Schönste, das uns 
die mykenische Kultur hinterlassen hat, und 
sie allein würden genügen, um vollgültiges 
Zeugnis dafür abzulegen, dass die künst¬ 
lerische Befohigung des griechischen Volkes 
schon Jahrhunderte vor dem klassischen Zeit¬ 
alter eine erste Blüteperiode gezeitigt hatte. 



Dolchklinge^mit eingelegter Arbeit. 


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244 


Ehlers, Das Geld. 


Den Goldbechern am nächsten stehen bron¬ 
zene Dolchklingen aus Mykenai mit Jagd- und 
Tierszenen, die in verschiedenfarbigem Golde, 
Silber und dunklem Schmelz eingelegt sind, 
dann die gravierten Goldringe ebendaher und 
viele geschnittene Steine; nur die Skulpturen 
der Kalkstein-Grabstelen machen einen recht 
unbeholfenen Eindruck, was zumeist auf der 
Ungewohntheit des Materials beruhen dürfte. 

Durchaus originell ist die ornamentale 
Dekoration des mykenischen Stiles; sie wird 
besonders charakterisiert durch die mannig¬ 
fache Verwendung der Spirale, die aus dem 
langgezogenen Metalldrahte hervorgegangen 
ist, des Tintenfisches, von Muscheln, eines 
herzförmigen Blattes und mehrerer Bluten¬ 
formen. Solche Muster verzieren die zahl¬ 
losen kleinen Schmucksachen aus Gold und 
Glasfluss, sie kehren in den verschiedensten 
Stufen der Entwickelung auf den Erzeugnis¬ 
sen der Thonwarenindustrie wieder. Die my¬ 
kenischen Thongefässe zeichnen sich durch 
die Feinheit des hellen Thones, durch ele¬ 
gante^ Form und geschmackvolle Bemalung 
mit glänzender, haltbarer Firnissfarbe aus 
und haben in den besten Stücken es bis zu 
einer grossen Vollendung gebracht. Es kann 



Sogenannte Bügelkanne (Grösse i: 3). 

daher nicht Wunder nehmen, dass sie damals 
allenthalben hochgeschätzt und begehrt waren, 
gleichwie die griechischen Vasen der spä¬ 
teren Zeit, und einen Hauptfaktor des myke¬ 
nischen Handels bildeten. So sind nach Troja, 
am Eingänge des Hellespontes, massenhaft 
mykenische Gefässe importiert worden, die 
sich von der einheimischen einfarbigen Thon¬ 
ware deutlich abheben; sie haben sich in be¬ 
trächtlicher Zahl, wie eingangs erwähnt, auch 
in Ägypten vorgefunden, woselbst man sogar 
an Ort und Stelle in rohen Nachahmungen 
der sogen. Bügelkanne sich versuchte. Die 
Bügelkanne, ein rundes, ganz geschlossenes 
Gefäss mit bügelförmigem Henkel und engem 


'röhrenartigem Ausguss, ist ausschliesslich der 
mykenischen Keramik eigentümlich; sie be¬ 
gegnet überall, wo diese zu Hause ist, oder 
wohin sie mit ihren Produkten vorgedrungen 
ist, sie verschwindet zugleich mit dem Ende 
derselben. Überhaupt lässt sich gerade an 
den Thongefässen der allmähliche Verfall 
der mykenischen Kultur verfolgen: wie die 
Beschaffenheit des Thones sich verschlech¬ 
tert, die Bemalung gröber und nachlässiger 
wird, so ist die ganze mykenische Kultur alt 
und unfähig geworden, bis sie schliesslich, 
gegen den Ausgang des zweiten Jahrtausends, 
vor den jugendfrischen und kräftigen, aber 
unzivilisierten Hellenenvölkern, die von Nor¬ 
den und Nordwesten her über das östliche 
Griechenland sich ergiessen, völlig zusammen¬ 
bricht. 


Das Geld. 

Von Dr. Otto Ehlers. 

Wenn Sprachgelehrte oder Mathematiker 
ihre Streitigkeiten über eine Wortwurzel oder 
eine Formel in der Weise erledigen, dass sie 
den wissenschaftlichen Stoff mit persönlichen 
Angriffen auf den Gegner würzen, so er¬ 
scheint dies dem aussenstehenden Dritten als 
eine Verirrung, die das höchste Befremden 
hervorrufen muss. Auf einen anderen Em¬ 
pfang beim Publikum kann der volkswirtschaft¬ 
liche Disput rechnen: die Verquickung des¬ 
selben mit persönlichen Anzapfungen ist 
so häufig, dass man längst aufgehört hat, 
darüber Erstaunen zu empfinden. In den 
wirtscha'ftlichen Kämpfen, sagt Roscher, spie¬ 
len die Absichten häufig eine grössere Rolle, 
als die Ansichten. Dass es trotzdem Natio¬ 
nalökonomen gibt, die in ihren Streitschriften 
auch nicht um eines Haares Breite von dem 
Pfade des ruhigen Tones abweichen, braucht 
nicht besonders bemerkt zu werden. Aber 
es liegen in der Wissenschaft der National¬ 
ökonomie einige Klippen, an denen selbst 
die gescheiteren Schiffer hin und wieder 
scheitern, Klippen, die ohne jede Havarie 
zu umsegeln nur vornehmen Naturen gelingt. 
Nun ist es ja erklärlich, dass bei Behand¬ 
lung der Frage, ob ein Gewerbe zu ver¬ 
staatlichen, ein Zoll, ein Eisenbahntarif ein¬ 
zuführen sei, leicht persönlicher Staub auf¬ 
wirbelt, da der Forscher oft genug auch 
Interessent ist. Aus diesem Grunde aber 
sollte man annehmen, dass beispielsweise die 
Währungsfrage ein Gebiet darstelle, auf wel¬ 
chem der wissenschaftliche Streit in Formen 
geführt würde, wie sie etwa in 'einer Ver¬ 
sammlung von Anhängern des ewigen Frie¬ 
dens üblich sind. Denn für die erdrückende 


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Ehlers, Das Geld. 


245 


Mehrheit derjenigen, welche sich mit der 
Währungsfrage befassen, tritt das Interesse, 
welc)^ die Unbefangenheit zu trüben ver¬ 
mag* *weit in den Hintergrund; in Deutsch¬ 
land wenigstens hat der Teufel des persön¬ 
lichen Interesses, der umher geht wie ein 
brüllender Löwe, in den Dörfern der Währ¬ 
ungstheoretiker nur auf geringe Beute zu 
rechnen. Und doch giebt es auf der weiten 
Fläche nationalökonomischer Wissenschaft 
kaum einen Fleck, der so viel Blut aus per¬ 
sönlichen Fehden getrunken hat, wie das 
Feld der Währungsfrage. Angesichts dieser 
Erscheinung gewinnt man Verständnis Air das 
Wort jenes Engländers, der behauptet hat, 
dass nächst der Liebe und der Religion nichts 
so viele Menschen um den Verstand gebracht 
habe, wie die Währungsfrage. Es wird in¬ 
nerhalb und ausserhalb der Mauern Trojas, 
von den Anhängern des Monometallismus 
wie des Bimetallismus, gesündigt, indess 
scheint es, als ob die höhere Gereiztheit auf 
seiten der letzteren zu finden sei, wobei 
ihnen allerdings der Umstand als mildernd 
zuzurechnen ist, dass sie die Minoritätspartei 
bilden, sich also gewissermassen in der Rolle 
der Verurteilten fühlen, die bekanntlich das 
Urteil schelten dürfen. Dass die Übertreib¬ 
ungen, denen man begegnet, ohne die man¬ 
nigfachsten Widersprüche nicht abgehen, ist 
selbstverständlich. So ist es eine in bimetal- 
listischen Schriften häufig wiederkehrende 
Behauptung, dass der Vorteil der geldbe¬ 
sitzenden Klassen auf die Einführung der 
Goldwährung hingedrängt habe; denn indem 
die Währung auf ein Metall gegründet werde, 
das nicht im Werte sinke, sondern (infolge 
der beschränkten Produktion) sich verteuere, 
wachse die Macht der Klassen, die Über die¬ 
ses Währungsmetall vorzugsweise verfügen. 
Man wird zugeben; trifft die obenerwähnte 
Behauptung zu, so verdankt die Goldwährung 
ihre Entstehung einer überaus realistischen 
Kalkulation. In denselben bimetallistischen 
Schriften wird uns aber versichert, dass die 
Goldwährung ein Spuk sei, der von einigen 
Doktrinären dem Volke vorgezaubert werde 
und bald vor den realen Mächten des 
wirtschaftlichen Lebens zergehen müsse. Wer 
hat nun die Goldwährung eingeführt, die 
Ideologen oder die smarten Grosskapitalisten? 

Wenn wir den Schauplatz überblicken, 
auf dem jeweilig die Entscheidung über die 
Währungsfrage gefallen ist, so will es uns 
bedOnken, als ob gerade hier der Einfluss 
der Theoretiker gegenüber der Einwirkung 
der Praktiker völlig verschwände. In der 
Zeit de'^ dreissigjährigen Krieges brachten 
die Münzherren, die damals in Deutschland 
die Währungspolitik besorgten, das Kunst¬ 


stück fertig, aus kupfernen Kesseln silberne 
Thaler zu prägen, aber es ist nicht anzu¬ 
nehmen, dass sie zu diesem lukrativen Schwin¬ 
del durch theoretische Erwägungen geleitet 
worden seien; und wenn Friedrich der Grosse 
die Bestimmung traf, dass fortan 14 Thaler 
auf eine feine Mark gehen sollten, hinterher 
aber nicht 14, sondern 45 Thaler aus der 
Mark Silbers prägen Hess, so wird diese 
Münzverschlechterung nicht einer Doktrin, 
sondern der Not des siebenjährigen Krieges 
entsprungen sein. Ebenso dürfen wir an¬ 
nehmen, dass als treibende Kraft hinter den 
zahlreichen Münzverbesserungen, die im 
Laufe unseres Jahrhunderts vorgenommen 
worden sind, immer das lebendige Bedürf¬ 
nis des Volkes gestanden hat, welches die 
Schäden eines zerrütteten Geldwesens aufs 
Schmerzlichste am eigenen Leibe empfand. 
Ehe wir uns einer Ansicht anschlössen, welche 
die Goldwährung als eine willkürliche Er¬ 
findung von Doktrinären hinstellt, würden 
wir der Auffassung zuneigen, dass auf den 
verschlungenen Pfaden, die durch die Wild¬ 
nis der Währung führen, die Völker weniger 
durch das Licht der Wissenschaft, als durch 
ihren Instinkt geleitet worden seien. Und 
das war am Ende ein Glück. Denn trotz 
der ungeheueren Flut von Währungsschriften, 
mit der die Welt überschwemmt wird, und 
trotz der im Vorwort dieser Schriften selten 
fehlenden Mitteilung, dass der grosse Wurf 
gelungen sei, wagen wir doch die Behaupt¬ 
ung, dass .es der Wissenschaft immer noch 
nicht geglückt ist, das mystische Dunkel, das 
über einigen wichtigen Partien der Währungs¬ 
frage lagert, in befriedigender Weise aufzu¬ 
klären. Das -Geldsystem läuft, wie Bamber- 
ger bemerkt, auf so feinen Rädern, dass es 
ungemein schwierig ist, dem Gange der kom¬ 
plizierten Maschinerie zu folgen. 

Geld ist diejenige Güterart, welche als 
Zahlungsmittel gilt, und mit Währung wird 
diejenige Geldart bezeichnet, welche durch 
Gesetz für das allgemein gütige Zahlungs¬ 
mittel erklärt worden ist. Wenn auch allen 
Gütern die Fähigkeit innewohnt, die Rolle 
des Geldes zu spielen, so ist doch auch hier 
der Satz entscheidend, dass zwar viele be¬ 
rufen, aber wenige auserwählt sind. Rinder, 
Felle, Cacaobohnen, Theeziegel, Salzbarren, 
Porzellanschnecken und dergl. haben zu ge¬ 
wissen Zeiten und in gewissen Ländern den 
Rang des Geldes erklommen, aber den Sieg 
Ober alle diese unvollkommenen Geldarten 
haben die Edelmetalle davongetragen. Da 
sie sich allgemeiner Beliebtheit erfreuen, ist 
bis zu dem Staatsakt, der ihnen allgemeine 
Giltigkeit im Tauschverkehr zuerkennt, kein 
weiter Schritt. 


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246 


Ehlers, Das Geld. 


Worin beruht nun das Wesen des Gel¬ 
des? Das Geld dient dazu, den Austausch 
zwischen Waren zu vermitteln, dem Besit¬ 
zenden es zu erleichtern, die überflüssige 
Ware los zu werden, dem Begehrenden es 
zu erleichtern, die gewünschte Waare zu er¬ 
langen. Man nennt das Geld ein Cirkula- 
tionsmittel und darf es deshalb mit anderen 
Einrichtungen vergleichen, die ebenfalls be¬ 
stimmt sind, den Austausch der Waren zu 
ermöglichen, also vorzugsweise mit den 
Transportmitteln. Aber ist mit diesem Bilde 
viel gewonnen? Die Frage kann nur verneint 
werden. Zwar lassen sich verschiedene An¬ 
forderungen, die man an ein gutes Trans¬ 
portmittel stellen muss, ohne merkliche Um¬ 
formung auch gegenüber dem guten Gelde 
erheben, indess sind die Verschiedenheiten 
sonst so gross, dass man aus dem Vergleiche 
wenig Nutzen für die Erkenntnis der Geld¬ 
natur zu schöpfen vermag. Das Transport¬ 
mittel geht mit der Ware eine rein körper¬ 
liche Verbindung ein, steht ihr im Übrigen 
neutral gegenüber; es ist leicht, dieses glatte 
Verhältnis zu durchschauen. Das Geld da¬ 
gegen kann sein Amt nicht erfüllen, ohne 
dass ein seelischer Vorgang sich vollzieht: 
eine Schätzung, die von Menschen vorge¬ 
nommen, in Ware und Geld hineingetragen 
wird. An Stelle der kühlen Beziehung, in 
die Transportmittel und Ware treten, stösst 
man hier auf eine, wenn wir im Bilde blei¬ 
ben dürfen, leidenschaftliche Verbindung, be^ 
der das Geld sich ganz hingiebt. 

Das Geld wird weiter gern mit einem 
Spiegel oder einem Masse verglichen. Im 
Gelde spiegelt sich der Wert der Ware, das 
Geld ist der Wertmesser. Das Bild ist an¬ 
scheinend nicht übel, aber man darf nur über 
eins sich nicht täuschen; was ist hier Spie¬ 
gel oder Mass? Der Geldstoff, das Edelme¬ 
tall? Ebensowenig wie das Holz an der Elle. 
Das Mass der Dinge ist der Mensch, die 
Wertmessung erfolgt in der Abschätzung 
des Menschen. Die Abschätzung wird aller¬ 
dings dadurch erleichtert, dass man das Geld 
aus einem Stoffe herstcllt, der, wie das Edel¬ 
metall, besonders stabile Verhältnisse hat — 
man vergleiche den Vorrat an Gold, der sich 
seit Jahrtausenden angesammelt hat, mit 
dem Vorrat von Getreide, der jährlich zur 
Verfügung steht — und der durch staatliche 
Anordnung — indem das Geld zum Währ- 
ungsgelde, d. h. zu einem Zahlungsmittel er¬ 
klärt wird, mit dem jeder Schuldner sich 
lösen kann • noch extra stabilisiert wird. 

Trotzdem bleibt ein wesentlicher Unter¬ 
schied zwischen dem Metermass und dem 
wertmessenden Gelde bestehen, ein Unter¬ 
schied, der die Freude am Vergleich grausam 


vernichtet. Das Metermass ist unveränder¬ 
lich, steht dem Tuche ganz unparteiisch ge¬ 
genüber, übt nicht den geringsten Einfluss 
darauf, ob das Stück des Tuches als gross 
oder klein sich darstellt; die Entscheidung 
über das Geschick liegt ausschliesslich beim 
Tuche selber. Das Geld dagegen nimmt als 
Wertmesser Partei, es schrumpft zusammen 
oder dehnt sich aus, d. h. es verändert sich 
nach Raum und Zeit in seinem Werte; der 
Wert der Ware, der am Gelde gemessen 
wird, kann einmal deshalb grösser und kleiner 
werden, weil der Wert der Ware zu- oder 
abgenommen hat, dann aber auch deshalb, 
weil umgekehrt der Werth des Geldes ab- 
oder zugenommen hat. Das Geld wäre also 
ein bewegliches Metermass; da aber das We¬ 
sen des Masses in seiner Unbeweglichkeit 
besteht, ist auch mit diesem Vergleiche nichts 
anzufangen. Auf dem Blachfelde des Währ¬ 
ungskampfes wird über nichts so heftig ge¬ 
stritten, wie über die Frage, ob die Ursache 
des Preisrückganges, von dem viele Waaren 
betroffen sind, auf Seiten der Waren (Über¬ 
produktion) oder auf Seiten des Geldes 
(Teuerung des Goldes) zu suchen sei. 

(Schluss folgt.) 


'y' Friedrich II. von Hohenstaufen. 

-— _Von KarlLoky. 

Für die modernen Menschen beginnt die 
Geschichte gemeiniglich erst mit der gros¬ 
sen Revolution oder frühestens mit dem Vor¬ 
bilde des modernen Staates, mit Ludwig XIV., 
interessant zu werden. Vor allem fehlt der 
Welt von heutzutage zum Verständnis des 
Mittelalters vielfach so gut wie alles: die 
Erkenntnis, dass die grossen Fragen, die 
heute mehr als sonst die Gemüter zu bewe¬ 
gen scheinen, auch damals schon die Men¬ 
schen beschäftigten, der Einblick in die Ideen- 
und Interessenströmungen, welcher in die 
wirren Reihen der Kaiser und Päpste, Her¬ 
zöge und Bischöfe Überblick und Klarheit 
bringen könnte ~ sie steht vor denselben 
wie vor den verwitterten Grabdenkmälern 
eines längst ausgestorbenen Geschlechtes. 
Selbst Carolus Magnus, Otto der Grosse, 
Barbarossa — was sind sie heutzutage noch 
anderes als klingende Namen? Geradezu als 
eine Umkehrung der allgemeinen Regel muss 
es daher gelten, dass einer aus der Reihe 
der alten römisch-deutschen Kaiser die weit¬ 
gehendste Beachtung der modernen Zeit ge¬ 
funden hat, ja, dass er eigentlich von ihr erst 
recht gewürdigt und in seiner ganzen Grösse 


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Lory, Friedrich ii. von Hohenstaufen. 


247 


erfasst worden ist, wie es thatsächlich bei 
Friedrich II. von Hohenstaufen zutriffl. Nach¬ 
dem er jahrhundertelang als der verhassteste, 
weil der gefährlichste aus dem „Vipernge- 
schlechte“ der Staufer in den Geschichts¬ 
büchern gespukt, nachdem ihn vor allem 
die Romantiker und zuletzt noch Ficker als 
den Verräter an der Sache des deutschen 
Volkes hingestellt haben, der Deutschland 
hätte einigen können, es aber nicht gewollt 
hat, fand er gerade unter denjenigen, die als 
die Hauptträger moderner Anschauungen und 
Ideen gelten können, seine glühendsten Be¬ 
wunderer und Verehrer. Eine ausserordent¬ 
liche Erscheinung hat er ausserordentliche 
Menschen angezogen. Ein Häckel hat ihn 
in seiner Schrift über den „Monismus“ als 
einen der ersten gefeiert, die sich zur freien 
Natur- und Vernunftreligion aufschwingen 
konnten; Nietzsche huldigt ihm mit em¬ 
phatischen Worten und knüpft daran den 
Ausruf: Ich kann nicht begreifen, wie ein 
Deutscher ein Christ sein kann! Der Dar¬ 
stellung seines Lebens galt die Hauptthätig- 
keit eines der grössten von Deutschlands 
neueren Historikern, und nur das Verlangen, 
dieselbe zum Abschluss zu bringen, hat Ed. 
Winkelmann jahrelang gegen einen fest 
im buchstäblichen Sinne zerfallenden Körper 
ankämpfen lassen — es ist das Tragische 
im Geschicke des unermüdlichen Forschers, 
dass der Stoff auch hier über den Geist 
siegte "und sein Friedrich II. ein Torso blei¬ 
ben musste. Franzosen und Engländer haben 
sich in neuester Zeit lebhaft mit ihm beschäf¬ 
tigt, ein Italiener hat ihn als den ersten Vor¬ 
kämpfer für ein geeinigtes, freies Italien ge¬ 
priesen.*) 

Der letztere — auf dem Standpunkt eines 
völlig staatlich gesinnten Italieners der Neu¬ 
zeit stehend — ist vielleicht in manchen 
Punkten zu weit gegangen; unstreitbar aber 
hat sich Friedrich II. nicht durch seine Ver¬ 
dienste um Deutschland das Interesse der mo¬ 
dernen Welt erworben, sondern — wenn 
man von seinen religiösen Anschauungen 
absieht — durch sein Wirken in Italien, 
durch die für das ganze Mittelalter einzig 
dastehende Einrichtung seines sizilischen 
Reiches. 

Am Stefanstag 1194 geboren, wurde er 
zweijährig zum deutschen König erwählt; 
mit drei Jahren verlor er den Vater, mit 
vieren auch die Mutter, um von da an unter 
den Händen von Prälaten und päpstlichen 
Legaten — Sizilien war ja päpstliches Lehen 
— in Palermo freud- und freundlos seine Ju- 


*) Mitrovic*, Frederico II. e l’opera sua in Italia, 
1890. 


gend zu vertrauern, während sein Land unter 
einer allgemeinen Misswirtschaft langsam ver¬ 
blutete. Da setzte ihn die abermalige Wahl 
durch die deutschen Fürsten auf den mäch¬ 
tigsten Thron der Erde, der Zauber des 
staufischen Namens, der Schutz des Papstes 
und nicht zuletzt sein politisches Geschick 
besiegten die anscheinend unüberwindlichen 
Hindernisse, die sich ihm in den Weg stell¬ 
ten, das Glück that das Übrige und nahm 
seinen Nebenbuhler (Otto IV.) zur rechten 
Zeit aus dem Leben — ausgezogen als ein 
Abenteurer kehrte er 1220 als der mächtigste 
König der Christenheit nach Italien zurück, 
um, nun mit den erforderlichen Machtmitteln 
ausgerüstet, Sizilien all seine Kräfte zu wid¬ 
men, Sizilien, das er ja doch immer als sein 
Heimatland, als seinen liebsten Besitz, als 
den Mittelpunkt seiner Thätigkeit betrachtete. 
Mit dem einen Gedanken müssen wir uns 
nämlich von vornherein vertraut machen, dass 
Friedrich mehr Italiener als Deutscher war; 
er zeigt dabei eine merkwürdige Ähnlichkeit 
mit Otto III., wie denn Überhaupt zwischen 
den Ottonen einerseits und Barbarossa und 
seinen zwei Nachfolgern (Heinrich tl. und 
Friedrich II.) andrerseits weitgehende Ana¬ 
logien sich finden lassen. 

Friedrich war ein Realpolitiker in des 
Wortes wahrster Bedeutung. Klar das Er¬ 
reichbare allein erfassend, hatte er sich ge¬ 
hütet, in Deutschland mit Einheitsbestrebun¬ 
gen hervorzutreten; wusste er ja doch nur 
zu gut, dass er damit seine ganze Stellung 
hätte verscherzen können. Hier in Sizilien 
aber, wo die verschiedensten Kultureinflüsse, 
von der phönikischen Kultur angefangen bis 
herab zur normannischen und sarazenischen, 
einander sozusagen gejagt, und den aus den 
verschiedensten Bestandteilen zusammenge¬ 
würfelten Bewohnern eine hohe geistige Bieg¬ 
samkeit, ein weitgehendes Anpassungsver¬ 
mögen verliehen hatten, war gerade der rechte 
Boden, um seine grossartigen Pläne in die 
Wirklichkeit umzusetzen. 

Was waren nun das für Pläne! Welcher 
Art war das Staatsideal Friedrichs, wenn man 
bei dem grossen Realisten von einem solchen 
sprechen darf? Winkelmann erinnerte das¬ 
selbe an den aufgeklärten Absolutismus des 
vorigen Jahrhunderts; in neuerer Zeit hat 
man an ihm vielfach verwandte Züge mit 
Friedrichs des Grossen Anschauungen ent¬ 
decken wollen. Und doch erinnert sowohl 
das Übermenschliche, das Fascinierende, fast 
möchte man sagen das Dämonische an ihm, 
als auch seine Ansicht Über Monarchie und 
Monarchenpflicht mehr an Napoleon, mit dessen 
Maxime „Alles für das Volk, nichts durch 
das Volk" sich auch sein Regime in voll- 




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248 


Lory, Friedrich ii. von Hohenstaufen. 


kommenen Einklang bringen lässt. Auf jeden 
Fall aber muss seine Auffassung von einem 
gesunden Staatswesen ein vollkommener Bruch 
mit der mittelalterlich-feudalistischen genannt 
werden. 

Im mittelalterlichen Staate strebte Alles 
auseinander, nach Bildung von Staaten und 
Stätchen im Staate. Friedrich II. wollte den 
straff konzentrierten Einheitsstaat, in welchem 
der Wille eines Einzigen, in Gesetz und Ver- 
fassiing fest normiert, ausschliessliche Geltung 
haben sollte. Er musste den Kampf mit den 
zentrifugalen Gewalten aufnehmen, in Deutsch¬ 
land wäre erdenseiben zweifelsohne erlegen; 
in Sizilien ging er glänzend als Sieger her¬ 
vor. In diesem Kampf trat bei ihm eine Skru¬ 
pellosigkeit in der Wahl der Mittel hervor, 
die selbst vor Gewalt und offener Ungerech¬ 
tigkeit nicht zurückschreckte und bei der 
lediglich der Zweck die Mittel heiligte. So 
Hess er plötzlich 1223 mehrere mächtige 
Grafen unter dem Vorwände ungenügender 
Heeresfolge verhaften und ihre Güter ein¬ 
einziehen; es war dies ein Hauptschlag, den 
er gegen die sizilische Lehenaristokratie 
führte, wie auch andererseits gerade hier die 
Unversöhnlichkeit seines Charakters offen zu 
Tage trat; es waren fast ausschliesslich ehe¬ 
malige Anhänger Ottos IV. oder sonstiger 
überwundener Gegner, die hier seiner späten 
Rache zum Opfer fielen. Auch die andere 
Grossmacht im mittelalterlichen Staate, der 
Klerus, musste sich beugen und entbehrte 
jeder Selbständigkeit; denn anders als die 
Zeitgenossen sah Friedrich nicht in Adel und 
Kirche, sondern in einem treuergebenen Be' 
amtenium die Stütze seiner Herrschaft. 

Das Mittelalter sah in einem Amte gern 
ein Lehen und in jedem Lehen den End¬ 
zweck, dessen Inhaber zu versorgen und zu 
bereichern; die untergeordnetsten Stellen 
machten im späteren Verlaufe desselben viel¬ 
fach den gleichen Entwicklungsgang durch 
wie im Anfang die grossen Lehen: sie wur¬ 
den erblich; es war gar nicht selten, dass 
z. B. ein Stadtschreiber oder Zolleinnehmer 
seinen Posten an Sohn oder Witwe vererbte 
oder seine Tochter mit demselben ausstattete. 
Friedrich II. aber brauchte ein Beamtentum 
im modernen Sinne, mit gediegener Vorbild¬ 
ung, maschinenartig wirkend und im Willen 
eines Höheren vollkommen aufgehend. Um 
nun derartige zuverlässige und vor allem im 
Lande selbst gebildete Staatsdiener zu er¬ 
halten, schritt er zur Gründung eines Insti¬ 
tutes, das seiner Zeit riesenhaft vorauseilte, 
zur Gründung der ersten Staatsuniversität in 
Neapel (1224). Durch umfassende verfassungs- 
politische^und polizeiliche Einrichtungen, vor 
allem aber durch eine ausgebreitete gesetz¬ 


geberische Thätigkeit — bereits auf seinen 
ersten Hoflagen durch die „Assisen“ (so 
nannte man die betreffenden Erlasse) von 
Capua und Messina eingeleitet, gekrönt durch 
die 1231 erfolgte Publizierung des „Corpus 
constitutiohum“ — gab er in einer Zeit, wo 
nur die Kirche noch an schriftliche Fixierung 
ihrer Gesetze dachte, seinen Beamten eine 
für alle Fälle verlässige Grundlage ihrer 
Handlungen, wie er andererseits durch eine 
(nur nach politischen Gesichtspunkten vorge¬ 
nommene) Provinzialeinteilung die Verwaltung 
des Landes zu vereinfachen und zu erleich¬ 
tern suchte. Interessant ist es, dass bereits 
damals über die Auswüchse einer einseitigen 
Beamtenwirtschafl ähnliche Klagen erhoben 
wurden wie heutzutage über Bureaukratismus, 
Vielschreiberei, Kabinetspolitik u. dergleichen. 

Landesherrliche Beamte verwalteten vor 
allem die Zölle und sonstigen Einkünfte des 
Staates. Denn in echt moderner, der mittel¬ 
alterlichen Praxis mit ihrer oft geradezu 
unbegreiflichen Verschwendung und Ver¬ 
schleuderung des öffentlichen Vermögens 
diametral gegenüberstehender Weise suchte 
Friedrich die Einkünfte und die Leistungs¬ 
fähigkeit des Staates so hoch als möglich zu 
schrauben. Gleich eine seiner ersten Regie¬ 
rungshandlungen war es gewesen, das in den 
vorausgegangenen Stürmen verschleuderte 
Krongut wieder einzuziehen; er forderte die 
Vorlage aller Besitztitel und von der Bestä¬ 
tigung derselben durch das Hofgeriebt war 
der Weiterbesitz derselben ausschliesslich ab¬ 
hängig. Auch seine Finanzverwaltung trägt 
neuzeitliches Gepräge. Bereits bestand die 
Accise, die Abgabe von den Gegenständen 
des täglichen Gebrauches, eine Einrichtung, 
welche Friedrich von den Sarazenen über¬ 
nommen hatte. Auf Salz, Eisen, Erz hatte 
der Staat das Monopol (womit die mittelalter¬ 
lichen Regalien durchaus nicht verglichen 
werden können); auch der Getreidehandel war 
so beschränkt, dass er fast ein Monopol 
genannt werden konnte. Solch ein gesunder 
Staatshaushalt trug aber auch entsprechende 
Früchte: Ganz im Gegenteil zu einer viel ver¬ 
breiteten Ansicht galt er bis zum letzten Augen¬ 
blicke seines Lebens für unüberwindlich und 
sein Reichtum für unerschöpflich; „der Kaiser 
soll so grosse Schätze an Gold und Silber 
besitzen," heisst es in einer Quelle, „wie 
keiner seiner Vorgänger von den Zeiten Karls 
des Grossen an.“ ThatsächÜch war er selbst 
in den schwierigsten Lagen nur selten und 
immer nur vorübergehend in Verlegenheit; 
solange sich aber Sizilien des Friedens er¬ 
freute, war es das reichste und blühendste 
Land Europas. — 

Friedrichs Hof bot ein glänzendes, aber 


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Lory, Friedrich n. von Hohenstaufen. 


249 


weder ein deutsches noch ein christliches 
Bild. Wie der ganze Staat, war auch er ein 
Conglomerat abendländischen, byzantinischen 
und sarazenischen Wesens. Und der Kaiser 
selbst? Ein Deutscher war er gewiss nicht; 
aber war er ein Christ? Wird dürfen die 
Frage rundweg verneinen; dass er Ketzer ver* 
folgte und kirchlichen Zeremonien sich unter¬ 
zog, hat keinerlei beweisende Kraft; es waren 
lediglich politische Erwägungen, die ihn da¬ 
zu veranlassten. Ebenso falsch wäre es aber 
auch, ihn einen Mohammedaner zu nennen; 
etwaige Konzessionen, die erdermoslemitischen 
Welt machte, entsprangen ebenfalls nur po¬ 
litischer Berechnung. Auch mit der Behauptung, 
er habe einen Harem gehabt, ist nichts be¬ 
wiesen ; wenn ein Harem notwendig einen 
Mohammedaner voraussetzte, müsste gewiss so 
mancher christliche Fürst des 18. Jahrhunderts 
zu den Gläubigen des Propheten gezählt werden. 
Übrigens scheint mir aus jenen Stellen, die 
man zum Beweis der Existenz eines Harems 
am Hofe Friedrichs II. anzuführen pflegt, 
nicht mehr und nicht weniger hervorzugehen, 
als dass auch er der Leidenschaft, welche 
Friedrich der Grosse in der „Histoire de mo,n 
temps“ die schwache Seite aller grossen Männer 
nennt, seinen Tribut zollte, was bei ihm um 
so weniger zu verwundern ist, als seine beiden 
Ehen aus rein politischen Gründen abge¬ 
schlossen und beidesmal durch den Papst 
vorgeschlagen und vermittelt worden waren. 
Nein, Friedrich II. war ebenso wenig Moham¬ 
medaner als Christ, er huldigte — Realist im 
Glauben ebenso, wie in seiner Politik — dem 
vollkommensten Indifferentismus. „An Gott 
glaubte er nicht“, sagt von ihm Salimbene, 
der Geschichtsschreiber der unteritalienischen 
Herrschaften, und nach Gregors IX. Angabe 
habe der Kaiser behauptet, der Mensch brauche 
nichts zu glauben, was nicht auf natürliche 
Weise erklärt werden könne. Er hielt es 
daher auch ftlr ziemlich überflüssig, als der 
Papst die im Königreich angesiedelten Moham¬ 
medaner bekehren lassen wollte, und legte 
dem Pontifex sehr bald nahe, davon gütigst 
abstehen zu wollen. 

Jener dämonische Hass gegen Christus 
und das Christentum aber, der Nietzsche an 
ihm besonders aufgefallen zu sein scheint, 
tritt erst in der letzten Periode seines Lebens 
hervor, in jener Zeit, als der Vemichtungs- 
kampf zwischen ihm und dem Papsttum be¬ 
gonnen hatte, als er um Existenz und Leben 
gegen einen erbarmungslosen Gegner kämpfte, 
der die Völker des Abendlandes gegen ihn 
zum Kreuzzug aufrief. Da war es gut, dass 
der päpstliche Bannstrahl auf ihn eben so wenig 
einen Eindruck machte wie auf seine sara¬ 
zenischen Truppen, die treu und ergeben an 


der Seite ihres Wohlthäters ausharrten, wie 
sich denn überhaupt in diesem Kampfe das 
weltliche Schwert des kaiserlichen Realisten 
dem geistlichen so ziemlich überlegen zeigte. 
Dass er aber damals, aufs äusserste gereizt, 
ausrufen konnte, von drei Schurken sei die 
Welt betrogen worden, von Christus, Moses 
und Mohammed, ist bei seinem excentrischen, 
dämonischen Charakter immerhin glaublich, 
und es gewährt uns dieses Wort einen tiefen 
Einblick in sein von leidenschaftlichster Wut 
gegen eine von ihm als falsch, verderblich 
und unsinnig, dabei grausam und unerbittlich 
erkannte Weltanschauung zerrissenes Innere. 

Mitten in diesem Kampfe — 1250 ~ ward 
seinem Leben ein Ziel gesetzt. Für die stau¬ 
fische Sache bedeutete sein Tod einen uner¬ 
setzlichen Verlust, die Besiegelung ihres 
Unterganges; die kuriale Partei aber atmete 
auf, wie von einem schweren Verhängnis befreit 
und pries Gott, der sich in der höchsten 
Gefahr noch rechtzeitig seiner Kirche erbarmt 
habe. Den Menschen unserer Tage aber 
wird immer ein Gefühl unendlicher Bitterkeit 
beschleichen, wenn er das Geschick dieses 
körperlich und geistig so hoch stehenden 
Mannes, dieses glänzendsten Sprossen aus 
jenem „Volk von Königen“ bedenkt, der — 
so sehr er auch in allem übrigen Kealist sein 
mochte — doch zu idealistisch, zu stolz war, 
sich dem Wahne seines Jahrhunderts zu beugen, 
und daran zu Grunde ging. 


Die Wirkungen körperlicher Überanstrengung 
beim Radfahren. 

Von Dr. D. Ritterband, Berlin. 

Das Radeln ist in Deutschland erst in den beiden 
letzten Jahren so recht in Flor gekommen und das 
macht es erklärlich, weshalb die medizinische Litte- 
ratur über gesundheitliche Schädigungen, die dieser 
Sport unter Umständen zur Folge haben kann, bei 
uns im ganzen spärlich ist, während im Auslande, 
besonders in Amerika eine grosse Zahl von Ver¬ 
öffentlichungen in den ärztlichen Fachblättem sich 
eingehend mit dieser Frage beschäftigt. In diesen 
Tagen hat nun die Berliner medizinische Gesellschaft 
nach einem einleitenden Vortrag des Dr. Albu in 
ausführlicher Diskussion diesen wichtigen Gegen¬ 
stand behandelt, und es dürfte für unsere Leser 
gerade jetzt, wo der Frühling vor der Thür, und 
die Landstrassen sich mit Radlertrupps männlichen 
und weiblichen Geschlechts zu bevölkern beginnen, 
nicht ohne Interesse sein, was die Herrn Ärzte über 
dieses Thema zu sagen haben. 

Es ist seit langem bekannt, dass übermässige 
Kraftanstrengungen einen ungünstigen Einfluss auf 
gewisse innere Organe ausüben. So beobachtete 
der verstorbene Professor F r ä n t z e 1 bei Touristen 
nach übermässigem Bergklettern und bei Soldaten 
nach forcirten Märschen Dehnungen des Herzmuskels. 
Zwei Berliner Gelehrte, Zunz und Schumburg 


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250 


Ritterband, Die Wirkungen körperl. Ueberanstrengung beim Radfahren. 


unterzogen diese Frage vor Jahren einer experi¬ 
mentellen Untersuchung, indem sie Soldaten mit 
schwerer Belastung lange Märsche machen Hessen. 
Das Resultat war auch hier eine Erweiterung des 
Herzens. Auch die Nieren leiden unter länger 
dauernden excessiven Muskelanstrengungen. Dies 
lässt sich leicht durch Untersuchung der Ausschei¬ 
dungen dieses Organs feststellen, in denen man im 
Falle einer Alteration, etwa einer Entzündung, Ei- 
weiss und gewisse zellige Bestandteile der Nieren¬ 
substanz findet, die unter normalen Verhältnissen 
fehlen. L e u b e hat nun bei Soldaten nach längeren 
Märschen vielfach obigen Befund erheben können, 
und auch Kolbe, der bei Sportsmen Untersuchungen 
anstellte, fand z. B. bei Ruderern im Anfang des 
Trainings regelmässig Eiw'eiss, das aber bereits nach 
8 Tagen verschwand. 

Dr. Albu hat nun seinerseits zwölf Radrenn¬ 
fahrer vor und nach einer Fahrt von 5—30 Minuten 
Dauer genau untersucht und recht bemerkenswerte 
Ergebnisse gewonnen. Dieselben waren, je nach 
dem Grade der Trainierung, der Gewöhnung und 
der Widerstandskraft der einzelnen Radler, ver¬ 
schieden, aber doch bei allen mehr oder minder 
ausgeprägt vorhanden. Die Aktion des Herzens 
war in einem Maasse verstärkt, dass sie bei jedem 
Herzstoss die Brustwand fühl- und sichtbar er¬ 
schütterte. Es fand sich eine, bei manchen Fahrern 
sogar relativ beträchtliche Herzerweiterung, die vor 
der Fahrt nicht bestanden hatte, und zuweilen waren 
statt der normalen Herztöne gewisse Geräusche zu 
hören, die den Beweis lieferten, dass die Funktion 
des Herzens in hohem Grade alteriert war. Der 
Puls war im ersten Moment unfühlbar, dann faden¬ 
förmig, weich und klein und schlug 144 Mal in der 
Minute, während die normale Pulszahl 75—80 beträgt. 
Das Athmungstempo war 48—64 pro Minute (statt 
18 unter gewöhnlichen Umständen). Lippen und 
Gesicht zeigten eine bläuliche Färbung, also Zustände, 
wie sie ähnlich sonst nur bei drohender Herzlähmung 
gefunden werden. Man hatte den Eindruck, dass 
diese Männer sich nur in Folge langer Gewöhnung 
und durch ihren energischen Willen aufrecht hielten. 
Diese Erscheinungen sind in der Hauptsache die 
Folge excessiver Muskelanstrengung. Dieselbe er¬ 
höht den Blutdruck und steigert die Zirkulation so 
bedeutend, dass der Herzmuskel das ihm in weit 
grösserer Menge und unter weit stärkerem Druck 
als sonst zuströmende Blut nicht bewältigen kann 
und in Folge dessen gedehnt wird. Dazu kommt 
die eigentümliche vorgebeugte Stellung der Flieger 
bei forciertem Fahren, wodurch der Leib und mit 
ihm die hier liegenden grossen Gefässe, die das Blut 
zum Herzen zurückführen, komprimiert werden. 
Hierdurch entsteht für die Fortbewegung des Blutes 
vom und zum Herzen ein enormes Hindernis, was 
natürlich der Dehnung und Erweiterung dieses 
empfindlichen Organs ganz besonders Vorschub 
leisten muss. Nun sind alle diese Erscheinungen 
zunächst nur vorübergehender Natur und gleichen 
sich im Zustande der Ruhe sehr bald wieder aus. 
Wiederholen sie sich aller häufig, oder ist das Herz 
von vornherein nicht ganz gesund, so ist es klar, 
dass es endlich seine Elastizität verliert und sich 
tiefgreifende Schädigungen entwickeln, die nicht mehr 
zu reparieren sind und blühende Personen schliess¬ 
lich zu Invaliden machen. 


Auch in der NIerenthätigkeit fand Dr. Albu bei 
allen Wettfahrern, die er untersuchte, mehr oder 
weniger bedeutende pathologische Veränderungen 
der vorhin gekennzeichneten Art. Und von ihnen 
gilt in gleicher Weise, wie von den .Schädigungen 
des Herzens, dass sie sich anfänglich und bei ge¬ 
nügender Schonung wieder ausgleichen, dass sie 
aber durch Summierung der schädigenden Wir¬ 
kungen schliesslich irreparable Störungen herbei¬ 
führen, die ein dauerndes Siechtum zur Folge haben. 

Nun dürfen aber ängstliche Gemüter bei Leibe 
nicht glauben, dass ihnen zugemutet werden soll, 
das Radfahren in Zukunft Oberhaupt aufzuheben. 

Es bestätigt sich hier nur das alte Wort des 
modus in rebus. Es wurde in der Diskussion aller¬ 
seits, auch vom Vortragenden hervorgehoben, dass 
das massvolle Radeln eine durchaus gesunde Körper- 
Übung sei, und bei manchen Krankheitszuständen 
geradezu Heilwirkungen hen'orbringe. Es wurden 
Beobachtungen mitgeteilt, wonach junge Mädchen, 
die in Folge von Bleichsucht nicht mehr Treppen 
steigen konnten, ohne dass ihnen die Luft mangelte, 
durch das Radeln ihre Beschwerden verloren, und 
mit der Zeit ganz schneidige Radfahrerinnen wurden. 
Auch gewisse Unterleibsslockungen und Frauenleiden 
und vor allem die Krankheit fin de siede, die Neu¬ 
rasthenie erfuhren eine ausserordentlich günstige 
Beeinflussung. Es giebt freilich auch Leiden, die 
selbst einen massvollen Gebrauch des Bicycle nicht 
gestatten. Deshalb thut Jeder, der sich nicht ganz 
gesund fühlt, gut, erst den Arzt zu befragen, ehe 
er sich diesem schönen Sport hingiebt. Masslosig- 
keit in seiner Ausübung rächt sich aber früher oder 
später, auch bei gesunden Individuen, und am meisten 
und frühesten dann, wenn sie sich mit ungeordneter 
Lebensführung und — sit venia verbo — mit Ex- 
cessen in Baccho et venere verbindet. 


' Die Insekten als Verbreiter ansteckender 
Krankheiten. 

Von SlGM. SCHENRLING. 

Seit den letzten Jahren ist man vielen verderb¬ 
lichen Krankheiten, an denen die ärzüiche Kunst 
bisher scheiterte, etwas näher auf die Spur gekom¬ 
men, indem man ihre Entstehungs- und Entwickel- 
ungsgescliichte eingehend studierte, ln den er¬ 
krankten Körpern fand man dabei mikroskopisch 
kleine parasitische Wesen, die als Erreger der be¬ 
treffenden Krankheiten angesehen werden müssen. 
Trotzdem blieb aber immer noch die Frage nach 
der Art und Weise der Übertragung dieser Krank¬ 
heitserreger eine offene, bis man in der allerneues- 
ten Zeit den Insekten mehr Aufmerksamkeit ge¬ 
schenkt hat, die schmarotzend auf dem Leibe des 
Menschen leben, sich in dessen Kleidung oder in 
seiner Schlafstätte aufhalten oder sonstwie in Be¬ 
rührung mit ihm kommen. Durch eingehende Un¬ 
tersuchungen ist denn auch in der That nachgewie¬ 
sen worden, dass eine ganze Reihe von Krank¬ 
heiten durch Insekten übertragen werden kann und 
nachgewiesenermassen schon übertragen worden 
ist. Da diese Frage von allgemeinem Interesse ist, 
wollen wir ihr im folgenden etwas näher treten 


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SCHENKLING, DiE INSEKTEN ALS VERBREITER ANSTECKENDER KRANKHEITEN. 


251 


und einige recht eklatante Fälle der Verbreitung 
von Krankheitskeimen durch Insekten vorftlhren. 

Der russische Arzt Tikine zu Odessa stellte 
vor mehreren Jahren an einem aus Jaffa angekom¬ 
menen Matrosen Rückfalltyphus fest, eine Krank¬ 
heit, die bis dahin in genannter Stadt noch nicht 
aufgetreten war. Nach kaum zwei Wochen wur¬ 
den einige andere gleiche Fälle konstatiert, die 
Krankheit griff immer weiter um sich und ent¬ 
wickelte sich zu einer zwei Jahre währenden Epi¬ 
demie, von der gegen 10000 Personen ergriffen 
wurden. Gleich bei Beginn der Epidemie fiel es 
Tikine auf, dass besonders solche Personen er¬ 
krankten, welche in Nachtasylen schliefen, die in 
der Nähe des Hafens gelegen waren und nament¬ 
lich von Matrosen besucht wurden; auch jener erste 
Kranke hatte in einem solchen Asyl übernachtet. 
Bei seinen Nachforschungen nach der Verbreitungs¬ 
weise des Typhus fand Tikine nun, dass Wanzen, 
die in jenen Schlafasylen in Menge Vorkommen, 
als die Verbreiter der Krankheit anzusehen seien. 
Indem dieselben das Blut Typhuskranker auf¬ 
saugen, nehmen sie eine Menge der Spirochaeten 
— Schraubenbakterien, die flir den Rückfalltyphus 
spezifisch sind — auf und vermögen dieselben 
leicht auf andere Personen, die sie nach jenen be¬ 
suchen, zu übertragen. 

Um ganz sicher zu gehen, stellte Tikine noch 
weitere Versuche an. Er liess Wanzen so lange 
fasten, bis sie ganz flach und durchsichtig gewor¬ 
den waren. Dann setzte er sie auf den Leib von 
Typhuskranken und liess sie Blut saugen; wurden 
solche Wanzen dann zerdrückt und untersuchte 
man das ausgedrückte Blut unter dem Mikroskop, 
so Hessen sich die Spirochaeten des Rückfalltyphus 
leicht nachweisen. Wurde solches Blut unter die 
Haut eines gesunden Affen injiziert, so zeigten sich 
nach 64 Stunden in dessen Blute die charakteris¬ 
tischen Spirillen, und das Tier erkrankte. 

Auch die Malaria oder das Sumpffieber wird in 
Beziehung zu den Insekten gebracht und zwar zu 
den Mücken. Nach den Untersuchungen des fran¬ 
zösischen Arztes Laveran enthält das Blut ma¬ 
lariakranker Personen kleine Wesen, die den Gre- 
garinen nahe stehen und die in vier verschiedenen 
Formen auftreten: als sphärische Körper, als Flag- 
eilen, als sichelförmige und als rosenförmige Kör¬ 
per. Wie Manson in „The Goulstonian Lectures“ 
1896 feststellte, bildet die Flagellenform das erste 
Stadium der Parasiten; in dieser Form gelangen 
sie in den Körper von Mücken, die das Blut malaria¬ 
kranker Menschen oder Tiere saugen; sie durch¬ 
bohren dann die Magenwand ihres Wirtes und ge¬ 
langen in die Thoracalmuskeln des Insekts. Nach¬ 
dem die Mücke Eier gelegt hat, stirbt sie, und ihr 
Körper föllt auf das Wasser oder auf feuchten Bo¬ 
den ; hier schlüpfen nun die Parasiten, die sich un¬ 
terdessen weiter entwickelt haben, aus, und so kön¬ 
nen die Menschen infiziert werden, indem sie die¬ 
ses Wasser trinken oder indem sie den Staub aus- 
getrockneter Sümpfe einatmen, in welchen infizierte 
Mücken gestorben sind. 

Weitere wichtige Forschungen über diesen Ge¬ 
genstand stellte Ross an, indem er das Blut von 
Mücken untersuchte, welche eben an malariakran- 
ken Personen gesogen hatten. Er konnte feststel¬ 


len, dass sich der Parasit im Magen des Insekts 
sehr schnell umbildete; anfangs Hessen sich nur 
sichelförmige Körper erkennen, dieselben hatten 
sich schon nach 20 Minuten in sphärische Körper 
verv'andelt, und nach 30 Minuten fanden sich im 
Magen nur FlageUen. 

Eine direkte Übertragung von der Mücke auf 
den Menschen findet also nicht statt, die Infizierung 
geschieht vielmehr in der oben angegebenen Weise. 

Man muss zugeben, dass diese Hypothese — 
anders kann man sie vorläufig trotz der exakten 
Untersuchungen noch nicht bezeichnen — über die 
Verbreitung der Malaria sehr viel für sich hat; da¬ 
für sprechen auch noch eine Reihe anderer mehr 
äusserer Gründe. 

Die Malaria tritt nur auf in sumpfigen Gegenden, 
in denen die Mücken überaus häufig sind; wo letz¬ 
tere ganz fehlen, wie auf den Höhen, ist auch 
nichts von der Krankheit zu spüren, und die in 
sumpflosen Gegenden, wie z. B. in Gibraltar, auf¬ 
tretenden ähnlichen Krankheitserscheinungen sind 
wohl anderer Natur. In sumpfigen Ländern ist es 
nicht ratsam, bei geöffneten Fenstern oder auf der 
blossen Erde im Freien zu schlafen, unter diesen 
Umständen ist man eben auch den Angriffen der 
Mücken mehr ausgesetzt. Selbst die oberen Etagen 
eines Hauses sind inbezug auf die Malaria gesün¬ 
der als die unteren Stockwerke; dem entspricht 
ganz, dass die Mücken sich besonders gern in der 
Nähe des Bodens aufhalten. Die Neger wider¬ 
stehen bekannüich der Malaria wie auch dem gelben 
Fieber besser als die Europäer; dies lässt sich viel¬ 
leicht dadurch erklären, dass ihre Haut dicker und 
widerstandsfähiger gegen die Stiche der Mücken 
ist. Endlich wird immer empfohlen, grosse Feuer 
anzuzünden, wenn man in sumpfigen Gegenden 
übernachten muss; durch die Hitze und den Rauch 
werden aber auch die Mücken femgehalten 

Der ItaUener Bignami giebt deshalb im „Poli- 
cHnico“ 1896, Nr. 14 inbezug auf die Malaria eine 
Reihe von prophylaktischen Regeln, die sich aus 
den soeben gebrachten Beispielen von selbst 
ergeben. 

Durch Spillmann, Hoffmann u. a.istschon 
länger bekannt, dass die Stubenfliege Tuberkelba- 
ziUen überträgt, ferner ist nachgewiesen, dass das¬ 
selbe Insekt Cholerabazülen sowie die Mikroben 
der eitrigen Augenentzündung verbreitet. Nach 
Finlay von Havana und Hammond tragen die 
Mücken hauptsächlich zur Verbreitung des gelben 
Fiebers bei. Auch der Krebs der weissen Mäuse 
wird nach Morau durch Wanzen Übertragen. 

Endlich woUen wir noch der berüchtigten Tse¬ 
tsefliege {ölossina morsitans Westw.) erwähnen, 
die besonders im Zululande den meisten Haustie¬ 
ren durch ihren Stich Krankheit, ja selbst den Tod 
bringen kann. hat sich nach den Untersuch¬ 
ungen von Bruce nun herausgestellt, dass der 
Stich der Tsetsefliege unter gewöhnlichen Umstän¬ 
den ganz ungelährlich ist Die unter dem Namen 
„Nagana“ bekannte Krankheit, welche ihrem Stiche 
zugeschrieben wurde, wird vielmehr durch einen 
im Blute lebenden Parasiten hervorgerufen, der viel 
ÄhnHchkeit mit Trypanosoma Evansi hat, vielleicht 
gar mit diesem identisch ist; letzteres Hämatozoon 
erzeugt in Indien eine ganz ähnliche Krankheit, 
dort „Surra" genannt. 




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252 


Sprachliche Fragen. 


Betrachtungen und Kleine Mitteilungen. 


Die Rolle, welche nun die Tsetsefliege bei der 
Nagana spielt, ist die, dass sie den kleinen Para¬ 
siten überträgt; indem sie an einem an der Nagana 
erkrankten Tiere saugt, setzen sich an ihrem Rüs¬ 
sel genug Parasiten an, um ein anderes gesundes 
Tier, dem sie hierauf Blut entzieht, zu infizieren. 

Diese neuen Errungenschaften fleissigen For* 
Sehens geben uns in dem Kampfe gegen einige der 
gefährlichsten Krankheiten eine neue Direktive: 
aufmerksame Beachtung und möglichste Vernicht¬ 
ung resp. Femhaltung der dabei in Frage kom¬ 
menden Insekten. 


Sprachliche Fragen. 

/ Von Dr. F. Tktzner, Leipzig. 

9. Deutsche und lateinische Schrift. 

Jakob Grimm war es, der die von seinem Bru¬ 
der nicht geteilte Ansicht aussprach, die Latein¬ 
schrift verdiene aus den verschiedensten Gründen 
den Vorzug vor der deutschen. Seitdem ist von 
Gelehrten und Laien, von Einzelnen wie von Ver¬ 
einen manche Lanze für die Lateinschrift ge¬ 
brochen worden. Als man endlich darüber war, 
den sogenannten alten Zopf für abgeschnitten zu 
erklären, regte sich auf einmal eine eifrige Gegner¬ 
schar. Sie bestand eigentlich schon seit Wilhelm 
Grimm, fand aber in anderer Weise beredten Aus¬ 
druck in einem deutschen Schriftverein. Die An¬ 
griffe einzelner seiner Anhänger zeugten nicht im¬ 
mer von sachverständiger Vertrautheit mit den 
Schriftverhältnissen früherer Zeit. Was da zuwei¬ 
len von der alten Runenschrift und der angeblichen 
Erfindung des deutschen Alphabets zu Karls des 
Grossen Zeit geredet ward, kann nur als müssige 
Fabelei und falsche Deutschtümelei gelten. Man 
ritzte Runen, aber schrieb sie nicht. Man verwen¬ 
dete sie zu Widmungen und Aufschriften, gebrauchte 
sie aber nie zur Aufzeichnung von Gedichten, Ge¬ 
schichten und umfänglichen Litteraturwerken. Auch 
erfand man nicht die deutsche Schrift, sondern sie 
entwickelte sich allmählich eckig und eckiger aus 
den runden lateinischen Lettern, infolge der Eigen¬ 
art der in Gebrauch kommenden Kielfeder. Man 
sehe Arndts Schrifttafeln oder sonst eine Sammlung 
alter Handschriften der verschiedenen Jahrhunderte 
vor Erfindung der Buchdruckerkunst durch, um sich 
zu überzeugen, wie langsam und unmerklich aus 
der lateinischen Schrift die deutsche wurde. Die 
Buchdruckerkunst half dieser zum Siege, und mit¬ 
telalterliche Mönche hatten all ihre Kunst auf die 
feste Präge der schönverzierten neuen Buchstaben 
verwendet. Ein Albrecht Dürer aber hat ihr eine 
hohe künstlerische Vollendung gegeben. Sie blieb 
trotz der Humanisten in Brauch und bietet ein 
Stück deutscher Eigenart und Kunst, das wie man¬ 
cher alte Dom, wie manche ahe Sitte und wie viele 
alte Einrichtungen nicht ohne weiteres aus unserem 
Volkstum zu lösen ist. 

Die Zweckmässigkeit, das Nebeneinander zweier 
ABC sind freilich andere Fragen. Wenn aber ge¬ 
sagt wird, das deutsche ABC sei nichts als eine 
Verpfuschung des lateinischen und müsse deshalb 
aufgegeben w'erden, so ist dies haltlos. Mit dem¬ 
selben Rechte könnte man sagen, die neuhoch¬ 


deutsche Schriftsprache sei eine Verpfuschung des 
Mittelhochdeutschen, folglich müsse man Mittelhoch¬ 
deutsch reden. Das Mittelhochdeutsche aber ist ja 
auch wieder aus dem Althochdeutschen, dies aus 
dem Westgermanischen, dann dem Germanischen 
und Indogermanischen hervorgewachsen. Dann 
wäre die französische Sprache das verballhomteste 
Latein und die englische das verquirlteste Altnie¬ 
derdeutsch. Die lateinische Schrift aber wäre ein 
Rattenkönig von halbunmöglichen Buchstaben älte¬ 
rer Alphabete. Alles Bestehende hat eine unend¬ 
liche Entwicklung und Entwicklungszeit hinter sich 
und ist ein Neues, Selbständiges, dessen einzelne Teile 
die früheren Entwicklungsstufen erkennen lassen. 
Von diesem Standpunkt aus wäre der Gebrauch 
der Lateinschrift eher als Rückfall, Atavismus, anzu¬ 
sehen. 

Alle anderen Gründe aber, Schönheit, Leserlich¬ 
keit, Zeitersparnis u. dergl. werden von den Ver¬ 
tretern beider Richtungen gleichzeitig in Anspruch 
genommen und mit breitem Behagen vorgeführt. 

Nur die Zweckmässigkeit und Bequemlichkeit 
könnten gebieten, dass alle Völker eine Schrift schrie¬ 
ben. Das liegt aber in ebensoweitem Felde, wie 
die allgemeine Einführung des Volapük, wenn dies 
überhaupt noch Anhänger hat. 

Auch darauf wird immer wieder aufmerksam 
gemacht, dass doppelte Alphabete den Kindern in 
der Schule doppeltes Kopfzerbrechen verursachten. 
Damit stehts aber, das weiss ich aus eigener Er¬ 
fahrung, nicht schlimmer, als wenn ich einmal einen 
Pfennig oder zweimal einen Pfennig in die Tasche 
stecken muss. Das Kind lernt doch nur ein Alpha¬ 
bet, das zweite verlangt nicht viel mehr als eine 
Wiederholung des ersten. 

Die deutsche Schrift hat mindestens dieselbe 
Berechtigung wie die lateinische. Wer aber eine 
Runensc/tr^/ zu anderen als zu Scherzzwecken ein¬ 
führen will, erscheint wie ein Mann, der die ent¬ 
wickelte Sprache eines Erwachsenen zugunsten 
kindlichen Stammelns preiszugeben geneigt ist. 


Betrachtungen und kleine Mittheilungen. 

/ Zur Besteigung des Aconcagua. Am 14. Ja¬ 
nuar d. J. gelang es — wie alle grossen Zeitungen 
von Europa und Amerika gemeldet haben, Herrn 
Ziirbriggen, einem Deutsch-Schweizer und ersten 
Führer der grossen Expedition des Engländers 
Herrn Fitzgerald, den Aconcagua (6970 m) zu be¬ 
steigen.’) Herr A. Hauthal bemerkt am Schlüsse 
eines Artikels in der La Plata-Post (Buenos-Aires) 
gelegentlich, es sei nur zu bedauern, dass der 
Aconcagua nicht der höchste Berg Amerikas ist. 
Wir bezweifeln die Richtigkeit dieser ganz neuen 
Angabe. Weder die Berge im N.-O. des Titicaca- 
Sees noch die im N.-W, von Arequipa zeigen 
Gipfel, die sich nahe 7000 m Ober den Meeressjjie- 
gel erheben. — Im deutschen Turnverein in Santiago 
(Chile) besteht seit einigen Jahren eine Sektion, 
welche sich dem Bergsport widmet und unter an¬ 
deren höheren Bergen auch bereits den Maipq- 
Vulkan bestiegen hat. Diese meist jüngeren Mit¬ 
glieder hatten eine Besteigung des Aconcagua, zu 

•) S. Deutsche Rundschau f. Geogr. (Wien, A. Hartleben), 
Bd. XIX. S. 190 u. meinen Art. in filustr. Ztg. (Leipiig) v. 13. 
Febr. hj. 


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Betrachtungen und kleine Mitteilungen. 


253 


welcher sie durch die Lektüre des Buches von P. 
Güssfeldt angeregt worden, für Januar'Februar 1898 
geplant. Als sie aber von der Ankunft der Expe- 
diuon Fitzgerald hörten, beschlossen sie dem Eng¬ 
länder zuvorzukommen, den Ruhm der ersten Be¬ 
steigung für die Deutsch-Chilenen zu retten. — Die 
Teimehmer begannen sich vom 29. Novbr. v. J. an 
für diese „Turnfahrt" zu trainieren. Rauchen und 
Biertrinken wurde ganz eingestellt, alle Morgen ein 
a8o m hoher Berg erstiegen etc. Am 10. Januar er¬ 
folgte der Aufbruch zum Aconcagua von San Jos6 
de Pieuchen, einer Hacienda, die auf allen Karten, 
auch bei Güssfeldt, fehlt. Am ii. wurde der Paso 
de Cuzco (3465 m) überschritten und am 12. ritt die 
Karawane über den Boquete del valle hermoso in 
das „schöne Thal“ und schlug ihr Lager in der 
Caleta (Bucht, Schlucht) del Rondadero auf. Der 
13. war Ruhetag. Donnerstag den 14. Januar rit¬ 
ten sie in 7 Stunden durch das Penitente-Thal bis 
zum Haubenthale und schlugen ihr Standbiwak an 
derselben Stelle wie Güssfeldt vor 13 Jahren auf. 
Am 16. begann die eigentliche Besteigung um 9 Uhr 
morgens vom Standbiwak aus. Das von Güssfeldt 
gefundene Mineroskelett samt dem seines Hundes 
bg noch am gleichen Platze. Im Tagebuche eines 
Teilnehmers, des Herrn Karl Griebel ist weiter/| 
(nach „Deutsche Nachr.“, Valparaiso, v. 26. Jan.) 
zu lesen; „Sumpfiges Terrain. Um iVi Uhr am 
Fuss des Schlotes (Couloir). Aufstieg sehr schwer, 
ungemein viel Penitentenschnee auf der ganzen 
Tour. Um 5 Uhr Biwak aut dem Portezuwo del 
Penitente, recht ungemütlich, nicht gegessen, nur 
Cacao und Ulpo getrunken. Sonntag, 17. Januar. 
Aufbruch vom Portezuelo del Penitente um 
Uhr, bis Uhr im Schnee über den Firn weg; 
weiter über rodados (Geröll) bis 6 Uhr Nachmitt. 
Um 5 Vi Uhr treffen wir die beiden Schweizer Zur- 
briggen und Poliinger auf 6000 m, von denen wir 
erfahren, dass erstgenannter am 14. die Spitze er¬ 
reicht hat. Von hier aus sehen wir dessen Lager. 
Von 6—8 Uhr Ruhepause, um den letzten Sonnen¬ 
schein zu benutzen. Von 8—10 Uhr weitermar¬ 
schiert, dann auf 6300 m bis 6 Uhr morgens, nur 
mit einem Plaid zugedeckt, die Nacht zugebracht. 
Scheussliche Nacht! - 15» Cels. 18. Januar. Rest 
des Aufstieges; schon vom frühen Morgen an 
drohendes Gewölk, bis bei 6600 m das Schneege¬ 
stöber losbricht und uns zwingt umzukehren. Ab¬ 
stieg beginnt um gH Uhr morgens. Puna (Höhen¬ 
krankheit) äussert sich bei aUen nur durch allge¬ 
meine Mattigkeit'“ Ein neuer Besteigungsversuch 
wurde nicht gemacht. Wohl aber finde ich in chi¬ 
lenischen, bis zum I. Febr. reichenden Zeitungen 
die telegraphische Nachricht aus San Felipe, dass 
Fitzgerald selbst am Januar trotz Schneegestö¬ 
bers den dritten Versuch gemacht habe, den Gipfel 
des Bergriesen zu ersteigen. — Die Expedition be¬ 
stand aus sechs Turnern von deutscher Abstamm¬ 
ung aus Santiago und 2 chilenischen Bergleuten. 
Die Turner trafen am 29. und 30. Januar wieder 
in Santiago ein. Sie erklären, dass sie alle Anga¬ 
ben, die Güssfeldt in seinem Buche macht, bestätigt 
gefunden haben. Eine genaue Schilderung dieser 
eigenartigen „Turnfahrt^ wird später publiziert 
werden. Polakowsky. 


Photographisches Fernrohr zu Potsdam. Be¬ 
kanntlich wird für das astrophysikalische Observa¬ 
torium zu Potsdam ein neuer photographischer Re¬ 
fraktor gebaut. Der Refraktor besteht aus zwei 
parallelen Fernrohren, von denen das eine zu pho¬ 
tographischen Aufnahmen, das andere als Leitfem- 
rohr dient. Die Linse des ersteren hat einen 
Durchmesser von 80.cm und eine Dicke von 12 cm. 


Obgleich das Glas dieser Linse die grösste Rein¬ 
heit und Durchsichtigkeit besitzt, die sich erzielen 
lässt — es wird von dem mit Unterstützung der 
preussischen Regierung arbeitenden weltbekannten 
glastechnischen Institut zu Jena hergestellt — sg 
geht doch von dem auf die Linse auffallenden Licht 
afie Hälfte verloren, wie genaue Messungen an den 
betreffenden Glassorten festgestellt haben. Dieser 
Verlust rührt zum Teil von der Absorption in der 
riesigen Glasmasse, zum Teil von der Reflexion 
des Lichts an den Linsenflächen her. Immerhin 
wird der neue Refraktor den bisher gebrauchten 
um das vierfache an Lichtstärke übertreffen. (Sit¬ 
zungsberichte der Berliner Akademie.) Dr. Pr. 


Tuberkulose und Röntgenstrahlen. Bouchard 
hat gezeigt, dass Tuberkuloseherde die Röntgen¬ 
strahlen in anderer Weise durchlassen als gesunde 
Gewebe, sodass man sie dadurch auffinden und 
ihre Verbreitung nachweisen kann. (Comptes 
Rendus.) Dr. Pr. 


Die Sichtbarkeit der Röntgenstrahlen. Nach 
den bisherigen Untersuchungen galten die Rönt¬ 
genstrahlen als unsichtbar und man schrieb diese 
Unsichtbarkeit dem Umstande zu, dass die Medien 
des Auges, Hornhaut, Linse und Glaskörper, einen 
sehr beträchtlichen Teil der Strahlen verschlucken, 
sodass nur sehr wenige die Netzhaut selbst er¬ 
reichen. An einer Patientin, deren Augenlinse ent¬ 
fernt worden war, machte Brandes zuerst die Be¬ 
obachtung, dass die Strahlen doch eine Lichtempfin¬ 
dung erregen können. Mit Röntgenröhren von aus¬ 
serordentlich starker Wirksamkeit ist es nun Bran¬ 
des und Dorn gelungen, auch bei normalen Augen 
Lichtreize durch Röntgenstrahlen hervorzurufen. 
Hüllt man den Kopf mit einem schwarzen Tuch völ¬ 
lig lichtdicht ein und nähert man sich dann einer kräf¬ 
tig wirkenden Entladungsröhre, so empfindet jedes 
Auge einen hellen Lichtreiz. Derselbe macht sich ge¬ 
wöhnlich als ein hellleuchtender Ring im Gesichtsfeld 
des Beobachters bemerkbar. Damit die Erscheinung 
klar wahrgenommen wird, müssen die Augen eine 
Weile im Dunkeln geschont werden. Das Vorbei¬ 
führen eines Messlngstabes wurde von Dom im hel¬ 
len Gesichtsfeld seines Auges als ein sich bewegen¬ 
der Schatten wahrgenommen. Besondere Versuche 
zeigten, dass der Glaskörper des Auges mehr Strah¬ 
len absorbiert, als die Linse. Diese kann also nicht 
als vorwiegende Ursache der gewöhnlichen Unsicht¬ 
barkeit der Röntgenstrahlung angesehen werden. Die 
ringförmige Lichterscheinung erklärt sich dadurch, 
dass die Strahlen in den äusseren Teilendes Auges 
einen viel kürzeren Weg durch die Augenmedien 
zurückzulegen haben als in der Mitte, um zur Netz¬ 
haut zu gelangen. Allem Anschein nach handelt 
es sich um eine direkte Reizung des Sehnerven 
durch die Strahlen, denn ein Fluorescenzleuchten 
der Linse und des Glaskörpers konnte nicht wahr- 

g enommen werden. Auch wird der Sehpurpur durch 
.öntgenstrahlen nicht gebleicht. Dr. Pr. 

No. 15 d«r Umschau wird enUialten: 

Peiser, Entstehung des Alphabets. — Ehlers, Das Geld. (Schluss.) 
~ Berg, Das Theater im Winter 1B96/97. — Russoer, Messung 
sehr hoher und niederer Temperaturen. — Nestler, Kultur blauer 
Hortensien. — Polakowsky, Die Lepra in Columbien. — Stern- 
feld, Wissenschaft und Schcinwissenschaft — Ambronn, Venus. 
Maercker, Die Entwickelung der Agrikulturchemie in den 
letzten 35 Jahren. 


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Verantwortlicher Redakteur: 

Otto Adolf Wolters, Frankfurt a. M. 


15. I. Jahrg. 


Nachdruck atts dem Ittkall <Ur Zeitschrift ohne Erlaubnis 
■ der Redaktion verboten. 


1897. 10. April. 


Die Entstehung des Alphabets. 

Von Dr. F. E. Peiser. 

Lesen und Schreiben, die Grundlage unserer 
heutigen Kultur, gehört für Deutschland zum 
selbstverständlichen Besitz jedes Menschen. 
Man nimmt das Können, das auf der untersten 
Stufe angeeignet wird, so hin, ohne sich zum 
Bewusstsein kommen zu lassen, wie kompliziert 
der scheinbar so einfache Vorgang ist, mit 
25 Zeichen die vielgestaltige Sprache zu 
fixieren, und so zu fixieren, dass zwischen 
Hören und Lesen kaum noch ein Unterschied 
ist. Alle Versuche, das Alphabet weiter zu 
reformieren, sei es in phonetischer Beziehung, 
sei es als Ktir&chrift, lassen im Grtiride *dS 5 
Prinzip unangetastet, jeden Laut durch ein 
Zeichen wiederzugeben. Und wo ein System 
der Kurzschrift die Vokale nur durch Stellung 
oder Häckchen auszudrücken versucht, da kehrt 
es zur Stufe der semitischen Schrift zurück, 
welche prinzipiell die Konsonanten allein 
schrieb und die Vokale der Ergänzung des 
Lesers überliess. 

Das Alphabet, wie es in seiner bewunde¬ 
rungswürdigen Zweckmässigkeit vorliegt, fasst 
die Wörter als Lautgruppen; jede Gruppe 
wird in einzelne Laute geteilt, und jeder Laut 
durch ein Zeichen wieder versinnbildlicht, 
wobei zu berücksichtigen ist, dass vielfach 
konventionelle Erleichterungen und Abschlei¬ 
fungen im Laufe der Entwickelung eingetreten 
sind, und andererseits Reste einer vergangenen 
Sprachstufe sich erhalten haben. Das aus 
den einzelnen Zeichen zusammengesetzte 
Wortbild lässt im Gehirn das Lautbild ent¬ 
stehen ; an dieses erst knüpft sich der Gedanke. 
Wir haben also eine dreifache Operation 
nötig, um eine alphabetische Schrift zu lesen. 

Dies musste vorausgeschickt werden, wenn 
wir uns über die Frage nach der Entstehung 
des Alphabets klar werden wollen. Verfolgen 
wir nun die Stadien, welche bis zu unserem 

Umschau 1897. 


heutigen Alphabete führen, so bleibt kein 
Zweifel, dass dieses dem lateinischen, das 
lateinische dem griechischen entstammt, ohne 
dass prinzipielle Modifizierungen eingetreten 
sind. Das griechische aber weist sich als 
Übernahme einer anderen, nicht für griechische 
Sprache ursprünglich entwickelten Schrift aus, 
welche nur die Konsonanten durch Zeichen 
wiedergab und eben erst begonnen hatte, zur 
Bezeichnung gewisser langer Vokale auch 
einige Konsonantenzeichen zu verwenden. Die 
Griechen entwickelten diese Ansätze weiter, 
schufen dadurch aus der Konsonantenschrift 
die moderne Lautschrift, waren also an der 
Kulturthat der Schrifterfindung hervorragend 
•beteiligt. Welches aber war die übernommene 
Schrift? Die Antwort lautet gemeinhin: die 
phönizische. Nun kennen wir eigentlich 
phönizische Inschriften nur aus jüngerer Zeit, 
(vom 5. vorchristl. Jahrhundert an); sie wer¬ 
den sämtlich durch das Alter (8. vorchristl. 
Jahrhundert) der altkanaanäischen Inschriften 
(Siloah. J., Mesha-Stein) übertroffen, ebenso 
durch das der altaramäischen (Kontrakte aus 
Assyrien, die durch die Ausgrabungen in 
Sendjirli, Nordsyrien jüngst entdeckten Stelen), 
welche alle schon eine Ausbildung zeigen, 
die auf lange Entwickelung hinweist. Wir 
werden also berechtigt sein, als Vorstufe eine 
altsemitische Schrift anzunehmen, die sowohl 
die Mutter der griechischen, als auch die der 
semitischen Schriftsysteme bis herunter zum 
südarabischen, äthiopischen, hebräischen, 
syrischen und arabischen gewesen ist. 

Die Frage nach der Entstehung des Alpha¬ 
bets reduziert sich also auf die nach der 
Entstehung der altsemitischen Schrift. Fassen 
wir die vielfachen Versuche ins Auge, die zur 
Erklärung derselben angestellt sind, so ergiebt 
sich, dass sie sich auf drei Eigenschaften 
der Schrift aufbauen, r. die äussere Gestalt 
der Buchstaben, 2. ihren Namen und 3. ihre 
Anordnung. 

15 


ß' 


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256 


Peiser, Die Entstehung des Alphabets. 


Was den ersten Punkt anbetrifft, so ist 
zu bemerken, dass zwar mit einigem guten 
Willen aus den knappen Zügen der einzelnen 
Buchstaben Bilder zu deuten sind, dass aber 
irgend welche Gewissheit nicht zu erlangen 
ist, da ja die Phantasie immer mehrere Mög¬ 
lichkeiten zur Wahl stellt. Nimmt man die 
Namen hinzu, dann wird der Kreis der Möglich¬ 
keiten freilich eingeschränkt; aber woher wissen 
wir denn, dass die Namen der Buchstaben 
gleichzeitig mit der Gestalt sich entwickelt 
haben, dass wirklich eine ununterbrochene 
Tradition bis zu den Schrifterfindern reichte? 
Im Gegenteil dürften die Namen später er¬ 
funden sein, so dass wir besten Falls eruieren 
können, was schon in alter Zeit Ober die Buch¬ 
staben spekuliert worden ist; und wenn auch 
die Namen des einen oder anderen Buchstaben 
zeigen, dass die Namengeber einiges richtig 
bestimmt haben, so beweisen sie doch nichts 
für die Annahme einer zuverlässigen Tradition. 

Aber das Alphabet, die Anordnung der 
Buchstaben, weist das nicht darauf hin, dass 
die Schrifterfinder sich von gewissen Gesetzen 
leiten Hessen? Im Gegenteil. Der einzige 
Schluss, der aus dem Zusammentreffen von 
bet, gimel, dalet^) etc. gezogen werden kann, 
ist unserer Meinung nach nur der, dass wie 
über die Namen, so auch über die Laute 
schon in sehr alter Zeit spekuliert wurde, 
wie ja überhaupt auch die Schrift als solche 
bei denjenigen, welchen die Fähigkeit des 
Schreibens noch nicht zum selbstverständlichen 
Werkzeug geworden ist, supranaturalistische 
Vorstellungen auslöst, so dass sie bald voll 
teuflischer, bald voll göttlicher Kraft erscheint. 
Diese Spekulationen enthalten immer eine Art 
wissenschaftlichen Kerns; in der Alchemie 
lagen die Vorbedingungen unserer heutigen, 
wissenschaftlichen Chemie; und so darf es 
nicht Wunder nehmen, wenn in der Anordnung 
der Buchstaben gewisse vernünftige Momente 
physiologischer wie psychologischer Art er¬ 
scheinen, ohne dass daraus auf einen rein 
vernunftmässigen Zweck geschlossen werden 
kann, so wenig, wie in der Kabbala, welche 
sich als weitere Ausartung der angedeuteten 
Spekulationen, verbunden mit solchen Über 
den Zahlenwert der Buchstaben, ausweist. 

Die Versuche, das Alphabet als die Er¬ 
findung eines Mannes oder weniger Gelehrten 
hinzustellen, am geistreichsten durchgeführt 
von dem genialen, aber wilden Ferdinand 
Hitzig, müssen also schon aus prinzipiellen 
Erwägungen für verfehlt erklärt werden. Da¬ 
mit fallen auch die Versuche, die Schrift 
als eine in Babylonien oder durch den Ein- 


*) hebräische Buchstaben, identisch mit ß (b), 
Y (g), (d). 


fluss babylonischer Keilschrift entstandene 
Strichelschrift (M, A. Levy, H. Wuttke) anzu¬ 
sehen. Es bleibt nur eine zweite Möglichkeit, 
dass sich die Buchstabenschrift aus einem 
andersgearteten vorhergehenden Schriftsystem 
entwickelt hat. 

Hier liegen nun mehrere Systeme vor, deren 
Enträtselung unserem forschungsdurstigen 
Jahrhundert gelungen ist; dass für jedes die 
Ehre, als Vorstufe für die Buchstabenschrift 
gedient zu haben, in Anspruch genommen 
wurde, darf bei dem hingebenden Eifer der 
Gelehrten an ihre spezielle Wissenschaft, der 
oft das Bild verliebter Leidenschaft gewährt, 
nicht Wunder nehmen. Bevor wir aber zur 
Würdigung der Ansprüche übergehen, die 
jedes einzelne System aufweisen kann, noch 
einige prinzipielle Worte. Sämtliche, sowohl 
das ägyptische in seinen Entwickelungsstufen 
hieroglyphisch, hieratisch und demotisch, wie 
auch das keilschriftliche, als alt- und neubaby¬ 
lonisch, alt- und neuassyrisch, zeigen ein 
Stadium der Schriftentwickelung, in welchem 
sich Bilderzeichen mit Silben- und selbst Laut- 
Zeichen vermischen. Das weist schon darauf 
hin, dass diese Systeme ursprünglich aus einer 
reinen Bilderschrift entstanden sind. Wie ist 
nun die Entwickelung dieser Systeme zu 
denken? Bei einer Bilderschrift deckt sich 
ursprünglich das Bild mit dem Begriff, so dass 
der Anblick des Bildes ohne Vermittelung 
der Lautvorstellung den Gedanken auslösen 
kann. Bei der engen Verbindung aber, in 
welcher Denken und Sprechen steht, muss 
sich bald mit den Bildern die Vorstellung der 
Lautkomplexe verknüpft haben, was dann weiter 
die Möglichkeit vorbereitete, einzelne Bilder 
nur als Vertreter von Lautkomplexen zu 
empfinden und anzuwenden. Indem also die 
Lautvorstellung sich zwischen das Bild und 
den von ihm vertretenen Begriff schob, wurde 
das Stadium der reinen Bilderschrift über¬ 
wunden, die Stufe der aus Ideogrammen *) 
und Silbenzeichen bestehenden Schrift erklom¬ 
men. Diesen Zustand, welcher noch dadurch 
modifiziert wird, dass sowohl Abstrakta sym¬ 
bolisch durch Bilder konkreter Dinge, als auch 
Begriffe durch Zeichen anderer Begriffe wegen 
des identischen Lautkomplexes ausgedrückt 
werden, zeigt die Babylonische Keilschrift, 
während ihres Jahrtausende langen Bestehens. 
Die weitere Entwickelung, vom Silbenzeichen 
zum Lautzeichen, mit Beibehaltung von Ideo¬ 
grammen und Silbenzeichen, hat das Ägyp¬ 
tische ausgeführt. Ein drittes, eigenartiges 
Schriftsystem Vorderasiens ist unter dem 
konventionellen Namen hetitisch bekannt ge¬ 
worden, aber noch nicht definitiv enträtselt. 


’) Begriffszeichen. 


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Peiser, Die Entstehung des Alphabets. 


257 


Als die Ägyptologie ihren Siegeslauf be* 
gann, wurde natürlich bald {Olshausen) 
die Behauptung aufgestellt, dass die semi¬ 
tische Schrift aus der ägyptischen enstanden 
sei. Wissenschaftliche Begründung dieser 
Idee suchte E. de Rougd zu geben, der die 
„phönizischen“ Zeichen auf einfache Buch¬ 
stabenzeichen der hieratischen (altägyptischen 
Cufsiv-) Schrift zurückführte, aber nur für 
einen Teil wirklich überzeugende Ähnlich¬ 
keit nachwcisen konnte. Die von Brugsch 
gegebene Liste . ist, wie alles, was dieser 
geniale Ägyptologe schrieb, blendend; und 
trotzdem spricht die sachliche Erwägung, 
dass die ältesten Denkmäler der semitischen 
Schrift sich nicht in Ägypten, sondern recht 
fern davon finden, deutlich dagegen, das Al¬ 
phabet auf direkte, ägyptische Vorbilder zu¬ 
rückzuführen. Dazu kommt, dass in der Zeit, 
in yvelcher der ägyptische Einfluss auf Vor¬ 
derasien am stärksten war, nicht die ägyp¬ 
tische, sondern die babylonische Keilschrift 
die allgemeine Verkehrsschrift war, wie die 
in Tell-el-Amarna gefundenen Thontafeln leh¬ 
ren. Bleibt somit der Anspruch der ägyp¬ 
tischen Schrift, die Mutter der semitischen 
gewesen zu sein, auch noch bestehen, so ist 
er doch bislang nicht so unumstösslich er¬ 
wiesen, dass nicht auch die Vertreter anderer 
Wissenschaften für ihr Spezialgebiet plausible 
Ansprüche erheben konnten. So wurde denn 
versucht, das Alphabet vom Assyrischen 
{peecke, Ball) resp. Babylonischen {Peters, 
Hommet) abzuleiten, wobei die eigenartige 
Erscheinung sich zeigt, dass von den Ge¬ 
lehrten, welche diese Versuche unternahmen, 
eigentlich nur Hommel wirklich als Assyrio- 
loge zählen konnte. Die Fachassyriologen 
standen diesen Versuchen skeptisch gegen¬ 
über, da ihnen, selbst wenn sie die kyprische 
Sylbenschrift mit in Rechnung zogen, doch 
zuviel Mittelglieder zu fehlen schienen. In 
jüngster Zeit ist freilich ein neuer Kämpe auf 
dem Plan erschienen, der das Geheimnis der 
Entstehung der Keilschrift enträtselt zu haben 
glaubt und damit auch den Schlüssel zur Ent¬ 
stehung des semitischen Alphabets wähnt ge¬ 
funden zu haben, nämlich Fr. Delitzsch, der 
die Keilschrift als das Werk von „Schrift¬ 
erfindern“ ansieht, welche in ganz abstrakter 
Weise vorgegangen sind. 

Veranlasst ist die Arbeit Delitzsch’s 
durch die neuen Funde in Niffer, welche 
Hilprecht herausgegeben hat, und denen 
er Versuche über die Entwickelung der ältes¬ 
ten Schriftbilder vorausschickt. Uber Hilp- 
recht’s Ansichten lässt sich streiten; die 
Gründe aber, welche Delitzsch gegen ihn in’s 
Feld führt, sind sicher falsch. Delitzsch leug¬ 
net die ursprüngliche Schriftrichtung von 


oben nach unten, wie sie bislang von allen 
Gelehrten angenommen ist; er muss das thun, 
da sonst sein Versuch heillos in die Brüche 
geht. Und doch beweist ein Blick auf die 
ältesten Schalen und Statuen, dass die Schrift 
in der That ursprünglich von oben nach un¬ 
ten geschrieben wurde. Delitzsch nimmt an, 
indem er von einigen Urbildern ausgeht, die 
nicht nach konkreten, sondern abstrakten Er¬ 
wägungen ausgewählt sind,-dass die „Schrift¬ 
erfinder" mit wenigen geraden und gebro¬ 
chenen symbolischen Strichen aus diesen Ur¬ 
bildern die ganze Schrift geschaffen haben, 
er muss daher diesen eigentümlichen Schrift¬ 
erfindern einen horror vor krummen Linien 
zuschreiben, ohne sich die Frage vorzulegen, 
ob nicht andere Gründe mitgespielt haben, 
die ursprünglichen Bilder in Gruppen gerader 
Linien aufzulösen. Unseres Erachtens erklärt 
sich diese Erscheinung ungezwungen, wenn 
man annimmt, dass, nachdem aus Zeichnungen 
auf Stein oder Thon sich das erste Stadium 
von Bilderschrift entwickelt hatte, eine lange 
Übung folgte, diese Schrift auf Holz zu 
schreiben. Da musste sich die gerade Linie 
als das bequemere von selbst ergeben und 
wurde dann beibehalten, als diese Übung ver¬ 
lassen wurde. Dass von den Schreibern 
über ihre Schrift spintisiert wurde, wird nie¬ 
mand leugnen; in manchen Punkten mag da¬ 
her Delitzsch trotz seiner falschen Methode 
etwas Richtiges bemerkt haben. Aber wenn 
er triumphierend die Richtigkeit seiner Ent¬ 
deckung verkündet, weil die viele Jahrhun¬ 
derte nach Entwicklung der Schrift von ba¬ 
bylonischen Schriftgelehrten verfassten Sylla- 
bare den gleichen Standpunkt vertreten, wie 
er, so ist das ein grandioser Denkfehler, der 
noch weit Über denjenigen hinausgeht, wel¬ 
chen die ersten, obenerwähnten Erklärer des 
Alphabets gemacht haben. Ist somit dieser 
neueste Versuch, die Entstehung der Keil¬ 
schrift zu erklären, pure abzulehnen, so fällt 
damit auch die von Delitzsch aufgestellte 
Möglichkeit, die semitische Buchstabenschrift 
aus den archaischen, babylonischen Zeichen 
abzuleiten. 

Bleibt endlich die zuletzt erwähnte kon¬ 
ventionell hetitisch genannte Schrift, deren 
Entzifferung erfolglos zuerst von Sayce ver¬ 
sucht wurde. Andere Versuche, wie der vom 
Verfasser dieses Aufsatzes und der teils da¬ 
rauf, teils im Gegensatz dazu sich aufbauende 
P. Jensen’s harren noch weiteren Materiales 
zu ihrer definitiven Beurteilung. Immerhin 
hat die Annahme Sayce’s, dass aus dieser 
Schrift sowohl die kyprische, wie die alt¬ 
semitische enstanden sei, manches für sich. 

Die Frage der Entstehung des Alphabets, 
welche fast das ganze 19. Jahrhundert be- 

15 * 


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258 


Ehlers, Das Geld. 


schäftigt hat, bleibt also selbst am Ausgang 
desselben noch ungelöst, wenn auch zu hof¬ 
fen ist, dass die Wissenschaft unermüdlich 
fortschreitend auf grund neuen Materiales, 
das noch in Vorderasien ungehoben ruht, 
auf dieses Rätsel schliesslich die richtige 
Antwort finden wird. 


Das Geld. 

Von Dr. Otto Ehlers. 

(Schluss.) 

Die Undurchsichtigkeit der Materie, ins¬ 
besondere soweit sie sich auf den selbstän¬ 
digen Wert des Geldes bezieht, wird noch 
durch einen eigenartigen Umstand erhöht. 
Das Gold hat einen originären Wert; auch 
wenn es nicht zu Münzzwecken Verwendung 
fände, würde es wegen seiner — sagen wir 
— geborenen Vorzüge von den Menschen 
hoch geschätzt werden. Der originäre Wert 
des Goldes beruht darauf, dass es das schönste 
Schmuckmetall ist; überall in der Welt war 
es längst wegen dieser Eigenschaft geschätzt, 
ehe man daranging, es in Münzen auszuprä¬ 
gen. Mit anderen Worten: weil das Gold 
wertvoll war, wurde es zum Münzmetall ge¬ 
wählt. Nun aber trat die merkwürdige Folge 
ein: weil es zum Münzmetall gewählt wurde, 
wurde es — in erhöhtem Masse — wertvoll. 
Die Schlange beisst sich in den Schwanz: 
Das Gold ist Münzmetall, weil es geschätzt 
ist, und es ist geschätzt, weil es Münzmetall 
ist. Wenn man dabei bedenkt, dass die 
Verwendung des Goldes zu Münzzwecken 
alle anderen Verwendungsarten in den Schat¬ 
ten gestelb hat, so erscheint einem der wirt¬ 
schaftliche Vorgang, der sich hier abspielt, 
fast so sonderbar, wie das Unternehmen des 
Herrn von Münchhausen, der sich am eige¬ 
nen Zopfe aus dem Sumpf zog. Obgleich 
der Ausdruck falsch ist, wollen wir den Wert 
des Goldes, den es ohne Rücksicht auf seine 
münztechnische Verarbeitung besitzt, als den 
angeborenen, den Wert, den es als Münz¬ 
metall gewinnt, als den künstlichen und ers- 
teren mit a, letzteren mit b bezeichnen. Der 
heutige Wert des Goldes ist darnach a-f-h- 
Nehmen wir an, a würde immer kleiner und 
schliesslich nahezu gleich Null, ein Fall, der 
eintreten müsste, wenn die berühmte Utopia 
des Thomas Morus verwirklicht würde; denn 
die Utopier, so berichtet uns der Verfasser 
des Vorbildes aller Staatsromane, schätzen 
Gold und Silber so gering, dass sie Spuck- 
näpfc und ähnliche missachtete Geräte daraus 
hersteilen. Es bliebe solchenfalls nur b üb¬ 
rig, d. h. der künstliche Wert, der aus dem 
Münzzwecke folgt. Kein Grund liegt vor zu 


der Annahme, dass eine solche Entwicklung 
unmöglich sei; ebensowenig erscheint es aus¬ 
geschlossen, dass der Staat ein Währungs¬ 
geld schafft, dem von vornherein nur der 
Wert b anhaftet. Eine andere Frage ist frei¬ 
lich, ob eine derartige Währung auf gesun¬ 
den Füssen stände, oder ob nicht dann viel¬ 
mehr das Geldsystem auf künstlichen Stelzen 
sich bewegte, sodass bei Erschütterung der 
Staatsautorität (auf der einzig und allein der 
Wert b beruht) das Ganze zusammenbräche. 
Immerhin gehört die theoretische Möglichkeit 
einer völligen Loslösung des Geldes von der 
Grundlage, auf der es erwachsen ist, zu den 
Umständen, welche das Währungsproblem 
nicht gerade vereinfachen. 

Die erwähnten Thatsachen, dass das Geld 
zwar ein Masstab, aber ein beweglicher Mass¬ 
stab und dass es zwar mit einem Transport¬ 
mittel zu vergleichen, aber demselben nicht 
gleich zu setzen sei, treten deutlich hei^'or, 
wenn man sich mit der sogen. Quantitäts¬ 
theorie befasst. Der Preis des Geldes drückt 
sich im Preise der Waren aus: stehen die 
Waren hoch im Preise, so bedeutet dies, 
dass ihnen gegenüber das Geld niedrigen 
Wert besitzt, und umgekehrt. Die Quanti¬ 
tätstheorie behauptet, dass die Menge des im 
Verkehr befindlichen Geldes bestimmend sei 
für den Preis der Waren; je grösser jene 
Menge,, um so höher seien die Warenpreise, 
je geringer die Geldmenge, um so niedriger 
die Preise der Waren. Die Quantitätstheo¬ 
rie hat vorzugsweise in bimetallistischen Krei¬ 
sen ihren Anhang, obwohl sie hier nicht im¬ 
mer in schärfster Form betont wird. „Ich 
selbst“, sagt beispielsweise Otto Arendt (in 
seiner Schrift »Herr Reichsbankpräsident 
Dr. Koch und die Währungsfrage“, 1895), 
„legte stets auf die Zirkulationsmenge weni¬ 
ger Gewicht, als die meisten Bimetallisten, 
ich leite die Goldverteuerung und das Sinken 
der Preise von anderen Ursachen her.“ Man 
sollte meinen, dass in dieser Beziehung die 
Geschichte der Edelmetallbewegung und der 
Warenpreise den besten Aufschluss zu bieten 
vermöchte. Es hat Zeiten gegeben, wo sich 
plötzlich ein starker Strom von Edelmetall 
auf den Markt ergoss. Als im alten Grie¬ 
chenlande die Subsidiengelder der Perser¬ 
könige, als später die von Alexander dem 
Grossen erbeuteten Schätze des Orients in 
den Verkehr drangen, als im Römerreiche die 
äg3'ptische Kriegsbeute, als im Frankenreiche 
der den Avaren abgenommene Schatz sich 
verstreute, als im 16. Jahrhundert aus Peru 
und Mexiko gewaltige Massen Silbers nach 
Europa strömten und als endlich in den fünf¬ 
ziger Jahren unseres Jahrhunderts die Gold¬ 
zufuhr einen ungeahnten Aufschwung nahm, 


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Ehlers, Das Geld. 


259 


da war die Gelegenheit gegeben, den Zusam¬ 
menhang zwischen Geldmenge und Warfen¬ 
preis zu beobachten. Es steht nun fest, dass 
in den gedachten Zeitläuften die Warenpreise 
fast durchweg in eine steigende Richtung 
gerieten. Damit ist freilich noch nicht der 
unwiderlegliche Beweis geliefert, dass ledig¬ 
lich die Geldvermehrung die bewegende Ur¬ 
sache gewesen sei. Von den Gegnern der 
Quantitätstheorie wird dies namentlich be¬ 
züglich der goldreichen Periode von 1850 
bis 1870 bestritten. „Der Aufschwung", be¬ 
merktein Schriftsteller, „entsprang einer Reihe 
grossartiger technischer Erfindungen und wirt¬ 
schaftlicher Einrichtungen; die Goldver¬ 
mehrung befreite die Unternehmungslust aller¬ 
dings von der Sorge des Mangels an Um¬ 
laufsmitteln, was bei der geringen Entwickel¬ 
ung des Geldsurrogatenverkehrs damals von 
grösster Tragweite war." Die bimetallistische 
Behauptung, dass die niedrigen Warenpreise, 
die seit ein par Jahrzehnten bei uns die 
Herrschaft haben, sich aus der Geldknapp¬ 
heit erklären — das MOnzbecken, in dem 
früher Gold und Silber nebeneinander ruhten, 
sei zu klein geworden, seitdem man das Sil¬ 
ber verbannt habe — wird von anderer Seite 
aufs Entschiedenste bekämpft. 

Wäre das Geld einfach eine Art Trans¬ 
portmittel, so könnte man mit der Quanti¬ 
tätstheorie leicht fertig werden. Ein Wagen 
der ‘Zehnmal läuft, besorgt die Arbeit von 
zehn Wagen, von denen jeder nur einmal 
läuft. Trifft man geschickte Vorkehrungen, 
welche die Ausnutzung des Wagenparks der 
Eisenbahnen steigern, so wirken diese Vor¬ 
kehrungen genau wie eine Vermehrung der 
Wagen. Der Dienst den die Transportmittel 
leisten, ist also an sich von ihrer Zahl (Quan¬ 
tität) unabhängig. Zum Teil trifft dies auch 
für das Geld zu. Ein Markstück, welches 
zehnmal den Platz wechselt, besorgt die Auf¬ 
gabe von zehn Markstücken, von denen je¬ 
des nur einmal ausgetauscht wird. Das Be¬ 
mühen, die Transportmittel aufs intensivste 
auszubeuten, findet sich auf dem Geldmärkte 
in den zahlreichen Veranstaltungen wieder, 
die das unfruchtbare Müssigliegen des Gel¬ 
des verhindern. Aber wir haben bereits her¬ 
vorgehoben, dass die Beziehung, in der das 
Geld zur Ware steht, viel enger ist, als die 
Beziehung zwischen Transportmittel und 
Ware. Indem neue Geldmassen auf den Plan 
treten, besteht die veränderte Sachlage nicht 
vorzugsweise darin, dass sich nunmehr ein 
vergrössertes Quantum von Geld einem gleich- 
gebliebenen Quantum von Waren gegenüber 
sieht, sondern hauptsächlich darin, dass die 
Schätzung, welche die Menschen zwischen 
Geld und Ware vorgenommen haben, jetzt 


zu einer Revision drängt. Also statt der, 
mechanischen Berührung ein innerer Vor¬ 
gang, dem gegenüber der Rechenstift ver¬ 
sagt. Wenn der Dienst des einen Wagens, 
der zehnmal läuft, durch den Dienst von zehn 
Wagen, die je einmal laufen, abgelöst ist, hat 
sich auf dem Verkehrsgebiet nur die genau 
zu berechnende Quantität geändert, sonst nichts; 
wenn aber an Stelle des geringeren Geldvor¬ 
rats ein grösserer tritt, so ergiebt sich neben 
jener ziffermässig festzustellenden Änderung 
noch eine weitere Änderung, die nicht mess¬ 
bar und wägbar ist, weil sie auf die Seele 
des Menschen zurückleitet. Man muss immer 
im Auge behalten, dass der Preis — der 
Waare wie des Geldes — nichts den Dingen 
Immanentes ist, sondern vom Menschen in das 
Ding hineingetragen wird. In dem Preise, 
welchen der Mensch den Gütern verleiht, be¬ 
zeugt sich die Herrschaft des Geistes über 
die Materie, mag der Geist es auch leider 
Gottes oftmals an der geringsten Ver¬ 
nünftigkeit fehlen lassen. Die Quantitäts¬ 
theorie pure abzulehnen, erscheint uns nicht 
zulässig; wenn man sie cum grano salis 
nimmt, kann man ihr zustimmen. 

Damit ist aber noch keineswegs für den 
Bimetallismus Partei genommen. Man kann 
zugeben, dass eine Vermehrung der Zirku¬ 
lationsmittel voraussichtlich eine Steigerung 
der Warenpreise zur Folge haben würde, 
ohne deshalb die Nützlichkeit oder gar Not¬ 
wendigkeit der sogen. Inflation (Auiblähung 
der Volkswirtschaft durch Geldvermehrung) 
anzuerkennen. Man hat nicht unzutreffend 
den Zustand, in welchen die Wirtschaft eines 
Volkes in Folge einer übermässigen Vermehr¬ 
ung der Zahlungsmittel gerät, mit dem Rausch 
eines Trunkenen verglichen. Das stimulierende 
Mittel des Branntweins ruft für den Anfang 
neue Kraft und Unternehmungslust hervor, 
bis nach dem Verfliegen der künstlich erzeug¬ 
ten Wärme die Reaktion mit um so schär¬ 
ferer Gewalt sich einstellt. Eine Vermehr¬ 
ung der Zirkulationsmittel, die über das ge¬ 
wöhnliche Bedürfnis des Verkehrs hinausgeht, 
vermag eine treibhausartige Blüte der Volks¬ 
wirtschaft hervorzuzaubern; da aber der Auf¬ 
schwung von Handel und Wandel nicht der 
eigenen Kraft der beteiligten Gewerbe, son¬ 
dern einem fremden Einflüsse verdankt wird, 
ist die Freude nur von kurzer Dauer, der 
Wurm sass von Anfang an in der Blüte. 
Die bedenklichen Folgen einer Geldvermehr¬ 
ung werden naturgemäss verschärft, falls jene 
mit einer Geldverschlechterung Hand in Hand 
geht, was nach Ausweis der Münzgeschichte 
häufig der Fall gewesen ist. Indess auch 
wenn dies nicht zutrifft, wenn vielmehr der 
Zufluss von neuen Zahlungsmitteln aus gutem 




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26o 


Berg, Das Theater im Winter 1896/97. 


Gelde sich zusamniensetzt, ist doch die nicht 
zu unterschätzende Gefahr vorhanden, dass 
der ruhige und solide Entwickelungsgang der 
Volkswirtschaft durch Sprünge, zu denen 
schliesslich der Atem fehlt, unterbrochen 
werde. Der grosse Vorzug, welchen die 
Banknote gegenüber dem Papiergeld hat, be¬ 
steht namentlich darin, dass die Ausgabe von 
Banknoten bis zu einem gewissen Grade 
selbständig von dem Bedürfnisse des Ver¬ 
kehrs geregelt wird. 

Allerdings geht die Behauptung der Bi- 
mctallisten dahin, dass die Menge des im 
Verkehr befindlichen Geldes für die Gegen¬ 
wart bereits, von der Zukunft ganz zu schwei¬ 
gen, hinter dem Bedürfnis zurückbleibe, da 
die Goldproduktion nicht imstande sei, die 
Münzbecken der Kulturstaaten zu speisen. 

Die hervorragendste Autorität für diese 
Ansicht ist der Wiener Geologe Eduard 
Suess. Indess finden die düsteren Prophe¬ 
zeiungen der Bimetallisten in den gegenwär¬ 
tigen Verhältnissen der Goldproduktion keine 
Unterstützung. 


Das Theater im Winter 1896/97. 

Von Leo Berg. 

Die Theaterkrisen, die jeweilig ausbrechen, 
sind immer der sichtbar gewordene Wider¬ 
spruch des Kunstproblems Drama. Dieses 
krankt an dem Widerspruch, dass es zugleich 
eine ganz individuelle und eine soziale Kunst 
sein will, dass während es die reifste, in sich 
am feinsten ausgebildete Kunst ist, es doch auf 
den Augenblick, auf die Masse sich ange¬ 
wiesen sieht. Das Drama, das auf eine innere 
logische Entwicklung hinzielt, soll am un¬ 
mittelbarsten auf die Sinne des Publikums 
wirken. Das Problem ist, die innerlichsten 
Kunstmittel in Klownspässe umzusetzen. Wäh¬ 
rend sich das Drama in die höchsten Kunst¬ 
formen hinaufzuarbeiten strebt, strebt das 
Theater zum Zirkus und zum Tingeltangel. 
Es besteht zwischen Drama und Theater ein 
unheimlicher Gegensatz nicht erst von heute. 
Das Buchdrama hat sich nicht zufällig ent¬ 
wickelt, und das Theater nicht erst seit gestern 
seinen verächtlichen Klang bekommen. Man 
kann ganz allgemein das Gesetz aufstellen: 
Der Dramatiker ist auf die Bühne angewie¬ 
sen, aber indem er um sie buhlt, prostituiert 
er seine Kunst. Die Geschichte des Dra-- 
matikers ist selten etwas anderes als der 
Prozess der Selbstauflösung des Künstlers. 

In diesem Winter ist die Krise akut ge¬ 
worden. Eine trostlose Verwirrung herrscht, 
und niemand w'eiss mehr, was er will, sogar 


/ 


nicht einmal die Direktoren. Das Theater ist 
eine zweifelhafte Gesellschaft geworden. 

Die Erfolge aber, und es sind ungefähr 
4—5 Stücke, die das Repertoire beherrschen, 
sind das hoffnungsloseste an diesen Zustän¬ 
den. Wildenbruchs Heinrichsdrama, Haupt¬ 
manns „Versunkene Glocke“, Sudermanns 
„Morituri“, Sardous „MarceUe“ und Schön- 
thans „Renaissance“. Dies eine Harmlosig¬ 
keit, als wären nie die Schatten des Natura¬ 
lismus und der sozialen Not über die mo¬ 
derne Bühne gegangen. — 

Alle drei Jahre spielt sich im Herbst seit 
einiger Zeit eine Komödie in unserem Theater¬ 
leben ab, deren Veranlassung der „Schiller- 
preis^ ist. Unser Kaiser hat bekanntlich vor 
dem Rat und Vorschlägen seiner Kommissio¬ 
nen nicht gerade den grössten Respekt. Er 
ist gewöhnlich anderer Ansicht. Darüber 
fohlen sich hinterher die Herren beleidigt, 
statt sich vorher zu überlegen, ob es der 
Würde eines freien Mannes entspricht, ein 
Amt anzunehmen, in dem man nichts zu sa¬ 
gen hat und Ratschläge zu erteilen, von 
denen mit einiger Zuversicht angenommen 
werden kann, dass sie doch nicht beachtet 
werden. Im Übrigen ist die Verteilung der 
Schillerpreise für unsere dramatische Kunst 
so ziemlich der gleichgültigste Vorgang, der 
sich denken lässt. Es ist eine rein private 
Angelegenheit des Kaisers, wen er mit dem 
Preise beglücken will; im besten Falle kann 
er nach den Grundsätzen dieser Stiftung 
einen vorhandenen Erfolg bestätigen. Junge 
Dichter zu ermutigen, ihnen die Mittel zum 
freien Schaffen zu gewähren oder Aufführun¬ 
gen zu ermöglichen, die ohne eine kräftige 
materielle Unterstützung nicht möglich wären, 
hat gar nicht in den Intentionen des Stifters 
gelegen. Würdelos aber ist jedesmal das Ge- 
bahren der Presse und gewisser Dichter. 
Dass der Kaiser einen Dichter nicht krönen 
wird, der einen ihm persönlich unaussteh¬ 
lichen Stil bisher kultiviert hat und Tendenzen 
vertritt, die doch schnurstracks nicht den 
seinigen nur, sondern denen jedes Fürsten 
zuwiderlaufen müssen, das hätte den Herr¬ 
schaften doch eigentlich selbstverständlich sein 
sollen; ebenso, dass kein Mensch, also auch 
ein Kaiser, nicht so leicht einen Preis auf 
ein Stück setzen wird, das ihn selbst zur 
Zielscheibe hat, oder dessen Erfolg doch 
darin bestand, dass das Publikum es geglaubt 
hat, wie im Falle des „Talisman“. O über das 
Anstandsgefühl unserer Dichter! Sie möchten 
Revolutionäre sein und zugleich Akademiker 
und Hofdichter. Auf den ersten Wink von 
oben streichen sie alle die Segel. 

Der Preis fiel vor drei Jahren niemandem, 
und auch diesmal w'eder Hauptmann noch 


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Berg, Das Theater im Winter 1896/97. 


261 


' 


Fulda, sondern E. V. Wildenbruch zu, und 
das kann ernsthafl niemanden überrascht 
haben. Ein Dichter, der so königsbegeistert 
ist, wie sollte der nicht den Schillerpreis ver¬ 
dienen ! Und Wildenbruch ist der unwürdigste 
gewiss nicht. Nur gerade dieses Drama, für 
das er ihn erhielt, das Heinrichsdrama, hat 
den Schillerpreis wieder einmal gründlich 
diskreditiert. Diese zehnaktige Geschichts¬ 
fälschung ist eine dichterische Rohheit, die 
an die wüstesten Ritter- und Räuberstücke er¬ 
innert, vor keiner künstlerischen Plattheit 
zurOckschreckt, nicht vor den rührseligsten 
Birch-PfeifFeriaden, nicht vor den tollsten Ge¬ 
schmacklosigkeiten, vor keinem Byzantinismus 
wie vor keiner Unlogik. Die dramatische Ent¬ 
wicklung geschieht bei Wildenbruch auch 
sonst, indem jeden Augenblick umgeworfen 
wird, was vorher aufgebaut war. Man steht 
immerwährend vor dem Gefühle: entweder 
der Held ist plötzlich blödsinnig geworden, 
oder er war es im vorangegangenen Akt. 
Das Ganze ist ein historisches Tableau und 
kein Drama; als historisches Drama müsste 
der Kampf zwischen dem Kaiser und dem 
Papst seinen Mittelpunkt bilden, und es sieht 
auch zuweilen so aus, als sollte dies des 
Dramas Kern sein. Wenigstens der erste 
Teil, der immerhin noch eine gewisse dra¬ 
matische Anlage hat, spitzt sich zu diesem 
Kampfe zu, von dem man nur nicht weiss, 
wozu er uns heute soll. Wildenbruch ist der 
Dramatiker verspäteter Motive; er kommt mir 
vor, wie jemand, der einen Streit verschlafen 
hat, und nachdem er schon fast vergessen 
ist, plötzlich mit grosser Leidenschaft sich 
einmischen will. Dabei identifiziert er sich 
nun in sehr naiver Weise jeweilig mit einem 
seiner Helden, da er endlich einsieht, dass 
der andere Recht hat; damit er aber wieder 
zu seinem Recht kommt, muss der andere 
schnell eine Gemeinheit begehen und im Un¬ 
recht sein. So wechselt sich das Spiel ab. 
Gregor hat Recht gegen Heinrich, als der 
reife Charakter, der weise Staatsmann gegen 
den unerzogenen jungen Fürsten, Heinrich 
aber hat Recht gegen Gregor, als der ge¬ 
borene Fürst gegen den Usurpator, den po¬ 
litischen Intriguanten; Heinrich ist ein Ehe¬ 
brecher, also trifft ihn sein Schicksal mit 
Recht, Heinrich ist der ideale Fürst, also 
trifft es ihn wieder nicht mit Recht. Das 
Schlimmste aber ist, dass damit nicht einmal 
der Mensch charakterisiert wird. Schliesslich 
läuft alles auf Phrasen hinaus, wie: Treue 
gegen seinen König ist Deutschlands Reli¬ 
gion, Ich bin Deutschland, Deutschland ist 
Ich u. dgl. m. Die Menschen handeln und 
sind nicht, sondern reden, was sie sein sollen, 
jeder sagt seine Mission her, indem er ein | 


Resum6 von Geschichtsphrasen giebt. Wil¬ 
denbruch ist ein Erbangesessener der Phrase. 
In ihm ist einmal eine Phrase unterdrückt 
worden, das ist seine Tragik geworden, die 
Tragik der unterdrückten Phrase. Sein dra¬ 
matisches Leitmotiv lautet: Zum Kampf der 
Phrasen und Geschichtsbilder. Jedes neue 
Motiv, das ihm einfäUt, giebt eine neue Ver¬ 
wirrung der Situation, der Charaktere, der 
Motive. Er hat die Dialektik eines Kindes 
ohne die Unschuld eines Kindes. Um das zu 
sein, was Heinrichs Sohn (V.) ist, muss er 
sich erst sein deutsches Herz ausreissen, den 
Schwamm, der jedem Deutschen im Herzen 
wächst. Mit ihm soll das Unglück des Kaisers 
motiviert werden, wiewohl die Fürsten nichts 
von dieser Krankheit haben, sie sind wilde 
Raubtiere. Aber noch hat er seine Empörung 
nicht in die That umgesetzt, da ftihlt er den 
Schwamm schon wieder im Busen sich nach¬ 
gewachsen, und kann nun der zärtliche Sohn 
sein, dessen Pietät einen Rachezug gen Rom 
erheischt. Der zweite Teil des Dramas löst 
sich in zusammenhangslose Bilder auf, die 
alle — darin ist Wildenbruch Meister — 
höchst theatralisch aufgebaut sind und Einen 
zuweilen über die dramatische Ohnmacht des 
Dichters täuschen können. Im besten Falle 
ist ein Wildenbruch’scher Akt ein Drama für 
sich. Der folgende Akt hat niemals mehr 
einen vernünftigen oder künstlerischen Zu¬ 
sammenhang mit dem vorangegangenen. 

Die Wirkung der Heinrichstragödie geht 
nicht sehr tief. Das dramatische Ereignis die¬ 
ses Winters ist „Die versunkene Glocke'* von 
Gerhart Hauptmann, die nach zwei Richtun¬ 
gen hin bemerkenswert ist: erstens wegen 
seines völligen Abfalls von seinen Kunstten¬ 
denzen, dann wegen des persönlichen Schick¬ 
sals, das sich in diesem „Deutschen Märchen¬ 
drama“ abspielen soll. Hierin freilich bin ich 
nicht kompetent zu urteilen. Die Freunde des 
Dichters sagen, das Märchendrama sollte so¬ 
zusagen eine Entschuldigung vor seiner Ehe¬ 
frau sein, von der er sich getrennt hat. Das 
Eine ist offenbar: der Dichter dieser „Ver¬ 
sunkenen Glocke“ muss ein von Gewissens¬ 
bissen zerfressenes Herz haben, ein schwerer 
beängstigender Traum scheint über ihm zu 
liegen, aber das Zauberwort, das ihn befreite, 
fällt ihm nicht bei. Ein von der Sünde Ge¬ 
beugter glaubt sich aufzurichten, wenn er dem 
Lichte folgt, das jenseits von Gute und Böse 
weist. Aber dtea Eiland der moralischen Un¬ 
schuld liegt unerreichbar vor ihm, er stam¬ 
melt, er schwärmt, er flucht, er schreit, aber 
keine Barke bringt ihn hinüber; seine Recht¬ 
fertigung ist keine Rechtfertigung, so lang er 
diesseits steht, hier, und in seinem Munde 
haben alle diese Worte gar keinen Sinn: 


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262 


Berg, Das Theater im Winter 1896/97. 


seine Fäuste, die gegen die Kirche schlagen, 
thun ihm nur selber wehe, sein Hauch, der 
die Mauern einblasen soll, schwächt nur seine 
Lunge. Seine Rede wird haltlos und sie kommt 
auf das Bekenntnis hinaus: ich weiss nichts 
mehr zu sagen. „Ich weiss nicht, wer mich 
zwang, doch zwang mich ^fras." So pflegte 
bisher nur Wildenbruch seine Helden reden 
zu lassen. Hauptmann hat etwas sagen wollen, 
aber sein Gedicht ist nichts als eine einzige 
Elegie über das Thema: „Mir gab kein Gott 
zu sagen, was ich leide." Und weil er nicht 
wusste, was er sagen sollte, redete er um so 
mehr, und weil man das nicht verstand, hat 
man gesagt: die „Versunkene Glocke" sei der 
Faust der Moderne, den man ja auch zur Zeit 
nicht verstanden hat und stellenweise heute 
noch nicht versteht. Und weil sich Haupt¬ 
mann am Ende selber nicht mehr verstand, 
hat er statt eines realistischen ein Märchen¬ 
drama geschaffen, diese neueste Mode. — Ge¬ 
schaffen hat er sie nun eigentlich nicht, auch 
Fulda nicht, der ihm mit dem „Talisman“ vor* 
anging. Das Märchendrama ist vielmehr 
die eigentlich romantische Kunstform, ist 
aber so alt fast wie das deutsche Drama 
selber. Gewissermassen ist es die Ablösung 
des religiös-mythologischen Dramas, wie ja 
das Märchen selbst nur verirrte Mythologie 
ist. Es wurde die Exemplifizierung allgemei¬ 
ner menschlicher Leiden und Kämpfe, die 
Verlebendigung und Naturerfüllung der stroher¬ 
nen Allegorie, welche die Symbolik verzopfter 
Gelehrtendichtung war. Der „Faust" ist das 
grosse Ereignis dieser Gattung, Kleists „Käth- 
chen von Heilbronn", Hebbels „Genoveva" 
die tiefsten Versuche der Art. Bei Fulda wird 
das Märchen eine Fabel ä la Geliert oder Rückert, 
die er buchstäblich auf die Bühne bringt, für 
Tieck war es das Vehikel der sogenannten 
romantischen Ironie. Bei Hauptmann verrät es 
wieder seinen tiefen religiösen und mythischen 
Ursprung. Und das ist das Interessante an 
der Sache. Seine Kleine-Leute-Religion schuf 
das„Hannele", der Mythos vom Übermenschen 
gab ihm „Die versunkene Glocke". Aber 
Heinrich ist kein Übermensch, nicht einmal 
ein Mann, sondern ein schwacher schwanken¬ 
der Mensch, der ins Licht will, aber in die 
Finsternis hineinstolpert. Der Dichter sehnte 
sich heraus aus der dumpfen Atmosphäre des 
sozialen Elends, die aber sein Lebenselement 
ist; in jedem zweiten Verse ist von Licht, 
Sonne, Tag die Rede, die Formeln des deut¬ 
schen Sonnenkults klingen überall an. Hein¬ 
rich selbst ist Baldur. 

Aber damit wird es nicht Licht in ihm 
und über ihm. Nietzsche hat ihm sein Gemüt 
verwirrt. Ein von einem Pfeile getroffener 
Schwan, das Tier Baldurs und Lohengrins 


auf dem Titelblatte der Buchausgabe sagt 
mehr als Heinrich in allen seinen Reden, 
die fast immmer negativ bleiben (abgesehen 
von dem natürlich, was sie gegen seine Frau 
und Freunde sagen sollen.) Das Schlimmste 
aber ist, dass Hauptmann hier auch seine Dar¬ 
stellungskunst im Stiche gelassen hat. Ausser 
der alten Wittichen ist keine einzige Gestalt 
so dargestellt und charakterisiert, dass man 
sie sähe und an sie glaubte, wie sonst an Haupt- 
manns Menschen. Das berühmte Rautendelein, 
das dem Drama den Theatererfolg verschafft 
hat, ist ein Zwischending zwischen Mensch 
und Naturgeist, wie das ganze Drama zwischen 
Wirklichkeit und Märchenhaftigkeit hängen 
geblieben ist. In der Symbolik hat sich der 
Dichter vergriffen. Sein Held ist ein Glocken- 
giesser, und er thut, als wären noch nie Kirchen 
auf Bergen erbaut worden. Des Glocken- 
giessers Werk aber schwebt immer in der 
Höhe. Und was soll dies Werk einem Meister, 
der schaffen will über das Christentum hinaus, 
also doch eine Kirche? Das Bild von der 
versunkenen Glocke ist herrlich und tiefsinnig, 
aber das Gleichnis von dem Glockengiesser 
ohne Sinn und Gehalt; einen Baumeister hätte 
man eher verstanden, der sich gegen die Kirche 
auflehnt und heidnische Werke schaffen will, 
Tempel oder die neue Kunst des neuen Men¬ 
schen, das Werk des Übermenschen. Aber 
wieder auf den Baumeister passte nicht die 
Sehnsucht nach dem Quelle der Märchenpoesie: 
„Es singt ein Lied, verloren und vergessen. 

Ein Heiniatlied, ein Kinderliebeslied, 

Aus Märchenbrunnentiefen ausgeschöpft. 

Das wieder ist die Sprache eines Dichters, 
der sich vom konsequenten Realismus befreien 
will. Auch sonst geschieht vieles in dem 
Drama, das keiner von des Dichters Parakleten 
enträtseln kann. Heinrich stirbt, „der Sonne 
ausgesetztes Kind“, wie er sich selbst einmal 
sehr hübsch nennt. „Die Sonne kommt“, jubelt 
ihm Rautendelein zu, und verworren, wie sie 
getönt, klingt diese Dichtung aus: 

„Hoch oben: Sonnenglockenklang! 

Die Sonne . . . Sonne kommt! Die Nacht ist lang.“ 
Das ist schwere Traumlyrik, kein Drama, es 
schläfert ein, es ermüdet. Lyrik, die sich nicht 
löst von der Gemütsstimmung ihres Erzeugers, 
befreit weder Hörer noch Redner, sondern macht 
nur beiden Pein. Hauptmann ist so wenig Dra¬ 
matiker wie Wildenbruch; der eine ist es gewor¬ 
den, weil der Maler, der andere, weil der Rhe¬ 
toriker in ihm nach dem Theater verlangte. Aber 
so nahe wie hier, standen sie sich bisher nirgends. 
Hauptmann konnte Menschen auf die Bühne 
bringen, Wildenbruch konnte Scenen aulbauen. 
In den letzten Werken haben sie ihrer Tugen¬ 
den vergessen und haben selbst den Schein 
von Dramatik von sich gethan. Sie sind in 
Bezug auf Dramatik nichts mehr als die Be- 


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Berg, Das Theater jm Winter 1896/97. 


263 


herrscher der Kulissen und Requisiten. Dieser 
Selbstverrat hat bei Hauptmann freilich 
würdigere und menschlich begreiflichere Be¬ 
weggründe. Aber traurig ist er bei Beiden. 
Packend ist der Seelenschmerz Heinrichs im 
4. Akt dargestellt, wo sich auch die meisten 
und schönsten Motive finden. Die Wirkung, 
die die „Versunkene Glocke“ auf die Geister 
ausgeObt hat, kann nur derjenigen verglichen 
werden, welche die „Andromeda“ des 
Euripides in der Heimatstadt des Demokrit 
ausgeübt hat, worüber man den wahrheits¬ 
getreuen Bericht in Wielands „Abderiten“ 
nachlesen kann. — 

Die anderen Erfolge sind weitaus nicht 
von der symptomatischen Bedeutung und 
dürfen kürzer behandelt werden. Sudermanns 
„Moritnri**, ist ein Cyclus von drei Einaktern, 
die das Gemeinsame haben, dass in allen dreien 
von Sterbensollenden und Sterbenwollenden 
die Rede ist; im dritten „Das ewig Männliche“ 
einer hübschen, aber nicht gerade tiefen oder 
geistreichen Satire auf weibliche Geschlechts¬ 
moral, scherzhaft. Sudermann, der unter den 
Modernen der beste Novellist ist, hat sich an¬ 
fangs im Drama als den wilden Mann ver¬ 
sucht, aber der Philister sass ihm im Nacken 
und verpfuschte ihm künstlerisch seinen 
schönsten Erfolg. Dann ist er bald sehr zahm 
geworden und hat sich zu einer starken dra¬ 
matischen Leistung nichtmehr aufgeschwungen, 
wiewohl er als einer der ernstesten und ge¬ 
wissenhaftesten Künstler, dem dss Herz am 
rechten Fleck sitzt, auch mit schwächeren 
Werken zu interessieren und zu rühren ver¬ 
mag. Von den drei Einaktern, die ihm einen 
grossen, wenn auch keinen ernsthaften litter- 
arischen Erfolg gebracht haben, lässt sich freilich 
nicht viel sagen. Der erste „Teja", hört gerade 
da auf, wo es anföngt interessant zu werden. 
Das Problem ist: einen rauhen Krieger, den 
Gothenkönig Teja, der Weiblichkeit und der 
Liebe zu gewinnen. Um das zu veranschau¬ 
lichen, geht der Dichter ins Extrem, nimmt 
eine ungewöhnliche Situation, in der das Herz 
seines Helden verdüstert ist und dem sicheren 
Tode ins Auge sieht. Dadurch wurde die 
Aufgabe derartig erschwert, dass sie inner¬ 
halb eines Aktes gar nicht zu bewältigen war; 
es ist nur eine interessante Episode. 

Das zweite Stück „Fritzchen“ ist ein 
technisch meisterhaft ausgeftihrter Unsinn, 
welcher seinen Erfolg der gesteigerten Er¬ 
regung im Publikum gegen das Duell zu ver¬ 
danken hat. Fritzchen hat Pech gehabt, aber 
deshalb ist der Lehrsatz seines Vaters, dass 
junges Blut sich austoben muss, noch nicht 
umgestossen. Sudermann segelt mit allen 
Winden in das gelobte Land Philistria. Vor 
lauter Moral wird er langweilig. — 


Wie „Teja“, hat auch Ludwig Fulda*s 
neuestes Bühnenwerk „Der Sohn des Kalifen** 
eine Umwandlung zum Vorwurf. Da er einen 
MärchenstofF behandelt, hat der Dichter auf 
Charakteristik vollständig verzichtet. Der 
Fluch eines Derwischs genügt, aus einem rohen, 
jähzornigen, mitleidslosen Krieger, einen 
Schmachtlappen zu machen, dem jedes Weh 
seines Unteithanen in die eigene Brust fährt. 
Das Problem ist an sich sehr schön: eine 
Siegernatur, die das Mitleid nicht kennt, zu 
einer mitfühlenden zu machen. Aber man 
muss es doch irgendwie vernünftig anpacken. 
Hebbel hätte es dialektisch gewandt, indem 
er den Helden in sich selbst spaltete, sich 
selbst Übles zufügen Hesse, um ihn so em¬ 
pfindlich zu machen für Leiden, die er An¬ 
deren zufügte; Andere hätten es durch das 
poetische Universalmittel der Liebe gethan, 
um ihn so teilhaftig werden zu lassen am 
fremden Weh. Aber Ludwig Fulda, der ein 
fixer Kerl ist, macht sich das sehr viel leichter; 
er weiss auch, dass man mit Klownspässen 
das Publikum am besten amüsiert, zumal • in 
einer ernsten Dichtung, sintemalen er so das 
Nützliche mit dem Angenehmen vereinigen 
kann. Nach empfangenem Fluche braucht Prinz 
Assad nur eine Maulschelle auszuteilen, wo¬ 
von er ein Freund ist, und schon spürt er 
selbst einen brennenden Schmerz auf der Backe. 
Auf diese Weise gewöhnt er sich das natürlich 
so allmählich ab. Es ist dieselbe künstlerische 
Naivetät wie im „Talisman“, der, wenn es 
lohnte, einem neuen Lessing die Ver¬ 
anlassung hätte geben können zu einer 
Abhandlung über die Grenzen zwischen 
Märchen und Theater. Ein poetisches Gleich¬ 
nis, hier wirds Ereignis, eine epigrammatisch 
zugespitzte Fabel bringt Fulda einfach auf 
die Bühne, als wären Menschen das unwichtigste 
auf der Scene. Er macht hübsche Verse, wie 
man sie sich in der Fabel und Spruch¬ 
dichtung gefallen lassen kann; auf der Bühne 
sind sie einfach langweilig, sie sind ohne Leiden¬ 
schaft und Kraft, und wenn er Leidenschaft 
ausdrücken will, wird er geschwätzig. Er hat 
zuweilen auch ganz gute Einfälle, besonders 
für die Komödie (der beste war „Robinsons 
Eiland“), aber er weiss nie etwas damit an¬ 
zufangen. Seine Schauspiele sind gar keine 
Dramen, sondern Leichtfertigkeiten, sie wachsen 
Einem vor den Augen in die Unreife hinein. 
Noch ist es so lang nicht her, da sah man in 
ihm so etwas, wie einen gereinigten Ibsen, 
oder die glückliche Vereinigung der Vortreff¬ 
lichsten unter den Modernen. Heute sieht 
selbst Fritz Mauthner ein, dass er nur die 
Schritte der grossen Kämpen nachtänzelt, ohne 
ihrer Kraft und Natur eines Hauchs zu verspüren. 

Auch äusserlich ist dieser Winter arm an 


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264 


Berg, Das Theater im Winter 1996^97. 


dramatischen Neuheiten, über die man ernst¬ 
haft in einer allgemeinen Revue reden kann. 
Die Jungen sind auf der Bühne merkwürdig 
schweigsam geworden. Die beachtenswerteste 
Leistung war noch die einaktige Komödie von 
Otto Erich Hartleben „Die sittliche Forderung'', 
ein kleines Meisterstück realistischer Behand¬ 
lung des Dialogs, ausgezeichnet im Aufbau. 
Das erfreulichste aber an dieser Arbeit ist 
die moralische Freiheit des Dichters, der noch 
lachen kann, wo andere an Gewissensbissen 
ersticken oder vor lauter Moral unkünstlerisch 
werden. Hartleben ist unser bester, vielleicht 
unser einziger Komiker auf der Bühne, der 
durch eine ganz kleine Verschiebung gesell¬ 
schaftlicher Verhältnisse, durch eine gewisse 
Abrundung philiströser Phrasen oder durch 
die burschikosen Dekolletierungen die dras¬ 
tischsten Situationen, die prachtvollsten Wen¬ 
dungen herausbringt und mit einer Bühnen¬ 
gewandtheit, dass fast jeder Satz, jede Pointe 
zu ihrer dramatischen Wirkung kommt. Von 
den Jüngeren ist er jedenfalls der einzige, 
der* Theaterblut im Leibe hat. 

Von Neueren scheint Arthur Schnitzler 
der einzige zu sein, der die Bühne für die 
nächste Zeit erobert zu haben scheint. Dieser 
junge Wiener fing mit reizenden kleinen 
Plaudereien an, die freilich schliesslich alle 
auf dasselbe hinauskamen und für ein Erst¬ 
lingswerk von verblüffender Technik waren.. 
Das machte mich freilich misstrauisch, wer 
so reif anfängt, hat selten eine litterarische 
Zukunft. Auch haben mich seine Bühnen¬ 
erfolge „Liebelei" und „Freiwild" nicht zu 
vertrauensselig gemacht. Es ist die Kunst 
und die Technik der einaktigen Plaudereien 
auf ein grösseres Ganzes übertragen. »Frei¬ 
wild" ist zwar in Bezug auf sein eigentliches 
Thema (die Duellfrage) geschickt angepackt, 
dass es sich schnell und geschickt vor uns 
abrollt. Aber seine Dramatik ist nur in Schwung 
und Zusammenhang gebrachte Plauderei: das 
ist das Geheimnis seiner Technik. Seine 
Figuren sind galvanisierte kleine Feuilletons. 
Das eintönige Geplätscher ermüdet den Zu¬ 
hörer; in den leidenschaftlichen Scenen merkt 
man die Abgeblasstheit seiner Theatersprache, 
aus vormenschlichen Schicksalen werden Be¬ 
weisstücke. Das Thema selbst wird aber 
darüber nicht klar gestellt, sondern eher ver¬ 
dunkelt. Der Held wird ein Opfer seines 
Eigensinns mehr, als seiner Duellgegnerschaft. 
Über das Duell kann man nicht schreiben 
oder dichten, ohne banal zu werden. Seine 
Dauer wird bedingt nicht nur durch die Macht 
der Standesvorurteile, sondern mehr noch durch 
die Unmöglichkeit des modernen Menschen 
auf andere Weise seine Ehre zu verteidigen. 
Ein Richterspruch beweist schliesslich eben 


so wenig, und man hat sie schon blossgestellt* 
indem man sie der Öffentlichkeit preisgiebt. 
Besonders, wo es sich um Frauenehre handelt, 
die unrettbar verloren ist, wenn sie durch 
richterliche Untersuchungen vor den Augen 
der Welt festgestellt werden soll. Das Duell 
von dieser Seite behandelt, könnte dem Gegen¬ 
stände noch neue Züge abgewinnen, vor allem 
aber ihn vermenschlichen oder menschlich 
motivieren. Schnitzlers Werk ist ein Thesen- 
und Prinzipienstück; das beste in ihm sind 
noch die komischen Scenen zwischen den 
Schauspielern, wiewohl auch ihre Komik darin 
besteht, dass feuilletonartige Redensarten und 
Übertreibungen einfach auf die Bühne über¬ 
tragen werden. Das ist die Dramatik Lindau’s 
und seiner Schule, die dadurch nicht über¬ 
wunden worden ist, dass sie von den Modernen 
in anderer Form wieder aufgenommen wurde. 

Den Ursprung aus dem Feuilleton- oder 
Familienblatt-Roman verrät auch das neue 
Bühnenwerk der Adelheid Weber, „Mutter- 
rechte", das den Kampf zweier Frauen, der 
natürlichen und der Pflegemutter zum Gegen¬ 
stände hat. Die Verfasserin ist nicht ohne 
Talent und kennt auch das Publikum, das 
Blätter wie „Die Gartenlaube" liest. Der 
Gegensatz zwischen den beiden Frauennaturen 
ist hübsch gedacht, aber die Handlung ist 
romanhaft zurechtgelegt, dramatisch nur, so¬ 
fern es das Genrehafte pflegt, das leicht auf 
der Bühne wirkt, und Überraschende Wen¬ 
dungen, welche packen, sind auf Kosten der 
Wahrheit aufgebracht. Sehr leichtsinnig ist 
hier, wie so oft in Frauenwerken, der Fall 
eines jungen Mädchens behandelt; nur kann 
man nicht sagen, ob die gesellschaftliche oder 
sittliche Auffassung der Verfasserin oder viel¬ 
mehr nur »hr Unvermögen, Menschen auf die 
Bühne zu bringen, daran die Schuld trägt. 
Frau Adelheid Weber kennt das Milieu, in 
dem sich ihre Personen bewegen, aber diese 
selbst nur sehr oberflächlich. — 

« « 

• 

Die Macht des Auslandes scheint auf dem 
deutschen Theater gebrochen zu sein. Die 
Franzosen namentlich lassen uns gänzlich im 
Stich. Augier und Dumas sind tot, Sardou 
weiss nun endlich, was man den Leuten im 
Theater bieten darf; er, der feine, politische 
Satiriker und grosse Sceniker von einst schreibt 
rohe Ausstattungsstücke, die auch technisch 
nur ausnahmsweise interessieren können, oder 
dramatisierte englische Gouvernantenromane 
von tugendhaften jungen Mädchen, welche 
nur Bosheit in den schlimmen Verdacht ge¬ 
bracht hat, wie die Marcelle, die, so ungläubig 
es klingt, sich auf dem Theater erhält. Die 
jungen Franzosen aber sind langweilig, als 


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M. Maercker: Die Fortschritte der Agrikulturchemie. 


265 




hätte es nie ein witziges Frankreich gegeben. 
Sie werden so roh, so täppisch, so breitspurig, 
und wenn Stücke wie Paul Hervieus y, Ehe¬ 
fesseln'* in Berlin überhaupt gegeben werden, 
so schreibt sich dies Glück von dem Ansehen 
ihrer Vorfahren und dem grossen Repertoir- 
Mangel des deutschen Theaters her. Die 
französische Dramatik, die ja immer nur wenige 
Motive gehabt hat, hat sich erschöpft. Auch 
den Possendichtern fällt nichts mehr ein, als 
geschmacklose Vergröberungen älterer Motive 
und Situationen. Das eigentliche dramatische 
Genie der Franzosen aber sitzt nicht in Paris, 
sondern in Brüssel und heisst Maeterlinck, 
aber zu ihm hat man weder in Paris noch in 
Berlin den Mut. — 

Die stärksten Dramatiker unser Zeit sind die 
Nordgermanen, Ibsen und Strindberg. Aber 
seit der Wildente will sich auch von ihnen 
kein Werk mehr bei uns einbürgern. Die 
letzten Dramen Ibsens sind nach wenigen 
Aufführungen von der Bühne verschwunden. 
Der njohn Gabriel Borkman" hat ein glück¬ 
licheres Schicksal, aber keinen Erfolg gehabt, 
wiewohl er seinem Gegenstand nach gewisser- 
massen sogar aktuell ist. Trotzdem ist er die 
Alles überragende Erscheinung dieses Theater- 
Jahres, gegen diese Kunst der Darstellung 
und dramatischen Technik gemessen, ist alles 
Andere der stotternde Versuch von Anfängern. 
Freilich, es ist die Kunst der Auflösung, keine 
naiv aufbauende Dramatik, das realistische, 
aber künstlerisch rekonstruierende Verfahren 
mehr als das des schaffenden Dichters. Der 
alternde Ibsen identifiziert sich nicht mehr 
mit seinen Personen, was er freilich so recht 
nie gethan hat. Für ihn hat die realistische 
Formel einen ironischen Nebensinn, er steht 
über seinen Gestalten und charakterisiert als 
Ironiker, d. h. naturgetreu, aber immer schon 
ein wenig vom Standpunkte seines nächsten 
Dr^as aus, das er aber dann, wenn er es 
schreibt, schon wieder überwunden hat. Das 
im Allgemeinen oder Einzelnen zu verfolgen, 
würde den Rahmen dieses Aufsatzes sprengen, 
innerhalb dessen ich auch eine Würdigung 
des Dramas nicht versuchen kann. Er giebt 
die Psychologie eines verkrachten Bank¬ 
direktors, dessen Leben und Verhältnisse wir 
schrittweise, durch gegenseitige Enthüllungen 
der mithandelnden Personen seitwärts und 
rückwärts vor uns aufsteigen sehen. Die 
Bankdirektoren in Wirklichkeit mögen anders 
sein. Borkman ist Ibsen, wenn er ein ver¬ 
krachter Bankdirektor wäre, wie Faust ein 
hypothetischer Goethe und Hamlet ein hypo¬ 
thetischer Shalfespeare, oder Karl Moor 
Schiller, falls er ein Räuberhauptmann gewesen 
wäre. Dies Grundgesetz der Dichterpsycho¬ 
logie muss man allerdings festhalten, wenn 


man nicht den realistischen Banalitäten unserer 
Tagesreporter verfallen und den Dichtern kein 
Unrecht thun will. Im Allgemeinen aber, 
habe ich über diese Gestalt des nordischen 
Meisters an anderer Seite gesagt, kann das 
Publikum wenigstens das Eine von ihm lernen, 
dass ein Mensch nicht aufhört, seine eigene 
Psychologie zu haben, weil ihn die Gesellschaft 
ausgestossen hat. Das Drama ist gleichsam 
ein wieder aufgenommenes Verfahren. »Die 
Bühne wird zum Tribunal.“ 

Menschliche Handlungen und Schicksale' 
vor eine höhere Instanz zu bringen, ist die 
eigentliche Lebenstendenz des Dramas, das 
Steuer, welches sie zwischen die Gefahren 
raffinierter Künstlereien und roher Zirkuseffekte 
hindurchbringt. Sie befreit das Publikum von 
der Ohnmacht passiven Zuschauens, sie löst 
seine geistigen Lebenskräfte und macht aus 
dem Theater ein organisches Ganzes. Der 
Zuschauer aus der dramatischen Handlung 
ausgeschlossen, — man begreift wahrlich nicht 
mehr, zu welchem Zwecke er sich der Un¬ 
bequemlichkeit eines Theaterbesuchs aussetzen 
soll. Seine Schaulust zu befriedigen oder ihn 
zii zerstreuen, ist die Aufgabe des Zirkus und 
des Tingeltangels, und sie erreichen ihren 
Zweck besser und leichter. Das Theater steigt 
und fällt mit dem öffentlichen Geiste eines Volkes. 
Ein Volk, dessen Theater im Niedergange be¬ 
griffen ist, steht immer schon vor der Gefahr, 
seine politischen Freiheiten zu verlieren. — 


M. Maercker: Die Fortschritte der Agrikul¬ 
turchemie in den letzten 25 Jahren. 

(Ber. d. d. ehern. Gesellsch. XXX Nr. 5.) 

Der Begriff Agrikulturchemie ist weiter 
als der Name besagt und die physiologischen 
Wissenschaften spielen darin fast eine noch 
grössere Rolle als die Chemie. Märcker bie¬ 
tet uns daher in seinem Vortrag weit mehr, als 
man erwartet, er schildert in kurzen Zügen die 
wissenschaftliche Entwicklung der gesamten 
Ackerbaulehre im letzten Viertel des Jahr¬ 
hunderts. 

Bei der Lehre von der Pflanzenernährung 
untersucht die Agrikulturchemie, welche Nähr¬ 
stoffe, in welchen Formen und Mengen, für 
die höchste Pflanzenproduktion erforderlich 
sind. Die wichtigsten Bestandteile der Pflanze 
sind die Kohlehydrate (in Form von Cellulose 
und Stärkemehl etc.) und die Eiweissstoffe. 
Die erstem enthalten Kohlenstoff und die Be¬ 
standteile des Wassers (Wasserstoff und Sauer¬ 
stoff), bei den letztem tritt zu diesen Ele¬ 
menten noch Stickstoff und Schwefel. Man 
hat schon lange erkannt, dass die Pflanzen 






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266 


M. Maercker: Die Fortschritte der Agrikulturchemie. 


ihren Kohlenstoff dem Kohlensäuregehalt der 
Luft entnehmen und dass das dem Boden 
entnommene Wasser sowie der Sauerstoff der 
Luft beim Aufbau der sauer- und wasserstoff¬ 
haltigen Verbindungen eine Hauptrolle spielen. 
Die Erkenntnis der Quellen des Stickstoffs ist 
der neueren Zeit Vorbehalten gewesen doch 
gehen wir hier nicht näher darauf ein, da 
Nr. 13 der „Umschau" einen ausführlichen 
Aufsatz von Dr. Nestler darüber brachte. Auch 
die Phosphorsäure hat sich als unentbehrlich 
erwiesen, da sie zur Bildung der Eiweiskoffe 
dient, deren Bestandteil, dw Schwefel eben¬ 
falls nie fehlen darf. 

Ebenso klar ist die Rolle des Eisen, das 
ein Bestandteil des Blattgrün (Chlorophyll) 
ist, hingegen war man über die Rolle des 
Calcium in Zweifel. Neuere Untersuchungen 
haben nun ergeben, dass es eine Art medi¬ 
zinischer Wirkung ausübt, indem es die für 
die Pflanze giftige Oxalsäure, welche stets als 
Stoffwechselprodukt auftritt, bindet. 

Ein unentbehrlicher Stoff ist auch das 
Kalitinf, von seinen Funktionen ist aber bis¬ 
her nur eine klar erkannt, nämlich seine Be¬ 
ziehung zur Bildung von Kohlehydraten. 
Hellriegel fand, als er Zuckerrüben bei 
der Düngung das Kali entzog, dass auch die 
Zuckerbildung sank. 

Noch weniger weiss man von der Bedeut¬ 
ung des Chlor, Magnesium, Natrium und der 
Kieselsäure. Eines aber scheint festzustehen: 
dass die Pflanze eine Art Mineralstoffhunger 
hat d. h. ein Bedürfnis nach Mineralstoffen, 
das durch verschiedene Mineralstoffe gedeckt 
werden kann, wobei sehr wohl der eine 
den andern Stoff zu vertreten vermag. Diese 
Beobachtungen haben eine gewisse Bedeutung 
für die Landwirtschaft, denn sie lehren, dass 
wenn man das Nahrungsbedürfnis der Pflanze 
durch ganz reine Nährstoffe stillen wollte, 
man verschwenderisch arbeitet. Es wäre z. B. 
unwirtschaftlich mit reinen Kalisalzen zu 
düngen, da die viel billigeren Rohsalze die 
Stoffe, welche den Mineralstoffhunger sättigen 
— u. a. Natrium-,’ Magnesium-, Kieselsäure¬ 
verbindungen — in reichlicher Menge ent¬ 
halten. 

Es ist ein grosses Hindernis für alle Un¬ 
tersuchungen am Tier- und Pflanzenkörper, 
dass wir von der Zusammensetzung der Ei¬ 
weissstoffe noch fast nichts wissen. Wir stu¬ 
dieren die Stoffe in die sie unter verschie¬ 
denen Bedingungen zerfallen und sammeln so 
Bausteine aus denen wir s. Zeit das Eiweiss¬ 
molekül zu konstruieren hoffen. Mit zu den 
interessantesten dieser Forschungen gehören 
die von Ernst Schulze aus denen sich er- 
giebt, dass der Stoffwechsel der pflanzlichen 
Zelle ganz ähnlich und nach denselben Ge¬ 


setzmässigkeiten zu verlaufen scheint, wie der 
der tierischen Zelle. 

Märcker wendet sich nun zu der Boden¬ 
kunde und Düngerlehre, deren Aufgabe es ist 
durch die Analyse das Düngerbedürfnis des 
Bodens zu erforschen um damit dem prak¬ 
tischen Landwirt die Grundlage zu geben, 
nach welcher er die Ernährung der Kultur¬ 
pflanzen in einem bestimmten Boden vorzu¬ 
nehmen hat. Die chemische Analyse hat 
sich hierbei als unzureichend erwiesen, wenn 
sie nicht durch die mechanische Bodenana¬ 
lyse unterstützt wird, denn nur die ganz fein 
verteilten Bestandteile der Ackererde können 
als wirksame Nährstoffe in Betracht kommen, 
da nur sie durch das kohlensäurehaltige Bo¬ 
denwasser relativ leicht gelöst werden. Die 
feinerdigen Bestandteile sind es ferner, welche 
in inniger Beziehung zu dem chemischen 
Zustande der Ackererde, zu dem Wasser¬ 
fassungsvermögen etc. stehen, sodass die 
wichtigste Grundlage der Bodenanalyse die 
Bestimmung des Gehalts an Feinerde ist. — 
Ergiebt die chemische Analyse, dass in einem 
Boden ein Nährstoff nur in Spuren vorhanden 
ist, oder ganz fehlt, so ist sicher, dass die¬ 
ser Boden mit dem betr. Stoff gedüngt wer¬ 
den muss, zeigt aber die chemische Analyse, 
dass irgend ein Nährstoff in Menge vorhan¬ 
den ist, so ist damit noch nichts bewiesen, 
denn er kann in einer Form Vorkommen, in 
der ihn die Pflanze nicht aufzunehmen ver¬ 
mag. So giebt z. B. die chemische Analyse 
für Stickstoff und Phosphorsäure gar keinen 
Anhalt, da man aus ihren Resultaten niemals 
zu ersehen vermag, ob man es mit leicht- oder 
schwerlöslichen Verbindungen zu thun hat; 
hingegen giebt sie sehr brauchbare Aufschlüsse 
über den nutzbaren Gehalt an Kali und Kalk. 
Man hat deshalb in zweifelhaften Fällen zu 
einem anderen Verfahren gegriffen: man lässt 
die Pflanze selbst analysieren, indem man 
Vegetationsversuche macht. Auf einem Boden, 
dessen Phosphorsäurebedürfnis man z. B. 
feststellen will, kultiviert man eine Pflanze, 
der man alle Nährstoffe, mit Ausnahme der 
Phosphorsäure in ausgiebiger Menge darreicht; 
mit ihr vergleicht man eine Pflanzung, der 
man ausserdem auch noch Phosphorsäure 
bietet. Aus der Produktion der beiden Pflan¬ 
zungen und aus der Phosphorsäuremenge, 
die sie den beiden Böden entzogen haben, 
kann man sich ein Bild machen, von der 
Menge wirksamer Phosphorsäure, die der 
untersuchte Boden enthält. — Aus solchen 
Versuchen hat man gefunden, dass es sehr 
anspruchsvolle Pflanzen giebt z. B. Weizen, 
Gerste, Roggen, Zuckerrüben und andererseits 
auch genügsame wie Erbsen, Bohnen, Lupi¬ 
nen, Kartoffeln. -- Für die Praxis der Land- 


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Russner, Ueber Messung hoher und niedriger Temperaturen. 


267 


Wirtschaft folgt daraus, dass man zuerst eine 
anspruchsvolle Pflanze in einer starken Düng¬ 
ung anbauen soll und auf dieselbe eine ge¬ 
nügsame folgen lässt, der es gelingt die im 
Boden verbleibenden Reste der Düngung sich 
zu eigen zu machen. 

Mittels des Vegetationsversuchs hat man 
auch den Wirkungswert der verschiedenen 
Nährstoflf/orwr« festgestellt und z. B. ermit¬ 
telt, dass das Verhältnis ist 

Stickstoff in Salpeter 100 

„ „ Ammoniak = 85 bis 90 

„ „ Eiweiss = 60 

Daher die grossartige Ausdehnung der Ver¬ 
wendung des Salpeters als Düngemittel. Da¬ 
mit ist aber nicht gesagt, dass Salpeter im¬ 
mer das beste ist, vielmehr ist auch der Bo¬ 
den in Betracht zu ziehen und man weiss 
z. B., dass für leichten Sandboden Stickstoff 
in Eiweissform eine weit zweckmässigere 
Form ist. 

In der Thomasschlacke, dem Abfallprodukt 
der Eisenindustrie, hat man ein vorzügliches 
phosphorsäurehaltiges Düngemittel gefunden 
und die 14 Millionen Zentner die Deutsch¬ 
land produzierte hat die Landwirtschaft in 
wenigen Jahren glatt aufgenommen. Das 
Thomasphosphatmehl ist ein so wichtiges 
Nebenprodukt der Eisenindustrie geworden, 
dass heutzutage die phosphorsäurereichsten 
Erze, die gesuchtesten sind, während es früher 
die phosphorärmsten waren. 

Wie sich aus dem vorstehenden ergiebt 
kann man jetzt mit Sicherheit feststellen, 
welche Nährstoffmengen man dem Boden zu- 
fOhren muss, um die Maximalproduktion zu 
erzielen. Infolgedessen haben sich unsere 
Ansichten -über den Bodenwert vollständig 
verschoben. Mit Geringschätzung spricht 
noch das Volk von einem „sterilen Sand¬ 
boden“. Durch zielbewusste Düngung kann 
man aber aus einem Sandboden Erträge er¬ 
zielen, die hinter keinem anderen zurück¬ 
stehen. 

Es gibt aber noch ein weiteres Mittel, um 
die Erträgnisse zu steigern, das ist die Züch¬ 
tung. — Durch zielbewusste Auswahl hat 
man aus der Zuckerrübe, die ca. 10 Proz. 
Zuckergehalt hat, eine Rübe mit 15 — 20 Proz. 
und darüber gezüchtet. Nur so war es mög¬ 
lich der auslähdischen Konkurrenz, insbeson¬ 
dere dem Rohrzucker, die Spitze zu bieten, 
so ist es gekommen, dass der Zucker jetzt 
so billig, ja billiger als Mehl ist, denn i Pfd. 
Rohzucker kostet z. Zt. steuerfrei kaum 10 
Pfg. Ähnliche Erfolge hat man bei dem 
Getreide und der Braugerste zu verzeichnen. 

Kommen wir zum Schluss auf den Kreis¬ 
lauf des Stickstoff dessen Erkenntnis wir den 
letzten Jahren verdanken. Woher die Pflan¬ 


zen ihren Stickstoff nehmen ist in „Umschau“ 
Nr. 13 von Dr. Nestler ausführlich geschil¬ 
dert. — Was wird aber aus dem Stickstoff, 
nachdem ihn die Pflanze zu ihrem Aufbau 
zu Eiweiss verwendet hat? Die Pflanze wird 
entweder verfüttert, von Tieren und Menschen 
verdaut, oder fällt der Fäulnis unter Mitwir¬ 
kung von Mikroorganismen anheim. In bei¬ 
den Fällen wird der Stickstoff’ nach verschie¬ 
denen Wandlungen in Ammoncarbonat über¬ 
führt. Dessen bemächtigen sich im Boden 
die Salpeter-bildenden Bakterien und erzeu¬ 
gen daraus Salpeter, das beste stickstoffhal¬ 
tige Nahrungsmittel für die Pflanze. Nicht 
aller Salpeter aber bleibt dem Boden erhal¬ 
ten, denn es haften namentlich an dem Stroh 
und den Pflanzenblättern gewisse Bakterien, 
sogen. Salpeterfresser, die den Salpeter zer¬ 
stören, wobei gasförmiger Stickstoff frei wird, 
der in die Atmosphäre zurückkehrt. Dies be¬ 
deutet einen schweren Verlust für die Land¬ 
wirtschaft (für Deutschland beträgt er jähr¬ 
lich mehrere 100 Millionen Mark) und es ist 
als nächstes Ziel der wissenschaftlichen Ag¬ 
rikulturchemie zu betrachten, dass man Me¬ 
thoden findet um diesen Verlust zu bekämp¬ 
fen. Man scheint den richtigen Weg einge¬ 
schlagen zu haben und die nächste Zeit wird 
vielleicht schoft die Lösung der Frage bringen. 

BKOiKoi.n, 


Über Messung hoher und niedriger 
Temperaturen. 

Von Dr. JoH. Russner. 

Mit einem Quecksilberthermometer kann man 
Temperaturen messen, so lange das Quecksilber 
nicht fest wird oder sich in Dampf verwandelt. 
Das Quecksilber erstarrt bei einer Temperatur von 
—39® C. und siedet bei 350® C. Von —39® bis 350® 
wäre somit das Temperaturintervall, welches für 
gewöhnlich mit Quecksilberthermometern gemessen 
werden kann. Ein Mittel, um die Erstarrung des 
Quecksilbers bei —39® zu verhindern, giebt es nicht; 
hingegen kann man die Verdampfung hei 3500 ver¬ 
hindern, indem man statt des Luftdruckes einen 
grösseren Druck auf das Quecksilber wirken lässt. 
Zu diesem Zwecke füllt man den Raum über dem 
Quecksilber im Thermometer mit Stickstoff oder 
Kohlensäure und schmilzt die Glasröhre zu. Dehnt 
das Quecksilber sich bei Erhöhung der Tempera¬ 
tur aus, so wird das Gas komprimirt und hält 
das Quecksilber flüssig. Mit einem solchen Ther¬ 
mometer kann man jetzt Temperaturen bis 550" 
sicher messen. 

Zur genauen Messung niedriger und höherer Tem¬ 
peraturen, als es mit dem Quecksilberthermometer 
möglich ist, bedient sich der Physiker des Luft¬ 
thermometers. Hat man Luft oder ein anderes Gas 
in einem geschlossenen GefÜsse und erwärmt das¬ 
selbe, so nimmt der Druck des Gases auf die Ge 
fässwände zu und bei Abkühlung ab. 


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268 


Russner, Ueber Messung hoher und niedriger Temperaturen. 




Aus dem jeweiligen Druck eines Gases, wel¬ 
cher sehr genau bestimmt werden muss, berechnet 
dann der Physiker die Temperatur. Zur Messung 
der niedrigsten Temperaturen kann man Gefässe 
aus Glas nehmen, während man fQr die höchsten 
Temperaturen sich glasierter Porzellangefösse be¬ 
dient. Mit einem solchen Luftthermometer ist der 
Siedepunkt der flüssigen Luft zu —190® bestimmt 
worden. Das Luftthermometer ist aber so kompli¬ 
ziert, so wenig transportabel und so schwierig zu 
behandeln, dass genaue luftthermometrische Be¬ 
stimmungen selbst in den fUr wissenschaftliche 
Zwecke eingerichteten Laboratorien zu den Selten¬ 
heiten gehören. 

Reiner Alkohol bleibt bei sehr niederen Tem¬ 
peraturen flüssig. Um niedrigere Temperaturen 
zu messen, als es mit Quecksilber möglich ist, füllt 
man deshalb die gewöhnlichen Thermometer mit 
gefärbtem Weingeist. Diese Flüssigkeit hat aber 
den NachteiJ, dass die Verkleinerung bei Abkühlung 
nicht gleichmäßig wie beim Quecksilber erfolgt. 
Aus diesem Grunde sind die Grade an einem sol¬ 
chen Thermometer nicht gleich gross, sondern wer¬ 
den desto kleiner, je niedriger die Temperatur wird. 
Die Grösse der Grade eines ^^eingeistthermometers 
werden bis —39“ durch Vergleichung mit einem 
Quecksilberthermometer und für niedrigere Tem¬ 
peraturen mit einem Luftthermometer bestimmt. 
Der Mechaniker Niehls in Berlin liefert solche 
Thermometer, welche bis zu —120* zu gebrauchen 
sind; dies ist die Siedetemperatur von flüssiger 
Kohlensäure unter geringem Druck. 

Um hohe Temperaturen in der Technik zu mes¬ 
sen, sind ausserordentlich viele und die sonderbars¬ 
ten Vorschläge gemacht worden. So wurde noch 
in jüngster Zeit der Vorschlag gemacht, einen Ex¬ 
plosionskörper in das Zentrum einer Thonkugel 
zu bringen, und diese dann der hohen Temperatur 
auszusetzen. Aus der Dauer der Zeit bis zur Ex¬ 
plosion, sollte dann auf die Höhe der Temperatur 
geschlossen werden. 

Die Verfahren, die in der Technik für die Mes¬ 
sung hoher Temperaturen angewandt wurden, sind 
meistens umständlich und wenig zuverlässig. Die 
sichersten Ergebnisse lieferte immer noch die Me¬ 
thode, bei der man ein Eisen- oder Platinstück der 
hohen Temperatur aussetzt«, dieses dann in kaltes 
Wasser brachte und aus der Temperaturerhöhung 
desselben die hohe Temperatur ermittelte. Ein 
Mittel, ununterbrochen den Temperaturverlauf eines 
Ofens zu verfolgen, bietet die elektrische Messung. 
Die Elektrizität findet beim Durchgang durch einen 
dünnen Platindraht grossen Widerstand und dieser 
wird um so grösser, je höher die Temperatur des 
Drahtes wird. Auf dieser Eigenschaft der Metalle 
beruht das Pyrometer*) von William Siemens, 
welches aber für die Praxis auch noch zu kompli¬ 
ziert ist. Seit einem Jahre besitzen wir aber ein 
Pyrometer, welches die höchsten vorkommenden 
Temperaturen genau und einfach zu messen gestat¬ 
tet, alle Anforderungen der Technik erfüllt und 
welches selbst jeder gewöhnliche Arbeiter zu be¬ 
dienen vermag. Es ist dies das Pyrometer von 
Le Chatelier, welches nun etwas näher betrachtet 
werden soll. 

Im Jahre 1823 machte Seebeck die Ent¬ 


deckung, dass in einem Ring, welcher aus Kupfer 
und Wismuth bestand, ein elektrischer Strom ent¬ 
stand, wenn die eine Löthstelle erwärmt wurde. 
Seebeck nannte diesen elektrischen Strom Ther- 
mostrom und die Verbindung von zwei verschie¬ 
denen Metallen ein Thermoelement. Die Unter¬ 
suchungen haben nun ergeben, dass stets, W'enn 
zwei verschiedene Metalle ringförmig verbunden 
werden, ein Strom entsteht, wenn die eine Löth¬ 
stelle wärmer als die andere ist. Die Stärke des 
Thermostromes ist abhängig von der Wahl der 
Metalle und dem Temperaturunterschiede in den 
Löthstellen. Die Physiker benutzten diese Eigen¬ 
schaft sofort zu Temperaturmessungen und zwar in 
solchen Fällen, wo man das Quecksilberthermo¬ 
meter nicht verwenden konnte. Als Metalle nahm 
man Eisen und , Platin oder Eisen und Neusilber. 
Zur Messung der ausserordentlich schwachen Ther- 
moströme benutzt man die empfindlichsten Galva¬ 
nometer, Apparate, in welchen um eine leichtbe¬ 
wegliche Magnetnadel der elektrische Strom durch 
viele Drahtwindungen geführt wird. Aus der Ab¬ 
weichung der Magnetnadel von der Ruhelage, kann 
man auf die Höhe der Temperatur schliessen. 

Le Chatelier verwendete zu seinem Thermoele¬ 
ment Platin und eine Legierung von Platin mit 
IO Proz. Rhodium. Das seltene Metall Rhodium 
ist in den Platinerzen enthalten, schwerer schmelz¬ 
bar als Platin, grauweiss, dehn- und hämmerbar 
wie Silber. Da Platin und diese Legierung sehr 
hohe Schmelzpunkte haben, kann man mit diesem 
Thermoelement viel höhere Temperaturen messen, 
als bei Verwendung von Eisen, und dann ist das¬ 
selbe auch viel empfindlicher. Von der Überzeug¬ 
ung geleitet, dass der Mangel an einem wirklich 
brauchbaren Messinstrument für hohe Tempera¬ 
turen noch eine empfindliche Lücke in den unserer 
Industrie zu Gebote stehenden Hilfsmitteln sei, 
haben Dr. H o 1 b o r n und Dr. Wien das Pyro¬ 
meter von Le Chatelier in der Physikalisch- 
Technischen Reichsanstalt zu Charlottenburg auf 
seine Brauchbarkeit und Empfindlichkeit genau 
und lange Zeii hindurch geprüft. Die Prüfung er¬ 
folgte durch Vergleichung mit einem Luftthermo¬ 
meter bis zu Temperaturen von 1600". Es hat sich 
dabei ergeben, dass die Angaben dieses Pyrome¬ 
ters dieselben bleiben, wenn es lange Zeit hindurch 
in oder ausser Benutzung ist. Die Vorsichtsmass- 
regeln, die zu beobachten sind, um einer Zerstör¬ 
ung der Elementdrähte vorzubeugen, sind dieselben, 
die für Platin überhaupt gelten; es darf im glühen¬ 
den Zustande nicht mit Substanzen in Berührung 
kommen, die Verbindungen mit ihm eingehen. In 
der Regel kommt deshalb dieses PjTometer in 
Porzellanrohre montiert zur Anwendung. 

Die Konstruktion eines geeigneten Galvanome¬ 
ters, das bei mässigem Kostenpreise allen Anfor¬ 
derungen genügt, welche die Technik an ein sol¬ 
ches Instrument stellt, hat die Firma Keiser und 
Schmidt in Berlin übernommen und diese Auf¬ 
gabe ebenfalls unter dem Beistände von Holborn 
und Wien gelöst. Der Zeiger dieses Galvanome¬ 
ters spielt auf einer Skala, an welcher man direkt 
die Temperaturgrade ablesen kann. 

Der Platin- und Platinrhodiumdraht ist etwa i m 


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Russner, Ueber Messung hoher und niedriger Temperaturen. 


269 





Die Fi('. B (rechts) zeift uns das Pyrometer von aussen, das mit dem Galvanometer (links)’ durch LeitungsdrAhte verbunden ist. 



Schnil't’ der naK Grosse vun B. 




Diese Fig. zeigt einen Schnitt durch das Pyrometer. Die dicke schwarze Linie ist der Platin- resp. Platin-Rhodiumdraht, deren 
Lötstelle mau rechts an der Verdickung erkennt. Die schraffirten Stellen sind das Porzellanrohr.*) 


lang. Will man eine hohe Temperatur messen, so 
bringt man einfach die Löthstelle von diesen bei¬ 
den Drähten in den betreffenden Raum; das Gal¬ 
vanometer stellt man an einen passenden Ort und 
verbindet dasselbe durch stärkere beliebig lange 
Kupferdrähte mh den beiden Enden des Thermo¬ 
elementes. Das Galvanometer kann somit auch auf 
dem Bureau eines Fabrikdirektors Aufstellung finden, 
welcher dann von Zeit zu Zeit die Möglichkeit hat. 


sich von der Innehaltung einer bestimmten Tem¬ 
peratur in einem Ofen zu überzeugen. 


•) Das Pyrometer wird von Heraus, PlatinschmeUe in Hanau 
fabriziert. 


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270 POLAKOWSKY, DiE LePRA IN CoLUMBIF.N. — BETRACHTUNGEN U. KLEINE MITTEILUNGEN. 


Die Lepra ln Columbien. 

Von Dr. H. Polakowhkv. 

Die Beobachtung, der Nachweis einiger Fälle 
von echter Lepra (Aussatz) in verschiedenen Ge¬ 
genden Deutschlands, hat die Aufmerksamkeit und 
das Interesse der Regierung und der Mediziner 
erre^ und weite Kreise der Bevölkerung rnit Sorge 
und Furcht vor dieser furchtbaren Krankheit erfüllt. 
Von verschiedenen Seiten wurde eine Internierung 
der Leprösen der Gegend von Memel verlangt. 
Interessant war es mir, in den verschiedenen 
Notizen, die ich etwa seit Jahresfrist in politischen 
Blättern fand, nie die Thatsache konstatiert zu 
finden, dass die Lepra in einem Teile von Süd- 
Amerika, in Columbien, seit etwa 10 Jahren eine 
gewaltige Ausbreitung erlangt hat und diese Zu- 
nähme seil etwa j Jahren alarmierend, gefahrdrohend 
für alle Länder, die mit Columbien in Verbindung 
stehen, geworden ist. Als Nichtmediziner lese ich 
nur sehr selten eine medizinische Zeitschrift. Ich 
war der Ansicht, dass diese unerklärlich schnelle 
und heftige Ausbreitung der Lepra in Columbien in 
medizinischen Kreisen längst bekannt sei, konnte 
aber in den letzten Wochen konstatieren, dass dies 
nicht der Fall. Vergebens frag^te ich in der Berliner 
Geograph, und Anthropolog. Gesellschaft acht nam¬ 
hafte Ärzte und Amerikanisten: allen waren die 
angedeuteten Thatsachen so neu, wie interessant. 
Ich halte es deshalb für angezeigt, zunächst an dieser 
Stelle auf das mir bis dato vorliegende Material 
hinzuweisen. 

Die Estr. de Panamä, (Star and Herald), eine 
grosse Zeitung aus Panamä, die eine Fülle sicherer 
Nachrichten aus Süd- und Mittel-Amerika in jeder 
Nummer bringt, von ihren zahlreichen Korrespon¬ 
denten sehr prompt bedient wird, brachte etwa im 
Mai des Jahres 1896 die ernte Notiz über die starke 
Zunahme der Leprakranken in den Departements 
Antioquia und Santander. Dann erschien ein Artikel, 
wonach die Anzahl der Lepranken in jenen beiden 
Bezirken auf Grund der Erhebungen der Gouver¬ 
neure auf 20,000 geschätz wurde und die Regierung 
und die Academia Nacional de Medicina in ßogotä 
die Gesamtzahl der Leprösen im ganzen Freistaate 
auf mindestens jo,ooo schätze. In Städten wie 
Antioouia, wo man noch vor 10 Jahren sehr selten 
einen Leprakranken gesehen, durchzögen jetzt be¬ 
reits Dutzende bettelnd die Strassen, ihre abfaulen¬ 
den Gliedmassen ausstellend. — Dann las ich 
weiter, etwa im Juni-Juli 1896, die Notiz, ein 
columbischer Arzt, Dr. Carrasquilla, habe nach jahre¬ 
langen Studien und Versuchen ein „Heilserum“ 
gegen die Lepra erfunden, und dasselbe - wie es 
bisher scheine - mit gutem Erfolge den Kranken 
injiciert. Die ganze Presse des Landes fing nun 
an, sich mit der Leprafrage zu beschäftigen und 
verlangte immer dringender eine gewisse Trennung 
der Kranken von den Gesunden. Die Regierung 
ging mit grosser Energie auf die Idee ein und schlug 
vor, alle Leprakranken nach der Isla Coiba im 
Stillen Oceane, südwestl. von Panamä, nicht fern 
von der Küste von Chiriqui, zu transportieren. 
Gegen diese Absicht protestierte aber die Presse 
von Panama, in erster Linie die Estrella sehr 
energisch, indem sie mit Recht hervorhob, dass 
diese wichtige Verkehrsstrasse Colon (Aspinwall) -- 
Panamä für Jahre geschädigt würde, wenn man die 
30,000 Leprösen in grösseren Abteilungen nach 
Panamä bringen und dann von dort nach der Coiba- 
Insel einschiffen würde. Auch wurde mit Recht 
hervorgehoben, dass es überaus grausam und kost¬ 
spielig sein w’ürde, die Kranken zu einer so weiten 
Reise zu veranlassen. Bald nahm sich auch die 
Geistlichkeit der schwierigen Frage mit Energie an. 


Sie rieth, in Übereinstimmung mit den Wünschen 
der Bevölkerung, die Erbauung grosser Hospitäler 
für Lepröse in jedem Departement an, so dass die 
Kranken jedes Departements an ein oder zwei Stellen 
in ihrer Heimat gesammelt, überwacht und isoliert 
würden. Zugleich begannen die allgemeinen Samm¬ 
lungen für den Bauibnds dieser Hospitäler. Der 
Erzbischof und alle Bischöfe des Landes nahmen 
diese Sammlungen in die Hände, auchxlie römische 
Curie steuerte eine namhafte Summe bei, und im 
November v. J. waren bereits etwa 500,000 Pes. 
gesammelt. Wie es scheint, hat auch die Regierung 
die Idee aufgeg eben, alle Leprösen nach der Insel 
Coiba zu transportieren, und will den Bau mehrerer 
grosser Lazarethe unterstützen. 

Endlich verdient noch ein Artikel der Estrella 
de Panamä hervorgehoben zu werden, in dem es 
scharf getadelt wird, dass das Ausland von den 
Entdeckungen des Herrn Dr. Carrasquilla, der den 
Lepra-Bazillus entdeckt und das ihn tötende Heilserum 
erfunden, bisher keine Notiz genommen habe. Das 
Erstere ist nicht richtig. Der Lepra - Bazillus ist 
längst bekannt. Sein Name ist Bacterium Leprae 
(Arm. Hausen I Migula.*) Vielleicht ist es aber Herrn 
Dr. Carrasquilla gelungen diesen Bazillus künstlich 
zu kultivieren was (nach Migula) bisher nicht der 
Fall war. Die zweite Angabe und Klage scheint 
aber — so weit ich übersehen kann — bezüglich 
Deutschlands berechtigt zu sein. Es erklärt sich dies 
aber leicht dadurch, dass Herr Dr. Carrasquilla die 
Ergebnisse seiner bisherigen Forschungen und Ent¬ 
deckungen niedergelegt hat in der Revista Medica 
de Bogota, einer in Deutschland sehr seltenen Zeit¬ 
schrift. — Soweit sind wir über die Sachlage durch 
eine kritische Be.sprechung der Angaben der Estr. 
de Panamä aufgeklärt Ich sprach nun im Februar 
d. J. mit Herrn Geh. Rat Prof. Dr. R. Virchow 
über die Angelegenheit, die auch ihm neu war. Zu 
meiner grossen P'reude teilte er mir mit, dass er 
die genannte „Revista“ seit Jahren erhalte und an 
die Bibliothek der Medizinischen Gesellschaft gebe. 

Ich bin nun z.Z.mit dem Studium dieser Revista, 
die leider nur bis October 1896 vorhanden ist, 
und erst kompletiert werden muss, beschäftigt und 
werde später hier und an anderer Stelle auf diese 
hochwichtige Angelegenheit zurückkommen. Hier 
sei nur noch bemerkt, dass die gen. Revista eine 
Fülle interessanter Angaben über den Stand der 
Lepra in Colombia enthält, das Verhalten der Re¬ 
gierung und der Academia Nacional de • Medicina 
in Bogota mir — nach flüchtiger Durchsicht der 
Nummern vom Mai bis Oktober 1896 — als völlig 
korrekt erscheint, und die Estr. de Panamä seit Mitte 
Dezember 1896 keinen Artikel über die Leprafrage 
gebracht hat. 


Betrachtungen und kleine Mitteilungen. 

Planet Venus. Obgleich uns dieser Planet von 
allen am nächsten kommen kann, so ist unsere 
Kenntnis über seine Oberflächenbeschaffenheit und 
betreffs seiner rotatorischen Bewegung doch noch 
eine sehr spärliche zu nennen, namentlich wenn 
man sie mit dem vergleicht was wir 2. B. über den 
Mars wissen. Schon ein kleines Fernrohr lässt auf 
die.sem Planeten einzelne Details durch ihre hellere 
und dunklere Färbung leicht unterscheiden, während 
auf der Venusscheibe auch die grössten Instrumente 
bisher mit Sicherheit Einzelheiten nicht erkennen 
Hessen. Wohl haben manche Beobachter geglaubt, 

*1 S. Engicr 11. Pr.mtl, Nalilrliche Fflanzfn.F.nmilien und Ge¬ 
nera. I. Teil, Ableil. la S. 93 in I.icf^. 199. Leipzig, Wilh. 
Engelmaon, 1896. 


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Betrachtungen und kleine Mitteilungen. 


271 


solche fleckenahnliche Verschiedenheiten, oder un- 
leiche Gestalt der Körnerspitzen zu verschiedenen 
eiten gesehen zu haben, aber die Erscheinungen 
waren so unbestimmter Art, dass sie von anderen 
Beobachtern nicht wiedtergesehen oder in ganz ab¬ 
weichender Weist! beschrieben worden sind. Es sei 
hier nur an das erinnert, was vor 100 Jahren Schrö¬ 
ter in Lilienthal, was später auch Andere alles ge¬ 
sehen haben wollten, ln neuerer Zeit haben sich 
nun wieder mehrere Astronomen, welche im Be¬ 
sitze grosser Fernrohre oder durch die Durchsich¬ 
tigkeit der Luft an ihren Beobachtungsorten be¬ 
günstigt sind, mit dem Studium der Oberfläche der 
Venus beschäftigt, namentlich um aus dem Wandel 
und dem Wiedererscheinen etwa wahrgenommener 
Details auf die Zelt zu schliessen, in der sich der 
Planet um seine Axe dreht, wie es die Erde in 
einem Tage thut. Ein Teil der Beobachter gibt 
diese Umdrehungszeit ebenfalls auf sehr nahe 24 
Stunden an. Andere mit dem berühmten italienischen 
Astronomen Schiaparelli, dem besten Kenner der 
Planetenoberflächen, an der Spitze setzen diese Zeit 
auf nahe 225 Tage, nämlich auf dasselbe Intervall, 
in dem der Planet seine Umlaufzeit um die Sonne 
vollendet. Es würden also ähnliche Verhältnisse 
stattfinden wie bei unserem Mond im Verhältnis 
zur Erde. Die wahrgenommenen „Flecken“ «auf der 
Venusoberfläche erscheinen nämlich so unscharf 
und unsicher, dass man ihre etwaige erkennbare 
Ortsveränderung innerhalb einiger Stunden nicht 
sicher festlegen kann. Dreht sich nun die Venus 
in nahe 24 Stunden einmal um ihre Axe, so wird 
sie uns jeden Abend nahezu dieselbe Seite zuwen¬ 
den. Da nun die Zeit, während welcher in den 
günstigsten Stellungen der Planet beobachtet wer¬ 
den kann, immer nur wenige Stunden umfasst (an 
einem Abend), so würde also thatsächlich erst im 
Laufe langer Perioden ein grösserer Teil der 
Venusoberfläche und damit eine erhebliche Orts¬ 
veränderung der Flecken wahrnehmbar sein. Eben¬ 
so verhält es sich aber auch in dem Fall, dass der 
Planet eine sehr langsame Rotation besitzt: Dann 
würden wir auch an jedem Abend wieder nahezu 
dieselben Teile seiner Oberfläche sehen. Die Sache 
wird nun noch dadurch erschwert, dass dann, wenn 
der Planet uns näher und näher kommt, er also 
scheinbar immer grösseren Durchmesser zeigt, wir 
immer nur kleinere Teile seiner Oberfläche sehen, 
bis er bei seiner unteren Conjunktion nahezu ganz 
unsichtbar wird. Einen je grösseren Teil der uns 
zugewandten Oberfläche wir sehen, desto kleiner 
wird aber auch die Scheibe, und dann sind Details 
aus diesem Grunde nicht mehr zu erkennen. Es 
ist also nach dem eben Gesagten einzusehen, wa- 
nim wir über den Planeten noch so wenig Sicheres 
wissen. Vor einiger Zeit und wieder ganz neuer¬ 
lich sind von zwei Stellen Beobachtungen der Venus 
bekannt gemacht worden, welche sich direkt wi¬ 
dersprechen; von denen allerdings die letzteren 
immerhin das grössere Vertrauen verdienen möch¬ 
ten, wenn es auch auffallend erscheint, dass so aus¬ 
gesprochene Streifen und Flecken bisher sollten 
unbemerkt geblieben sein. Die erstere dieser Be¬ 
obachtungsreihen rührt von H. Leo Brenner, Astro¬ 
nom auf der Mauora Sternwarte zu Lussinpiccolo,*) 
her, der mittelst eines verhältnissmässig kleinen 
Refraktors eine bedeutende Menge Details auf der 
Venus gesehen haben will. Er findet seine Beo-, 
bachtungen in den Zeichnungen Trouvellots und 
N i e s t e n s bestätigt, obgleich diese in gleicher Be¬ 
stimmtheit ihre Ansicht nicht ausgesprochen haben. 
Brenner will binnen kurzer Zeit eine Ortsverände¬ 
rung der Flecken wahrgenommen haben, die ihm 


t) AstroD. Nachr. Nr 3300 u. 3314 u. Astron. Nachr. Nr. 3347. 


eine Rotationszeit von 2381.57 M. ergeben. Diese Orts¬ 
veränderung müsste sowohl in Bezug auf den Rand 
des Planeten als auch in Vergleich mit der Licht¬ 
grenze der Venusphase stattfinden. Nimmt man 
dagegen die Rotationszeit gleich der der Umlaufs¬ 
zeit an, so wird die Venus der Sonne stets fast genau 
dieselbe Halbkugel zuwenden, wie es bei dem Mond 
der Erde') gegenüber der Fall bt, und es muss daher 
die Lichtgrenze immer durch dieselben Teile der Ve¬ 
nusoberfläche gehen (die eine Hälltewird in stetesDun- 
kel gehüllt sein). Die Folge davon wird w’eiterhinsein, 
dass die wahrgenommenen Flecken in Bezug auf ihre 
Lage zur Lichtgrenze unveränderlich erscheinen 
müssen. Dies will nun in den letzten Monaten 
Mr. Lowe 11 auf seinem Observatorium mjt Hülfe 
eines weit grösseren Refraktors (24 Zoll engl. Öffnung) 
wahrgenommen haben, wie er in den „Astron. Nachr.“ 
Nr. 3406 eingehend mitteilt. Die dort gegebenen 
Zeichnungen deuten allerdings auch Details der 
Venusoberfläche von auffallender Deutlichkeit an, 
so dass es auch da noch verwunderlich erscheinen 
muss, dass man früher noch so wenig und so Un¬ 
sicheres davon wahrgenommen hat. Die Beobach¬ 
ter an den grössten Instrumenten der Neuzeit 
sprachen sich allerdings auch zumeist in Lowell’s 
Sinne aus, so namentlich auch Per rot in (Nizza), 
w’ie schon erwähnt, Schiaparelli und Andere. 
Bei Phaenomenen, die an der Grenze der Sichtbar¬ 
keit liegen, ist grosse Vorsicht geboten, wenn das, 
was man gesehen zu haben glaubt, richtig und mit 
Umgehungen aller Täuschungen gedeutet werden 
soll. Deshalb dürften auch die weiteren Schlüsse, 
welche Mr. Lowell an seine Wahrnehmungen knüpft, 
mit grosser Vorsicht aufzunehmen sein. Dahin ge¬ 
hören die Annahme der Abwesenheit jeglicher 
Wolkengebilde in der Atmosphäre der Venus, (er 
will die Flecken stets in gleicher Deutlichkeit ge¬ 
sehen haben) während er eine solche als sicher 
annimmt. Bisher hat man für die Venus sogar eine 
sehr ' dichte Atmosphäre angenommen. Daraus 
würde weiter auf die Abwesenheit des Wassers zu 
schliessen sein und Lowell selbst sagt zuletzt, dass 
auch von Eiscolotten wie sie Mars an seinen Polen 
zeigt nichts zu sehen sei und er meint, dass der 
Planet eine ,im Ganzen gleichförmige und einer 
Wüste nahekommende Oberfläche besitze. Dr. a 


Wie kultiviert man blaue Hortensien? 

Die Hortensie (Hydrangea hortensis), welche um 
das Jahr 1790 aus den chinesischen Gärten nach 
England und um 1800 nach Frankreich eingeftlhrt 
worden sein soll» ist eine wegen ihrer schönen 
Blättern und Blüten sehr beliebte, ohne besondere 
Pflege gut gedeihende Zierpflanze. Die Blüten sind 
gewöhnlich rosarot gefärbt, doch kann man durch 
Anwendung gewisser Erden auch eine blaue Farbe 
erzielen. Was das wirksame in diesen Bodenarten 
sei, das die Bläuung der Hortensienblüten bewirkt, 
darüber wusste man bisher gar nichts. Um die 
wahre Ursache dieser Erscheinung zu ermitteln, 
hat Molisch seit Jahren zahlreiche Experimente 
gemacht und ist dadurch zu sehr interessanten Re¬ 
sultaten gelangt, die nicht allein von wissenschaft¬ 
licher, sondern auch von der grössten praktischen 
Bedeutung sind. 

Die blauen Hortensienblüten sind, wie Molisch 


') Durch die geringe Excentriciiai der Vemisbahn wird eine 
sogen. Libration, d. h. eine Schwankung de^enigen Punkten, 
io welchem die Zentrallinie Sonne-Venus die Oberilächc dieser 
schneidet, um seine mittlere Lage, nur im Betrage um 47 Bogen- 
minuleo bewirkt. Beim Eramond k.iuu diese Schwankung bis 
zu 10° betragen. 


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272 


Betrachtungen und kleine Mitteilungen. 


hl seiner Arbeit*) angiebt, seit langer Zeit bekannt; 
schon Schübler sagt 1821, dass er aus der Um¬ 
gebung von Frankfurt eine Erde erhalten habe, in 
welcher die Hortensie blaue Bloten hervorbrachte; 
die grosse Menge von Kohle und Humus in der¬ 
selben hielt er fOr die wirksamen Bestandteile. In 
England soll man sich zur Bläuung der genannten 
Bloten einer kaffeebraunen Erde bedienen, welche 
einen starken Gehalt an Eisenoxyd und Töpferthon 
hat Auch bedient man sich hier zu demselben 
Zwecke des Alauns, was bereits Darwin erwähnt. 
In anderen Ländern benützen die Gärtner verschie¬ 
dene andere Erdarten. Wenn man bedenkt, wie 
verschieden die Stoffe sein können, welche eine 
Erde zusammensetzen, so ist es begreiflich, dass 
man Ober die wirksame Substanz bisher vollstän¬ 
dig im Unklaren, war. Und doch ist die nähere 
Bestimmung dieses Stoffes nicht allein für Gärtner 
und Blumenliebhaber, sondern auch für Botaniker 
von Bedeutung, da die Hortensie das einzige be¬ 
kannte Beispiel ist, dass eine BlOtenfarbe von der 
Bodenart beeinflusst wird. 

MoHsch prüfte eine grosse Anzahl von chemisch 
genau bestimmten Stoffen bezüglich ihres Einflus¬ 
ses auf die Hortensienbloten und zwar an vielen 
Hunderten von Exemplaren. Von den Resultaten 
dieser Versuche sei nur das Wichtigste hervorge¬ 
hoben : Durch gewöhnlichen Alaun wird zumeist 
eine stärk bläuende Wirkung erzielt, wenn derselbe 
in entsprechender Menge der Erde beigefügt 
wird. Da aber der Alaun bekanntlich aus schwe¬ 
felsaurer Thonerde und schwefelsaurem Kali be¬ 
steht, musste die Frage entschieden werden, wel¬ 
ches dieser beiden Salze das Blauwerden bewirkt. 
Die mit schwefelsaurem Kali behandelten Pflanzen 
blieben stets rot, wogegen die Blüten jener Pflan¬ 
zen, zu deren Erde schwefelsaure Thonerde hinzu¬ 
gefügt worden war, eine intensive himmelblaue 
Farbe zeigten. — Mit Eisenvitriol wurden ebenfalls 
positive Resultate erzielt, doch waren die Blüten 
nicht so intensiv blau, wie bei Anwendung von 
schwefelsaurer Thonerde. 

Was die geprüften Erden anbelangt, so wurde 
durch die Moorerde aus Wittingau in Böhmen und 
die Heideerde aus Cibulka bei Prag eine sehr günst¬ 
ige Wirkung erzielt; die Blüten waren intensiv 
blau. Damit wurde der Beweis Erbracht, dass ge¬ 
wisse Erdarten auch ohne Beifügung anderer Mit¬ 
tel den gewünschten Erfolg haben. — Die ange¬ 
wandten Bodenarten werden nun chemisch analy¬ 
siert und die einzelnen in denselben befindlichen 
Stoffe auPs Neue auf ihre Wirksamkeit geprüft 
werden. 

Molisch hat auch die Frage beantwortet, wie 
die blaufärbenden Substanzen auf die - Blüte ein¬ 
wirken. Der Farbstoff in den Hortensienblflten ist 
sogen. Anthothyan, wie es in sehr vielen roten und 
blauen Bloten vorkommt. Fügt' man zu roten Hör- 
tensienblOten eine verdünnte Lösung von schwefel¬ 
saurer Thonerde oder Eisenvitriol, so werden die¬ 
selben schön blau. 

Da Eisenvitriol und schwefelsaure Thonerde 
relativ teuer sind, so empfiehlt es sich, zur Kul¬ 
tivierung von blaublühenden Hortensien Alaun zu 

*1 .Der Einfluss des Bodens auf die BlOtenfarbe der Hor¬ 
tensien.“ Botanische Zeitung 1897, Heft 3. 


verwenden. Wem aber gute Moor- oder Heide, 
erde zur Verfügung steht, der wird eines anderen 
Mittels entbehren können. n. 

• ' 

• • 

Künstliche Erzeugung von Edelsteinen. Über 
künstliche Diamanten wurde in Nr. 10 der »Um¬ 
schau“ berichtet. Auch andere Edelsteine hat man 
künstlich herzustellen gesucht. Das Material dazu 
ist Ja leicht in beliebiger Reinheit zu erhalten, denn 
die meisten Edelsteine bestehen nur aus Thonerde, 
aus Kieselsäure oder aus Verbindungen beider, 
denen geringe Beimengungen anderer Substanzen 
die verschiedene Färbung erteilen; es handelt sich 
also nur darum, den Weg zu ermitteln, auf wel¬ 
chem die Natur diesen Körpern die Krystallform, 
die Härte und den ausserordentlichen Glanz gege¬ 
ben hat. In gewissem Grade ist der Versuch auch 
manchmal gelungen; man hat Thonerde mit Spuren 
von Chromverbindungen geschmolzen und durch 
langsame Abkohlung Rubine oder Sajjhire erhal¬ 
ten; Opale wurden mittelst des elektrischen Stro¬ 
mes aus Silikaten abgeschieden. Aber es waren 
doch nur winzige Ezemplare, die zwar die Form, 
Farbe und Härte der natürlichen Krystalle besas- 
sen, ihnen aber an Glanz und Schönheit nach¬ 
standen. Die besten Erfolge gab der Spinell, eine 
Verbindung von Thonerde und Magnesia; aus ge¬ 
schmolzener Borsäure, die als Lösungsmittel diente, 
wurde die bezeichnete Verbindung bei hoher Tem- 
eratur in Krystallexemplaren von grosser Schön- 
eit und der Grösse der natürlichen Edelsteine, von 
welchen sie kaum zu unterscheiden waren, abge¬ 
schieden. Praktisch hat auch dieser Erfolg, so lange 
das Verfahren schwierig und sein Gelingen noch 
so sehr wie jetzt vom Zufalle abhängig ist, keine 
sonderliche Bedeutung; als erster Schritt auf einem 
Wege, der bis jetzt völlig umgangbar schien, ver¬ 
dient er aber immerhin signalisiert zu werden, b. d. 

« « 

Prof. Dr. Carl von den Steinen, der Vor- 

f änger Wissmanns im Vorsitz der Gesellschaft für 
rdkunde, der sich insbesondere durch seine Forsch¬ 
ungsreisen in Zentralbrasilien verdient und bekannt 
gemacht hat, beabsichtig nach zehnjähriger Pause 
wieder eine grössere wissenschaftliche Reise, dies- 
,mal nach der östlichen Südsee, zu unternehmen. 
Sein Ziel ist die noch w’enig erforschte Inselgi^pe 
der Markesas-Inseln, deren Bewohner zum Tneil 
noch Menschenfresserei zu Kultuszwecken treiben 
und politisch zum französischen Kolonialbesitz ge¬ 
hören. Prof. V. d. Steinen unternimmt die Reise, 
die ihn über New-York und San Francisco führt, 
allein und wird sie voraussichtlich im Mai d. J. 
antreten. Ihre Dauer ist auf i —1V4 Jahr berechnet. 

—r. 


Der Flug der Enten. Durch einen Zufall ge¬ 
lang es, auf dem meteorologischen Observatorium 
zu Bkie Hill die Geschwindigkeit des Entenfluges 
zu bestimmen. Sie beträgt 76,5 Kilometer pro 
Stunde oder rund 20 Meter in der Sekunde. Pr. 


No. 16 der Umschau wird enthslteu: 

Riemaan, Die Musik im Wioter 1896.97. ~ Eifert. Die Geogra¬ 
phie in den letzten Jahren, (i. Amerika). — Ebstein, Entzieh- 
ungs- und Mastkuren. — V'ogt, Wirksamkeit der Post im Dienste 
der OffcDtlichen Wohlfahrt. — Reh, Hunde- und Bartmcnschen 
— Halbfass, Die Seen Ungarns. — Dessau. JohanniskäferlichL 
— Ambronn, Der Planet Jupiter. 


G. Horstmann's Druckerei. Frankfurt a. M. 


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DIE UMSCHAU 

ÜBERSICHT ÜBER DIE FORTSCHRITTE ÜND BEWEGUNGEN AUF 
DEM GESAMTGEBIET DER WISSENSCHAFT, TECHNIK, 
LITTERATUR UND KUNST p„, 


Wocheotlich eine Nummer. 

Za beziebea durch 
»Ile BnchhAudlungea und 
PosUinstalten. 

Poutzeitungspreisliste No. -jaazi. 

Verlag von: 

H. Becbhold Verlag, Frankfurt a. M. 


berausgegebeu von 

DR. J. H. BECHHOLD 


Neue Krame igiai. 


M. a.so. 

Jahres-Abonnement 
Preis M. IO.— . 

Im Ausland nach Court. 
Verantwortlicher Redakteur: 

Otto Adolf Wolters, Frankfurt a. M. 


i6. I. Jahrg. 


Nachdruck au$ dem Inhalt der Zcitaehrifi ohne Erlauknia 
der üedaklioM verboten. 


1897. 17. April. 


Entziehungs* und Mastkiu'en. 

Von Geh. Med-Rat Prof. Dr. Wilhelm Ebstein. 

Die Entziehungs» und Mastkuren sind ein 
auch in Laienkreisen so geläufiges Gesprächs¬ 
thema, dass man fast versucht sein möchte, 
anzunehmen, es sei kein Bedürfnis vorhanden, 
diesen Gegenstand in dieser Zeitschrift von 
fachmännischer Seite zu besprechen. Da 
aber die Redaktion mir gerade diesen Gegen¬ 
stand zu einer kurzen Bearbeitung vorge¬ 
schlagen hat, will ich, die Bedürfnisirage 
nicht weiter erörternd, diesem Wunsche ent¬ 
sprechen, in der Hoffnung, dass diese Zeilen 
vor allem dazu beitragen werden, die Laien 
zur Vorsicht zu mahnen, bevor sie an ihrem 
Körper diese jedenfalls recht eingreifenden 
Kuren erproben. Kein Laie kann darin sein 
eigener Ratgeber sein. Weder in der Ent¬ 
scheidung der Frage, ob eine Entziehungs¬ 
oder Mastkur bei ihm einzuleiten sei, noch 
in der Art ihrer Durchführung. Ich habe oft 
genug Menschen getroffen, denen man nach 
ihrem Bildungsgänge eine bessere Einsicht 
Zutrauen sollte, welche sich eine solche Kur 
nach ihrem Belieben zurechtstutzen, gestützt 
auf ein unverstandenes Buch, ohne jedes Ver¬ 
ständnis ftlr das, was ihnen frommt. 

Was nun zunächst die Entziehungskuren 
anlangt, so ist ihre Geschichte alt, und zwar 
legte man in früherer Zeit besonders auf die 
Hungerkuren als Mittel bei den verschiedens¬ 
ten Krankheiten ein grosses Gewicht. Be¬ 
reits Hippokrates (geb. ca. 460 v. Chr.) em¬ 
pfiehlt bei den Körperkonstitutionen, welche 
mit einem sehr feuchten Fleische begabt sind, 
den Hunger, und Celsus empfiehlt die Ent¬ 
haltsamkeit von Speisen und den Hunger 
nicht nur in fast allen Krankheiten des Ma¬ 
gens, sondern auch bei allen den Krankhei¬ 
ten, welche seiner Ansicht nach einem zu 
grossen Überflüsse der Blutflüssigkeit ent¬ 
springen. 

Uaweh«! 1897. 


Der berühmte und angesehene Arzt Fried¬ 
rich Hoffmann, welcher in den ersten Jahr¬ 
zehnten des achtzehnten Jahrhunderts wirkte, 
und nicht nur an der Hallenser Universität, 
wo er lehrte, sondern weithin einen bestim¬ 
menden Einfluss ausübte, giebt an, mit seinen 
Diät- und Hungerkuren eine Reihe schwerer 
Krankheiten, so z. B. den Scorbut des Mun¬ 
des und die Blutfleckenkrankheit zur Heilung 
gebracht zu haben. In einem im Jahre 1822 
erschienenen Buche hat ein praktischer Arzt 
L. A. Struve eine grosse Reihe von Fällen 
mitgeteilt, bei welchen diese Entziehungs- und 
Hungerkuren in eingewurzelten chronischen 
Krankheiten in der Regel von einem glück¬ 
lichen Erfolge begleitet waren. In die Reihe 
der Hungerkuren gehört auch die Schroth’sche 
Kur. Dieselbe wurde von dem Naturarzt 
Schroth, gest. 1856 zu Lindewiese in österr.- 
Schlesien angegeben und hat sich eine ge¬ 
wisse Volkstümlichkeit erworben. Diese Be¬ 
handlungsmethode besteht, abgesehen von Ein¬ 
packungen in nasse Tücher und ähnlichen Was¬ 
serprozeduren, im wesentlichen in der Dar¬ 
reichung einer trockenen Diät während einer 
längeren Zeit. Altbackene Semmel spielt da¬ 
bei die Hauptrolle, weshalb man die Schroth- 
'sehe Kur auch häufig als Semmelkur bezeich¬ 
net. Der Genuss von Wasser ist ausge¬ 
schlossen und zur Stillung des Durstes wer¬ 
den nur sehr geringe Mengen weingeistiger 
Getränke gestattet. Dass eine solche Behand¬ 
lung einen mächtigen Einfluss auf den Kör¬ 
per haben muss, liegt auf der Hand, und es 
kann dieser Methode bei gewissen Krank¬ 
heitszuständen auf Grund der Erfahrungen 
wissenschaftlicher Ärzte eine Wirkung nicht 
abgesprochen werden. Bei unvorsichtiger 
Durchführung der Schroth’schen Methode hat 
man den Eintritt hohen Fiebers und sogar 
einen tötlichen Ausgang beobachtet. Selbst¬ 
verständlich wird man eine solche Behand¬ 
lungsweise, welche für den Kranken mit so 

16 


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274 


Ebstein, Entziehungs- und Mastkuren. 


erheblichen Opfern und für den Arzt mit 
einer grossen Verantwortung verbunden ist, 
nur in den Fällen für angezeigt erachten 
dürfen, bei welchen man die Heilung auf 
keine andere Weise herbeiführen kann, d. h. 
wenn bereits die übrigen schonenderen und 
gefahrlosen Heilmethoden, ohne zum Ziele zu 
führen, angewandt worden sind. Die Entzieh¬ 
ungskuren, welche heut im Gebrauche sind, 
beziehen sich fast nur auf Einschränkungen 
einzelner Nahrungsstoffe in mehr oder min¬ 
der grossem Umfange. Es handelt sich da¬ 
bei in erster Reihe um die Beschränkung 
des Genusses von Fett und der sogen. Koh¬ 
lenhydrate, insbesondere von Stärkemehl und 
zuckerigen Speisen, sowie endlich um die 
Beschränkung des Flüssigkeitsgenusses oder 
wie man sich kurz ausdrückt, um Flüssigkeits¬ 
entziehung. Diese Entziehungskuren werden 
heutzutage fast ausschliesslich bei der Be¬ 
handlung der Fettleibigkeit (Korpulenz) und 
ihrer Folgezustände benutzt. Auf eine Ein¬ 
schränkung der Zufuhr von Eiweisskörpern, 
welche neben den obengenannten Nahrungs- 
stoffen (den Fetten und den sogen. Kohlen¬ 
hydraten) sowie dem Wasser und den Salzen 
die unerlässlichen Nahrungsstoffe bilden, hat 
es dabei niemand mehr abgesehen, wofern 
nicht die für den gesunden Menschen zuläs¬ 
sigen Gewichtsmengen erheblich überschrit¬ 
ten wurden. Im Gegenteil hat sich eine der 
bekanntesten sogen. Entfettungskuren die Auf¬ 
gabe gestellt, ihr Ziel durch eine recht an¬ 
sehnliche Vermehrung der Eiweisskörper der 
Nahrung zu erreichen. Bei der Besprechung 
der Hantingkur werde ich dai*auf zurück zu 
kommen haben. Die Aufgabe, welche jede 
verständig geleitete Behandlung der Fettlei¬ 
bigkeit anstrebt, könnte ohne sehr verwickelte 
Kurmethoden erreicht werden, wenn die be¬ 
treffenden Menschen ohne Weiteres zu einer 
verständigen Lebensweise erzogen werden 
könnten. Bei der Behandlung der Fettleibig¬ 
keit. welche nur einen Schwund des über¬ 
flüssigen Körperfelles anstrebt, müssen alle 
Massnalimen vennietien werden, welche auch 
den Schwund der übrigen Körpergewebe ver¬ 
anlassen und die somit notwendig Erschöpf¬ 
ungszustände veranlassen dürften. Dass man 
mit den einfachsten Hilfsmitteln in der ver- 
stäitdigsten Weise die Fettleibigkeit zu be¬ 
seitigen imstande ist. lehrt die köstliche all- 
iH'kannte Erzählung Johann Peter Hebe Ts 
von dem reichen dicken Amsterdamer, wel¬ 
chen der hundert Stunden von ihm entfernt 
wohnende Arzt seines Vertrauens zu einer 
versiändigt'n Lebensweise ermahnte und zu 
Kuss zu sich kommen Hess, um den Lind- 
\v\mn. welchen er im Leib habe, zum Ab- 
sterben zu bringen. Dieser Kranke wurde, 


nachdem er ein tüchtiger Fussgänger gewor¬ 
den war, Holz sägte und dabei nicht mehr 
ass, als ihn der Hunger gemahnte, so ge¬ 
sund wie ein Fisch im Wasser und erreichte 
ein Alter von 87 Jahren, 4 Monaten und 
18 Tagen. Diese einfache, verständige Art 
der Behandlung, welche so glänzende Ergeb¬ 
nisse zu liefern vermag, wird indessen selten ge¬ 
übt. Die Mehrzahl der Menschen verlangt weit 
eingehendere Vorschriften, eine bestimmte 
Tages- und Kostordnung, wobei eine still¬ 
schweigende Voraussetzung ist, dass dadurch 
in einer möglichst kurzen Zeit und ohne 
nennenswerte Beschwerden und Entbehrungen 
das angestrebte Ziel erreicht wird. Ich will 
die diätetischen Vorschriften der Entziehungs¬ 
kuren, welche in neuester Zeit die meiste 
Aufmerksamkeit erregt haben und am häufigs¬ 
ten gebraucht werden, hier kurz erörtern. 
Die sogen. Bantingkur, ist nicht von dem 
Manne dessen Namen sie trägt, erfunden, 
auch nicht von seinem Arzte Harvey, wie 
dies gewöhnlich angenommen wird, sondern 
im wesentlichen wohl von Th. K. Chambers 
(1850). Jedenfalls hat Banting das Verdienst 
die Methode in einem liebenswürdigen Briefe 
an das Publikum im Jahre 1863 unter Be¬ 
zugnahme auf seine eigene glückliche und 
erfolgreiche Kur geschildert zu haben. Die 
Bantingkur besteht im wesentlichen darin, 
dass der Patient vorzugsweise Fleischspeisen 
geniesst. Mehlhaltige Speisen, Kartoffeln, 
Zucker sind teils gänzlich verboten, teils so¬ 
weit wie möglich eingeschränkt. Fette sind 
verpönt. Alkohol, mit Ausnahme von ge¬ 
wöhnlichem Wein ist ausgeschlossen. Es ist 
die Bantingkur der Hauptvertreter der Fett¬ 
entziehungskuren. Sie gründen sich auf das 
Vorurteil, dass alles Fett, was man geniesst, 
schlechterdings fett mache und unter allen 
Umständen die Fettleibigkeit steigere. Die 
Bantingkur, bis zum Anfang der 80er Jahre 
fast die allein geübte Entfettungsmethode, ist 
im Laufe der Zeit immer mehr in den Hin¬ 
tergrund getreten. Die Bantingkur ist zwar 
eine erfolgreiche Entfettungsmethode, da 
aber der bei ihr geforderte sehr reichliche 
Fleischgenuss, sowie die zu grosse Ein¬ 
schränkung der stickstofffreien Nahrungsstoffe 
erfahrungsgemäss oft nicht nur schlecht ver¬ 
tragen wird, sondern sogar die Gesundheit 
schwer schädig^, und da die Bantingkur end¬ 
lich im günstigsten Falle nur eine zeitweise 
Anwendung gestattet, so erfüllt sie nicht alle 
die Bedingungen, welche man an eine ratio¬ 
nelle Entfettungskur zu stellen berechtigt ist 
Eine solche Behandlungsmethode muss, nach¬ 
dem ihr Zweck d. h. do" Schwund des über¬ 
schüssigen Körperfettes erzielt ist. mit den 
sich als notwendig ergebenden Veränderungen 


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Ebstein, ENTZiEmracs- und Mastkuren. 


275 


fortgesetzt werden können, ohne für den 
Kranken'-unangenehme Folgen zu haben und 
ohne zu grosse Einschränkungen von ihm zu 
verlangen; denn wenn der an Fettleibigkeit 
leidende und zu derselben neigende Kranke, 
nach seiner Heilung zu seiner früheren, sei¬ 
nen körperlichen Verhältnissen nicht entspre¬ 
chenden Lebensweise zurückkehrt, wird er 
sehr bald wieder der Fettleibigkeit verfallen. 
Angesichts dieser der Bantingkur anhaften¬ 
den Mängel, welche auch von ihren Ver¬ 
ehrern zugestanden worden sind, schlug ich 
im Jahre 1882 eine andere Ernährungsweise 
für Fettleibige vor. Dieselbe trägt dem Ei¬ 
weissbedürfnisse der Patienten, entsprechend 
ihren persönlichen Verhältnissen ausreichend 
Rechnung, sie beschränkt den Genuss der 
Kohlenhydrate auf das möglichst geringe zu¬ 
lässige Mass, gestattet den Patienten dagegen 
eine entsprechende Menge Fett, im wesent¬ 
lichen in Gestalt bester Butter. Es handelt 
sich bei meiner Behandlungsmethode nicht, 
wie der Unverstand wohl gemeint hat,.um 
eine Fettkur, denn ich habe den Kranken 
nur ein tägliches Fettquantum zugebilligt, 
welches hinter der den nicht fetten und nicht 
schwerarbeitenden Menschen gewährten Fett¬ 
menge weit zurückbleibt. Ich bin in der 
Regel über 60—100 grm Fett pro Tag nicht 
hinausgegangen. Die ärztliche Erfahrung hat 
ergeben, dass die Fettleibigen bei der nach 
meinen Vorschriften geregelten Lebensweise 
nicht nur nicht fetter geworden sind, sondern 
dass sie allmählich und zwar bei gleichzei¬ 
tiger Zunahme ihrer körperlichen und geis¬ 
tigen Leistungs- und Arbeitsfähigkeit, ihr 
überflüssiges Körperfett eingebüsst haben, 
während gleichzeitig die dadurch bedingten 
krankhaften Symptome zurOckgingen. Soweit 
ich heute die Verhältnisse übersehe, erkläre 
ich mir diese Erfolge im wesentlichen dadurch, 
dass die bei der von mir vorgeschlagenen 
Ernährungsweise der Fettleibigen ohne jede 
Störung der Magenthätigkeit sich sehr bald 
herausstellende Verminderung des Hunger- 
und Durstgefühles, eine Herabsetzung des 
früheren zu reichlichen Nahrungsquantums 
auf das normale Mass erheblich erleichtert. 
Bereits Hippokrates empfiehlt den Fettleibigen 
eine fette Nahrung, wobei sie sich am ehes¬ 
ten sättigen werden. Auf die Beschränkung 
des Durstgefühls bei Fettgenuss istvonLoew 
aufmerksam gemacht worden, welcher in heis¬ 
sen Klimaten dabei stets ein geringeres Was¬ 
serbedürfnis beobachtete, der Durst machte 
sich dabei entschieden weniger fühlbar. In 
seinem bekannten Werke „AufSchneeschuhen 
durch Grönland“, führt der berühmte Nord¬ 
polfahrer Fridtjof Nansen an, dass er und 
seine Begleiter auf der sehr anstrengenden, 


mehrere Wochen dauernden Reise am liebs¬ 
ten die Butter mitten am Tage genossen 
hätten, da sie der Ansicht waren, die Butter 
lösche allein genossen den Durst, was — so 
heisst es weiter — vielleicht eine einzig da¬ 
stehende Erfahrung ist, wenn man bedenkt, 
dass die Butter gesalzen war. Die von mir 
bei der Fettleibigkeit empfohlene Diätform ist 
nur insofern eine Entziehungskur, als sie die 
froher von den Kranken im Übermasse 
genossenen Nahrungsstoffe auf das in ihren 
individuellen Verhältnissen entsprechende 
Mass einschränkt, derart, dass nur Fett da¬ 
bei verloren geht. Ich lege bei meiner Me¬ 
thode ein besonderes Gewicht auf die Be¬ 
schränkung der sogen. Kohlenhydrate (Kar¬ 
toffeln, mehlhaltige Dinge, Zucker u. s. w., 
die von mir gestattete verhältnismässig geringe 
Fettmenge leistet als Nahrungsstoff so viel, 
wie eine zweieinhalb mal so grosse Menge von 
Kohlenhydraten. Diese von mir geforderte 
Beschränkung der Kohlenhydrate, welche 
von manchen Fettleibigen, die vorher gerade 
diesen Nahrungsstoff häufig im Übermass ge¬ 
nossen haben, insbesondere durch die Herab¬ 
setzung ihres früheren Brotquantums unan¬ 
genehm empfunden wird, kann durch Ge¬ 
staltung eiweissreicheren Brotes sehr wohl 
umgangen werden. Ein solches eiweiss¬ 
reicheres Brot von ungefähr 20 — 30 Prozent 
Eiweissgehalt in der Trockensubstanz, ist 
mit Hilfe des Aleuronats(Hundhausen’sPflan- 
zeneiweiss) leicht möglich. Man kann damit 
ohne eine die Kur schädigende Erhöhung 
der Zufuhr von Kohlenhydraten dem Kran¬ 
ken mehr Brot zuführen, als von einem 
Brote, welches, wie das gewöhnliche Weizen¬ 
brot nur 6 — 7 Proz. Eiweiss enthält, oder 
von dem etwas stärker eiweisshaltigen Rog¬ 
genbrot. Der Genuss des tierischen Eiweis- 
ses wird demgemäss leicht in der dem indi¬ 
viduellen Bedürfnisse entsprechenden Weise 
auf das richtige Mass eingeschränkt werden 
können. Meine Diätvorschriften, welche sich 
von der gewöhnlichen von gesunden massigen 
Menschen geübten Lebenweise kaum unter¬ 
scheiden, bieten, wie schon bemerkt, als Ne¬ 
benwirkung ganz von selbst eine erhebliche 
Einschränkung des bei Fettleibigen meist stark 
hervortretenden Durstgefühls. Sie gestatten 
ohne jedes Opfer eine erhebliche Einschrän¬ 
kung der Flüssigkeitszufuhr, auf welche bei 
der Behandlung der Fettleibigkeit seit alten 
Zeiten ein grosses Gewicht gelegt worden 
ist. — Bereits der ältere Plinius, (geb. 
23, gest. 79 nach Chr. Geb.) hat den Perso¬ 
nen, welche mager werden wollten, nicht et¬ 
wa den Rat gegeben, weniger zu essen, son¬ 
dern vielmehr während des Essens zu dürs¬ 
ten und nachher wenig zu trinken. Auch meh- 

i6* 


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276 


Ebstein, Entziehungs- und Mastkuren. 


\ 


rere von den Ärzten, welche in neuerer Zeit 
die fettentziehenden Kuren ausgebildet haben, 
empfehlen daneben die Einschränkung der 
Flüssigfceitszufuhr, da lesen wir z. B., dass 
die Fettleibigen den Durst so weit wie mög¬ 
lich ertragen lernen müssen, sowie ferner, 
dass Flüssigkeiten nicht bei der Mahlzeit ge¬ 
nossen werden sollen, sondern eine halbe 
Stunde nachher u. s. w. Es würde den Rah¬ 
men dieser kleinen Arbeit weit überschreiten, 
wollte ich mich weitläufiger in die Geschichte 
der Wasserentziehung bei Behandlung der 
Fettleibigkeit vertiefen. Es ist hier wie bei 
vielen Dingen in der medizinischen Wissen¬ 
schaft und Praxis ergangen. Eine alte be¬ 
kannte Thatsache ist wiederholt entdeckt wor¬ 
den. Jeder meint, dass er sich das Verdienst 
allein zuschreiben müsse. Das ist im Inte¬ 
resse der historischen Wahrheit beklagens¬ 
wert. Zuletzt ist diese interessante Frage 
in München mit besonderem Eifer verfolgt 
worden. Hier ist, soweit ich die Litteratur 
kenne, Dr. J. Steinbacher der Sache 
näher getreten. Nachdem derselbe in seinem 
bereits im Jahre 1864 erschienenen Buche 
Ober die Hämorrhoidalkrankheiten den Ein¬ 
fluss, welchen die Flüssigkeitsentziehung auf 
die Organe des Blutkreislaufes ausübt, er¬ 
wähnt hat, erschien im Jahre 1866 die erste, 
und im Jahre 1868 die zweite Auflage sei¬ 
nes Büchleins: „Asthma, Fettherz, Korpulenz 
(Fettsucht) deren Wesen, Verhütung und 
Heilung durch das Naturheilverfahren mit 
besonderer Berücksichtigung des Banting- 
Systems“. Er warnt vor einer „Parforce-Kur 
ä la Banting“, wodurch nach seinen Beob¬ 
achtungen manche Leidende ihre Zustände 
nicht nur verschlimmerten, sondern auch oft 
selbst „ihr Vorgehen mit dem Leben büssen 
mussten". Solche Erfahrungen veranlassten 
Steinbacher früher als beabsichtigt zu der 
Veröffentlichung seiner Entfettungsheilme¬ 
thode, welche er bereits seit fast zwanzig 
Jahren geübt, und welche er als ein kombi¬ 
niertes und modifiziertes Schroth-Priessnitz- 
’sches Naturheilverfahren bezeichnete. Stein¬ 
bacher legte bei der Entfettungskur ein 
Hauptgewicht darauf, dem Körper von sei¬ 
nen Flüssigkeitsmengen zu nehmen und er¬ 
langte auch bei der Behandlung der Folge¬ 
zustände der Fettleibigkeit zahlreiche glück¬ 
liche Heilergebnisse, indem er überall scharf 
individualisierte und die Eigenart seiner 
Kranken ins Auge fasste. 

Ist nun auch, wie wir gesehen haben, 
Steinbacher nicht der Entdecker der Flüssig¬ 
keitsbeschränkung bei Entfettungskuren, so 
hat er dieselbe doch lange vorher angewandt, 
ehe die bekannten Veröffentlichungen über 
die Bantingkur veröffentlicht wurden. Er hat 


die Methode der Behandlung in mancher Be¬ 
ziehung erweitert und ergänzt und in aus¬ 
gedehnter ärztlicher Praxis verwertet. Nach 
ihm ist auf Grund der in der Ernährungs¬ 
physiologie gemachten Fortschritte freilich 
manches gebessert worden. In dieser Be¬ 
schränkung aber muss jedenfalls Steinbacher 
als der Vater der modernen Behandlung der 
Fettleibigkeit und ihrer Folgezustände mittelst 
Wasserentziehung bezeichnet werden. Trotz 
mancher Ansichten, welche uns schrullenhaft 
erscheinen, steckt in Steinbacher etwas 
Genialisches, und seitdem ich im Jahre 1888 
auf seine Arbeit hingewiesen wurde, ist es 
mir Gewissenssache geworden, dass der Name 
dieses Mannes, der ein warmes Herz für das 
Wohlergehen seiner Mitmenschen hatte, nicht 
völlig totgeschwiegen werden dürfe. Mögen 
diese Zeilen zur Auffrischung der Erinnerung 
an Steinbacher beitragen. Dass die Be¬ 
schränkung der Getränkzufuhr ein wirksamer 
Faktor bei den Entfettungskuren ist, erscheint 
zweifellos und dass die FlOssigkeitsentziehung 
auch bei den Folgezuständen der Fettleibig¬ 
keit Gutes leisten kann, wenn gleich die theo¬ 
retische Begründung, welche von einer Seite 
dafür aufgestellt wurde, der wissenschaftlichen 
Kritik einer Reihe berufener Forscher nicht 
standhalten konnte, soll ebenso wenig in Ab¬ 
rede gestellt werden. Indessen ist auf der 
anderen Seite nicht zu vergessen, dass der 
schwerer als der Hunger zu ertragende 
Durst ftlr die Patienten eine schlimme Pein 
bildet. Eine befriedigende Erklärung daftlr, 
warum sich die Beschränkung der Getränke¬ 
zufuhr als förderlich bei den Entfettungskuren 
beweist, besitzen wir bis heute noch nicht. 

Körperbewegungen, Muskelübungen u.s.w. 
sind überdies allerseits in der verschiedens¬ 
ten Weise und Ausdehnung gefordert wor¬ 
den, um die Wirkungen dieser Entziehungs¬ 
kuren zu unterstützen und zu fördern. 

Diese Übersicht der Entziehungskuren, 
welche sich übrigens in sehr mannigfacher 
Weise in jedem einzelnen Falle nach seiner 
Eigenart und besonders auch nach der kör¬ 
perlichen* Leistungsfähigkeit des Kranken ab¬ 
ändern lassen, wird ohne weitere Erläuterung 
den Beweis erbringen, wie notwendig es ist, 
dass solche Kuren nur unter sachverständiger 
Leitung begonnen und durchgeftlhrt werden, 
wenn nicht statt des erhofften Nutzens Nach¬ 
teile und sogar körperliches Siechtum aus 
ihnen entstehen sollen. 

Wenden wir uns jetzt zu den Mastkuren, 
so handelt es sich dabei etwa nicht um Ku¬ 
ren, welche das Gegenteil von dem, was wir 
bei den Entfettungskuren erstreben, bewirken 
sollen. Bei den Entfettungskuren soll das 
Körperfett auf das normale Mass herunterge- 


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Ebstein, Entziehungs- und Mastkuren. 


277 


bracht werden, die Muskulatur soll auf ihrem 
normalen Bestände bleiben, bei den Mast¬ 
kuren aber soll nicht nur Fett angesetzt wer¬ 
den, sondern auch die Muskulatur soll zu¬ 
nehmen. Es handelt sich wie bei der Mäs¬ 
tung der Tiere bei den Mastkuren um eine 
durch methodische Fütterung erzeugte Stei¬ 
gerung der Fett- und Fleischmasse. Niemals 
darf aber beim Menschen die Mastkur so 
weit getrieben werden, dass sie zu einer 
Übermästung oder Fettsucht führt. Gegen 
diese Art der Tiermästung, welche zuerst in 
England Mode geworden war, ist nicht nur 
vom medizinischen Standpunkte, weil die 
Tiere sich dabei in einem unvollkommenen 
Gesundheitszustände befinden, sondern auch 
betreffs der Fleischverwertung durchaus be¬ 
rechtigte Einsprache erhoben worden. Es 
handelt sich bei den Mastkuren nicht um 
einseitigen Fettansatz, daran würden die 
Menschen ebenso gut wie die Tiere zu Grunde 
gehen. Ein solcher Fettansatz lässt sich bei 
Tieren bekanntlich leicht durch alleinige Fett¬ 
fütterung erreichen. Magendie fütterte 
Hunde und Boussingault Enten mit Fett 
allein zu Tode aber auch fett. Eine Steige¬ 
rung des Fettansatzes wird nichtsdestoweni¬ 
ger manchmal erstrebt. Bei manchen Völkern, 
bei denen eine übermässige Fettanhäufung 
als eine Zierde des weiblichen Geschlechts 
gilt, wird eine wahre Mästung desselben an¬ 
gestrebt. E. V. Hesse-Wartegg erzählt 
von den tunesischen Jüdinnen, dass sie, kaum 
10 Jahre alt, durch Einsperrung in dunkle 
enge Räume und Fütterung mit Mehlspeisen 
und dem Fleische junger Hunde derart einer 
systematischen Mästung unterzogen werden, 
dass sie innerhalb weniger Monate zu einem 
unförmlichen Fettklumpen anschwellen, die 
maurischen Frauen sollen auch innerhalb 
einer so kurzen Frist durch den Genuss 
eines Honiggetränks und frischer Datteln die 
gewünschte Wohlbeleibtheit erlangen. Eine 
Reihe derartiger Beispiele ist auch bei den eu¬ 
ropäischen Kulturländern bekannt geworden. 
Chambers berichtet die Beobachtung von 
Daniel, eine junge Dame betreffend, welche 
um ihre Statur zu bewahren, vier Tage in 
der Woche bei Champagner und glacierten 
Kastanien fastete. Ihre Korpulenz nahm mit 
furchtbarer Geschwindigkeit zu. Als die Dame 
sich wieder verständig nährte, wurde sie ihre 
Korpulenz los. Die moderne Mastkur hat 
sich eine andere Aufgabe gestellt. Sie be¬ 
zweckt, wie Weir Mitchell in Philadelphia, 
welcher diese nach ihm benannte Kur (Mit- 
chelFsche Kur oder Mitchell-Playfairische Kur 
— Playfair machte sich besonders in England 
um die Einführung der Kur verdient —) er¬ 
sann und praktisch verwertete, entkräfteten 


und erschöpften Individuen neue Kraft und 
neues Leben zu verleihen. Es spielt bei die¬ 
ser Kur nicht nur die Zufuhr sehr reich¬ 
licher Nahrung eine Rolle. Abgesehen von 
der Überernährung kommen eine Reihe an¬ 
derer Heilmethoden dabei in Betracht, näm¬ 
lich die Trennung der Kranken von ihrer 
bisherigen Umgebung, die Ruhe, die Massage 
und die Elektrizität. Dieser Kur eigentüm¬ 
lich ist nur die Vereinigung und die Anord¬ 
nung dieser Kurmittel und -methoden zu einem 
Ganzen. Die Absperrung der Kranken muss 
dabei eine vollkommene und andauernde sein, 
d. h. der Kranke muss für längere Zeit von 
seinem Hause und seiner Familie ganz los¬ 
getrennt werden, in deren Mitte seine Krank¬ 
heit entstanden und grossgezogen worden 
ist. Halbe Massregeln sind unnütz. Die 
Kranken dürfen erst dann in ihre Heimat 
zurückkehren, nachdem ihre Krankheit besei¬ 
tigt ist. Die neben dieser Isolierung gebotene 
absolute und länger festgesetzte Ruhe muss 
sich gleichmässig auf Geist und Körper er¬ 
strecken und solange dauern, bis die Erho¬ 
lung eine vollständige ist. Diese Ruhe ist 
nicht immer ohne Schwierigkeiten durchzu¬ 
führen. Nicht nur sehen wir dabei eine Ver¬ 
minderung des Appetits eintreten, sondern die 
Störungen der Darmthätigkeit, welche bei den 
Krankheiten, die zur Einleitung solcher Mast¬ 
kuren den Anlass geben, ohnedies häufig ge¬ 
nug vorhanden sind, werden infolge der ge¬ 
forderten Ruhe nicht selten bis zur Unerträg¬ 
lichkeit gesteigert. Eine geordnete Verdau- 
ungsthätigkeit ist zu einem geregelten Fort¬ 
schritt zum Besseren unerlässlich. Die Mas¬ 
sage, die passiven Bewegungen, der elektri¬ 
sche Reiz sollen diese mit absoluter Körper¬ 
ruhe so oft einhergehenden Schwierigkeiten 
Seitanhalten oder beseitigen. Die Ernährungs¬ 
weise bei dieser Mitcheirschen Mastkur ist 
vom Erfinder genau angegeben. Kurz zu¬ 
sammengefasst soll die Diät anfangs in einer 
reinen Milchdiät bestehen, welcher man all¬ 
mählich eine bis drei aus festen Nahrungs¬ 
mitteln bestehende Mahlzeiten hinzufügt. Die 
Krankheiten, bei denen diese Mastkuren zur 
Anwendung kommen, sind besonders die 
Hysterie und die Neurasthenie (nervöse Er¬ 
schöpfung) beim weiblichen Geschlecht. Letz¬ 
tere Erkrankungsform, ebenso wie die Hys¬ 
terie, eine funktionelle Störung des Zentral¬ 
nervensystems, ist von Beard in New-York 
von dem unklaren Begriff der Nervosität los¬ 
gelöst und zu einer besonderen Krankheits¬ 
form mit charakteristischen Erscheinungen 
ausgestaltet worden. Beard’s Vorschläge 
betreffs der Behandlung der von ihm ins 
Auge gefassten Kranken folgen, wenngleich er 
dieselben Heilfaktoren benutzt, keinem so be- 


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278 


Riemann, Die Musik im Winter 1896/97. 


stimmten Systeme, wie es MitcheU’s Kur vor¬ 
schreibt. Sehr richtig bemerkt Beard, dass 
nicht für alle Kranken ebenso wenig wie im 
übrigen, so auch in diätetischer Beziehung 
dieselbe Schablone passend ist. Er hebt her¬ 
vor, dass wir jetzt alle zu wenig fette Nah¬ 
rung einnehmen. Jedenfalls wird man, wie 
ich glaube, bei den Mastkuren darauf halten 
müssen, dass nicht einseitige Übermästung 
d. h. zu grosse Fettanhäufung auf Kosten 
der Muskulatur stattfindet. Es muss zuge¬ 
geben werden, dass die Mastkuren eine sehr 
wertvolle Bereicherung unserer Heilmetho¬ 
den insbesondere bei den sogen, schweren 
funktionellen nervösen Störungen bilden. Eine 
Verallgemeinerung des von Mitchell gegebe¬ 
nen Schemas muss aber ausgeschlossen wer¬ 
den, wenn man gute Ergebnisse bei der Be¬ 
handlung erzielen will. Die Behandlung muss 
dem einzelnen Falle genau angemessen wer¬ 
den. Das Verwertbare muss verwertet, das 
nicht Geeignete ausgeschaltet werden und 
zwar auf Grund einer sorgsamen Krankenun¬ 
tersuchung und Krankenbeobachtung. Es gilt 
dies von beiden Kurmethoden: von den ver¬ 
schiedenen Entziehungs- und den Mastkuren. 
Die Leitung einer solchen Kur pflegen selbst 
Ärzte nicht ohne sachverständigen Beirat d. h. 
ohne fremde ärztliche Hilfe an sich selbst vorzu¬ 
nehmen, in der richtigen Einsicht, dass 
ihnen die unerlässliche Objektivität bei der 
Beurteilung der Zustände ihres eigenen Lei¬ 
bes fehlt. Unter keinen Umständen sollten 
dies Laien thun, weil ihnen überdies die er¬ 
forderliche medizinische Durchbildung fehlt. 
Bei der Durchführung solcher Kurmethoden 
müssen Theorie und Praxis Hand in Hand 
gehen. Personen, denen eins von beiden 
fehlt, dürfen sich an solche Aufgaben nicht 
wagen. Haben diese Zeilen den Nutzen, dass 
sie dem Leser die Überzeugung schaffen oder 
bei ihm befestigen, dass diese Kuren ein 
zweischneidiges Schwert sind, d. h. dass sie 
richtig angewendet nützen können, verkehrt 
gebraucht aber schaden müssen, dann haben 
sie den Zweck erfüllt, der mich zur Veröff¬ 
entlichung dieser kleinen Arbeit veranlasste. 


Die Musik im Winter 1896/97. 

Von Dr. Hugo Riemann, Leipzig. 

Die Saison geht zu Ende, und was et¬ 
wa von neuen Erscheinungen noch aussteht, 
ist wenigstens signalisiert; wir können daher 
schon heute einen Rückblick auf das letzte 
Musikjahr unternehmen, ohne fürchten zu 
müssen etwas Wesentliches zu übergehen. 
Dass unser Saisonbericht eine wesentlich an¬ 
dere Physiognomie zeigte als der auf drei¬ 


zehn verflossene Jahre schauende „Toten¬ 
tanz“ in Nr. I der „Umschau“, wird man 
nicht erwarten; er kann nur als eine Art Mo¬ 
mentphotographie etwas realistisch einen Teil 
jenes bestätigen und vervollständigen. 

Bis zu welchem Grade Wagner die Bühne 
beherrscht, beweist die letzte Jahresstatistik 
der Aufführungen des Berliner Kgl. Opern¬ 
hauses, nach welcher ungefähr jeder vierte 
Abend eine Oper von Wagner gebracht hat. 
Wie überflüssig unter diesen Umständen jede 
Agitation im Inlande für die Wagner’sche 
Musik ist, bedarf keines Wortes, denn mehr 
oder weniger ist der Sachverhalt an allen 
leistungsfähigen Bühnen Deutschlands der¬ 
selbe. Selbst Bayreuth wird mehr und mehr 
zum Zentralpunkt der nach dem Auslande 
gehenden Strahlungen von Wagners künst¬ 
lerischer Potenz, nachdem die Idee einer 
„Deutschen Stilbildungsschule" mehr und 
mehr zurückgetreten ist. Ob die Monopoli¬ 
sierung des Parsifal bis zum Erlöschen des 
Eigentumsschutzes schliesslich sich nicht als 
ein starker Rechenfehler heraussteilen wird, 
bleibt abzuwarten. Denn dass schliesslich 
über kurz oder lang eine Reaktion gegen das 
Überwuchern dieser, wenn auch noch so im¬ 
ponierenden und neben anderen unbedingt 
als vollberechtigt anzuerkennenden, so doch 
unzweifelhaft einseitigen Kunstrichtung ein- 
treten wird, stellt schwerlich Jemand in Ab¬ 
rede, der die unerbittliche Logik der Welt¬ 
geschichte überhaupt und der Kunstgeschichte 
insbesondere einigermassen begriffen hat. Ge¬ 
rade die Geschichte der Oper zeigt seit ihren 
Anfängen in Florenz um 1600 einen fortge¬ 
setzten Wechsel zwischen Phasen, in denen 
das Prinzip siegte, welchem das ganze Genre 
des „Stile rappresentativo" seine Entstehung 
verdankt (Geltendmachung der natürlichen 
Sprachbetonung), und solchen, in denen die 
durch Theoreme zurückgedrängte aber im Her¬ 
zen der Menschheit ewig den ersten Rang 
behauptende Melodie ihre Rechte zurückforderte 
(Herrschaft des eigentlichen Gesanges). Wenn 
auch die Komponisten im Laufe dreier seit¬ 
her verflossenen Jahrhunderte gelernt haben, 
den Gegensatz der beiden einander wider- 
streitenden Faktoren abzuschwächen, indem 
sie auf der einen Seite der wirklichen Ge¬ 
sangsmelodie erhöhte Charakteristik des Aus¬ 
drucks gaben und auf der anderen Seite bei 
mehr nur recitierender Vortragsweise des 
Textes in der Instrumentalbegleitung durch 
wirkliche Melodiebildung entschädigten: aus¬ 
gekämpft ist der Kampf trotz Wagner noch 
nicht! Die Komponisten brauchen die Hoff¬ 
nung nicht aufzugeben und geben sie nicht 
auf, dass noch Opern Aussicht auf einen längere 
Zeit anhaltenden Erfolg haben, welche einer 


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Riemann, Die Musik im Winter 1896/97. 


279 


der 'Wagnerischen gegensätzlichen Gruppier¬ 
ung der Faktoren ihre Entstehung verdanken 
(rein musikalische Gestaltung d. h. Melodie¬ 
bildung als dominierendes Element). Dass der 
grosse Stil, das tragische Pathos einstweilen 
aus dem Banne der Ideen Wagners nicht 
wird herauskommen können, ist allerdings 
sehr wahrscheinlich; augenblicklich fehlt es 
leider nur an Riesengeistem, welche in der 
Manier Wagners auch nur annähernd dessen 
Leistungen Gleichstehendes zu produzieren, 
geschweige Wagner zu überbieten und gar 
einen neuen Fortschritt auf demselben Wege 
anzubahnen vermöchten! 

Dagegen ringt sich aber anscheinend all¬ 
mählich die Überzeugung durcli^ dass das 
lange Ober Gebühr vernachlässigte Genre des 
musikalischen Lustspiels einer weiteren Heb¬ 
ung nicht nur fähig, sondern sogar bedürftig 
ist. Möchten doch junge Kräfte mit all ihrem 
Können versuchen, von dieser Seite her der 
Litteratur neue Schätze zu erschliessen. Wag¬ 
ners »Meistersinger“ können wohl durch ei¬ 
nige das Genre rein zur Geltung bringende 
Szenen (Tanz auf der Wiese, Abendszene 
zwischen Sachs und Evchen, sogar Sachs’ 
Monolog, der keineswegs auf hohem Ko¬ 
thurn spaziert, sondern sich vielmehr in bür¬ 
gerlicher Kleinmalerei gefällt) befruchtend für 
diese künftige Produktion wirken, sind aber 
in ihrer Totalität viel zu bombastisch, in der 
Instrumentierung überladen und durch eitle 
Selbstbespiegelung Wagners choquirend, als 
dass man sie als Beginn einer neuen Aera 
der komischen Oper ins Auge fassen dürfte 
(von der Karrikatur Beckmessers und auch 
zum Teil Davids ganz zu schweigen). Der¬ 
jenige, welcher die Hand nach diesen Zu- 
kunftslorbern ausstrecken will, bedarf vor al¬ 
lem einer heitern, von dem modernen Geiste 
der Schopenhauer-, Nietzsche-, Ibsen’schen 
Schwarzseherei noch nicht angefressenen Ge¬ 
mütsart, einer wahrhaft daseinsfreudigen Naive- 
tät: sollte denn diese wirklich dem ausgehen¬ 
den 19. Jahrhundert ganz und gar abhanden 
gekommen sein ? 

Was wir von Erfolgen neuer Opern im 
Winter 1896/97 zu melden haben, verdankt 
seiner Wirkung diesem Übertreten auf ein 
lichteres Gebiet. Sowohl Humperdincks nun 
drei Jahre lebendes „Hänsel und Gretel“, 
als Rezniceks gleichaltrige „Donna Diana“ und 
Goldmarks ganz neues „Heimchen am Herd“ 
sind solch wenigstens vorübergehend heil¬ 
kräftiger Balsam für die wunden Seelen; sind 
dieselben auch keineswegs wagnerfrei und stil¬ 
rein in dem angedeuteten Sinne, so können 
sie doch wenigstens der Hoffnung auf eine 
entschiedene Wendung zu froherem Gestalten 
Nahrung geben. Hugo Wolfs „Corregidor“ 


(Mannheim Sommer 1896) krankt dagegen an 
zu ausgesprochenem Wagnertum, von wel¬ 
chem aus, wie gesagt, schwerlich die komische 
Oper ihre Regeneration erleben wird. Als 
ein ziemlich schwächlicher Versuch, auf tra¬ 
gischem Gebiete von Wagner loszukommen, 
ist Kienzls die Thränendrüsen stark affizie- 
render „Evangelimann“ zu bezeichnen, einer 
Art „Volksrührstück“ im Operngewande. Die 
rohe Koulissenmalerei der Mascagni und Le- 
oncavallo ist noch immer nicht ganz in die 
Rumpelkammer gewandert, obgleich die Dupe, 
welche durch sie die musikalische Welt vor¬ 
übergehend erfuhr, längst erkannt und im 
Prinzip abgeschüttelt ist; leider scheinen al¬ 
lerdings die Komponisten noch immer nicht 
zu der Einsicht gekommen zu sein, dass es 
die Einaktigkeit nicht thut, wenn auch na¬ 
türlich das Publikum eine gewisse Anerkenn¬ 
ung dafür zu zollen bereit ist, dass man ihm 
nur eine knappe Stunde lang anstatt durch 
vier Stunden wehe thut: so hat denn auch 
die letzte Saison wieder eine Reihe solcher 
bedeutungslosen Bluetten gebracht, über die 
wir stillschweigend hinweggehen dürfen, da 
kein Treffer unter ihnen ist. Aus der ziem¬ 
lich grossen Zahl sonstiger neuen Opernver¬ 
suche seien Rüfers „Ingo", Xr. Scharwenkas 
„Mataswintha" und J. Brülls „Gloria" an¬ 
geführt. Das kühne Ünterfangen August Bun¬ 
gerts, nach Bruchs Oratorien „Achilleus" und 
„Odysseus", mit einer Bruch nicht ebenbür¬ 
tigen Gestaltungskraft eine Operntetralogie 
„Homerische Welt" aufzubauen, von welcher 
einstweilen nur der Schlussabend „Odysseus’ 
Heimkehr" in Dresden sich vorgestellt hat, 
verdient wenigstens Anerkennung für den 
bewiesenen Muth; aber auch wenn Herr 
Bungert einen besseren Dichter aufgetrieben 
hätte als sich selbst, würde es unverantwort¬ 
lich sein, seiner Musik eine Zukunft ver- 
heissen zu wollen. Die Diktion ist manchmal 
von wahrhaft oberbairischer Derbheit („Hin¬ 
aus mit dem Hund", Schlagt ihn todt!"), ge¬ 
legentlich von einer seltsam anmutenden 
Übertemperatur („So küsste nur mein heisser 
Mann!") die musikalische Deklamation aber 
in anbetracht der Selbstdichtung oft unbe¬ 
greiflich holperig. 

Eine getäuschte Hoffnung sind wahr¬ 
scheinlich für viele Humperdincks „Königs¬ 
kinder" geworden, die sich nicht als Seiten¬ 
stück zu „Hänsel und Gretel" sondern viel¬ 
mehr als ein nicht sonderlich wirkungskräf¬ 
tiges Melodrama (Begleitungsmusik von Ernst 
Rosmers [Frau Bernstein, geb. Porges] Mär¬ 
chendrama) in Heidelberg, München u. m. vor- 
gestellt haben. Der Komponi.st der auch schon 
wieder verstummenden „Ingvvelde" hat den 
Königskindern in Teiblers „Musikalischer Rund- 


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28o 


Riemann, Die Musik im Winter 1896/97. 


schau" ein Denkmal gesetzt, das einem Leichen¬ 
steine nicht unähnlich sieht. Von Humper- 
dincks „Sieben Geislein" hört man noch we¬ 
niger; schon jetzt scheint die musikalische 
Welt sich mit dem Gedanken abzufinden, 
dass man sich genügen lassen muss, dass 
Humperdinck uns „Hansel und Gretel" ge¬ 
schenkt hat. 

So ist denn das Gesamtbild der neuesten 
Bühnenkomposition in Deutschland wenig er¬ 
freulich, und auch das Ausland hat anschei¬ 
nend nichts Hervorragendes neu gebracht 
(Bruneaus „Messidor" mit Text von Zola, so¬ 
zusagen die erste sozialpolitische Oper mit 
Arbeiterstreik u. s. w., Tinels „Gondoleva", 
Stanfords „Shamus O’Brien", Giordanos „An- 
dr6 Chenier" [der auch den Weg auf deut¬ 
sche Bühnen fand]). Uebersättigung ist die 
Signatur im Theater wie im Konzertsaal; es 
will nichts mehr so recht ziehen; da aber die 
Unterhaltung der Theater sehr kostspielig ist, 
so werden die wenigen Werke, die erfahr- 
ungsmässig noch geeignet sind, das Haus 
zu füllen, möglichst oft wiederholt, alles an¬ 
dere aber bei Seite geschoben und von Zeit 
zu Zeit immer wieder der Versuch gewagt, 
einen neuen Lockvogel einzufangen. 

Operette und Ballet, solange die Aller¬ 
weltslieblinge, sterben allmählich ab, da le¬ 
bensfähiger Nachwuchs ausbleibt (es müsste 
sich denn Millöckers „Nordlicht" [Wien zu 
Neujahr 1897] oder J. Strauss „Göttin der Ver¬ 
nunft" [März 1897] bewähren), ältere Stücke 
aber bekanntlich aller Wiederbelebungsver¬ 
suche spotten. 

Noch ärmer an bedeutsamen Novitäten als 
die Oper erwies sich dieses Jahr der Kon¬ 
zertsaal. Komponiert ist gewiss genug wor¬ 
den, gedruckt weniger, gespielt noch weniger 
und wirklichen Erfolg hat — herzlich we¬ 
nig gehabt. Das eigentliche Ereignis der 
Konzertsaison sind Brahms’ „Vier ernste Ge¬ 
sänge", ein paar ergreifende Basslieder auf 
biblische Texte, welche zufolge der schweren 
Erkrankung des Meisters noch besonders ernst 
genommen wurden*), zumal die Hoffnung auf 
ein neues Orchester- oder Kammermusikwerk 
desselben unerfüllt blieb. Zwar fehlt es wahr- 
haftig*nicht an neuen Orchesterwerken aller 
Art, 3 welche sich mehr oder minder 
praetentiös aufdrängten. Richard Strauss ge¬ 
berdete sich allen Ernstes als musikalischer 
„Uebermensch" mit einer symphonischen Dich¬ 
tung „Also sprach Zarathustra" (Nietzsche), 
welche geeignet ist, den blind in der Heerde 
laufenden Anhängern der Programmmusik ein 

*) Schneller als die musikalische Welt es ge- 
fttrchtet, sind diese Lieder zu des Meisters Schwa¬ 
nengesängen geworden, da am 3. April Brahms 
die Augen fhr immer schloss. 


wirksames Mene tekel! zuzurufen und sie zur 
Umkehr auf diesem unseligen Wege in das 
„Jenseits von Gut und Böse" in der Musik 
zu bewegen; Felix Weingartner, der in¬ 
zwischen auch unter die religiös-philosophisch 
theoretisierenden Schriftsteller gegangen, ser¬ 
vierte unter der Etikette eines „König Lear" 
(trotz dem von ihm vergötterten Berlioz?) 
eine echte Kapellmeistermusik heutigen 
Schlages: Dvorak, der fortgesetzt sehr fleis- 
sige, nach mehrjährigem Aufenthalt in New- 
York wieder in das geliebte Böhmerland zu¬ 
rückgekehrte (doch nach neueren Meldungen 
von neuem für Newyork gewonnen) gab neue 
Belege seines urwüchsigen Talentes, das aber bis 
zu Ende ein ungezäumtes Ross bleiben will, mit 
einer amerikanischen Symphonie („Aus d. neuen 
Welt") und drei programmatischen Sächelchen 
(„Der Wassermann", „Die Mittagshexe", 
„Das goldene Spinnrad"). Ein par gutge¬ 
meinte Sjmphonien alten Stiles (Gernsheim, 
Mahler, Martucci, Rebicek) wurden kaum 
bemerkt. 

Die Ausbeute an neuer Kammermusik 
ist eine äusserst spärliche (Streichquartette in 
As-dur von Dvorak und A-moll von Stanford, 
preisgekröntes Septett ftlr Streich- und Blas¬ 
instrumente von Miroslav Weber). Dazu sei 
gleich angemerkt, dass einer der eifrigsten 
Pfleger der Kammermusik, Antonio Bazzini, 
der Direktor des Mailänder Konservatoriums, 
in diesen Tagen (10. Februar 1897) gestorben 
ist. Die Konzertlitteratur bereicherten Dvorak 
(für Violoncell; kreiert durch Hugo Becker) 
und Stojowski und Nova^ek (für Klavier). Von 
neuen grösseren Chorwerken deutscher Her¬ 
kunft ist nur zu registrieren „Sylvesterglocken“ 
von Hans Kössler (von Nikisch in Leipzig 
mit wenig Glück aus der Taufe gehoben); 
Italien steuerte ein Requiem von Sgambati bei. 

Im Grossen und Ganzen muss konstatiert 
werden, dass die Saison wie kaum eine frühere 
unter dem Zeichen des Sieges der Modernen 
stand. An der Spitze fast aller grösseren 
Konzertinstitute stehen heute Kapellmeister 
extrem - fortschrittlicher Richtung; ebenso ist 
die musikalische Tagespresse überwiegend in 
Händen von Verfechtern der äussersten Lin¬ 
ken. Auf den Programmen dominieren infolge 
dessenLiszt, Berlioz,Wagner, Bruckner, Strauss 
und die Tschechen (Dvorak, Tschaikowsky 
[Symphonie path^tique], Rimsky-Korsakoff 
[Scheherazade], allerdings daneben — trotz allem 
— Brahms. Aber es genügt den Extremen 
noch nicht, die ersten Institute am Platze er¬ 
obert zu haben; nicht ahnend, dass sie da¬ 
mit nur um so schneller den Umschlag der 
Gunst des Publikums heraufbeschwören müssen, 
entbieten sie noch obendrein auswärtige Heer¬ 
führer ihrer Partei mit ihren Schaaren und ver- 


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Riemann, Die Musik im Winter 1996/97. 


a8i 


anstalten Wettkämpfe ihrer Getreuen unter¬ 
einander! So erlebte es Leipzig, welches doch 
durch die Stellung Arthur Nikischs an die 
Spitze des Gewandhausorchesters sattsam mit 
seinen Traditionen gebrochen hat, dass an 
einem und demselben Abende, sogar in dem¬ 
selben Etablissement (Kristallpalast), nur in 
verschiedenen Sälen, der Pariser Repräsentant 
der Modernen, Charles Lamoureux, an der 
Spitze des Windersteinorchesters (in der Albert- 
halle) und der Berliner Hofkapellmeister Felix 
Weingartner mit dem gesamten Kgl. Preuss. 
Hoforchester (unter wahrhaft entwürdigenden 
Verhältnissen mit Tellergeklapper, Telephon¬ 
geklingel, Kellnergetrappel etc.) in der „Neuen 
Halle“) um die Palme rangen! 

Es wäre traurig, wenn wir fürchten müss¬ 
ten, dass diese Verhältnisse lange andauerten. 
Allein der Rückschlag muss kommen und wird 
bald genug kommen. Die Hohlheit und Un¬ 
wahrheit der sich von den aller wahren Musik 
immanenten Gestaltungsprinzipien mit Bewusst¬ 
sein lossagenden Programmmusik tritt immer 
unverhüllter an den Tag, je höher die immer 
kleineren Kapazitäten ihre immer grösseren 
Ziele stecken. Der Schritt vom Erhabenen 
zum Lächerlichen braucht nicht mehr gethan 
zu werden,, er ist in den letzten Jahren oft 
genug gethan worden. Das Besondere bleibt 
nur so lange etwas Besonderes, als das Re¬ 
guläre, das Eigentliche seine Folie bildet. 
Solange die Komponisten sich darauf be¬ 
schränkten, in ihren Werken selbst für diese 
Folie zu sorgen, mochten sie die Bizarrerie 
im Einzelmoment ungestraft auf die Spitze 
treiben. Die Modernen aber sind dazu über¬ 
gegangen, die Folie für ihre Kontrastwirkun¬ 
gen ausserhalb ihrer Werke zu verlegen und 
jede schlichte Wirkung und Wendung, jede an¬ 
spruchslose Farbe förmlich zu verbannen. So 
lange man nun noch z.B. eine der neuesten sym¬ 
phonischen Dichtungen von Richard Strauss 
zwischen zwei gesunde klassische oder auch 
romantische Werke stellt, wird ihre Wirkung 
noch durch den Kontrast gegen diese mög¬ 
lich sein. Gehts aber noch eine Weilchen 
so weiter wie heute, so wird sich eines Tages 
das Publikum durch ganze Konzertabende hin¬ 
durch nur Werken gegenüber befinden, die 
fortgesetzt mit Gegensätzen zu Etwas operiren, 
das gar nicht existiert, und die darum als in¬ 
haltslose Hirngespinste in Nichts verpuffen! 

Innerhalb dieses den Werken unserer Alt¬ 
meister hohnsprechenden Hexensabbaths neh¬ 
men sich Thaten künstlerischer Pietät, wie die 
Vollendung der Gesamtausgabe der Werke Pa- 
lestrinasundFranzSchuberts und die Inangriff¬ 
nahme derjenigen des Orlando Lasso einiger- 
massen seltsam aus. Ist nicht vollends ein wenig 
Heuchelei dabei, wenn Konzertunternehmer, 


welche im übrigen nur der Forcierung des 
Neuesten leben, sich plötzlich zu einer Schubert- 
Centennarfeier entschliessen, wenn auch mit 
— Lisztscher Klaviertranskription Schu¬ 
bertscher Lieder?! Warum diese Lüge? Weil 
das Publikum sie verlangt. 

Das ist unser Trost. Das Publikum ver¬ 
langt nämlich noch viel mehr und wird sein 
Recht zu wahren und seine Macht' zur Gelt¬ 
ung zu bringen wissen. Schon mehren sich 
die Stimmen, welche den Don Quixotes halt! 
gebieten, deren wildgewordene Rosinanten 
dem Abgrunde des Wahnsinns zustürmen. 
Es wird nicht nötig werden, dass wir den 
Wagnervereinen und Lisztvereinen Haydn-, 
Mozart- und Beethovenvereine gegenüber¬ 
stellen. Die schon bestehenden Bachvereine, 
Händelvereine, historischen Gesangvereine, 
Vereine für klassische Kirchenmusik und Kam¬ 
mermusikvereine etc. werden genügen, die 
Blicke noch mehr als bisher nach rückwärts 
auf das gesunde, kräftige Alte zu richten und 
aus diesem unserer musikalischen Produktion 
die Verjüngung zu vermitteln, welche ihr not 
thut. Schon jetzt drängen unter der Maske 
moderner Gewandung urkräftige Recken (wie 
die Concerti grossi von Händel) in den Kreis 
der hohläugigen und fleischlosen Schemen 
der Modernen ein (vielleicht mit richtigem 
Instinkt von den Herrn Kapellmeistern un¬ 
bewusst als Folie gewählt?); dieselben werdea 
zur rechten Zeit helfen, das scheinlebige Ge¬ 
sindel wie Spreu hinwegzufegen. 

Man unterschätze die historische Strömung 
unserer Zeit nicht. Bestrebungen wie die 
Chrysanders mit seinen gekürzten Überarbeit¬ 
ungen Händelscher Oratorien („Deborah“ und 
„Herakles“ 1896 in Mainz unter Volbach 
und dieses Jahr unter Kretzschmar in 
Leipzig, neuestens auch in München) 
sind nicht nur verdienstlich, sondern hoch- 
nöthig, aber auch thatsächlich wirkungskräftig. 
Auch die Ausschachtung der Melodienschätze 
der Volkslieder (Böhme) und älterer Kirchei> 
lieder(Bäumker) der Perlen des mehrstimmigen 
Kunstliedes im 15. und 16. Jahrhundert 
(Eitner, Bohn), die Erschliessung der Melo¬ 
dien der Minnesänger (Jenaer Handschrift, 
Colmarer Handschrift [Runge], Spörls Lie¬ 
derbuch [Meyer und Rietsch]), die Neubearbeit¬ 
ungen alter Kammermusikwerke (G. Jensen) 
zeugen laut von dem Bedürfnis, ein Gegen¬ 
gewicht gegen die Abwendung der neuesten 
Richtung von der Melodie zu gewinnen. Wenn 
jeder, der mitzureden hat, redlich sein Scherf¬ 
lein beiträgt, um dem Versuche der gewalt¬ 
samen Herausdrängung der musikalischen 
Produktion aus ihren natürlichen Bahnen Ein¬ 
halt zu thun, so wird die Zeit der Besserung 
schneller kommen, als man angesichts der 


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Elfert, Die Geographie in den letzten Jahren. 


282 


heutigen Verhältnisse meinen sollte hoffen 
zu dürfen. 

Schmerzlich vermissen wir heute den 
Mangel an repräsentativen Autoritäten, indenen 
sich gute Traditionen verkörpern. Solche 
waren trotz ihrer Richtung auf Neues Franz 
Liszt, Richard Wagner, Hans von Bülow, 
auch Anton Rubinstein. Heute rennt alles 
durcheinander, Keiner gebietet, Keiner folgt, 
eine wilde Horde von Individualitäten, die 
sich seihst zur Geltung zu bringen trachten, 
was natürlich keinem von ihnen völlig gelin¬ 
gen kann. Brahms wäre eine solche Autorität 
gewesen; aber — wie heisst es in der Rhap¬ 
sodie aus Goethes Harzreise: 

.... aber abseits, was ists? 

Ins Gebüsch verliert sich sein_Pfad. 

Erst verachtet nun ein Verächter . . 

Der Mensch Brahms verschmähte es, Au¬ 
torität zu sein. Wo ist ein neuer Führer? 


Die Geographie in den letzten Jahren. 

(Abgeschlossen März 1897.) 

Von Dr. P. Elfert. 

1 . Amerika. 

Im Folgenden soll über die wichtigsten 
geographischen Unternehmungen und deren 
Ergebnisse, wie der Titel sagt „in den letzten 
Jahren“ berichtet werden. Es i.st indess zu 
bemerken, dass die seit Beginn des Jahres 
1896 ausgehenden Forschungsexpeditionen in 
erster Linie berücksichtigt worden sind und 
weiter zurückliegende nur insoweit, als ihre 
Ergebnisse erst seit jenem Zeitpunkte genauer 
bekannt geworden sind. Zuerst wird hier 
Amerika behandelt werden und es ist hierbei in 
ähnlicher Weise und unter Benutzung der 
in der Hettner’schen „geographischen Zeit¬ 
schrift“ *) enthaltenen Karte in beifolgender 
Reproduktion versucht worden, dem Leser 
ein Bild von der noch immer ziemlich mangel¬ 
haften Kenntnis des amerikanischen Kontinents 
in geographischer Hinsicht zu geben. In der 
dem Kärtchen beigegebenen Erklärung be¬ 
zeichnen die verschiedenen Schraffierungen 
etc. verschiedene Grade hinsichtlich der Ge¬ 
nauigkeit kartographischer Darstellung der 
betreffenden Gebiete, und zwar bilden die 
Grundlagen für letztere 

bei I: Genaue trigonometrische und topo¬ 
graphische Aufnahmen. 

„ II: Trigonometrische und topographische 
Aufnahmen geringerer Genauigkeit. 

*) (Band I 1895, Tafel I.) 


bei III: Ein dichtes Netz von astronomischen 
Ortsbestimmungen und Routenaufnah¬ 
men mit vereinzelten Triangulationen. 

„ IV: Einzelne Ortsbestimmungen u. Routen¬ 
aufnahmen, sowie Erkundigungen. 

„ V: Gänzlich unerforschte Gebiete. 

Durch Henry O’Sullivan, einem An¬ 
gestellten der Landesaufnahme von Quebec, 
ist während der Jahre 1894-und 1895 ein 
ausgedehntes Gebiet im westlichen Teile der 
Provinz Quebec durchforscht worden, das 
ungefähr die Gegend zwischen dem Ottowa- 
fluss, der Jamesbai (dem Südende der Hud¬ 
sonsbai), dem in diese mündenden Ruperts- 
fluss und dem Mistassini-See umfasst, also 
ein Gebiet so gross wie England. Trotzdem 
dieses Gebiet der Stadt Quebec verhältnis¬ 
mässig nahe liegt, war es doch bisher nur in 
den Jahren 1671 bis 1672 in seinem nord¬ 
östlichen Teile einmal von dem französischen 
Missionar Albanei durchzogen worden, im 
Übrigen aber unbekannt. Die Forschungen 
von O’Sullivan haben das Vorhandensein 
ausgedehnter Wälder von Nutzbäumen und 
fruchtbarer, nach der Jamesbai zu sich senken¬ 
der Abhänge ergeben, die für die Entwickelung 
des Ackerbaues, ähnlich wie in Manitoba 
äusserst günstig sind, zumal das Klima gleich¬ 
falls der Getreidekultur nicht hinderlich ist. 
Von Bedeutung ist ferner die genaue Fest¬ 
legung einer Reihe von Seen und Flüssen, 
deren Vorhandensein bisher unbekannt war. 
Zur Erschliessung dieses Gebietes für Aus¬ 



wanderer müsste in dasselbe allerdings eine 
Eisenbahn direkt von Quebec aus gebaut 
werden. 


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Elfiert, Die Geographie in den letzten Jahren. 


283 


Ebenso hat D r.. Bell von der canadischen 
geologischen Landesuntersuchung seine im 
Jahre 1895 begonnenen Forschungen in dem 
Gebiete südöstlich der James- Bai im Jahre 
1896 wieder fortgesetzt. Auf dem Kengawa- 
Fluss nach den Grand-Lakes vordringend, 
überschritt er die Wasserscheide zum Nod- 
dawai, den er mit seinen Zuflüssen gründlich 
untersuchte. Bereits im Jahre 1895 durch 
Dr. Bell festgestellt worden, dass die Haupt¬ 
quelle des Noddawai der Mattakami-See ist, 
in den sich der Bell-River und der Wasma- 
nigi ergiessen. Letzterer durchfiiesst vorher 
den gleichnamigen See, in weichen sich der 
bedeutende O’Sullivan-River ergiesst. Der 
Bell-River erwies sich im Jahre 1895 bereits 
als ein breiter Strom von 6 bis 13 m Tiefe, 
der auf grossen Strecken ftir Dampfschiffe 
schiffbar ist, an dessen Wasserscheide aus¬ 
gedehnte Gebiete für Acker- und Waldwirt¬ 
schaft liegen. 

Nach übereinstimmenden Berichten aus 
Tacoma, Seattle und Ellensburgh muss als 
sicher angenommen werden, dass die anfangs 
angezweifelte Eruption des Mount Rainier 
(Mount Tacoma) im November und Dezember 
1894 thatsächlich stattgefunden hat, derselbe 
also zu den thätigen Vulkanen zu rechnen ist. 
Genauere Messungen des Mc. Clure haben 
ferner ergeben, dass die bisherigen Höhen¬ 
angaben für den Mount Adams (Staat Wash¬ 
ington) mit 2928 m unrichtig sind und dass 
dessen Höhe 3689 m betragt. 

Von neueren Karten des kanadischen 
Gebiets ist hauptsächlich zu nennen, die¬ 
jenige von S. Jörgensen: „Map of the 
province of British Columbia“,') welche in zwei 
sehr grossen Blättern alles vorhandene Auf¬ 
nahmematerial zum ersten Male in grösserem 
Massstabe zusammengesteilt enhält. 

Durch die Entsendung mehrerer Expe¬ 
ditionen während der Jahre 1885 bis 1894 
nach dem in geographischer Hinsicht noch 
äusserst wenig bekannten Nieder-Californien 
hat sich die „ California academy of Sciences*' 
ein grosses Verdienst erworben. Nach den 
jetzt vorliegenden Ergebnissen der letzten 
dieser Expeditionen, welche unter Leitung von 
Gustav Eisen vom September bis No¬ 
vember 1894 die Südspitze der califor- 
nischen Halbinsel durchforschte, erstreckt 
sich südlich von 230 N. Br. eine Folge 
von Sierren, die durch 900 bis 1200 m 
hohe Pässe von einander getrennt sind und 
iro Pik Santa Genoveva mit 2100 m ihre 
grösste Erhebung erreichen. Auch in pflan¬ 
zen- und tiergeographischer Hinsicht sowie 

’) compiled by direction of [the Honourable G. 
B. Martin Chief Commissioner of Lands and Works, 
Victoria B. C. 1895. Massstab 2: 1200 000. 


inbezug auf das Klima enthalten die in den 
„Proceedings" der genannten Gesellschaft 
gegebenen Forschungsresultate viel Neues. 

Ueber die Reisen, welche Dr. Ed. Seler 
zum Zweck archäologischer Studien in Mexiko 
und Zentralamerika ausführt, liegen bisher 
nur einzelne briefliche Mitteilungen vor, nach 
denen der Reisende nach einem besonderen 
Ausfluge nach den Ruinen der taraskischen 
Königsstädte durch die Mizteka alta nach 
Oaxaca und Tehuantepec gewandert ist, um 
von hier nach einigen Ausflügen nach der 
alten Ansiedlung von La Mistequilla und den 
Ruinen auf dem Berge Huiangola sich nach 
Tonala zu wenden. Das nächste Standquartier 
nahm dann der Reisende in Guatemala, von 
wo aus er seine erfolgreichen Reisen nach 
dem Distrikte Nenton, nahe der mexikanischen 
Grenze antrat. 

Ebenso hat der in Yukatan lebende und 
durch seine ausgedehnten Reisen daselbst 
rühmlichst bekannte Archäolog Teobert 
Maler nach seinen Veröffentlichungen im 
„Globus“ (Bd. 70) wiederum Entdeckungen 
von ganz bedeutenden Ruinenstädten aus der 
Zeit der Maya-Kultur ausgeführt. Diese Ru¬ 
inen liegen zum Teil in Yukatan, zum Teil 
aber schon im nordwestlichen Guatemala. 
Namentlich zeichnet sich Piedras negras am 
rechten Ufer des Rio Usuraacinta durch aus¬ 
gedehnte und gut erhaltene Ruinen aus. 

Die bereits vor zwei Jahren im Nord¬ 
westen von Chilpancigo, der Hauptstadt des 
mexikanischen Staates Guerrero, durch den 
Mineralogen William Niven in New-York 
entdeckte Ruinenstadt ist im Jahre 1896 
gründlich untersucht worden. Bisher hat 
Niven die Ruinen von 22 altindianischen 
Tempeln blossgelegt, die im Ganzen, nament¬ 
lich auch in den bemalten Teilen, ^t erhalten 
sind und von denen manche eine Fläche von 
200 qm bedecken. Auch viele sonstige kultur¬ 
historisch wichtige Funde wurden auf dem 
mehrere Stunden weit sich erstreckenden Ru¬ 
inenfelde gemacht, und vermutet Niven, in 
diesen Ruinen die in altmexikanischen Be¬ 
richten mehrfach erwähnte mythische Stadt 
Quechmictoplican gefunden zu haben. 

Auch Dr. Karl Sapper hat nach Be¬ 
richten aus Coban seine Reise durch das 
Quichö nach Guatemala, Jalappa, Chiquimula, 
Puerto Barrios und Livingston vollendet, die 
Ruinen von Alt-Mexiko besucht und Gelegen¬ 
heit gehabt, wichtige Verbesserungen an der 
geologischen Karte dieses Gebiets vorzu¬ 
nehmen. 

Weiterhin möge hier des im Jahre 1896 
vollzogenen Zusammenschlusses der drei 
mittelamerikanischen Republiken Salvador, 
Honduras und Nicaragua zu einer Republica 


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284 


Elfert, Die Geographie in den letzten Jahren. 


mayor de Centroamerica gedacht werden. Diese 
Vereinigung bezweckt lediglich die gemein¬ 
same Vertretung der drei Republiken fremden 
Staaten gegenüber, während die innere Ver¬ 
waltung jeder Republik ungestört die alte 
bleibt. An der Spitze des Bundes steht ein 
aus drei Mitgliedern bestehender Bundesrat, 
dessen Sitz abwechselnd in einer der drei 
Bundeshauptstädte sich befindet. 

Etwas reichhaltiger gestalten sich die 
Forschungsergebnisse für das Jahr 1896 in 
Südamerika. 

Dr. Fritz Regel aus Jena, welcher im 
Juli 1896 seine Reise zur Erforschung des 
kolumbianischen Staates Antioquia angetreten 
hat, ist über San Thomas und San Domingo in 
LaGuairaam 18. Aug. und nach einem Ausfluge 
nach Caracas Ende August in Sabanilla, jetzt 
Puerto Colombia genannt, eingetroflfen. Von 
hier hat er seine Reise den Rio Magdalena 
aufwärts bis Puerto Berrio fortgesetzt und ist 
am 12. September in Medellin eingetroffen. 
Von hier aus hat er ausgedehnte Reisen in 
die weitere Umgebung ausgeführt und dabei 
reiches Material, auch für Museumszwecke, 
zusammengebracht. Im November gedachte 
er dann nach dem Norden aufzubrechen. 

Im Berichtsjahre hat auch der durch seine 
Reisen in Venezuela während der Jahre 
1884/85 und 1892/93 bekannte Forscher Prof. 
Dr. W. S i e V e r s in Giessen zusammenfassende 
Ergebnisse derselben in Petermanns Mitteilun¬ 
gen veröffentlicht, die in Bezug auf den geo¬ 
logischen Aufbau des nördlichen Venezuela, 
namentlich der Halbinsel Coro, viel Neues 
bringen und durch die Beigabe einer geo¬ 
logischen, sowie einer Höhenschichtenkarte 
mit Angabe der Verkehrswege einen erhöhten 
Wert erhalten. 

Die in Südamerika niemals zur Ruhe kom¬ 
menden Grenzstreitigkeiten zwischen den ein¬ 
zelnen Staaten haben im vergangenen Jahre 
zwischen Venezuela und Britisch-Guayana einen 
zuweilen bedrohlichen Charakter angenommen, 
namentlich durch Einmischung der Vereinigten 
Staaten von Amerika und Anwendung der 
Monroe-Doktrin auf diesen Streit. Inzwischen 
haben sich indess die Gemüter soweit be¬ 
ruhigt, dass die Streitfrage durch einen Schieds¬ 
spruch des Königs von Schweden beigelegt 
werden soll. Es ist nur fraglich, ob Venezuela 
sich demselben fügen wird, denn bekanntlich hat 
Venezuela die durch Schiedsspruch der Kö¬ 
nigin von Spanien zwischen Colombia und 
Venezuela im Jahre 1892 festgesetzte Grenze, 
weil zu seinem Schaden, nachträglich nicht 
anerkannt. 

Die exponierte Lage von Rio de Janeiro 
gegenüber einer feindlichen Flotte im Kriegs¬ 
fälle hat den Brasilianern schon lange die 


Absicht nahe gelegt, auf den Plateaus im In¬ 
nern eine neue Hauptstadt zu gründen. Die 
zu diesem Zwecke ausgesandten Expeditionen 
haben nunmehr die vier Ecken des neuen, 
rechteckigen „Districto FederaV festgestellt 
und ihre Berichte erstattet. Danach ist der 
neue Distrikt 14 400 qkm gross und liegt im 
Staate Goyaz etwa unter 15® S. Br. und 47® 
bis 48® W. L. V. Green. Inzwischen bereiten 
sich auch einige der Einzelstaaten von Bra¬ 
silien darauf vor, ihrerseits gleichfalls neue 
und sicherer gelegene Hauptstädte zu grün¬ 
den. In erster Linie ist hier Minas Geraes 
zu nennen. 

Die im Dezember 1895 nach Brasilien ab¬ 
gegangene Forschungsexpedition des Dr. Her¬ 
mann Meyer aus Leipzig, in dessen Be¬ 
gleitung sich der Anthropolog Dr. Ranke 
und der leider zu Beginn der Reise in Rio 
de Janeiro dem Fieber erlegene Präparator 
Dahlen befanden, hatte sich nach eingehen¬ 
dem Studium der Bugres nach dem Mato 
Grosso gewandt, um im Quellgebiet des 
Schingu die Forschungen von denSteine n’s 
und Ehrenreich’s fortzusetzen. Ende Januar 
1897 sind die Reisenden wieder in Deutsch¬ 
land eingetroffen, nachdem es ihnen geglückt 
ist, eine ganze Reihe geographisch wichtiger 
Entdeckungen zu machen und auch mehrere 
bisher gänzlich unbekannte und von fremden 
Kultureinflüssen absolut unberührte Indianer¬ 
stämme aufzufinden. Das bereiste Gebiet ist 
kartographisch aufgenommen und umfang¬ 
reiche ethnographische und andere Samm¬ 
lungen sind angelegt worden, die Expedition 
überhaupt als völlig gelungen zu bezeichnen. 

Dr. Max Uhle hat auch im Jahre 1896 
seine archäologischen Studien in Bolivia und 
Peru fortgesetzt und die Inseln im südlichen 
Teile des Titicaca-Sees, vor allem aber die 
Ruinen von Tiahuanaco im Detail untersucht. 
Auch in ethnographischer und linguistischer 
Hinsicht haben seine Reisen hochwichtige 
Resultate ergeben. 

Die Hoffnung, dass der Rio Pilcontayo 
eine Verkehrsstrasse in das Innere Argen¬ 
tiniens und nach dem südlichen Bolivia ab¬ 
geben könnte, ist durch die Forschungen des 
Leutnant O. T. Storm zu nichte gemacht 
worden, indem durch dieselben festgestellt 
worden ist, dass der Pilcomayo für Handels¬ 
zwecke nicht schiffbar ist und auch ein re¬ 
gelmässiges bezw. periodisches Fallen oder 
Steigen nicht vorhanden ist. Der rechte 
oder westliche Arm ist als Hauptstrom anzu¬ 
sehen. 

Wie oben in Guayana, so kommen auch 
zwischen Argentinien und Chile die Grenz¬ 
streitigkeiten nicht zur Ruhe. Durch einen 
neuen Vertrag zwischen beiden Staaten vom 


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Robert Koch: Ueber neue Tuberkulin-Präparate. 


285 




17. April 1896 sind auf Grund der von Chile 
gemachten Vorschläge die Streitigkeiten, wenn 
auch nicht endgültig beseitigt, so doch in 
ihren schwierigsten Partien ausgeglichen wor¬ 
den. Nach diesem Vertrage soll die Grenze 
in den Anden gemäss den Verträgen von 
1881 und 1893 bis zum 23® S. Br. markiert 
werden. Vom 210 bis 230 bilden die in dem 
Waflfenstillstandsvertrag von 1884 zwischen 
Chile und Bolivia festgesetzten Linien die 
Grenze. Bei Festsetzung der Grenze zwischen 
dem 230 und 27® S. Br. soll auch die Re¬ 
gierung von Bolivia hinzugezogen werden. 
Auf der langen Strecke vom 270 bis zum 
52 0 S. Br. soll die Grenze nach den Ver-. 
trägen von 1881 und 1893 festgelegt wer¬ 
den. Differenzen in ihrer Auslegung und 
Auffassung sollen durch Schiedspruch der 
Königin von England beigelegt werden. Hier¬ 
nach erhält also Bolivia keinen Hafen am 
Stillen Ozean. 

Auf einer Studienreise in das Gebiet des 
Rio Manso (41*/*® S. Br.) hat Prof. Dr. Hans 
Steffen in Santiago de Chile festgestellt, 
dass dieser Fluss ebenso wie der Palena 
und Puelo verschiedene Kordilleren-Ketten 
in schluchtartigen Thälern durchbricht, die 
ein Vordringen auf dem Wasserwege unmög¬ 
lich machen. In seinem Oberlaufe durch- 
fliesst der Manso breite, offene Thalebenen, 
die sich zur Viehzucht vortrefflich eignen 
und in denen grosse Trupps von verwilder¬ 
tem Rindvieh angetroffen wurden. Im Osten 
erhob sich die wasserscheidende Kordillere 
bis ca. 2000 m, im Westen liegt das zentrale 
Massiv. 

Wichtige Goldjunde im südlichen Chile 
seit Mitte 1895 dürften vielleicht zu einer 
stärkeren Besiedelung dieser Gebietsteile füh¬ 
ren. Vor allem sind es die Küstengebiete 
der Provinzen Llanquihue und Chiloö, in 
denen Gold in grösseren Mengen sich findet 
und zwar in feinzerteiltem Zustande in schwar¬ 
zem Sande. Nach dem Berichten im Jahre 
1896 waren bis Ende Oktober 1895 bei Ca- 
relmapu 42 und auf Chiloö (bei Cucao) 44 kg 
Gold gewonnen worden. 

Erwähnenswert ist ferner die am 14. Ja¬ 
nuar 1897 durch den englischen Alpinisten 
Dr. Fitzgerald bezw. den von diesem mitge¬ 
nommenen Schweizer führer Zurbriggen glück¬ 
lich ausgeführte Ersteigung des Aconcagua, 
dessen Gipfel als Ober 24000 engl. Fuss hoch 
befunden wurde. Diese Bergbesteigung ist 
Oberhaupt die höchste, welche bisher auf der 
Erde ausgeführt worden ist. 

Die schwedische Feuerlandexpedition un¬ 
ter Dr. Otto Nordenskiöld undP. Dus^n 
hat vom Dezember 1895 1896 die 

meisten Teile der Magellans-Länder besucht, 


sich besonders aber der Erforschung der 
grossen Halbinsel gewidmet. Hinsichtlich 
der geologischen und pflanzengeographischen 
Verhältnisse wurden hierbei wichtige Ergeb¬ 
nisse erzielt, die auf einer zweiten Expedition 
im nächsten Sommer noch weitergeführt wer¬ 
den sollen. Auch über die das Feuerland 
bewohnenden Oua-Indianer haben die Reisen¬ 
den wertvolles Material gesammelt. 

Schliesslich seien noch die neuesten chi¬ 
lenischen Unternehmungen im argentinischen 
Grenzgebiete zusammengestellt, Ober welche 
Resultate noch nicht vorliegen. 

Zur Fortsetzung seiner oben schon er¬ 
wähnten Sudien in Patagonien hat Dr. Stef¬ 
fen im Dezember 1896 Santiago verlassen, 
um den Aysen-Fluss bis zu seiner Quelle zu 
erforschen. Hierbei soll versucht werden, 
den Lago Fontana zu erreichen und dann 
am Ostabhang der Kordillere nach Norden 
bis zum Nahuel-Huapi vorzudringen. Von 
hier aus soll dann der Rückmarsch nach 
Puerto Montt angetreten werden. Gleichzei¬ 
tig ist eine zweite Expedition unter Dr. Stange 
und Dr. Krüger aufgebrochen, um die Ar¬ 
beiten der im Jahre 1894 durch das Eingrei¬ 
fen der argentinischen Regierung gestörten 
Palena-Expedition weiterzuführen. Endlich 
ist noch die Expedition von Dr. Nordenskjöld 
zu nennen, der seit November 1896 die chi¬ 
lenisch-argentinischen Grenzgebiete nördlich 
von 52® Südl. Breite bereist. 


''Robert Koch: Über neue Tuberkulin-Präparate. 

(D. med. Wochenschrift 1897 No. 14.) 

Vor nunmehr sechs Jahren hat Robert Koch 
seine Arbeit Ober das Tuberkulin veröffentlicht. < 
Die hochgespannten Hofihungen, die sich damals 
an die neue Behandlung der Tuberkulose knüpften, 
haben sich nicht erfüllt. Wie Virchow damals 
nachwies, war der Schaden, den die Behandlung 
mit Tuberkulin anrichten sollte, dadurch bedingt, 
dass infolge des Mittels der lokal fixierte Tuberkel¬ 
bazillus mobil gemacht wurde und, in die Blutbahn 
gebracht, andere, bis dahin noch gesunde Organe 
ergriff und so den Körper rasch zu Grunde richtete. 
Dass die Behandlung mit Tuberkulin keine Tuber¬ 
kulose heilte, steht wohl fest, ob sie aber wirklich 
so viel Schaden anrichtete, wie man in begreiflicher 
Depression Ober das Fehlschlagen ob der schönen 
Hoffnungen behauptete, mag dahin gestellt sein. 
Koch ^denfalls glaubt berechtigt zu sein, auf Grund 
seiner Erfahrungen an mehr als 1000 Fällen die An¬ 
nahme von der „Mobilmachung des Tuberkelbazillus“ 
als eine Fabel, die man endlich fallen lassen sollte, 
betrachten zu können. Fraglos fest steht die Be¬ 
deutung des Tuberkulins zur Stellung einer sehr 
frühen Diagnose auf Tuberkulose, viel früher, als 
dies mit den uns sonst zur Verfügung stehenden 
Mitteln möglich ist. Hierzu wird in der Veterinär¬ 
medizin in fast allen Kulturstaaten das Tuberkulin 
in ausgedehntem Massstab verwandt und die Rinder¬ 
tuberkulose (Perlsucht) wird infolge davon überall 
frühzeitig erkannt und erfolgreich bekämpft. 




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286 


Johannes Brahms f. 


Die Erfolglosigkeit der Therapie der menschlichen 
Tuberkulose mit Tuberkulin führt Koch darauf 
zurück, dass das Tuberkulin eine Reaktion gegen 
das von dem Tuberkelbazillus erzeugte Gift (Toxin) 
anrege und den Organismus immun (mftfest) gegen 
dieses Toxin, nicht aber gegen den Erzeuger des 
Toxin, den Tuberkelbazillus selbst mache. Da aber 
die ReaktionsiÜhigkeit des Organismus auf Tuber¬ 
kulin zeitlich beschränkt sei, so falle der Körper 
erneuten Rückfällen zum Opfer, oft ehe eine de¬ 
finitive Heilung eingetreten sei. — Der Glycerin¬ 
extrakt der Tuberkelbazillen — das Tuberkulin — 
besitzt also nicht die Fähigkeit, bakteriell zu im¬ 
munisieren, d. h. den Krankcitserre^^er zu töten, 
sondern nur die, gegen seine Produkte, Toxine, gift¬ 
fest zu machen. Koch ist der Meinung, dass im 
Glycerinextrakt eben nicht a//e chemischen Compo- 
nenten der Tuberkelbazillen enthalten seien, sondern 
nur jene gegen die Toxine immunisierenden Sub¬ 
stanzen, Um nun auch die bakteriell immunisierenden 
Substanzen zu erhalten, hat er Jahre hindurch die 
verschiedensten Versuche gemacht. Von grosser 
theoretischer Bedeutung war folgender: Es wurde 
ein Präparat durch Extraktion der Tuberkelbazillen 
mit schwacher Natronlauge*) gewonnen, das Koch 
TA nannte. Dieses Präparat, das getötete, aber 
noch gut färbbare Bazillen enthielt, wurde zu In¬ 
jektionen verwandt und dabei die Beobachtung 
gemacht, dass das subcutane Zellgewebe, in welches 
mjiziert wurde, sehr kleine Mengen von Tuberkel¬ 
bazillen aufnahm, aber nicht imstande war, grössere 
Dosen zu bewältigen, sondern dann eiterte. Diese 
höchst interessante Beobachtung brachte Koch auf 
die Idee, dass der unzerstörte lÄrper der Tuberkel¬ 
bazillen das Hindernis für die Authahme sei. Zer¬ 
trümmere man aber mechanisch den Tuberkelbazillus, 
so seien die resorbierenden Elemente des Körpers 
wohl imstande, eine grosse Dosis der chemischen 
Substanzen den BazUlus zu bewältigen. Diese me¬ 
chanische Zertrümmerung der Tuberkelbazillen 
wurde auf folgende Art bewerkstelligt. 

Die gutgetrockneten Bazillenkulturen wurden in 
einem Achatmörser mit dem AchatpistiU lange Zeit 
hindurch verarbeitet, die so gewonnene Substanz 
in destilliertem Wasser verteilt und in einer sehr 
kräftigen Zentrifuge zentrifugiert. Es liessen sich 
dabei zwei Schichten trennen, eine obere weisslich 
opaleszierende und ein fest am Boden haftender 
schlammiger Satz. Dieser wurde wieder getrock¬ 
net, zerrieben und abermals zentrifugiert, und so 
fort, bis schliesslich die ganze Kultur in eine klare 
Flüssigkeit verwandelt war. Die so gewonnenen 
Präparate waren, vorausgesetzt, dass sie gut zen¬ 
trifugiert waren, leicht resorbierbar und erzeugten 
keine Abscesse, da sie ja keine unzertrümmerten 
Bazillen mehr enthielten. — Die beim ersten Zen¬ 
trifugieren erhaltene obere klare Flüssigkeitsschicht 
nennt Koch T O (Tuberkulin O). Dieses T O ent¬ 
spricht fast völlig dem alten Tuberkulin, enthält 
also alle in Glycerin löslichen Bestandteile des Tu¬ 
berkelbazillus. Der oben erwähnte als Rest blei¬ 
bende schlammige Bodensatz (T R genannt) ist in 
Glycerin nicht löslich. In ihm glaubt Koch die so¬ 
wohl bakteriell als auch toxisch immunisierenden 
Substanzen des Tuberkelbazillus gefunden zu haben. 
— Ist ein Organismus nun durch immer steigende 
Dosen von T R gegen T R schliesslich immun, d.h. 
reagiert er nicht mehr gegen das Mittel, so ist er auch 
gegen grosse Dosen von T O und Tuberkulin immun, 
mit anderen Worten, er ist sowohl gegen den Ba¬ 
zillus als auch g^en dessen Toxin giftfest. — Zur 
Herstellung von T R müssen frühe, hochvirulente 
Bazillenkulturen verwandt werden. Die Herstellung 


* ’/i« Normal-NKtronlau^e. 


selbst ist wegen der damit verbundenen Staubbild¬ 
ung der getrockneten Bazillen nicht ungefährlich. 
Die Höchster Farbwerke stellen bereits im Gross¬ 
betrieb die Präparate genau nach Kochs Angaben 
her. — Was nun die &fahrungen mit diesem T R 
bei der Behandlung tuberkulöser Menschen angeht, 
so spricht sich Koch jedenfalls sehr reserviert aus. 
Vor allem will er eine Behandlung nur bei ganz 
frischen Fällen eintreten lassen, die noch nicht durch 
Erkrankungen mit anderen patiiogenen Keimen bes. 
Eiterbakterien, kompliziert sind. Die mit T R be¬ 
handelten Lupusfälle sollen eklatante Besserung ge¬ 
zeigt haben, die in nicht wenig Fällen als Heilung 
zu bezeichnen wären, wenn nicht die zu kurze 
Beobachtung ein endgültiges Urteil noch nicht zu- 
liesse. — Bei Lungentuberkulösen verschwand un¬ 
ter der Behandlung allmählich der Auswurf, womit 
natürlich auch der Befund an Tuberkclbazillen auf¬ 
hörte. Ebenso gingen die physikalisch nachweis¬ 
baren Veränderungen auf den Lungen rasch zurück. 
Irgend ein beängstigendes Nebensymptom, oder 
eine Schädigung der Gesundheit wurde in keinem 
einzigen Falle beobachtet. — Soweit die Veröffent¬ 
lichung von Koch. — Die objektive unparteiische 
klinische Prüfung dieses neuen Mittels wird bald 
zeigen, ob abermals ein genialer Versuch zur spe¬ 
zifischen Behandlung der Tuberkulose misslungen 
ist, oder ob es endlich Kochs jahrelanger rastloser 
wissenschaftlicher Arbeit gelungen ist, diese Geis- 
sel der Menschheit zu vernichten. 


Johannes Brahms f- 

.O Tod, wie bitter bist wenn sn dich 
„geaeoketeinMeDsch, der ^te Tsge und genu^ 
„hat und ohne Sorge tebet; und dem es wohl 
„geht in eilen Dingen and noch wohl essen 
„mag! O Tod, wie wohl thust du dem Dorf- 
„tigen, der da schwach und alt ist, der in allen 
„Sorgen steckt und nichts Besseres tu hoffen, 
„noch zu erwarten hat" 

Todesahnungen zogen durch sein Gemüt — 
Vier ernste Lieder waren die letzten Kompo- 
sitionenj die der vergangene Winter brachte und 
der obige biblische Text ailB ,.Jesus Sirach“ lag 
dem einen zu Grunde. - - Am 3. April starb Brahms 
und mit ihm ist einer jener Grossen dahingegangen, 
die über allem kleinlich irdischen Getriebe stehend 
von jedermann anerkannt und verehrt wurden, un¬ 
ter den heutigen Komponisten vielleicht der einzige. 

Nur kurz wollen wir seine Lebensgeschichte be¬ 
rühren : Er wurde am 7. Mai 1833 zu Hamburg als 
Sohn eines am dortigen Stadttheater angesteUten 
Kontrabassisten geboren. 1847 trat er zum ersten 
Mal als Pianist auf, doch hielt er sich besonders 
in den späteren Jahren fern von der Öffentlichkeit 
und nur gezwungen verstand er sich dazu, zu spie¬ 
len oder zu dirigieren, trotzdem er in beiaem 
Meister war. 1854 liess sich Brahms dauernd in 
Wien nieder; bis dahin hatte er in verschiedenen 
Städten Deutschlands und der Schweiz gelebt. 

Brahms ist der direkte Nachfolger Beethovens. 
Unbekümmert um alle Zeitströmungen, ohne Rück¬ 
sicht auf den Beifall der Fachleute und der Menge 
ist er den Weg gewandelt, der ihm der richtige 
schien. Die Musik, losgelöst von allen Gedanken¬ 
problemen, von Programmen und Grübeleien, nur 
als Ausdruck der Enmfindung, nur durch sich selbst 
wirkend, war seine Sphäre. 

Heute giebt es kaum ein Konzert, in dem nicht 
ein Brahms’sches Werk aufgeführt wird. Seine 
herrlichen Sonaten ebenso wie seine Kammermusik- 
Kompositionen dringen nicht in das breite Publi¬ 
kum. Weit bekannter schon sind die kleineren 


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Halbfass, Die Seen Ungarns. 


387 


Stöcke ftlr Klavier (die ungarischen Tänze), sein 
Klavierkonzert in D-moU und das Konzert ftir Vio¬ 
line. Doch auch sie kommen dem Hörer nicht ent- 
egen, die Schönheiten liegen nicht an der Ober- 
äche, man muss die Werke hören und immer 
wieder hören; was anfangs infolge der komplizierten 
Gestaltung herb erscheint, entfaltet bei wiederholtem 
Hören immer neue Schönheiten. 

Seine Serenaden für kleines Orchester bilden den 
Übergang von der Kammermusik zur eigentlichen 
Orchestermusik. Nach deren Publikation vermissen 
wir lange Zeit symphonische Werke, erst die Vari¬ 
ationen über ein Thema von Haydn leiten wieder 
zu dieser Gattung Ober. Diese Variationen sind 
ein Meisterwerk ersten Ranges. Immer neue über¬ 
raschende Tongcbilde lässt der geniale Meister aus 
dem einfachen Grundgedanken erstehen. Au^er 
der blühenden melodischen Erfindung haben wir in 
dem Werk eine souveraine Herrs^aft Ober die 
schwierigsten Formen kontrapunktischer Kunst zu 
bewundern. 

Brahms hat nie eine Oper geschrieben. Er 
sagte oft scherzweise, er könne sich nicht dazu 
entschliessen, ebensowenig wie zum Heiraten. Wäre 
einmal mit der ersten der Anfang gemacht, so 
werde sicher die zweite bald nachfolgen. 

Doch hat er uns zwei Ouvertüren Übermacht: 
Die Akademische Festouverture war gleichsam seine 
Doktordissertation; sie ist der Universität Breslau 
gewidmet, von der ihm der Doktorhut ver¬ 
heben 'wurde. Der Ouvertüre liegen mehrere der 
beliebtesten Studentenlieder zu Grunde, die geist¬ 
voll mit einander verbunden sind. Gleichzeirig 
entstand die tiefernste „ Tragische Ouvertüre'*. Nur 
^ Symphonien besitzen wir von Brahms, die sehn- 
Uchst erwartete fönfte blieb aus. Erst im Jahre 
1876 betrat er das Gebiet, auf dem er berufen war 
zu wirken, wie kein anderer nach Beethoven. Auch 
bei ihm ist der Hauptgedanke eines Werkes zu¬ 
gleich der Ausgangspunkt einer stetigen Weiter¬ 
entwickelung und Steigerung. — Durch die erste 
^mphonie „geht ein Zug herber Grösse", sagt 
Knorr*) „ein Ringen und Kämpfen, jetzt wie in 
dumpfer Verzweiflung, dann wieder in ungebeugtem 
wilden Trotze, bald herabsinkend zu wehmütiger 
Entsagung, bald wieder machtvoll sich emporringend 
zu triumphierendem Siegesgesang. Unwillkürlich 
gedenken wir dabei wohl bisweilen der §. Sym¬ 
phonie von Beethoven, mit weicher die vorliegende 
nicht nur die Tonart gemein hat.“ — In der zweiten 
Symphonie „leuchtet und glänzt es, wie die Sonne 
eines schönen Sommertags“. Sie kommt dem all¬ 
gemeinen Verständnis mehr entgegen und ist des¬ 
halb ebenso wie die dritte häufiger gespielt als 
die beiden andern. 

Die dritte wurde im Jahre 1883 veröffentlicht 
Sie ist prächtig und gravitätisch, dabei von tiefs¬ 
tem Wohllaut und einer Innigkeit, die Jedermann 
zu Herzen dringt. — Brahms ist ein Meister der 
Instrumentation, doch vermeidet er alles was an 
Effekthascherei streift; dazu ist er zu vornehm. 
Weder lässt er Posaunen, Hörner und Trompeten 
Zusammenwirken, noch Streichinstrumente in hohen 
Lagen tremolieren, alles ist zerlegt, verteilt und es 
rauscht und wogt bald in Freude, bald in Schmerz. 
Die vierte Symphonie gehört zu den seltner gespiel¬ 
ten. Sie ist gedankentief und gedankenschwer, mit 
Ausnahme der beiden mittleren Sätze melancho¬ 
lisch, doch auch in diesen beiden kommt es zu 
keiner naiven, ausgelassenen Freude; den Ernst 
vermag er nie ganz abzuschütteln. Bewundern wir 
in den Orchesterwerken die hohe Kunst Brahms’, 
so spricht in den Liedern zu uns sein tiefes Gemüt. 


*) Huaikülhrer No. 73. 


Seine Vocalkompositionen sind national deutsch im 
hehrsten Sinne des Wortes. Auf keinem anderen 
Boden hätten sie entstehen können und in keiner 
anderen Sprache kommen sie zu ihrer vollen Wir¬ 
kung. Man denke an sein glücklich-stolzes „Wie 
bist Du meine Königin, so hold und schön“, an die 
„Deutschen Fest- und Gedenksprüche“ und die 
deutschen Volkslieder 

2. B. .Da UDtea im Thale 

Läufl’a Wasser so trflb 
Und i kann dir ’s njt sage, 

1 hab di’ so lieb 

oder das neckische 

Ach Moder, ich well en Ding han! 

,Wat fär en Ding, min Hetzenskind ?* 

fragt die Mutter „Wells de dann en Pöppchen han? 
Wells de dann en Kleidchen han?“ Erst als sie 
fragt „Wells de denn ene Mann han? da sa« das 
Töchterchen: „Jo, Moder, jo! Ehr sitt en gode Mo¬ 
der, Ehr künnt dat Ding wähl rode! Wat dat Kind 
fbr’n Ding well han!“ 

Und nun gar seine herrlichen ernsten Lieder für 
Chor und Orchester: Das „Schicksalslied'', der „Ge¬ 
sang der Parzen", „Nänie", die „Alt-Rhapsodie" 
das „ Triumphlied." — Die Krone von allem aber ist 
sein ,Deutsches Requiem", das Brahms dem Andenken 
seiner entschlafenen Mutter weihte und das den Welt¬ 
ruf des Meisters begründete. Den Text dazu stellte er 
sich aus der heiligen Schrift zusammen. Das Werk 
ist von überwältigender Wirkung, der vielleicht 
keine andere Totenmesse gleichkommt. — Unbe¬ 
schreiblich ist der Eindruck, wenn der Chor, wie in 
seligem Traume singt: „Ich will euch trösten, wie 
einen seine Mutter tröstet“ und Ruhe und Zuver¬ 
sicht ist eineekehrt wenn das Werk mit der Ver- 
heissung ausklingt: 

„Ja, der Geist spricht, dass sie ruhen von 

ihrer Arbeit; 

„Denn ihre Werke folgen ihnen nach. 

B. 


Die Seen Ungarns. 

Von Dr. Halbfass. 

Das Königreich Ungarn ist nicht so arm an 
Seen, wie man gewöhnlich in Westeuropa annimmt 
Der Balaton, deutsch Plattensee, ist mit 700 qkm 
bedeutend grösser als der Boden- und der Genfer- 
see; der Fartä, deutsch Neusiedlersee, war zuletzt 
von August 1865 bis Ende Dezember 1870 fast ganz 
trocken, nur an einigen tieferen Stellen zeigte sich 
Wasser. Die neue Füllung des Sees begann im 
Januar 1871 und erreichte ihren Höhepunkt im 
Jahre 1886, wo der See 356 qkm bedeckte. Seit 
dieser Zeit ist der See wieder langsam im Abneh¬ 
men begriffen; zahllose mehr oder minder ausge¬ 
dehnte Röhrichte reihen sich durcheinander und be¬ 
zeugen die sehr geringe Tiefe. Am Südufer des 
Sees, etwa 500 Schritte vom Ufer entfernt, fand 
man 1876 Thonscherben, Tierknochen und Steinaxt¬ 
fragmente, Reste der Steinzeit. Zu den periodisch 
schwankenden Seen gehört auch der ToUcser See, 
eine halbe Stunde von Szabadka (Theresiopel) ent¬ 
fernt, der erst 1837 entstanden; der Ecseder See 
ist von 170 qkm im Jahre 1830 jetzt auf kaum 
20 qkm zusammengeschrumpft. Im Comitate Csik 
liegt der äusserst romantische Sankt Annasee und 
im benachbarten Comitat Udvarhely im Walde von 
Nagy Galombfalva (Gross TaubendorO das „Meer¬ 
auge“ der Sz6klen, der Räk-ü (Krebssee). Eben- 


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288 


Heinrich von Stephan f . 


falls in Siebenbürgen liegen der Tünderek-tana (See 
der Feen), der Gyil-kos-tl (Mondsee), das Meerauge 
Ocu-Be; der Bänkersee, der Csertö (Eichensee); 
der Pokol-tf (Höllensee) u. a. m. Von den meisten 
dieser Seen sind zahlreiche Sagen und Märchen 
verbreitet, fast alle besitzen heilkräftiges Wasser. 
In Kroatien hat sich 1895 Mitte Mai 10 km von den 
Plitaiczaer Seen zwischen Plaszki und Jeszenicz 
ein neuer See gebildet, von etwa 10 km Länge 
und 50 m Tiefe, der ftlr die Bewohner der Gegend 
eine grosse Kalamität ist, weil ihnen dadurch die 
besten Felder weggenommen wurden. Der Tra* 
dition nach soll sich in dem Kessel auch früher 
schon einmal Wasser befunden haben, wofür auch 
die geologische Bildung des Bodens spricht. *) 

Seen in Rilodagh. 

ln dem hohen unwegsamen Grenzgebirge zwi¬ 
schen Bulgarien, Ostrumelien und Macedonien, dem 
Rilodagh, liegen zahlreiche kleinere Hochseen, über¬ 
wiegend in der Höhe von 2100—2400 m, mit deren 
Erforschung sich Jovan Cvijic, Prof, der Erdkunde 
an der serbischen Universität in Belgrad, näher be¬ 
schäftigt hat. Sie liegen meist treppenfbrmig an- 
geördnet und liegen im Felsbecken oder in den 
von den Moränen abgedämmten Wannen, gehören 
also zum Typus der sogen. Karseen, nur wenige 
verdanken ihre Existenz Bergstürzen oder Schutt¬ 
kegeln. Ihre Länge schwankt zwischen 80—1000 m, 
ihre Breite zwischen 50—500 m, ihre Tiefe erreicht 
meist nur 6—7 m, nur wenige scheinen eine grös¬ 
sere Tiefe zu besitzen. Bis auf 2 von himmelblauer 
Farbe zeichnen sie sich durch ihre schöne dun¬ 
kelgrüne Farbe und durch grosse Durchsichtigkeit 
aus. Die Oberflächentemperatur des Wassers nimmt 
mit der Höhe der Seen beträchtlich ab, was darin 
seine natürliche Ursache findet, dass die treppen¬ 
artig gelagerten Seen durch teils unterirdische, teils 
oberirdische Abflüsse, in direkter Verbindung mit 
einander stehen. Bis auf den grossen und kleinen 
Stinksee, in denen der Sage nach ein grosses Was¬ 
sertier lebt, das die Fische verdrängt hat, sind die 
Riloseen sehr fischreich. Geographisch sind sie 
noch besonders deshalb interessant, weil mehrere 
der bedeutendsten Flösse der Balkanhalbinsel, wie 
die Maritza, die Nesta, der Isker, der Ril, aus ihnen 
entspringen. 


Heinrich von Stephan t- 

Der Staatssekretär des Reichs - Postamtes Dr. 
Heinrich von Stephan ist am 8. April früh 
Uhr seinem schweren Leiden erlegen, und die 
ganze zivilisierte Welt nimmt Anteil an dem Ver¬ 
luste, den Deutschland durch das Hinscheiden dieses 
genialen Mannes erlitten hat. 

Am 7. Januar 1831 zu Stolp in Pommern ge¬ 
boren, trat er nach Absolvierung des Gymnasiums 
im Jahre 1848 in den preussischen Postdienst ein. 
Seine glänzenden Fähigkeiten, gepaart mit uner¬ 
müdlicher Schaffensfreudigkeit, lenkten bald die 
Aufmerksamkeit der Vorgesetzten Behörde auf den 
jungen Beamten, und rasch stieg er von Stufe zu 


•) Auszug aus dem Artikel ,Hazäsk 611övizei* von Haausz 
latvän inFoTdrajzi ROzlemcoyek, XXIV KOlet; I FQzet. — (Jahr* 
buch der un^ar. Gesellschaft fOr Geographie). 


Stufe. 1858 wurde er zum Postrat und 1867 zum 
Geheimen Ober-Postrat befördert. Am 26. April 
1870, also im Alter von erst 39 Jahren, wurde er 
zum General-Postdirektor des Norddeutschen Bundes 
ernannt. Beinahe 27 Jahre hat er an der Spitze 
der deutschen Post- und Telegraphen-Verwaltung 
gestanden, und seiner Thatkraft ist es während dieser 
Zeit gelungen, das deutsche Post- und Telegraphen¬ 
wesen zu einer ungeahnten Entwickelung zu bringen 
und Einrichtungen zu schaffen, die aOgemein im 
In- und Auslande als mustergUtig anerkannt werden. 

Unter seiner genialen Leitung wurde eine «ft- 
heitliche Posigesetzgebung geschaffen und der Be^ 
triebsdienst von umständlichen Formen befreit und 
einheitlich geregelt. Die Verkehrsanlagen wurden 
wesentlich erweitert, die Versendung^edm^ngen 
vereinfacht und neue Persendungsarten — die Post¬ 
karte, der Postauftrag sind seine Erfindung — ««- 
geführt. Unablässig war er bemüht, die Gebühren 
zu ermässigen; durch Einführung des billigeren 
Einheitsportos für die Packete bis zu 5 kg hat er 
dem deutschen Postpacketverkehr zu einer mäch¬ 
tigen Entwickelung verhelfen und weite Gebiete 
menschlicher Thätigkeit neu belebt und in neue 
Bahnen gelenkt. 

Ebenso hat er die Neuorganisierung des LandposU 
dienstes als eine seiner wesentlicfeten Aufgaben 
betrachtet, um die Unterschiede wirtschaftlicher Art 
zwischen Stadt und Land nach Möglichkeit auszu¬ 
gleichen. Welche Erfolge er auf diesem Gebiete 
durch die Einführung der Posta^enturen und Post- 
hOlfsstellen, durch die zweimalige Bestellung der 
Mehrzahl aller Landorte, durch die Verbesserung 
und Vermehrung der Postverbindungen erzielt hat, 
bedarf keiner weiteren Erörterung. Auf seine An¬ 
regung hin sind Post und Telegraphie zu einer ge¬ 
meinsamen Verwaltung verschmolzen worden, wo¬ 
durch nicht allein eine Verminderung der Anga¬ 
ben herbeigeführt wurde, sondern auch auf eine be¬ 
deutende Vermehrung der Telegraphenanstalten 
Bedacht genommen werden konnte. Mit seinem 
Scharfblick erkannte er sogleich die Bedeutung des 
Fernsprechers und machte ihn dem öffentlichen ver¬ 
kehre nutzbar zu einer Zeit, wo der neuen Erfin¬ 
dung noch allgemein wenig Beachtung geschenkt 
wurde. Seiner Initiative entsprungen ist die Ein- 
nchtung des deutsch-amerikanischen Seepostdiensies, 
sowie der deutschen Post • Dampfschiffverbind¬ 
ungen nach Ostasien, Australien und Afru^a, durch 
wdche Deutschland hinsichtlich der überseeischen 
Verbindungen von der Abhängigkeit vom Auslande 
in erfreulichster Weise befreit wurde. Die Ver¬ 
dienste des Verblichenen um die Baukunst durch 
Schaffung zahlreicher architektonisch schöner Post¬ 
häuser sind ebenso bekannt wie seine Bestrebungen 
zur Reinigung der deutschen Sprache von Fremd¬ 
wörtern. 

Sein grösstes Werk aber, das ihm Unsterblich¬ 
keit für ^e Zeiten sichert, ist die Gründung des 
IVeltpost-Vereins. Seiner schöpferischen Gestaltungs¬ 
kraft ist es zu danken, dass ein gemeinsames Band 
die zivilisirten Völker des ErdbaUs umschlingt und 
einheitliche Beförderungsbestimmungen und gleiche 
Gebührensätze innerhalb dieser Völkergemeinschaft 
gelten. 

Mit ihm hat ein Leben geendet, das in uner¬ 
müdlicher Thätigkeit der Förderung des öffentlichen 
Wohles und des deutschen Ansehens geweiht war. 

V. 


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Betrachtungen und kleine Mitteilungen. 


289 


Betrachtungen und kleine Mitteilungen. 

y/ Die Konstitution des Caflfeln und damit zu- 
^ sammenh&ngende Fragen. Den genialen Unter¬ 
suchungen Emil Fischers ist es gelungen die 
Konstitution, d. h. den inneren Bau des Gaffeln aufzu¬ 
klären.*) Dies ist an sich schon eine bedeutende 
Errungenschaft, denn die Kenntnis der Konstitution 
ist der erste Schritt zur künstlichen Herstellung 
eines Körpers. Das Gaffeln ist der Bestandteil des 
Kaffee und Thee, dem sie ihre anregende Wirkung 
verdanken. Gelingt es das Gaffeln billig auf künst¬ 
liche Weise herzustellen, so ist man in der Lage, 
den Kaffeeersatzstoffen auch die angenehm er¬ 
regende Wirkung zu geben, die ihnen vorderhand 
noch fehlt. — Fast noch bedeutungsvoller erscheint 
uns aber der Teil der Untersuchung, welcher die 
enge Verwandtschaft des Gaffeln mit der Harn¬ 
säure, dem Xanthin, Hypoxanthin und Adenin klar 
legt. — Die drei letztgenannten Körper, früher als 
blosse Ausscheidungsprodukte des Organismus, ins¬ 
besondere von Drüsen, betrachtet, wurden durch 
die Untersuchungen von Kossel als Bestandteile 
der Nuclelne (Hauptbestandteil des Zellkerns) er¬ 
kannt, die offenbar im Ghemismus der Zelle eine 
wichtige Rolle spielen. Sie sind höchst wahrschein¬ 
lich dasMaterial, aus dem die Harnsäure, ein Aus¬ 
scheidungsprodukt des Tierkörpers, das bei den 
Säugern z. B. mit dem Harn abgeht, gebildet wird. 
So hat man in den obengenannten Körpern wieder 
eine Reihe von Substanzen genau kennen gelernt, 
deren enge Beziehung zum Eiweiss ohne Zweifel 
ist und immer mehr Hoffnung darf man hegen, einst 
auch über dessen Bau Aufklärung zu erhalten, b. 
• « 

Jobanniskäferlicht. Vor einigen Jahren hat 
Prof. Langley in Washington die von einem gros¬ 
sen Leuchtkäfer, dem Kubanischen Pyrophorus noc- 
tilucus, ausgesandten Strahlen eingehend untersucht. 
Er fand, dass die dunklen Wärmestrahlen, welche 
weitaus den grössten Teil der Gesamtstrahlung un¬ 
serer gewöhnhchen Lichtquellen bilden, in dem Lichte 
des Pyrophorus gänzlich fehlen. Dieses besteht 
ausschliesslich aus gelben und grünen Strahlen, al¬ 
so gerade aus denjenigen, welcne für unser Auge 
den grössten Helhgkeitswert besitzen. Im physi¬ 
kalischen Sinne, d. h. wenn wir uns nur an das 
Verhältnis zwischen gesamter und sichtbarer Strah¬ 
lung halten, ist also der Pyrophorus eine ungemein 
ökonomische Lichtquelle; wollten wir dagegen di^ 
zur Erzeugung einer bestimmten Strahlungsintensi¬ 
tät Oberhaupt aufgewendeten Energiemengen in den 
natürlichen und künstlichen Lichtquellen vergleichen, 
so würde das Resultat freilich für den Pyrophorus 
weniger günstig Ausfallen. 

Zur Zeit, als Langley diese Untersuchung aus- 
fohrte, wusste man noch nichts von Röntgenstrah¬ 
len. Nachdem aber Röntgen seine folgenreiche 
Entdeckung gemacht und nachdem H. Becquerel 
(vergl. den Aufsatz: „Was sind die Röntgenstrah¬ 
len“ in Nr. 6 der „Umschau“) gezeigt hatte, dass 
gewisse fluoreszierende Körper neben dem für un¬ 
ser Auge sichtbaren Fluoreszenzlicht eine den Rönt- 

f enstrahlen nahe verwandte Gattung unsichtbarer 
trahlen aussenden, lag die Frage nahe, ob das¬ 
selbe auch bei den Leuchtkäfern, deren Licht in 
seiner Farbe demjenigen der genannten fluoreszie¬ 
renden Körper ungemein ähnelt, der Fall sei. Mit 
. dieser Frage hat sich unlängst H. Muraoka in Kyoto, 
dem in dem japanischen Johanniskäfer ein ähnlich 
günstiges Matenal wie der Kubanische Pyrophorus 
zur Verfügung stand — diese Johanniskäfer, die im 


Sommer in der Umgebung von Kyoto sehr zahl¬ 
reich Vorkommen, erreichen nämlich eine Länge 
bis zu 2 cm — beschäftigt. Er fand, dass das Licht 
dieser Käfer in der That Strahlen enthält, welche 
manche Eigenschaften mit den Becquerel’schen 
Strahlen teilen und welche demnach ebenfalls zwi¬ 
schen den ultravioletten und den Röntgenstrahlen 
zu stehen scheinen. Abschliessende Resultate konn¬ 
ten freilich, weil die ^Käferjahreszeit zu Ende ging, 
noch nicht erhalten werden. Weitere Untersuch¬ 
ungen, auch an anderen Spezies derselben Tier¬ 
gattung, wären deshalb von Interesse. b. d. 


Jupiter. Von den unserem Sonnensystem an¬ 
gehörenden Planeten ist bekanntlich der Jupiter der¬ 
jenige, welcher an Grösse dem Zentralkörper am 
nächsten kommt. Auch seine Oberflächenbeschaf- 
fenheit scheint, soweit wir überhaupt Kenntnis über 
dieselbe bezügl. der Planeten haben, der der Sonne 
am ähnlichsten zu sein. Die schnellen Veränder¬ 
ungen in der Breite und dem Aussehen der ver¬ 
schiedenen Streifen und Flecken, welche wir beob¬ 
achten, sprechen dafür. Solche Flecken auf Jupi¬ 
ter sind in neuerer Zeit in Utrecht von A. A. N^- 
land häufig beobachtet worden, und. derselbe ist 
imstande, aus den auf Grund der Bewegung der 
einzelnen Flecken abgeleiteten Rotationszeiten des 
Jupiters darauf schliessen zu können, dass die in 
verschiedenen Breiten (jovicentrischen) befindlichen 
Flecken verschiedene Werte für die Umdrehungs¬ 
zeit des Planeten geben d. h. also, dass in den ver¬ 
schiedenen Teilen der uns sichtbaren Umhüllung 
des Planeten verschiedene Bewegungszustände herr¬ 
schen. Also wiederum eine ähnliche Erscheinung, 
wie w’ir sie auch an den Sonnenflecken wahmeh- 
men, deren Grund bisher aber auch noch nicht 
nachgewiesen ist. — A. A. Nyland fand für die 
einzelnen Breiten folgende Rotationszeiten :*) 


—330 Jovicentr. Breite 

9“ 56 

m 

24-5' 

-27 

W 

55 

» 

44-3 

-15 

» 

55 

n 

1.2 

-12.5 

n 

54 

ri 

59-9 


n 

55 

H 

9-3 

-IO 

n 

55 

n 

7.8 

-9 

M 

55 

n 

25-7 

+II-7 

n 

55 

97 

30.9 

+23-5 

n 

56 

n 

1.6 

+28.0 „ 

» 

56 

ft 

0.3 


Aus einer grossen Anzahl von Rotationen (durch¬ 
schnittlich etwa 200). 

Daraus geht hervor, dass in einem Gürtel von et¬ 
wa 10» südl. jovic. Breite die Rotation am schnell¬ 
sten vor sich geht und dass dieselbe nach beiden 
Polen hin etwas abnimmt. Wenn auch hierfür eine 
Erklärung zunächst nicht gegeben werden kann, 
so dürfte doch diese Analogie mit der Sonne von 
allgemeinerem Interesse und des weiteren Studiums 
besonders wert sein. Dr. a. 


Über die sogen. „Hundemenseben“ veröffent¬ 
licht A. Brandt eine interessante Studie im Biolog. 
Zentralbl. vom i. März 1897. — In den letzten drei 
Jahrhunderten sind nicht einmal 20 dieser Miss¬ 
bildungen bekannt geworden, eine Zahl, die sich 
noch mehr verringert, wenn man bedenkt, dass sie 
erblich sind, dass also immer mehrere Fälle eigent¬ 
lich nur als einer gerechnet werden dürfen. Sie 
verteilen sich auf beide Geschlechter, und auf die 
verschiedensten Rangstufen. Die Behaarung der 
echten Hundemenschen ist im Wesentlichen immer 
gleich. Die Unterschiede, die sich scheinbar aus 


•) Bcr. d. d. chem. Ges. XXX, Nr. 5. 


*) Astron. Nachr. Nr. 3401. . 


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290 


Betrachtungen und kleine Mitteilungen. 


den Abbildungen solcher Monstrositäten ergeben, 
sind auf die verschiedene Frisur zurOckzuiöhren. 
Vor Allem ist der ganze Kopf gleichmässig mit 
seidenweichen, überall fast gleich langen, hellblonden 
Haaren bedeckt. Besonders lange Locken stehen 
oberhalb der Nasen-Wurzel, auf den Nasen-Flügeln 
und im äusseren Gehörgange (hier bis 12 cm lang.) 
Bei einigen wnarden die Kopfhaare selbst mehrere 
Fuss lang. Vom Kopfe erstreckt sich dieselbe Be* 
haarung mehr oder weniger auf den ganzen übrigen 
Körper. Wie gesagt, ist diese Missbildung erblich. 
Aber bei der zweiten oder dritten Generation wer¬ 
den die Kinder nackt geboren und erhalten die 
Behaarung erst nach einigen Monaten oder selbst 
nach einigen Jahren. — Immer sind die Zähne in 
Zahl und Ausbildung reduziert, und kommen erst 
sehr spät zum Ausbruche. Zur Entstehung dieser 
Missbildung weist Brandt auf die foetale Behaarung 
hin, das sogen. Lanugo. Audi dieses legt sich 
zuerst am Kopfe an, im 3. und 4. Monate, bricht 
Ende des 5. hervor und steht in voller Ausbildung 
Ende des 6., Anfang des 7. Monats. Vom Kopfe 
breitet es sich zunächst über den Rumpf, später 
auch über die Gliedmassen aus, bis es schliesslich 
als feiner, dichter 6, 8—13,5 langer Pelz den 
ganzen Foetus bedeckt. Normaler \Veise wird es 
später wieder abgestossen. Nach Brandt kann es 
aber in Folge einer Entwickelungs-Schwäche der 
Haut stehen bleiben, auch noch nach der Geburt, 
und so entstehen die Hundemenschen. Es hat die 
Haut nicht die Kraft, das Foetal-Haar abzustossen 
und das bleibende entstehen zu lassen. Aus dieser 
Entwickelungsschwäche der Haut erklärt sich auch 
die mangelhafte Zahnbildung. Da das Lanugo der 
Säugetiere in derselben Reihenfolge entsteht wie 
das des Menschen und auch bei ihnen Entwicklungs¬ 
schwäche der Haut, die sich naturgemäss hier in 
Haarlosigkeit äussert, mit mangelhafter Zahnbildung 
verknüpft ist, darf man diese Behaarung der Hunde- 
Menschen, deren bekanntester der Russe Adrian 
Jewtichjew und sein Sohn Fedor waren, nicht mit 
der der ^ugetiere in Verbindung bringen, sondern 
höchstens’ mit der der Ursäuger, bei denen sich zum 
ersten Male Haare ausbildeten, weshalb Brandt hier- 
ftlr den Namen H^’pertrichosis lanuginosa promam- 
malica vorschlägt. 

.. Als Gegensatz hierzu fasst Brar\dt die pelzartige 
Uberhaarung auf, die sich, eher häufiger bei ein¬ 
zelnen Menschen an einzelnen Theilen oder auch 
am ganzen Körper findet, aber auch ganze Volks¬ 
stämme (Ainos) auszeichnet. Hier sind immer die 
auch sonst behaarten Stellen besonders stark be¬ 
haart. Alle Haare sind meist ziemlich stark pig¬ 
mentiert. Im Gegensatz zu vorhin sind hier die Kiefer 
übermässig ausgebildet. Es ist hier also eine Über¬ 
produktion der Haut vorhanden, die thatsächlich 
etwas Tierisches an sich hat. Die Behaarung ähnelt 
eher der der Affen, an die auch sonst Manches 
erinnert, wie vor Allem die meist vorhandene 
Schiefzähnigkeit. Selbstverständlich sind auch diese 
Menschen, deren bekannteste die Krao, Lina, Ncu- 
mann und Julia Pastrana waren, keine Bindeglieder 
zwischen Mensch und Aften, als welche sie von der 
Reklame hingestellt werden, wenn auch ihre Be¬ 
haarung als Atavismus, d. h. Rückschlag nach 
unseren tierischen Vorfahren hin aufzufassen sein 
dürfte, weshalb Brandt ftlr sie den Namen Hyper- 
trichosis mammalica, bezw'. anthropoidea vorschlägt. 

REH. 

• • 

Der menschliche Bart. Seiner Studie über die 
Haar-Menschen schliesst A. Brandt eine solche 
über den menschlichen Bart, besonders über den 
der Viraginer oder Mannweiber an. (Biolog. Zen- 


tralbl. vom 15. März 1897. — Nach Darwin und 
den meisten Zoologen ist unser Bart noch eine 
tierische Bildung. Er ist bei gew’issen Tieren ent¬ 
standen durch geschlechtliche Zuchtwahl, indem die' 
Weibchen solche Männchen, die durch einen schönen 
Bart geschmückt waren, den übrigen vorzogen. Auf 
die Weibchen wurde er nicht vererbt, weil die 
Männchen den umgekehrten Geschmack hatten. Von 
unseren affenähnlichen Vorfahren, die w’ohl wie 
die meisten Affen bei Männchen einen Bart hatten, 
ist er uns überliefert. Dafür spreche auch, dass der 
menschliche Fötus, und zwar inbeiden Geschlechtern, 
stärkeren Haarwuchs um den Mund habe. Dass 
auch gelegentlich Frauen einen Bart haben, beruhe 
auf der Variabilität aller sogen, sekundären Ge¬ 
schlechts-Charaktere. — Eine in jeder Beziehung 
entgegengesetzte Ansicht vertritt A. Brandt. Er 
fasst den Bart nicht als Erbstück, sondern als Neu¬ 
erwerbung auf, so dass selbst der gelegentlich bei 
Frauen auftretende eine prophetische Bedeutung 
habe. Seine Gründe sind folgende: Der Bart der 
Tiere sei nicht mit dem des Menschen zu vergleichen, 
da ersterer aus gewöhnlichen Haaren, letzterer aus 
Dauerhaaren, d. h. solchen mit unbegrenztem Wachs¬ 
tum bestehe, wie sie bei Tieren nur an Mähne und 
Schweif des Pferdes und Mähne des Löwen, aber 
nicht in so ausgeprägter Weise Vorkommen. Da 
die embryonale Behaarung, wie Brandt in seinem 
ersten Aufsatze au?einandersetzte, nicht auf unsere 
Säuger-, sondern auf die gemeinsamen Ursäuger- 
Vorfahren, zurückweise, sei der embryonale Pseudo¬ 
bart ohne Bedeutung. Ausserdem geht dieser ja 
auch vor der Geburt verloren, und der echte Bart 
beginnt erst im 14.—16. Jahre, mit dem Beginn der 
Mannbarkeit, zu sprossen. Dies spricht also schon 
für seine Auslegung als späte Neuerwerbung, ebenso 
w’ie seine schöne Ausbildung undhohe Differenzierung. 
Brandt filhj^t Beispiele von 1,70, 2,50 m und mehr 
Bartlänge auf. Von geschlechtlicher Zuchtwahl 
könne bei dem verschiedenen Geschmacke ver¬ 
schiedener Völker keine Rede sein, da bei manchen, 
die ohnehin fast bartlos sind, jedes Haar gewaltsam 
entfernt wird, während andere stolz auf möglichst 
grossen und starken Bart sind. Dass zu den er- 
steren gerade viele niedere, zu den letzteren weit 
höhere Völkerstämme gehören, wäre unverständlich, 
wenn der Bart ein üerisehes Erbstück sei. Wie 
der Mann in seiner ganzen Organisationshöhe der 
Frau vorausgeeilt ist, so sei er es auch in Bezug 
auf den Bart. Aber langsam komme die Frau nach, 
so dass jetzt schon etwa 10% der Frauen stärkeren 
Bartwuchs habe. Die Frau der Zukunft, allerdings 
einer Zukunft, mit der wir noch nicht zu rechnen 
brauchen, würde also ebenfalls mit einem Barte 
geziert sein. reh. 


Druckfehler. 

Im Aufsatz „Das Theater im Winter 1896^“ 
S. 260, Sp. 2, Z. 1/2 v. o. muss es heissen: „Das 
Theater ist ein zweifelhaftes Geschäft geworden 
(statt: eine zweifelhafte Gesellschaft).’ 


No. 17 der Umseban wird eothalteo: 

SchneeganH, Rabelais. — Holde, Die Aufgaben der tech¬ 
nischen Versuchsanstalten. — Günther, Mond- und Erdkunde. 
— Klemm, Indische Forschungen. — Schumacher, Vom römischen 
Grenzwall. - Bruck, Die Schrift der Mykenier. 


G. Horstinaan's Druckerei. Frankfurt a. M. 


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DIE UMSCHAU 

ÜBERSICHT ÜBER DIE FORTSCHRITTE UND BEWEGUNGEN AUF 
DEM GESAMTGEBIET DER WISSENSCHAFT, TECHNIK, 
LITTERATUR UND KUNST 

herausgegeben von 

DR. J. H. BECHHOLD 


Wöchentlich eine Nummer 
Zu beziehen durch 
alle Buchhandlungen und 
Postanstalten. 

PosUcitungspreisliste No. 7931 a. 

Verlag von: 

H. Bechhold Verlag, Frankfurt a. M. 


Neue Krame 19/31. 


Preis vierteljährlich 
M. 3.5a 

Jahres. Abonnement 
Preis M. io. — . 

Im Ausland nach Cour«. 
Verantwortlicher Redakteur: 

Otto Adolf Wolters, Frankfurt a. M. 


>6 17. I. Jahrg. 


Ntichdruck oms <Um Inhalt dar Zaitachrift ofma Erlaubma 
der Redaktion verboten. 


1897. 24. April. 


Die Aufgaben der Technischen Versuchs* 
anstalten. 

Von Dr. D. Holde. 

Die Technischen Versuchsanstalten des 
Preussischen Staates bestehen aus der mit der 
Technischen Hochschule verbundenen Kgl. 
tnechanisch'technischen Versuchsanstalt zu Char¬ 
lottenburg und der mit der Bergakademie 
verbundenen Kgl, chemisch - technischen Ver¬ 
suchsanstalt zu Berlin. Beide Anstalten dienen 
der Förderung des Materialprüfungswesens, 
die erstere unter besonderer Betonung der 
mechanischen und sonstigen physikalischen 
Eigenschaften der Stoffe, die letztere unter 
Berücksichtigung der chemischen Zusammen¬ 
setzung der Materialien. Die an die Anstalten 
herantrbtenden Aufgaben sind mannigfachster 
Art. Auf Antrag von Behörden, Privatinteres¬ 
senten, industriellen Vereinen etc. gelangen 
Materialien, welche im täglichen Verkehrs¬ 
wesen, im Hoch- und Tiefbau, in der In¬ 
dustrie und Technik gebraucht werden, zur 
Prüfung — es seien hier genannt Konstruk¬ 
tionsmaterialien (Metalle, Holz etc.), Bauma¬ 
terialien (Gesteine, Cement, Beton etc.), Tinte, 
Papier, Pappe, Gewebe, ScHmiermittel, Rost¬ 
schutzmittel u. s. w. Hand in Hand mit vor¬ 
stehenden Untersuchungen geht die Ausbil¬ 
dung der Prüfungsverfahren zum Studium der 
Materialeigenschaften — seien es nun mecha¬ 
nische, physikalische oder chemisch-analytische 
Methoden. 

Auch allgemeinere, aus den Kreisen der In¬ 
dustrie, der technischen Behörden und anderer 
Staatsbehörden oder auch aus eigener An¬ 
regung an die Anstalten herantretende Fragen, 
welche in Beziehung zur Materialprüfung 
stehen — wie beispielsweise die Untersuch¬ 
ung der Veränderung von Baustoffen durch 
Witterungseinflüsse, die Dauerhaftigkeit der 
verschiedenen Papiersorten u. s. w. — fallen 
in das Thätigkeitsgebiet der Versuchsanstalten. 

Unucban 1897. 


Um einen genauen Einblick in die Arbeits¬ 
gebiete zu gewinnen, müssen wir die Glie¬ 
derung der Anstalten und einzelne wichtige 
Etappen ihrer Entwickelung ins Auge fassen. 

Die Königliche mechanisch-technische Ver¬ 
suchsanstalt umfasst jetzt vier Abteilungen, 
denen je ein Ingenieur bezw. Chemiker vor¬ 
gesetzt ist. 

Die älteste Abteilung, diejenige für Metall- 
prüfung, war ursprünglich nur für die Prüfung 
von Eisen- und anderen Konstruktionsmate¬ 
rialien auf Zug- und Druckfestigkeit, Elastizität 
etc. eingerichtet. Die zu den Versuchen be¬ 
nutzten Festigkeitsmaschinen gestatten durch 
hydraulische Anlagen Zug- und Druckkräfte 
bis zu 500 000 kg zu entwickeln. Im Laufe 
der Zeit wurde in das Arbeitsprogramm die 
Prüfung von Rostschutzmitteln für Eisenkon¬ 
struktionen, Bindemitteln (Leim), von Röhren, 
Treibriemen, Seilen und Seilschlössern etc. 
aufgenommen. Diese Untersuchungen gewin¬ 
nen an Bedeutung, wenn man ihre Beziehun¬ 
gen zur Sicherheit der Bauten, der Personen- 
und Lastenbeförderungen bei Fahrstühlen, 
Drahtseilbahnen u. s. w. berücksichtigt. Die 
Beschäftigung mit vorstehend genannten Ar¬ 
beitsgebieten bringt es mit sich, dass die An¬ 
stalt auch in solchen technischen Fragen, 
welche bei grösseren Unglücksfällen ein 
akutes öffentliches Interesse gewonnen, mehr¬ 
fach zu Rathe gezogen wird. Es sei hier 
erinnert an die Untersuchung der Ursachen 
von Drahtseilrissen, von Dampfkessel-Explo¬ 
sionen, an die Prüfungen der Wasserstoff¬ 
flaschen, welche auf dem Übungsplatz der Luft- 
Schiffer-Abteilung zu Schöneberg unter so ver¬ 
heerender Wirkung explodierten u. s. w. Auf¬ 
gabe der Anstalt war es in letzterem Falle 
zu prüfen, in wie weit das Flaschenmaterial 
etwa durch fehlerhafte Beschaffenheit Anlass 
zu derartigen Explosionen geben kann. 

Verheerende Brände, Gebäudeeinstürze, die 
täglichen Gefahren im Eisenbahn- und Schiffs- 

17 




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292 


Holde, Die Aufgaben der Technischen Versuchsanstalten. 


verkehr, in den Fabriksbetrieben etc. haben 
in den interessierten Kreisen das lebhafte Be¬ 
dürfnis erweckt, die Widerstandsfähigkeit der 
Bau- und Konstruktionsmaterialien gegen¬ 
über verschiedenen Einflüssen näher kennen 
zu lernen. Die über diese Fragen in der 
Versuchsanstalt eingeleiteten bezw. ausge¬ 
führten Untersuchungen betrafen den Ein¬ 
fluss der Kälte (bis zu — 8o®) und grosser 
Hitze auf die Zugfestigkeit, Biegsamkeit etc. 
von Eisen- und Stahlsorten, die Widerstands¬ 
fähigkeit von Fein- und Grobblechen aus ver¬ 
schiedenen Eisensorten gegen Rosten, die 
mechanische Leistungsfähigkeit des Nickel¬ 
stahls, des modernen Schiffspanzermaterials 
u. s. w. Aus den Kreisen der Eisenbahnbe¬ 
hörden wurde eine interessante Untersuchung 
über die Brauchbarkeit von Kies- und Stein¬ 
schlag als Stopfmaterial für Eisenbahnbau an¬ 
geregt. Die zur Lösung dieser Frage benutzten 
Prüfungsverfahren wurden so gewählt, dass 
die beim Eisenbahnbetriebe auftretenden Ein¬ 
flüsse des Schlagens mit der Stopfhacke, des 
Abschleifens durch die schwingenden Bewe¬ 
gungen der Schwelle beim Überfahren eines 
Zuges, des Druckes durch die Belastung der 
Fahrzeuge u. s. w. nachgeahmt wurden. 

Ein anderes in das Thätigkeitsgebiet 
der Anstalt fallendes Arbeitsfeld, die Unter¬ 
suchung des mikroskopischen Gefüges der 
Metalle, ist von dem Direktor der Anstalt, 
Prof. Martens, in nahezu 2ojährigerArbeit 
studiert worden. Das bisherige Ergebnis die¬ 
ser mühevollen Arbeiten ist die bis zu grosser 
Vollendung gelungene Ausbildung einer Me¬ 
thode, welche die genaue Beobachtung und 
bildliche Darstellung des Kleingefüges mit 
Hülfe der Mikrophotographie gestattet. 

Aus dem Arbeitsprogramm der zweiten 
Abteilung der Versuchsanstalt, welche sich 
speziell mit der Prüfung von Baumaterialien 
befasst, sind in erster Linie hervorzuheben 
die Prüfung der Luftmörtel, der hydraulischen 
Bindemittel, natürlicher und künstlicher Bau¬ 
steine etc. Ferner sind zu erwähnen die Ver¬ 
suche zur Ermittelung der Trag- und Feuer¬ 
übertragungsfähigkeit von Gipsdecken, „feuer¬ 
sicheren Wänden", von Gewölben verschie¬ 
dener Spannweite etc. Diese Untersuchungen, 
bei denen z. B. auch praktische Brandproben 
in besonderen kleinen Versuchshäuschen vor¬ 
genommen werden, dienen zur Belehrung des 
Fabrikanten über die Güte des Materials und 
geben ihm Winke lür die Verbesserung der 
Fabrikate; sie erleichtern aber auch unter 
Umständen die Einführung neuer Baustoffe, 
für welche ja heutzutage fortgesetzt neue Be¬ 
dürfnisse auftauchen. 

Für die Lieferung und Prüfung des Ge¬ 
mentes sind Normen festgesetzt, in welchen 


die verlangte Zugfestigkeit, die Beschaffenheit 
des verwendeten Sandes etc. genau vorge¬ 
schrieben sind. Mit der Ausbildung dieser 
Normen ist die Versuchsanstalt fortgesetzt be¬ 
schäftigt. — Neuerdings hat eine andere hochbe¬ 
deutsame Frage der Bautechnik die Abteilung 
in Anspruch genommen. Die Erkenntnis, dass 
die Erhaltung der Kriegs- und Verkehrshafen¬ 
anlagen, sowie der Strandschutzbauten für die 
nationale Verteidigung im Kriegsfälle und für 
den Uferschutz unserer Meeresküsten gegen 
die wogende Brandung von hoher Bedeutung 
ist, hat die interessierten Kreise veranlasst, 
unter Hinzuziehung der Versuchsanstalt eine 
eingehende Untersuchung der Widerstands¬ 
fähigkeit hydraulischer Bindemittel (Gement, 
Trass etc.) gegen Meereswasser vornehmen 
zu lassen. 

Die Entstehung der Abteilung für Papier¬ 
prüfung ist eine indirekte Folge der s. Z. 
florierenden Überschwemmung des Papier¬ 
marktes mit schlechten Papieren, welche 
für die Staatsbehörden eine bedeutende Gefahr 
für den Bestand wichtiger Akten in sich barg. 
Der trostlose Zustand vieler behördlicher 
Schriftstücke Hess bereits die akute Bedeutung 
der allgemein anerkannten Gefahr erkennen. 
Durch ein energisches Vorgehen des Staats¬ 
ministeriums wurde diesem Zustand ein Ende 
gemacht. Nach Einrichtung der amtlichen 
Papiei*prüfungsstelle, deren Gründung von dem 
Redakteur der Papierzeitung, Herrn Hof¬ 
mann, direkt beantragt worden war, wurden 
unter vomehmlicher Mitwirkung der» neuen 
Anstalt im Jahre 1886 vom Staatsministerium 
sog. Papiernormalien aufgestellt, welche die 
Güte und Beschaffenheit der bei Behörden 
verwendeten Papiere regelten. Gleichzeitig 
wurden die Behörden angewiesen, nur geprüfte 
Papiere zu benutzen, und es wurde die Ver¬ 
suchsanstalt als amtliche Prüfungsstelle ftir 
diese Zwecke und entscheidende Instanz bei 
Streitigkeiten zwischen Behörden und Liefe¬ 
ranten über die Qualität der gelieferten Pa¬ 
piere eingesetzt. 

Die laufenden Untersuchungen der Schreib¬ 
papiere erstrecken sich hauptsächlich auf die 
Art der in dem Papier vorhandenen Faserarten, 
die Festigkeitseigenschaften, die Leimfestig¬ 
keit und den Aschengehalt des Papiers. FürFil- 
trierpapier tritt die Untersuchung auf Wasser¬ 
durchlässigkeit und Fähigkeit, feine Nieder¬ 
schläge zurückzuhalten, ftir Löschpapiere die 
Bestimmung der Saugfähigkeit hinzu. Wechsel¬ 
papicrewerden auf Radierfähigkeit geprüft, wo¬ 
durch die Möglichkeit einer späteren Fälsch¬ 
ung durch Ausradieren von Zahlen festge¬ 
stellt wird. Bei den zu Zelten, Schuhen ftir 
Militär etc. dienenden Stoffen werden Festig¬ 
keit, Wasserdurchlässigkeit, Zusammensetzung 


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Holde, Die Aufgaben der Technischen Versuchsanstalten. 


293 


etc. geprüft. Die gleichfalls beim Militär 
eingeführten Brotbeutel werden noch auf 
Gegenwart gesundheitsschädlicher Farben 
geprüft. Bisweilen betreffen die Untersuchun¬ 
gen die Aufklärung von Fabrikationsfragen, 
beispielsweise die Ermittlung der Natur von 
dunklen Flecken, Knötchen in Papieren, welche 
die Abnahmefähigkeit des Materials in Frage 
stellen, u. a. 

Von wissenschaftlichen Arbeiten der Abteil¬ 
ung, welche ebenso wie die übrigen Arbeiten 
der Anstalt in den „Mitteilungen aus den 
Königlichen technischen Versuchsanstalten“ 
veröffentlicht sind, seien hervorgehoben die 
Untersuchungen über japanische Papiere, die 
Saugfähigkeit von Löschpapieren, Ober die 
Verwendbarkeit exotischer Faserstoffe zur Pa¬ 
pierfabrikation, den Einfluss des Sonnenlichts 
auf die Leimfestigkeit der Papiere u. s. w. 
Von den zahlreichen statistischen Arbeiten 
der Abteilung, weiche z. T. einen unverkenn¬ 
baren Einfluss auf die Besserung gewisser 
Misstände im Verkehr mit Papieren gehabt 
haben, seien u. a. die „Untersuchungen der 
Druckpapiere der Gegenwart“, der „Papiere des 
Kleinhandels“ erwähnt. In der letzteren Arbeit 
wurde gezeigt, dass es beispielsweise in der 
weit überwiegenden Mehrzahl der kleineren 
Berliner Papierhandlungen unmöglich ist, selbst 
bei genügender Bezahlung gutes Schreibpapier 
zu erhalten. Um den hier aufgedeckten Miss¬ 
ständen wirksam entgegenzutreten, hat der 
Papierverein Berlin neuerdings in Aussicht 
genommen, eine Fachschule für Papiertech¬ 
niker in Berlin zu errichten. 

Die jüngste Abteilung der Anstalt, die¬ 
jenige für Oelprüfung, \st Mitte der achtziger 
Jahre in Folge einer Anregung des Verban¬ 
des deutscher Müller entstanden. Die Massen¬ 
einfuhr der aus dem Rohpetroleum herge¬ 
stellten billigen russischen und amerikanischen 
Mineralschmieröle drohte die gebräuchlichen 
vegetabilischen und animalischen Schmieröle, 
von denen hauptsächlich das in Deutschland viel 
fabrizierte Rüböl in Frage kam, zu verdrän¬ 
gen. Die somit wirtschaftlich akut gewordene 
Schmiermittelfrage veranlasste den genannten 
Verband, beim Herrn Minister für Handel 
und Gewerbe eine umfassende vergleichende 
Untersuchung des Schmierwertes der Mineral¬ 
schmieröle und handelsüblichen Rüböle etc. 
zu beantragen. Das Ergebnis dieser Unter¬ 
suchungen, für welche eine mit neuen Hülfs- 
mitteln ausgestattete Abteilung in der Ver¬ 
suchsanstalt eingerichtet wurde, war frei¬ 
lich ein ftlr die neu importierten Mineralöle 
recht günstiges,, wenn auch für die Rüb¬ 
öle immerhin noch ein nicht unerheb¬ 
liches Verwendungsgebiet als Schmiermittel 
in der Zumischung zum Mineralöl offen blieb. 


Die inzwischen für laufende amtliche Prüfun¬ 
gen eingerichtete Abteilung wurde später 
als entscheidende Instanz für Streitfälle 
zwischen Eisenbahnbehörden und Lieferan¬ 
ten bei Abnahme von Schmierölen, sowie als 
amtliche Prüfungsstelle für die Schmieröl¬ 
lieferungen der Mehrzahl der preussischen 
Bahnen eingesetzt.' 

Die laufenden Prüfungen der Abteilung 
bezwecken demnach häufig, die bedingungs- 
gemässe Beschaffenheit von Schmierölen für 
die in Frage kommenden Betriebe festzu¬ 
stellen. Sie erstrecken sich ferner auf Unter¬ 
suchung technischer Fragen (r. B. Aufklär¬ 
ung von Betriebsstörungen), Schaffung von 
Tarifgrundlagen für Bahnen, Untersuchung 
von Zwischenprodukten der Schmiermittel¬ 
fabrikation, deren Ergebnisse der Herstellung 
der Endprodukte seitens der Fabrikanten zu 
Grunde gelegt werden, Entscheidung von Zoll¬ 
streitigkeiten, Prozessdifferenzen u. s. w. 

Die wissenschaftlichen Arbeiten der Ab¬ 
teilung haben in erster Linie die Ausbildung 
der zur Charakterisierung der Schmiermittel 
und verwandter Produkte dienenden physi¬ 
kalischen und analytisch-chemischen Methoden 
zum Gegenstand. Bei diesen Untersuchungen 
wurdebesondersaufHerbeifÜhrung einheitlicher 
Prüfungsmethoden für Mineralschmieröle Wert 
gelegt, weil die an verschiedenen Prüfungs¬ 
stellen benutzten Verfahren infolge prinzipieller 
Unterschiede sehr erhebliche Abweichungen 
in der Beurteilung des gleichen Materials (bei 
Erstarrungspunkten Unterschiede von 5 — 10®, 
bei Entflammungspunkten Unterschiede von 
20— 120®) ergaben. Die zur Beseitigung dieser 
Missstände von der Versuchsanstalt gemachten 
Vorschläge wurden den Lieferungsbeding¬ 
ungen von Bahnverwaltungen, Militärbehörden 
etc. neuerdings mehrfach zu Grunde gelegt. 

Die Arbeiten der Königlichen chemisch- 
technischen Versuchsanstalt erstrecken sich auf 
die chemische Untersuchung organischer und 
anorganischer Stoffe, von denen hauptsäch¬ 
lich in Betracht kommen: Eisenerze, Eisen, 
Stahl, andere Metalle, Cement, anorganische 
Farben, Seifen, Speiseöle, Tinte u. s. w. Die 
Anstalt hat zur Untersuchung dieser Materialien 
eine Reihe von Prüfungsverfahren ausgebildet, 
welche z.T. in die betheiligten Industriezweige 
eingeführt, z. T. auch als Grundlage der 
Zollbestimmungen gewählt worden sind; es 
aei hier erinnert an die von Prof. Finkener 
ausgearbeitete Unterscheidung von Talg, Ker¬ 
zenstoffen und Speisefetten, von Harzölen und 
Mineralölen u. s. w., an das von dem ersten 
Chemiker der Anstalt, Herrn Rothe, ausge¬ 
arbeitete Verfahren zur Trennung des Eisens 
von Mangan, Nickel, Kobalt u. s. w. 


*7 • 


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Günther, Mond- und Erdkunde in ihren gegenseitigen Beziehungen. 


Mond- und Erdkunde in ihren gegenseitigen 
Beziehungen. 

Von Prof. Dr. S. G 0 k t h e r . 

Die Erforschung der Mondoberfläche ist 
in erster Linie natürlich Aufgabe des Astro¬ 
nomen. Indem derselbe die lunaren Objekte 
studiert, wird er sich jedoch der Pflicht nicht 
entziehen können, Vergleiche zwischen den 
beiden, durch das Band kosmischer Anziehung 
an einander geketteten Weltkörpern anzustellen, 
deren einem er selbst angehört, mit dessen 
Eigenart er somit durch unmittelbare Anschau¬ 
ung genau bekannt ist. So kann es nicht 
ausbleiben, dass sich ein neues, zwar eng be¬ 
grenztes, aber doch der intensiven Bearbeitung 
sehr würdiges Forschungsgebiet herausbildet, I 
ein Grenzgebiet zwischen Seleno- und Geo- | 
graphie, dessen Studium nach beiden Seiten ' 
hin die mannigfachsten Anregungen geben 
kann. Astrophysik und Geologie haben schon 
seit längerer Zeit erkannt, wie sehr die eine 
der beiden genannten Disziplinen auf die an¬ 
dere befruchtend einzuwirken vermöge; es 
genügt in dieser Hinsicht, an Stanislas 
Meuniers gross angelegte „Geologie com- 
par^e“ zu erinnern. Alle die Entwickelungs¬ 
stadien der Weltkörperbildung, welche wir 
im Auflodern „neuer“ Sterne, im Aufleuchten 
der Protuberanzen auf der Sonne, im Disso- 
lutiönszustande unserer äusseren Planeten zu 
erkennen glauben, sind, wie wir annehmen 
müssen, von unserer Erde auch einmal durch¬ 
lebt worden, und nicht minder auch von dem 
unzertrennlichen Begleiter derselben, der nur 
jener Schlussphase gänzlicher Erstarrung, der 
wir jedes Gestirn entgegengehen sehen, seines 
verhältnismässig geringen Volumens halber 
bereits anheimgefallen ist, während unserem 
Planeten dieses Schicksal erst in ferner Zu¬ 
kunft droht. Als „vergleichende Geologie“ in 
Meuniers Sinne dürften wir wohl auch jenen 
Komplex von Fragen bezeichnen, mit welchem 
wir uns in dieser kleinen Abhandlung zu be¬ 
schäftigen gedenken. 

Ein ähnlicher Grundgedanke beherrscht 
bereits das merkwürdige, von den Geschichts¬ 
schreibern der exakten Wissenschaften noch 
zu wenig ausgenützte Schriftchen „De facie 
in orbe lunae”, welches aus spätgriechischer 
Zeit auf uns gekommen ist und angeblich den 
Plutarch zum Verfasser hat. Unser grosser 
Kepler, der durch Gali 1 eis Mondbeobach-, 
tungen mit dem neuen Fernrohre hierzu die 
Veranlassung erhalten hatte, bietet uns in 
seiner posthumen Schrift „Astronomischer 
Traum", welche allerdings von mystischen und 
phantastischen Abschweifungen gar nicht frei 
ist, doch die erste Probe einer vergleichen¬ 
den Mond- und Erdkunde, und zwar ward von 


ihm auf jene griechische Vorläuferin entspre¬ 
chende Rücksicht genommen. Als dann in 
der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts durch 
van Langren, Riccioli, Hevelius und 
Dom. Cassini die ersten wirklichen Mond¬ 
karten erstellt wurden, machte sich die Neigung, 
dieselben zu den Erdkarten in Parallele zu 
stellen, ganz von selbst geltend, wenn man 
sich dabei fürs erste auch noch in recht äusser- 
lichen Bahnen bewegte. So übertrug Hevelius, 
indem er sich nur an die Züge einer ganz 
oberflächlichen Ähnlichkeit hielt, die Namen 
von Erdgebirgen auch auf die selenitische 
Gebirgswelt, und noch heute sprechen wir 
von „Alpen" und „Apenninen" im Monde, 
indem wir mit diesem Namen das einzige ächte 
Kettengebirge bezeichnen, welches unser Tra¬ 
bant aufzuweisen hat. Die hohe Vervollkomm¬ 
nung, welche die Mondtopographie durch Tob. 
Mayer, Mädler, Beer, Lohrmann und 
Jul. Schmidt erfuhr, kommt deutlich zum 
Ausdruck in den beiden vortrefflichen Werken 
britischer Astronomen, von Carpenter und 
Nasmyth einerseits, von Neison anderer¬ 
seits. Beide sind uns durch die Mühewaltung 
H. J. Klein’s, dem die Selenographie selber 
vieles verdankt, in ansprechendem deutschen 
Gewände zugänglich gemacht worden, imd 
dadurch, dass in ihnen auch die unscheinbarsten 
Objekte der Mondoberfläche einer eingehen¬ 
den, ja liebevollen Erörterung gewürdigt 
wurden, haben sich die Anhaltspunkte für 
beweiskräftige Vergleichung ganz erheblich 
vermehrt. Aber selbst diese wahrlich acht¬ 
bare Stufe der Erkenntnis ist bereits überholt, 
seitdem das mächtige Vehikel der astrophysi- 
kalischen Forschung, die Astrophotographie, 
auch in den Dienst der Mondkunde gestellt 
worden ist. 

Nur wenige Jahrzehnte trennen uns von 
dem Zeitpunkte, da Daguerre daran ver¬ 
zweifelte, die neu erfundene Kunst, Lichtbilder 
anzufertigen, auch dem Monde gegenüber zur 
Geltung zu bringen, und da es dann end¬ 
lich Arago gelang, auf Chlorsilber einen 
schwachen Eindruck der Mondsichel zu erzielen. 
Und wie ungeheuer weit hat man es in dieser 
Spanne Zeit gebracht! Gewiss muss jeder 
so ausrufen, der die herrlichen Mondphoto¬ 
graphien betrachtet, welche von Prof. Holden 
auf dem hochgelegenen kalifornischen Lick- 
Observatorium oder auch von Prof. Prinz 
in Brüssel geliefert worden sind und noch 
fortwährend geliefert werden. Freilich ist die 
Wissenschaft von der geradezu verblüffenden 
Fülle von Details, welche ein derartiges Photo¬ 
gramm enthält, nur dadurch den richtigen 
Vorteil zu ziehen imstande, dass sie darauf 
ein mikroskopisch-mikrometrisches Messungs¬ 
verfahren im Sinne Weineks, des Direktors 


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Günther, Mond- und Erdkunde in ihren gegenseitigen Beziehungen. 


295 


der Prager Sternwarte, verwendet. Solcher¬ 
gestalt ist es gelungen, die Erkennbarkeits¬ 
grenze lunarer Bildungen sogar noch unter 
2 km (!) herabzudrücken. Als Mädlers „Mappa 
Selenographica“ von dem Publikum der dreis- 
siger Jahre angestaunt und von Vielen für 
die höchste überhaupt erreichbare Leistung 
erklärt wurde, ernüchterte Besse 1 die Enthu¬ 
siasten durch den Hinweis darauf, dass die 
neue Generalkarte des Mondes, deren Vor¬ 
züglichkeit übrigens auch dieser strenge Kritiker 
unumwunden anerkannte, ungefähr ebensoviele 
Einzelheiten erkennen lasse, wie dies bei dem 
Frankreich abbildenden Blatte gewöhnlicher 
Schulatlanten der Fall sei. In unseren Tagen' 
würde Bessel’sUrteil freilich ganz andersaus- 
fallen müssen. Als Gruithuisen vor sechzig 
und mehr Jahren die Bauwerke der von ihm 
vermuteten Mondbewohner gefunden zu haben 
glaubte, wurde er nicht ohne Grund wegen 
dieser Beobachtung bespöttelt, und man nahm 
daraufhin den ganz verdienten ^ann so wenig 
mehr ernst, dass auch seine übrigen, gar nicht 
schlechten Mondbeobachtungen einer unver- 
dientenVergessenheit verfielen. Gegenwärtig er¬ 
scheint der Versuch Gruithuisens, wenigstens 
unter dem rein optisch-geometrischen Gesichts¬ 
punkte, gar nicht mehr so lächerlich, wie er 
einer früheren Generation Vorkommen musste; 
das Dasein menschlicher oder menschenähn¬ 
licher Seleniten dürfen wir, wie heute die 
Dinge liegen, allerdings tnit noch ungleich 
grösserer Entschiedenheit in Abrede stellen, 
als dies dazumal gestattet war. 

Wenn wir nunmehr an die Besprechung 
der physischen Ähnlichkeiten und Gegensätze 
der beiden in Betracht kommenden Himmels¬ 
körper herantreten, so müssen wir gleich an¬ 
fangs auf das wichtige Moment der Gegen¬ 
sätzlichkeit aufmerksam machen, welches sich 
in dem Fehlen der Wasser- und Luftbedeckung 
auf dem Monde zu erkennen giebt. Ob beide 
Materien auch auf der uns zugekehrten Seite 
des Mondballes gänzlich fehlen, steht wohl 
noch nicht fest, denn gerade die besten Kenner, 
wie Schmidt, haben doch gelegentlich An¬ 
zeichen dafür bemerkt, dass Spuren beider 
Elemente vorhanden sein können. Unter allen 
Umständen kann indessen die Menge dieses 
Wassers nicht gross, die aus Refraktions¬ 
messungen hergeleitete Dichte der Mondatmos¬ 
phäre sogar nur minimal sein. Für die dauernd 
von uns abgekehrte und — abgesehen von 
den geringfügigen Librationsverschiebungen — 
für uns unsichtbare Mondseite mag sich das 
alles wohl ganz anders verhalten. Denn da 
zuverlässig der Schwerpunkt des (dreiachsigen) 
Mondellipsoides vom geometrischenMittelpunkte 
um eine beträchtliche Strecke, und zwar in 
jenseitiger Richtung entfernt ist, so konnten. 


wie dies insbesondere Valentinerausgeführt 
hat, sehr wohl die leichtbeweglichen Stoffe 
nach und nach — ganz oder fast ganz — 
auf jener Seite, welcher der Schwerpunkt näher 
lag, vereinigt werden. Auf unser Thema hat 
die Entscheidung dieser Frage, wie sie auch 
au^fallen möge, gar keinen Einfluss, vielmehr 
sind wir zur Aufstellung nachstehender These 
berechtigt: Die lunare Morphologie hat, in 
totaler Abweichung von der terrestrischen 
Schwesterwissenschaft, von der Mitwirkung des 
Wassers und der Luft, also der ftlr unsere 
Anschauung wichtigsten Agentien, ein für 
allemal Abstand zu nehmen, so dass also an 
* Erosionswirkungen, wenigstens gemäss dem 
gewöhnlichen Sprachgebrauche, nicht zu 
denken ist. 

In aller Strenge steht dieser Satz aller¬ 
dings nur für Gegenwart und jüngere Ver¬ 
gangenheit fest, nicht ebenso aber für die 
geologische oder richtiger selenologische Vor¬ 
zeit. Denn, wie Reyer in seinem trefllichen 
„Beitrag zur Physik der Eruptionen und der 
•Eruptivgestirne" (Wien 1877) andeutete, wäre 
vielleicht an eine Absorption der früher vor¬ 
handen gewesenen Massen tropfbar- und elas¬ 
tisch-flüssigen Aggregatzustandes zu denken, 
welche dann sich vollzog, als die glutflüssige 
Beschaffenheit des kosmischen Balles allgemach 
der starren Raum geben musste. Eine solche 
Einschluckung von Flüssigkeiten und Gasen 
ist nach Laboratoriumsversuchen als möglich 
zuzugestehen. Allein wir erblicken eben auf 
dem Monde nirgendwo etwas, was an die 
Erosion fliessenden Wassers oder bewegter 
Luft gemahnen könnte, und darum bleibt die 
obige Aussage auch dann noch bestehen, wenn 
man selbst an einen Absorptionsprozess grossen 
Stiles denken wollte. 

Es scheint mithin der Notwendigkeit, den 
Mondformationen eine vulkanische Entstehung 
zuzuschreiben, nicht mehr ausgewichen werden 
zu können, allein gerade dies ist von acht¬ 
barer Seite nicht anerkannt worden. Man hat 
vielmehr den sehr ernsthaften Versuch gemacht, 
die Ungleichheiten der Mondoberfläche auf 
die Einwirkung jener kleinen kosmischen Kör¬ 
perchen zurückzuführen, welche man Meteorite 
nennt, und welche in der That teilweise mit 
sehr grosser Geschwindigkeit den weiten Welt¬ 
raum durchkreuzen. Diese sollen die noch 
weiche, nachgiebige Mondmasse getroffen haben 
und bis zu ziemlicher Tiefe in sie eingedrungen 
sein, wodurch also ein kraterähnlicher Hohl¬ 
raum entsanden wäre, während zugleich der 
seitlich verdrängte Glutbrei rings um diese 
Einsenkung einen Wulst gebildet habe, aus 
dem nach beendigter Erstarrung der Ringwall 
geworden sei. Zwei auf anderen Gebieten 
bekanntere Gelehrte haben unter dem Pseudo- 


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296 


Günther, Mond- und Erdkunde in ihren gegenseitigen Beziehungen. 



Mondlandschaft mit zahlreichen mittelgrossen und kleinen Ringbergen.^) 


nym „Asterios‘‘ eine Schrift erscheinen lassen 
(Nördlingen) 1879, welche der Durchführung 
dieser Idee gewidmet ist; in weniger präziser 
Form hat Meydenbauer das gleiche Prinzip 
ausgesprochen. Ja sogar einer der zweifellos 
hervorragendsten Geologen der neuen Welt, 
K. Gilbert, hat sich auf diesen Standpunkt 
gestellt und den Meteorkörperchen die Haupt¬ 
rolle bei der Modellierung der Aussenseite des 
Mondes zugewiesen. An und für sich haftet 
der Idee, das möchten auch wir betonen, 
etwas sehr plausibles an, und nicht unser 
Satellit ist es, der uns Material zur Bekämpf¬ 
ung der — zumal von Geinitz gründlich 
widerlegten — Hypothese liefert, sondern wir 
entnehmen dieses unserer Erde selbst. Sie, 
die von ihrem Begleiter nur um 50000 geo¬ 
graphische Meilen absteht, müsste doch unter 
dem Bombardement durch jene kosmischen 
Vaganten ganz ebenso, wie der Mond, zu 
leiden gehabt haben, und doch ist von Ein¬ 
drücken der bezeichneten Art wenig wahrzu¬ 
nehmen. Wenn man auf den gigantischen 
böhmischen Kessel, wie geschehen, als auf 
ein Analogon der lunaren Zirken hinweisen 
wollte, so würde man sich doch mit allem, 
was uns Geographie und Gebirgsbildungslehre 
Ober jene Erdgegend lehren, in unversöhnlichen 
Zwiespalt einlassen. Gilbert seinesteils 


t) Prob«-IUustratioD aus der neuen Auflage von „Neumayrs 
Erdgeschichte" (Verlag des Bibliographischen Instituts in Leipzig 
und Wien.) 


glaubt im amerikanischen Westen eine Höhlung 
ausfindig gemacht zu haben, in welcher und 
um welche herum zahlreiche Bruchstücke eines 
sehr grossen Eisenmeteoriten gefunden wurden, 
und diese Höhlung führt er als Beweisgrund 
für seine Auffassung an. Man kann ohne 
Zweifel die Berechtigung dieser Interpretation 
zugeben, denn wer wollte leugnen, dass dann 
und wann solche Zusammenstösse wirklich 
stattgefunden hätten, und dann auch mit ge¬ 
wichtigem Effekte? Nur die Allgemeingiltig¬ 
keit dieser Erklärung wird bestritten, die 
Generalisierung wird für eine zu rasche und 
zu umfassende gehalten. Dergleichen konnte, 
ja musste sich sogar ereignen, und die Erde 
— wie auch der Mond — brauchte, um blei¬ 
bende Eindrücke von solchen Begegnungen 
davonzutragen, gar nicht mehr glutflüssig 
oder auch nur plastisch zu sein. Althaus 
wenigstens hat durch Nebeneinanderstellung 
der Bilder der Mondgebirge und der De¬ 
formationen, welche Krupp’sche Platten und 
Gruson’sche Drehtürme durch moderne Artil¬ 
leriegeschosse schwersten Kalibers erlitten, 
ganz sicher dargethan, dass die Ähnlichkeit 
stellenweise eine recht grosse ist. Böte, so 
wiederholen wir, die Oberfläche unseres Wohn- 
körpers zahleichere Örtlichkeiten dar, auf 
welche die Bolidenhypothese Anwendung 
finden könnte, man dürfte nicht zögern, je¬ 
ner Lehre ein gewisses Mass von Berechtig¬ 
ung zuzugestehen. 


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Günther, Mond- und Erdkunde in ihren gegenseitigen Beziehungen. 


297 


Da dem aber nicht so ist, so bleibt nur 
übrig, den tellurischen Vulkanismus mit dem 
lunaren zu vergleichen. Die oben gestreifte 
Gefahr schablonenhafter Zusammenfassung 
verschiedenartiger Erscheinungen unter ein 
einheitliches Gesetz braucht uns bei diesem 
Beginnen nicht zu schrecken, denn die Dinge, 
welche wir im Kapitel von den vulkanischen 
Ausbrüchen und Gebilden zusammenfassen, 
sind so mannigfaltig und vielgestaltig, dass 
man ihnen von vornherein nicht mit einer 
sorgsam zurechtgeschnittgnen Theorie beikom¬ 
men zu können hoffen darf, sondern dass 
man, mehr noch als sonst in der physika¬ 
lischen Geographie, zum Individualisieren 
sich gezwungen sieht. Da'ss jedoch einige 
der Wege, auf denen die Natur zur Erziel¬ 
ung der einschlägigen Oberflächenformen auf 
der Erde gegangen ist, auch für den Mond 
gangbar werden befunden werden, darf man 
von allem Anfänge an hoffen, und diese Er¬ 
wartung wird nicht zu schänden werden. 

Einen nach Umständen höchst befriedigen¬ 
den Nachweis dafür, dass das Gestein der 
uns zugewandten Mondseite von gleicher Be¬ 
schaffenheit, wie das vulkanische Gestein un¬ 
serer Erde ist, hat uns erst die neueste Zeit 
gebracht. Für jede Substanz existiert be¬ 
kanntlich ein sogen. Polarisationswinkel; 
wenn ein Lichtstrahl unter diesem Winkel 
auf einen aus fraglichem Stoffe gefertigten 
Spiegel und, nach einmaliger Reflexion, auf 
einen zweiten Spiegel fällt, dessen Ebene zu 
jener des erstgenannten senkrecht steht, so 
findet, statt ZurOckwerfung, eine Vernichtung 
des Lichtes statt, und eben dieser Umstand 
gibt die Möglichkeit an die Hand, den cha¬ 
rakteristischen Winkel zu ermitteln. Indem 
nun Länderer diese Untersuchung für das 
Mondlicht, welches ja selbst nur geborgtes 
Sonnenlicht ist, durchführte, fand er, dass 
der Polarisationswinkel der sogenannten vul¬ 


kanischen Gläser am meisten demjenigen der 
Mondoberflache entspricht; so gut wie voll¬ 
ständig wurde die Identität beim Vitrophyr, 
einer im Rhodope-Gebirge der Balkanhalbin¬ 
sel, und auch anderwärts, vorkommenden Lava¬ 
gattung erwiesen. Dass dies ein reiner Zu¬ 
fall sei, werden wohl nur wenige glauben, 
sondern es ist, wenn das Kausalgesetz nicht 
gänzlich trügt, hiermit auch ausgesprochen, 
dass auf dem Monde Laven vorherrschen, 
welche durch jähe Erkaltung aus dem mag¬ 
matischen in den spröden, glasartigen Zustand 
übergegangen sind. Und damit sind wir in 
unserer vergleichenden Betrachtung einen gu¬ 
ten Schritt vorwärts gekommen. 

Eine weitere, sehr schätzbare Hilfe ge¬ 
währt uns hierbei ferner eine überaus mühe¬ 
volle Arbeit, welcher sich H. Ebert — da¬ 
mals in Erlangen, jetzt in Kiel — unterzogen 
hat. Auf Grund der verlässlichsten Daten be¬ 
rechnete derselbe die Verhältnisse, in welchen 
die Durchmesser und Mitteltiefen der lunaren 
Ringgebirge, die Höhen der.Zentralberge, 
die Erhebungen der Wallkronen über das 
Durchschnittsniveau der Umgebung zu ein¬ 
ander stehen; nicht minder ermittelte er in 
vielen Fällen das Verhältnis des Volu¬ 
mens einer Austiefung zum Kubikinhalte des 
umschliessenden Walles. Die so erhaltenen 
Zahlen verhelfen selbstredend nicht zu irgend¬ 
welcher unmittelbaren Erkenntnis, wohl aber 
kann sich auf sie die Prüfung gewisser Hy¬ 
pothesen stützen. Explosionstrichter z. B., 
für welche die „Maare“ der Eifel gelten, 
sind auf dem Monde gewiss nicht vorhanden, 
wie denn überhaupt Löcher oder Schlünde 
Hohlgebilde sind, nach welchen ein Wande¬ 
rer in jeder Mondlandschaft vergeblich suchen 
würde. Und dass es sich so verhält, wird 
ja auch sofort klar, wenn man sich vergegen¬ 
wärtigt, wie eine solche Explosion zustande 
kommt. Hochgespannter Wasserdampf ist 



Oberfläche eines beschossenen Stahl-Panzerturnis. 

Die Eindracke der harten, zuckerbutfdrmigen Geschosse aut dem zähen Stahl zeigen grosse Ähnlichkeit mit den Kinggebilden 
des Mondes. (Aus ,Gaea“, Verlag von £. H. Mayer, Leipzig. 1895. Heft I.j 


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298 


Günther, Mond- und Erdkunde in ihren gegenseitigen Beziehungen. 


deren nächstliegende Ursache, und an dessen 
Aktion ist, wie wir wissen, nicht zu denken. 
Zwei häufige Erscheinungsformen des irdi¬ 
schen Vulkanismus, Maare und Stratovulkane, 
müssen dem Monde fehlen, weil ihre Ent¬ 
stehung in erster Linie vom Wasser — sei 
es als Dampf, sei es als Flüssigkeit — ab¬ 
hängig erscheint. Auch veranlasst uns kei¬ 
nerlei Zug selenitischer Physiognomie, an 
geschichtete Feuerberge mit ausgebrannter 
Esse oder dauernd verstopfter Zuleitungsröhre 
zu denken. 

Hingegen fehlt es nicht im mindesten an 
Bergformen, welche unseren Dom- oder ho¬ 
mogenen Vulkanen gleichen, jenen kraterlosen 
Glocl^enbergen, für welche in der Hauptsache 
noch jetzt die klassische, genetische Schil¬ 
derung A. v. Humboldts zutrifft. Das 
gegen die Erdrinde von unten her an¬ 
dringende Magma, welches übrigens nicht 
mehr, wie früher, als das ganze Erdinnere 
erfüllend vorausgesetzt zu werden braucht, 
bricht sich an schwächerer Stelle, nachdem 
es zuvor die' Gesteinsdecke blasenartig (Lak- 
kolithen) aufgetrieben hat, eine Bahn nach 
aussen und strömt dann hervor, entweder 
eine sogen. Quellkuppe auftürmend oder aber 
die Umgegend in einen flachen Lavamantel 
hüllend. Diese Prozesse — die rezente Pe¬ 
riode hat solche nicht mehr, oder doch nur 
ausnahmsweise, mit eigenen Augen gesehen — 
vollzogen sich vermutlich in majestätischer 
Ruhe, ohne rhapsodische Nebenerscheinungen 
und ohne die jetzt selten fehlenden Zuck¬ 
ungen des Bodens. Der grosse amerikanische 
Geologe Dana hebt hervor, dass die Rie¬ 
senvulkane Hawaiis gewissermassen das 
Bindeglied zwischen der einen und anderen 
Art von Erdvulkanen repräsentieren; ein Kra¬ 
ter eignet ihnen zwar, aber im übrigen er¬ 
folgt der Ausfluss der Schmelzflüssigkeit ruhig, 
gleichmässig und meistenteils ohne das Be¬ 
gleitphänomen der Erdbeben. Gewisse Vul¬ 
kangebiete der Sodsee dürften überhaupt den¬ 
jenigen auf dem Monde am ehesten an die 
Seite gestellt werden können; hier ist auch, 
nach Prinz, mitunter an Stelle der kreisför¬ 
migen oder ovalen Kraterumrandung jene po¬ 
lygonale zu sehen, welche schon vor zwei¬ 
hundert Jahren gelegentlich Riccioli und 
Kein an einzelnen Mondbergen aufgefallen 
war. 

Für die Strahlensysteme, welche, dem 
Meridiansysteme eines Globus vergleichbar, 
von einzelnen grossen Ringgebirgen, vorab 
von Tycho aus, sich über das Mondsphäroid 
erstrecken, war durch Carpenter und Nas- 
myth die durch ein hübsches Experiment 
bekräftigte Auffassung als vulkanische Rup¬ 
turen gang und gäbe geworden, allein Ed. 


Suess, der seine grossartige Konjbinations- 
gabe für dynamische Vorgänge nunmehr auch 
der Selenologie zugute kommen lässt, wendet 
ein, dass ja diese schimmernden Linien an¬ 
standslos durch Gebirge sich fortpflanzten, 
an denen, wenn erstere Bruchlinien wären, 
doch auch Spuren gewaltsamer Störung des 
Gleichgewichtes sich offenbaren müssten. 
Suess selbst denkt an schnurförmige Anein¬ 
anderreihung von Exhalationstätten (Fumaro- 
len und Solfataren), deren Provenienzen sich 
in festem Zustande niedergeschlagen und da¬ 
mit schmalen Streifen eine ganz andere Fär¬ 
bung erteilt hätten, als sie dem umliegenden 
Terrain zukommt. Einschlägige Wahrnehm¬ 
ungen sind von Domeyko insonderheit im 
Bereiche der chilenischen Cordilleren mehr¬ 
fach gemacht worden. 

Die grossen, dunkler gefärbten Flächen, 
welche wir, einer veralteten Nomenklatur ge¬ 
treu, „Meere“ und „Seen“ benennen (Mare 
imbrium, Mare serenitatis, Palus Maeotis 
u. S.W.), definiert Suess als Aufschmelzungs¬ 
herde. Wie dies zuvor auch Werner 
Siemens gethan, bringt ersterer die vulka¬ 
nischen Vorgänge, sowohl auf der Erde, als 
auch ganz besonders auf dem Monde, in 
nahe ursächliche Verbindung mit dem, was 
ein erfahrener Beobachter in Hüttenwerken 
konstatieren kann. Siemens hatte den aus 
dem Ofen fliessenden Glasstrom studiert; der 
Wiener Forscher richtete sein Augenmerk 
auf den wogenden, brodelnden Metallbrei in 
der sogenannten Coquille der Gussstahlfa¬ 
briken. Ähnlich mag es in jener Periode 
der physischen Mondgeschichte, da der Er- 
kaltungs- und Erstarrungsvorgang seinen An¬ 
fang nahm, um dann nach innen langsam 
fortzuschreiten, auch in den obersten Schich¬ 
ten des Mondes ausgesehen haben, und wie 
sich noch jetzt auf einem Lavastrome ab und 
zu die kleinen Spratzkegel bilden, so mögen 
auch manche lunaren Miniaturvulkane — als 
„crateriet“ kennt sie die britische Termi¬ 
nologie — derartigen rein sekundären Wirk¬ 
ungen des Eruptionsaktes ihre Entstehung 
verdanken. Bis zu einem gewissen Grade 
deckt sich mit der oben charakterisierten 
Anschauung die tektonisch - vulkanistische 
Theorie der französischen Astronomen Pu i s e u x 
und Xoewy. Dieselben erinnern daran, dass 
jene Zusammenziehung, welche die ursprüng¬ 
lich einförmige Erdkruste zerstückte und fäl¬ 
telte, auch auf unserem Trabanten ihre Wir¬ 
kung gethan haben muss. In jenen geolo¬ 
gischen Zeiträumen, das weiss man zuver¬ 
lässig, in denen sich auf zunächst tektonischem 
Wege die grossen Senkungsgebiete und Bruch¬ 
linien bildeten, erlebte stets auch die vulka¬ 
nische Aktion ihren Höhengrad, und so hat 


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Schumacher, Vom römischen Grenzwall. 


399 


man sich das Ineinandergreifen beider mor¬ 
phologischer Faktoren auch für andere Welt¬ 
körper zurechtzulegen die Befugnis. Die 
„Meere“ sind Einsturzfelder, und indem so 
das tektonische Gleichgewicht einmal beein¬ 
trächtigt war, konnte jener Aufschmelzungs¬ 
prozess, wie Suess sich ausdrückt, um so 
leichter und ausgiebiger platzgreifen. Das 
Vorhandensein der früher erwähnten Apen- 
ninenkette wirft doch auch für die Annahme, 
dass die Mondrinde einer gewissen Tendenz 
zur Faltenbildung ausgesetzt war, einiges Ge¬ 
wicht in die Wagschale. Beide Ansichten 
brauchen sich daher keineswegs auszu- 
schliessen. 

Es bleibt uns nunmehr für unsere Über¬ 
sicht nur noch eine einzige Formation unse¬ 
res Trabanten zu besprechen übrig. Ihr je¬ 
doch, den bekannten Rillen gegenüber, ver¬ 
sagt einstweilen noch jede, von irdischen auf 
lunare Verhältnisse schliessende Hypothese. 
Mit sehr langen und wenig breiten, rücksichts¬ 
los durch alle übrigen Gestaltungen der Land¬ 
oberfläche sich hindurchziehenden, weder im 
Anfangs- noch im Endpunkte durch irgend¬ 
welches auszeichnende Merkmal abgegrenz¬ 
ten LinienzOgen weiss der Erdenbewohner 
nichts anzufangen. Wäre die Gradlinigkeit 
eine minder scharf ausgesprochene, so würde 
sich der Vergleich mit ausgetrockneten Fluss¬ 
betten aufdrängenj deren Wasser durch Auf¬ 
saugung und Hydratbildung verloren ge¬ 
gangen war, und wirklich hat man in aller* 
neuester Zeit auch gekrümmte Rillen aufge- 
fimden (Weinek), welche diesen Vergleich 
noch zu einem kraftvolleren zu machen geeignet 
wären. Allein selbst in diesem günstigeren 
Falle ist doch nach wie vor die „Unmoti¬ 
viertheit“ des ganzen Verlaufes dieser Gruit- 
huisenschen „Chausseen" als ein nicht wohl 
zu Überwindendes Hindernis zu betrachten. 

Diesen einen Punkt muss man somit heute 
noch als einen völlig unaufgeklärten dahin ge¬ 
stellt sein lassen. Die zahlreichen anderen 
Probleme dagegen erscheinen uns in viel be¬ 
friedigenderem Lichte; gelöst sind sie frei¬ 
lich noch nicht, aber die Möglichkeit, ihrer 
Lösung durch vergleichende Studien näher 
zu kommen, liegt offen vor uns da. Terres¬ 
trischer und lunarer Vulkanismus sind nahe 
verwandte Erscheinungskomplexe als Ausflüsse 
und örtliche Konsequenzen jenes kosmischen 
Vulkanismus, der durch Tschi^Aak und 
Lockyer dem durch Kant und Laplace 
begründeten Systeme kosmogonischer Lehren 
eingegliedert worden ist. Die Analogien 
überwiegen die Verschiedenheiten, welche 
oben schon berührt wurden und wesentlich 
darin ihren Grund haben dürften, dass auf 
der Erde die tektonischen, aus der fortschrei¬ 


tenden Verkleinerung des Erdhalbmessers 
entspringenden Vorgänge die Hauptrolle spiel¬ 
ten und den vulkanischen Prozessen nur ein 
bescheideneres Arbeitsfeld übrig Hessen, wo¬ 
gegen auf dem Monde der Sachverhalt der 
umgekehrte war. Zum Ausgleiche gewisser- 
massen hat sich derselbe in der Gegenwart 
abermals umgekehrt: Der lunare Vulkanis¬ 
mus ist erloschen,*) auf der Erde aber übt 
das interne Magma noch Reaktionen gegen 
die Oberfläche aus, die freilich neben dem, 
was früherhin sich ereignete, sehr unbedeu¬ 
tend erscheinen und nur noch gelegentlich, 
wie die Ausbrüche des Krakatau- und des 
Sangir-Vulkanes beweisen, Proben dereinstiger 
Stärke ablegen. 


/ 

Vom römischen Grenzwall. 

Von Professor K. Schiimaciier, 

Schon mancher der Leser wird auf den 
waldigen Höhen des Rheingaus, des Taunus, 
des Odenwalds, in Württemberg oder Bayern 
vor jenem weithinziehenden Erdwall oder je¬ 
ner stattlichen Mauer gestanden haben, durch 
welche die Grenze des einstmaligen römischen 
Reiches und des freien Germanien bezeichnet 
wird. Hat er es sich nicht verdriessen lassen, 
durcl^ Gebüsch und Gestrüpp den Lauf der¬ 
selben auf eine kürzere oder längere Strecke 
zu verfolgen, so ist er von Zeit zu Zeit an 
kleinen Schutthügeln vorbeigekommen, aus 
welchen altes Gemäuer hervorschaute, die 
Reste der in Abständen von 400—800 Meter 
angelegten Wachtürme. Und ist er, vom Reize 
solcher Wanderung ergriffen, noch weiter ge¬ 
gangen, so hat er am Kreuzungspunkte ur¬ 
alter Verkehrswege oder bedeutenderer Thal¬ 
einschnitte auch grössere Mauervierecke aus 
Moos und Dornen aufragen sehen, die Über¬ 
bleibsel der Kastelle, welche jene Grenze be¬ 
wachen und verteidigen sollten. Da ist ihm 
wohl. der Gedanke aufgestiegen, wie wichtig 

•) Noch Kant (Über die Vulkane im Monde, 
Königsberg i. Pr. 1765) war von der Existenz ak¬ 
tiver Mondvulkane überzeugt, und sogar der geniale 
Beobachter W. Herschel vermeinte deren Aus¬ 
brüche gesehen zu haben. Mit dieser Meinung 
musste einfürallemal gebrochen werden, obschon 
die Wahrscheinlichkeit, dass jetzt noch physische 
Veränderungen auf dem Monde vor sich gehen 
können, von den geachtetsten Mondforschem — wir 
erinnern nur an Schmidt,Klein und Neison — 
als eine hohe bezeichnet wird. Es liegen dann wohl 
Folgewirkungen jener ganz ungeheueren Tempera¬ 
turveränderungen vor, denen die sichtbare Mond¬ 
hälfte unterliegt; auch die Wüstengeologie muss 
mit der Thatsache rechnen, dass Felsenzertrümme¬ 
rungen sich unter dem alleinigen Einflüsse des Wech¬ 
sels zwischen heissem Tropentage und kalter Tro¬ 
pennacht ereignen können. 





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300 


Schumacher, Vom römischen Grenzwall. 


die Untersuchung dieses grossartigen Denk¬ 
mals für unsere älteste Geschichte sein müsste. 

Thatsächlich hat sich auch die Forschung 
schon lange, man kann fast sagen seit Jahr¬ 
hunderten mit dem römischen Grenzwalle be¬ 
schäftigt. Einzelne Gelehrte, Altertumsvereine, 
staatlich eingesetzte Kommissionen haben dem¬ 
selben ihre Aufmerksamkeit zugewandt, dicke 
Bücher sind über ihn geschrieben worden, 
auch Spaten und Schaufel wurden da und 
dort angesetzt, aber immer wurde nur mit 
beschränkten Mitteln und ohne grösseren Zu¬ 
sammenhang gearbeitet. So blieb alles Be¬ 
mühen Stückwerk, trotz der VortrefTlichkeit 
einzelner Leistungen. 

Es ist das Verdienst Momrnsens und 
Zangemeisters, die Reichsregierung für 
die Idee einer zusammenhängenden, einheit¬ 
lichen Untersuchung der ganzen Anlage ge¬ 
wonnen und ein Ruhm für den Reichstag, 
die hierfür notwendige Summe, zunächst 
200,000 Mark, bewilligt zu haben (Februar 
1892). Seitdem sind zahlreiche Gelehrte, Offi¬ 
ziere und Techniker in Preussen, Hessen, 
Baden, Württemberg, Bayern in emsiger 
Thätigkeit damit beschäftigt, die umfänglichen 
Grabungen zu leiten und die Ergebnisse zu 
vermessen, zu zeichnen und zu beschreiben. 
Die einzelnen Berichte bringt das Limesblatt, 
das Organ der die Einzelgrabungen leitenden 
Streckenkommissare, die definitive Darstellung 
enthält das aus gemeinschaftlicher Arbeit der 
Streckenkommissare und der beiden Dirigen¬ 
ten entstehende Werk „Der obergermanisch- 
rätische Limes des Römerreichs“, von wel¬ 
chem bereits mehrere Lieferungen erschienen 
sind. 

In richtigem Verständnis der grossen his¬ 
torischen Aufgabe hat sich die Reichslimes¬ 
kommission nicht darauf beschränkt, den ge¬ 
nauesten Verlauf des Grenzzugs und die 
zur unmittelbaren SpeiTung desselben nötigen 
militärischen Anlagen zu erforschen, sondern 
sie hat sich 'das Ziel gesteckt, die einzelnen 
Etappen der römischen Besitzergreifung des 
rechtsrheinischen Gebietes sowie die nach 
den älteren Provinzen jenseits des Rheins und 
der Donau hinüberführenden Verbindungen 
zu ergründen. 

Die wichtigste Entdeckung, welche ihr da¬ 
bei bis jetzt geglückt ist, besteht in dem 
Nachweis älterer Grenzanlagen vor Errichtung 
des Walles und der Mauer. Wie es in der 
Lebensbeschreibung I ladrians heisst: stipitibus 
inagnis in modum muralis saepis funditus 
iactis atque conexis barbaros separavit („er 
Hess lange Pfähle wie zu einer Art Mauer¬ 
hag in den Boden eingraben und durch 
Querhölzer verbinden und hat so die Bar¬ 
baren geschieden“), genau so hat sich jener 


ältere Grenzabschluss vorgefunden: in einem 
bald vor, bald unter oder hinter dem Erd- 
w’all bezw. der Mauer liegenden Gräbchen 
von keilförmigem Profil kamen nicht nur zahl¬ 
reiche Holzreste, sondern öfters wohl er¬ 
haltene Palissadenstümpfe mit Einschnitten für 
Querhölzer zum Vorschein. Und dass kein 
Zweifel über das höhere Alter dieser Palis- 
sadensperre bliebe, traten unter und neben 
den jüngeren Steintürmen die Spuren älterer 
Holztürme zu Tage, teils einfache Gerüste, 
teils Blockhäuser. Da bei Absteckung der 
Grenzlinie in damaligen Urwäldern jedenfalls 
zunächst breite Schneisen durchgeschlagen wer¬ 
den mussten, lag ja der Gedanke nahe, das 
sich hierdurch ergebende reichliche Holz- 
material für die Erstellung der Grenzwehr 
selbst zu verwerten. 

Der Palissadenzaun Hegt nicht immer 
unmittelbar beim Grenzwall und bei den 
Mauern, welche ihn später in dauerhafterer 
Weise ersetzten, sondern öfters weicht er 
von diesen ab, gelegentlich bis zu einem Ab¬ 
stand von einem Kilometer. Wo der Palis¬ 
sadenzaun allein erscheint, fehlen daher auch 
die Steintürme. Neuerdings sind im Taunus 
und in Bayern sogar zwei PaHssaden- 
Hnien gefunden worden, welche bald nahe 
nebeneinander laufen, bald etwas weiter aus¬ 
einandergehen. Es erhellt daraus, dass zu 
den verschiedenen Zeiten verschiedene Be¬ 
rücksichtigung des Geländes statthatte. 

Während aber die genannten Grenzsper¬ 
ren, trotz kleinerer Abweichungen, im Gan¬ 
zen doch ziemlich nahe bei einander errichtet 
sind, Hegt eine andere Linie mehrere Stunden 
zurück: die Odenwald-Neckarlinie. Sic ver¬ 
lässt jene äussere Grenze, welche vom Maine 
ab nach einem kurzen, unregelmässigen Ver¬ 
laufe zwischen Miltenberg und Walldürn in 
einen 79 Kilometer langen, schnurgeraden 
Zug bis in die Nähe von Lorch übergeht, 
am Maine zwischen Obernburg und Wörth, 
hält die Wasserscheide des Odenwaldes bis 
Schlossau ein und zieht dann gleichfalls in 
schnurgerader Richtung bis an die Kocher¬ 
mündung bei Wimpfen, um von hier dem 
Oberlauf des Neckars zu folgen, -- wie weit 
ist bis jetzt ungewiss. Auch sie war, wo 
nicht der Fluss die nasse Grenze bildete, 
mit einem Palissadenzaun abgeschlossen und 
mit Hoiztürmen versehen, welche auf einer 
Trockenmauer ruhten. Unter Antoninus Pius 
wurden letztere laut mehreren Inschriften 
im Jahre 145 und 146 — wenigstens an der 
Odenwaldlinie - durch massive Steintürme 
ersetzt. Gleichzeitig wurden an Stelle einzel¬ 
ner grösserer Kohortenkastelle kleinere Nu¬ 
meruskastelle der Brittonen errichtet und die 
dadurch verfügbar gewordenen Hilfskohorten 


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Uabersicbtakarls 

obtr^rMnischen und raellsdien Umes. 

•faMfWItm««, OrarmutMIM r»miiCflM lluM 



Uebersichtskarte des obergermanischen und rätischen Limes. 

Aus d«m Werk .Der oberg:ermaQiscfa-rBtische Limes des ROmerreichs* 







302 


M. Sternberg. Wissenschaft u. Scheinwissenschaft in der Heilkunde. 


an die äussere Grenze verlegt. Infolge dessen 
baute man jetzt auch diese vordere Linie wei¬ 
ter aus uhd versah dieselbe mit Steintürmen. 
Doch scheint die Ersetzung des Palissaden- 
zaunes (in der Provinz Germanien durch 
einen Erdwall, in Rätien durch eine Mauer) 
erst zu Beginn des dritten Jahrhunderts ge¬ 
gen die Alemanneneinfölle erfolgt zu sein. 
Die beiden Linien waren also eine zeitlang 
zugleich besetzt. 

Wann die erste Anlage dieser Grenz¬ 
sperren erfolgte, hat bis jetzt keine Inschrift 
verraten. Indessen lässt sich mit ziemlicher 
Sicherheit erwarten,, dass auch diese Frage 
gelöst werden wird, wenn einmal der Zu¬ 
sammenhang der verschiedenen Linien durch 
die Grabungen klargestellt und das Fund¬ 
material, namentlich die Münzen, Fibeln und 
Scherben, nach den chronologischen Anhalts¬ 
punkten durchgearbeitet sein wird. 

Bis jetzt wissen wir nur, dass diesseits 
des Rheins sowohl nördlich der Wisper als 
auch am untern Main, ferner in der badischen 
Rheinebene und nördlich der Donau ein 
Streifen Landes bereits um das Jahr 70 n. Chr. 
in römischem Besitz war. Derselbe wurde 
gegen Osten bezw. Norden durch eine teil¬ 
weise am Fusse des Gebirges sich hinziehende 
Kette von Kastellen gedeckt, von welchen 
mehrere gefunden sind. Durch den Krieg 
Vespasians am oberen Neckar im Jahre 73/74 
und Domitians Chattenkrieg 83 kam dann 
auch das vorliegende Gebirgsland in röm¬ 
ische Botmässigkeit, so dass gemäss der 
Überlieferung schon Domitian an die Er¬ 
richtung eines grossen Teils der Grenzschranke 
gehen konnte. Seine Nachfolger haben sich 
dann die Weiterführung des Werkes ange¬ 
legen sein lassen, bis jene gewaltige Grenz¬ 
barrikade erstellt war, wie sie unser Über- 
sichtsplänchen veranschaulicht. 

Verloren ging der Grenzwail für die Rö¬ 
mer bald nach der Mitte das 3. Jahrhunderts. 


M. Sternberg. Wissenschaft und Schein- 
Wissenschaft in der Heilkunde. 

(Science Vol. V, No. rio.) 

Ohne Zweifel sind wir berechtigt, von der 
Heilkunde als einer Wissenschaft zu sprechen. 
Sicherlich ist sie nach vielen Riclitungen hin un¬ 
vollständig, aber durch die wissenschaftlichen Unter¬ 
suchungen der letzten fünfzig Jahre hat sie so schnelle 
Fortschritte gemacht, dass sie heute in allen ihren 
Teilen als auf einer fcstenGrundlage von „anerkannten 
Wahrheiten‘‘ ruhend angesehen werden muss. Wenn 
wir das weite Gebiet, welches diese verschiedenen 
Teile lunfassen, in Betracht ziehen, so sind sicher 
die Lücken in diesem Wissen nicht grösser, als in 


vielem Anderen, z. B. in der Physik oder in der 
Geologie. 

Die wissenschaftliche Heilkunde beruht auf einer 
genauen Kenntnis des Baues des menschlichen 
Körpers im gesunden Zustand (Anatomie), sowie 
der durch mannigfaltige krankhafte Vorgänge her- 
vorgerufenenVeränderungen (Pathologie); ausserdem 
müssen auch die Ursachen der Krankheiten lAtiolo- 
gie) ihre Geschichte ^geographische Ausbreitung), 
sowie der Unterschied, den sie beim Befallen des 
Menschen und der Tiere annehmen (vergleichende 
Pathologie) gekannt sein. Weiterhin gehört dazu 
die Kenntnis der giftigen Wirkungen der verschie¬ 
densten Substanzen aus dem Tier- und Pflanzen¬ 
reich (Toxicologie), sowie der Anwendung von 
Arzneimitteln und physikalischer Behandlungsweisen 
in Krankheitsfällen (Therapie). Für Unwissende je¬ 
doch und selbst für viele der sogenannten gebildeten 
Klasse besteht die ganze Medizin nur in der Heilung 
von Krankheiten und ein Fehlschlagen der Heilung 
beweist ihnen, dass die Heilkunde eben keine Wissen¬ 
schaft ist. Wir geben gerne zu, dass die Heilung 
der Krankheiten ein Hauptzweck der medizinischen 
Wissenschaft ist und dass vom wissenschaftlichen 
Standpunkt aus, die Therapie bedeutend hinter den 
anderen Zweigen der Wissenschaft zurückgeblieben 
ist. Dies wird durch die Verschiedenheit der Mittel, 
welche für ein und dieselbe Krankheit gegeben, und 
durch den Misserfolg aller dieser in vielen Fällen 
dargethan. Aber andererseits hat doch die Heil¬ 
kunst in den letzten Jahren grosse Fortschritte 
gemacht und durch die Anwendung der wissenschaft¬ 
lichen Untersuchungsmethoden können wir den 
Wert der uns zu Gebote stehenden Heilmittel und 
Behandlungsarten viel genauerbestimmen, als früher. 

Noch vor wenden Jahren konnte kein ehrlicher 
Arzt behaupten, er habe eine beträchtliche Anzahl 
von spezifischen Heilmitteln zu seiner Verfügung; 
seine wissenschaftliche Kenntnis der Ursache und 
Symptome der Krankheiten befähigten ihn jedoch 
oft zu einer erfolgreichen Behandlung in Fällen, die 
ohne seine Hülfe ungünstig ausgegangen wären. 
Durch den Gebrauch von wissenschaftlichen Instru¬ 
menten und Untersuchungsmethoden wurde er in 
den Stand gesetzt, eine frühzeiiigf Diagnose zu 
stellen; auf Grund derselben konnte er dann seinen 
Rat erteilen, wie dem Fortschreiten eines Übels, 
welches in späteren Stadien seiner Geschicklich¬ 
keit spottet, Einhalt zu gebieten sei. 

In neuester Zeit wurden der Reihe der spezi¬ 
fisch wirkenden Mittel mehrere hinzugefügt und wir 
haben alle Ursache, anzunehmen, dass die Ent¬ 
deckung weiterer dieser Art das Resultat der jetzt 
in den Laboratorien der ganzen Welt angestellten 
Untersuchungen sein wird. Von den wichtigsten 
letzten Entdeckungen soll der Gebrauch von Schiid- 
drüsen-Extrakt zur Heilung des Kropfes (Myxoedern), 
sowie die Antitoxine der Diphtherie und der Genick¬ 
starre (Tetanus) erwähnt werden. Beiläufig können 
wir auch auf die wunderbaren Triumphe der mo¬ 
dernen Chirurgie, die wissenschaftliche Genauigkeit 
der von geschickten Augenärzten angewandten 
Methoden, sowie auf die Fortschritte in der Geburts¬ 
hülfe hinweisen, die uns berechtigen, von der Heil¬ 
kunde als einer Wissenschaft zu sprechen. 

Wir haben eben gesagt, dass die Heilung von 


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M. Sternberg. Wissenschaft u. Scheinwissenschaft in der Heilkunde, 


Krankheiten wohl einer der wichtigsten, jedoch 
keineswegs der einzige Zweck der medizinischen 
Wissenschaft ist; die Hygiene ist ein ebenso wich¬ 
tiger Teil derselben, zu der die chemischen und 
physiologischen Vorkenntnisse durch die sorgföltig- 
sten Untersuchungen gewonnen werden; es wurden 
die Grundstoffe der Luft, des Wassers, der 
Nahrung, sowie ihre schädlichen Verunreinigungen 
bestimmt. Die Hygiene lehrt uns den Unterschied 
zwischen heilsamer Mässigung in der Ernährung, in 
Leibesübungen und Anstrengung des Geistes und 
jenen Ausschreitungen, welche die Lebenskraft ver¬ 
ringern und zu Krankheiten geneigt machen. Vor¬ 
beugende Heilkunde (Prophylaxis) ein noch weiterer 
BegrifT, muss, wenn wir ihre wohlthätigen Erfolge 
in Betracht ziehen, der eigentlichen Heilkunde vor¬ 
angehen. Während Tausende durch die rechtzeitige 
Anwendung der passenden Heilmittel oder durch 
die geschickt ausgefilhrten Operationen der Chir¬ 
urgen gerettet werden, rettet die Prophylaxe Zehn¬ 
tausende. Dieselbe ruht heutzutage auf einer streng 
wissenschaftlichen Grundlage. Hätte unsere Be¬ 
handlungsweise gleichen Schritt mit unseren Kennt¬ 
nissen gehalten, so wären heute ansteckende 
Krankheiten in zivilisierten Gegenden fast unbekannt 
und jene Degenerationen der Lebensorgane infolge 
Ausschreitungen verschiedenster Art hörten aut, 
eine Hauptrolle in unseren Sterblichkeits-Statistiken 
zu spielen; Aber, obwohl unsere Kefmtnisse noch 
unvollkommen sind, und obwohl einzelne Individuen, 
wie auch Geweinwesen noch immer unterlassen, 
sich an die Gesetze der Hygiene zu halten, so sind 
doch ihre Erfolge schon bedeutend. 

So fordern die Pocken keine erheblichen Opfer 
mehr, ausser an Orten, wo die Impfung vernach¬ 
lässigt wird. Der schwarze Tod des 17. und 18. 
Jahrhunderts ist in Europa nicht mehr bekannt. 
Typhus, Tuberkulose, und Diphtherie aber fordern 
noch zahlreiche Opfer, doch kennen wir bereits 
die spezifischen Ursachen dieser Krankheiten; wir 
kennen die Bakterien, durch welche sie hervor- 
gerufen werden und die Kanäle, durch welche sie 
ihren Eingang in den menschlichen Körper finden. 
Man weiss auch, wie man diese Bakterien durch 
den Gebrauch von desinfizierenden Mitteln (Anti- 
septica) vernichten kann. Das Diphtherie-Heilserum, 
wird, zeitig angewandt, die Sterblichkeit der Diph¬ 
therie auf eine verhältnismässig kleine Zahl bringen. 
Die glänzenden Erfolge in der Chirurgie und Geburts¬ 
hülfe durch' die Antisepsis und Asepsis sind zu 
bekannt, um noch weitläufig erwähnt zu werden. 

Nachdem so kurz über den heutigen Stand der 
wissenschaftlichen Heilkunde berichtet wurde, wollen 
wir auf den zweiten l'eil, nämlich die Schein¬ 
wissenschaft Obergehen. 

Die Geschichte lehrt uns, das die Entfaltung 
irgend eines Zweigs der Wissenschaft stets 
von falschen Folgerungen begleitet wird. Diese 
beruhen dann auf ungenügenden Kenntnissen, 
welche von den Gelehrten längst aufgegeben 
aber unter den Unwissenden noch lange 
Zeit fortspuken. So z. B. fanden Astrologie, Al- 
chymie und Phrenologie Anerkennung nicht nur 
unter den Ungebildeten, sondern auch bei den so¬ 
genannten gebildeten Klassen. Es ist Thatsache, 
dass hierin höhere oder geringere Schulbildung 


303 


wenig Einfluss hat. Viele Leute, selbst solche aus 
gelehrten Berufsarten lassen sich durch Scheinwis¬ 
senschaftler, welche an ihre Entdeckungen selbst 
glauben, täuschen, und selbst Fachleute gehen in 
ihren Schlüssen weiter als die Versuche rechtfer¬ 
tigen. Sie schaden der wahren Wissenschaft oft 
mehr als sie vielleicht durch ihre Entdeckungen 
nützen. 

Gleichzeitig mit dem Fortschreiten der wissen¬ 
schaftlichen Medizin sehen wir ein Heer von schein¬ 
wissenschaftlichen Quacksalbern einhergehen. Diese 
benützen die lückenhaften Kenntnisse der breiten 
Masse und überzeugen durch geschickte Anpreis¬ 
ungen selbst Gebildetere, dass ihre Behandlungs¬ 
weisen auf die letzten wissenschaftlichen Entdeck¬ 
ungen gegründet sind. 

Ein Priestley entdeckt den Sauerstoff; die 
Physiologen zeigen, dass dieses Gas zum Leben 
nötig, und dass gesunde Lungen zur genügenden 
Aufnahme desselben notwendig sein müssen; der 
wissenschaftliche Arzt verschreibt ihn in gewissen 
Fällen zur Hebung von bestimmten Leiden; gleich 
kommt der Quacksalber und erklärt den Sauerstoff 
für das Allheilmittel aller Lungenkrankheiten; er 
erfindet einen Apparat, der in der Hand zu halten 
oder gar in die Tasche zu stecken ist, und durch 
welchen Sauerstoff auf irgend eine wunderbare 
Weise aufgenommen werden kann, und erhält ohne 
Schwierigkeit zahlreiche Zeugnisse für die Güte 
seiner Methode. 

Ein G a 1 V a n i zeigt, dass der elektrische Strom 
durch Berührung zweier Metalle erzeugt werden 
kann, und dass dieser Strom Muskelzusammen¬ 
ziehungen verursacht. Der wissenschaftliche Arzt 
bemächtigt sich dessen, wendet ihn in passenden 
Fällen an, und verhehlt nicht manche Enttäuschung. 
Der Quacksalber schreibt gleich Berichte, in wel¬ 
chen Wahrheit und Dichtung auf das Beste ver¬ 
mischt sind, um selbst gebildete Leute zu täuschen; 
nachdem er die Aufmerksamkeit derartig erregt 
hat, bringt er seinen elektrischen Gürtel, oder Ring 
oder Taschenbatteric als Heilmittel für alles vor. 

Weiter, ein Pasteur beweist, dass die Seuche 
der Schafe und Rind%r, welche als Milzbrand be¬ 
kannt ist, von mikroskopischen Organismen, welche 
im Blute gefunden werden, herrühren, ein Ober¬ 
meyer entdeckt die Mikroorganismen des Rück- 
fallfiebers im Blute und viele Forscher vermehren 
durch Versuche in den Laboratorien unsere Kennt¬ 
nis der pathogenen Bakterien. Gleich kommt der 
Quacksalber, erfindet einep „Mikrobentöter“ und 
alle Krankheit ist geheilt, da ja die Wissenschaft 
zeigt, dass nur die Mikroben daran schuld sind. Und 
so geht es weiter. 

Die Wissenschaft zeigt den Wert von Schilddrü¬ 
senextrakt zur Heilung des Kropfes und sofort be¬ 
kommt das Publikum alle möglichen Extrakte zur 
Heilung der entsprechenden Übel zu schlucken. 

Die Thatsache, dass viele Krankheiten auch 
mit der Zeit zur Besserung gelangen, macht es 
diesen Leuten leicht, Zeugnisse für die Wirkung 
ihrer Schwindelsachen zu erhalten, und wenn unter 
1000 nur zehn den Erfolg bescheinigen, so genügt 
dies vollständig, um das Publikum irrezuführen und 
zu betrügen. 

Wie zu erwarten war, sind die X-Strahlen schon 


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304 


POLAKOWSKY, DiE NEUESTE „DEUTSCHE* KOLONIE. 


für mehr als einen Schwindler zur Erw'erbsquelle 
geworden. In den amerikanischen Zeitungen wird 
verbreitet, dass die X-Strahlen von der C r o o k e s- 
’schen Röhre durch den Körper auf den Boden 
gehen und von da wieder zurOckgeworfen werden, 
„um den Strom zu schliessen“. Die Heilwirkung 
dieser X-Strahlen wird dem von ihnen erzeugten 
Sauerstoff imd Ozon zugeschrieben; die Wissen¬ 
schaft weiss jedoch, dass dies alles Schwindel ist, 
dass weder Ozon noch Sauerstoff die grossartige 
keimtötende Wirkung haben, welche ihnen ange¬ 
dichtet wird. Ein Chicagoger Arzt berichtet jedoch 
über viele erfolgreiche Fälle, die er vermittels der 
X-Strahlen in seiner Praxis geheilt habe; wir wol¬ 
len die therapeutische Wirkung der X-Strahlen 
nicht im Voraus beurteilen, aber wir können als 
sicher annehmen, dass sie keinen Wert zur Zer¬ 
störung von Keimen irgend welcher Art haben. 

Robert Mehler. 


Die neueste „deutsche" Kolonie. 

Von Dr. H. Polakowsky. 

In No. 4 (S. 70 ) dieser Zeitschrift hatte ich in 
meinem kleinen Aufsatze; „Deutsche Auswanderung 
nach dem spanischen Amerika“ kurz vor der Aus¬ 
wanderung nach der Mosquito - Küste und speziell 
vor dem Projekte eines Herrn R. Krämer {Ele¬ 
mentarlehrer) gewarnt. Herr Krämer hatte — wie 
es scheint, ohne von Polizei oder Justiz behelligt 
zu werden — in den Monaten August bis Oktober 
1896 in Dortmund und Umgebung durch Wort und 
Schrift für seine geplante deutsche Kolonie „Neu- 
Dortmund“ agitieren dürfen und wirklich 16 Personen 
gewonnen, die Ende Oktober mit ihm über New- 
York nach der Nordküste von Honduras reisten. 
Am 15. Februar fand sich in verschiedenen Zeitungen 
Dortmimd’s folgende Warnung; „Auf Grund ge¬ 
machter Erfahrungen halten wir es für unsere 
dringende Pflicht, allen Denen, welche noch Lust 
verspüren sollten, mit dem Lehrer Rob. Krämer 
aus Dortmund sich an der Gründung einer Kolonie 
an der Mosquitoküste (Republik Honduras, Zentral- 
Amerika) zu beteiligen, ernstlich zu raten, zu dem 
Lehrer Krämer in keinerlei Beziehung zu treten 
{speziell auch nicht wegen Landankaufs} und ihm 
vor allen Dingen weder GeliJ noch Lebensmittel 
und sonstige Gebrauchsgegenstände anzuvertrauen." 
(Gez.) Gottlieb Vincke und Fritz Lindemann aus 
Dortmund, und Gottlieb und Emst Landfester aus 
Wickede-Asseln. — Aus verschiedenen, meist ano¬ 
nymen Erklärungen in der „Dortm. Ztg." und im 
„Gen.-Anzeiger" (Dortmund) vom Monate Februar 
hj., die meist nach mündlichen Angaben der Ge¬ 
schädigten von der Redaktion geschrieben waren, 
ist zu ersehen, dass sechs Personen, die die Mittel 
zur Rückreise besassen, der „Kolonie“ voller Ent¬ 
rüstung nach kaum vier Wochen den Rücken 
kehrten. Zwei erhielten auf der Rückreise Arbeit 
resp. Stellung, die vier anderen, besonders Herr 
Lindemann, bemühen sich aufzuklären und zu war¬ 
nen, um ihre Landsleute vor Schaden zu bewahren. 
Es ist zu hoffen, dass die Regierung die Sache genau 
untersucht und mit Hilfe des Auswärtigen Amtes 
zunächst feststellen lässt, ob Herr Krämer gütige 
Rechtstitel Ober sein Land in Honduras besass und 
berechtigt war, solches zum Kaufe auszubieten. Wie 
die Geschädigten erzählen, mussten sie die Kauf¬ 
verträge abschliessen, eine Anzahlung von je ca. 
loo Mk. leisten, ehe sie das betreffende Land, 
welches sie bebauen sollten, gesehen hatten, ja ehe 
sie die „Kolonie" erreicht hatten. 


Die „Kolonie“ liegt nicht weit von der Küste 
im Osten des Cabo Cameron '85 ® westl. Lg. v. Gr., 
i6® nördl. Br.) im Süden des Dorfes Tocomacho. 
Der benachbarte Hafen ist San Gologa, heut Puerto 
Burchard genanntj die grösste benachbarte Ort¬ 
schaft das Dorf Iriona.*) Wie es in jenem Gebiete 
in den Jahren 1888—1889 nach offiziellen Angaben 
(Anuario Estadistico, Tequeigalpa, 1893) aussah, 
werde ich an anderer Stelle in einer geographischen 
Zeitschrift besprechen. Hier wUl ich nach privaten 
Angaben der vier genannten Personen, die glücklich 
der Machtsphäre des Herrn Krämer entronnen sind, 
kurz die heutige Sachlage jenes Gebietes besprechen. 

Die Reise ging von New-York mit dem Frucht- 
dampfer „Silvia“ {1200 t) über die Bahamas, Cuba, 
Jamaica, Limon (Costa-Rica) nach Gracias a Dios 
und von dort nach Puerto Burchard. Herr Burchard 
war amerikanischer Konsul von Roatan (ob er noch 
dort lebt, kann ich nicht sagen) und erhielt vor 
Jahren, wie aus einer mir vorliegenden sehr guten 
Kartenskizze zu sehen ist, von der Regierung den 
ganzen Küstenstrich vom Rio Aguan bis zum Cabo 
Camaron zur Besiedelung überwiesen. Die näheren 
Bedingungen dieser Konzession, die wahrscheinlich 
— wie viele ähnliche in Honduras — verfallen, 
heut wertlos ist, sind mir unbekannt. „In Puerto 
Burchard ist kein Hafen. Der Dampfer hielt auf 
offener See, ungefähr 400 m vom Strande. Der 
Kapitän kannte den Hafen nicht und musste sich erst 
in New-York erkundigen, wo Puerto Burchard über¬ 
haupt liegt. Das Erscheinen eines 1200 Tons- 
Dampfers vor Puerto Burchard muss wohl sehr selten 
sein, denn Krämer wollte, wie er sagte, diesen Fall 
in New-Yorker Zeitur^en bekannt geben“. Puerto 
Burchard hat etwa 25 Häuser, meistleichte „ranchos“ 
aus Blättern, mit etwa 50 Einwohnern. Es giebt 
einen Gouverneur, einige „Arbeitssoldaten" und 
einen „störe“. Segelschiffe laufen hier an, aber 
sehr unregelmässig. Der Verkehr ist aber in der 
langen Regenzeit wegen der starken Brandung ganz 
unterbrochen. Iriona ist ein Negerdorf von ca. 30 
„Blätterhütten“, die Ortschaft war früher bedeuten¬ 
der. In Puerto und in Iriona leben meist Caraiben, 
in Puerto noch ein Amerikaner, ein Deutscher, ein 
Spanier und eine Creolenfamme. In Tocomacho 
wohnen meist Schwarze, auch zwei deutsche Ko¬ 
lonisten mit einer Frau und einem Säuglinge. „Neu- 
Dortmund“ li^ iV* Stunde „Paddelfahrt*' entfernt 
aufwärts am Tocomacho-Flusse. In Neu-Dortmund 
wohnen mehrere Weisse, es werden hier Bananen 
und CocosnOsse gewonnen. Von New-York aus 
sollen im vorigen Jahre zwei mal auf vor Tocomacho 
haltende Dampfer Bananen verladen worden sein, 
das dritte Mal ist der Dampfer einfach vorbeige¬ 
fahren, die am Strande aufgestellten Bananen ver¬ 
darben; die Leute sollen, als sie den Dampfer 
wegfahren sahen, geweint haben. Tocomacho hat 
starke Brandung und ist kein Hafen. Puerto Bur¬ 
chard ist durch einen 3 m breiten Weg für Fuss- 
gänger nnd Maultiere und durch Telegraphenleitung 
mit Trujillo verbunden. Fahrwege nach dem Süden, 
die auf den neuesten Karten angegeben sind, fehlen. 
Viehstand in der ganzen Gegend sehr unbedeutend. 
Der Tocomacho ist tief und schiffbar, ward aber 
durch eine nur *l 4 m Tiefe zeigende Barre gesperrt. 

Die Kolonisten, wenigstens 6 derselben, wurden 
zunächst in „Neu-Dortmund“ in zwei Blätterhütten, 
die bis dahin als Schweineställe gedient hatten, 
untergebracht. Die letzten 14 Tage wohnten sie in 
Tocomacho in einer Hütte beim Karaibendorfe. Sie 
lebten von den Lebensmitteln, die sie aus New-York 
mitgebracht hatten. Das Land liefert Fische, Mais, 

s) S. die Karte von Honduras und Salvador v. Bianconi, er¬ 
schienen 1891 iu Paris (Iinpr. Chaix) in den Cartes Commer- 
ciales 7. S^rie, No. 4. 


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Nestler, Ein Reformprojekt. 


305 


Bananen, CocosnQsse, Ananas und Kassava. Das 
„gekaufte Land" lag noch 2 Stunden flussaufwärts 
von NeU'Dortmund. Wir haben uns einmal (!) nach 
der Gegend aufgeniacht, konnten aber nicht gegen 
die Strömung ankonimen, da es kolossal geregnet 
hatte. Krämer schob die Besichtigung des Landes 
immer hinaus, er hatte es nur eilig mit dem „sich 
bezahlen lassen“, Nach Bericht von Augenzeugen 
soll das Land durchweg mit dicken Bäumen be* 
wachsen sein. Einer, der da im vergangenen Jahre 
einmal das Urbarmachen versucht hat, sagt: „Von 
oben kommen die Mosquitos, von unten die Ameisen, 
da habe ich alles hingeworfen und bin nach meinem 
Boote geeilt und habe gemacht, dass ich fluss¬ 
abwärts kam.“ 

Aus diesen Angaben ist zu ersehen, dass Herr 
Krämer unverantwortlich gehandelt hat, indem er 
anz ungeeignete, für derartige Arbeiten in den 
ropen unbrauchbare, mit den Verhältnissen völlig 
unbekannte Personen in ein noch nicht erschlossenes, 
unzivilisiertes Gebiet fllhrte Dass die Leute die 
mühsame Arbeit des Ausrodens resp. Fällens der 
Urwaldbäume gar nicht begannen, war ent¬ 
schieden richtig. Wer hätte innen die Produkte, 
Mais und Bananen, abkaufen sollen? Hier können 
nur grosse, kapitalkräftige Gesellschaften, die mit 
erfahrenen ehrenhaften Leitern und Beamten ar¬ 
beiten, etwas leisten. Sie müssen einen Hafen 
schaffen, grosse Terrains vom Urwalde befreien 
(durch die eingeborenen Arbeiter) und dann die 
Pflanzungen durch kleine Dampfer oder Pferde¬ 
bahnen mit dem Hafen in Verbindung setzen. Dann 
werden auch Dampfer regelmässig anlaufen (wie 
es an der Westküste von Trujillo an geschieht) bnd 
die Bananen regelmässig nach New-Orleans spe¬ 
dieren. Deutsches Kapital warne ich aber dringend 
vor einer derartigen Anlage. Die Sache liegt den 
Amerikanern, deren Dampfer die Bananen von den 
benachbarten Küsten und Inseln in • stets wachsen¬ 
der Menge regelmässig abholen, viel näher, und 
sobald sie glauben, dass Pflanzungen an dieser Küste 
im Osten des Rio Aguan rentieren können, werden 
sie dieselben anlegen. Die Regierung w’ürde sol¬ 
chen Gesellschaften, welche Fanrstrassen anlegen, 
Häfen schäften, Kapital und Ansiedler in das Land 
briMen, gern grosse Terrains schenken. 

EKe Opfer des Herrn Krämer, von denen Jeder 
etwa 1000 bis 1200 Mk. durch die Reise verloren 
hat, erzählen eine Fülle von Details.— besonders 
bezüglich des Landverkaufes — die Krämer schwer 
belasten. Kommt er wieder nach Deutschland, so 
w’ird hoffentlich das Gericht die Angelegenheit ge¬ 
nau aufklären. Zu befürchten ist, dass die zurück¬ 
gebliebenen 10 „Kolonisten“ bald ganz unter Krä- 
mer’s Einflüsse stehen, einsehen, dass ihre Interes¬ 
sen mit denen KrämePs solidarisch sind, d. h. dass 
ihre Lage nur dadurch verbessert werden kann, 
dass möglichst viel vermögende Kolonisten nach- 
folgen, die ihnen ihr Land abkaufen und es wirk¬ 
lich abholzen lassen. Es ist anzunehmen, dass sich 
das Schauspiel, welches die Kolonie „Neu-Ger- 
mania“ (Dr. Bemh. Förster) in Paraguay vor ei¬ 
nigen Jahren bo^ wiederholen wird. Es ist ein 
Jammer, dass es in Deutschland so viele „einfluss¬ 
reiche Kolonialfreunde“ giebt, welche solchen „Ko¬ 
lonistenbriefen“, deren plumpe Mache jeder Kenner 
sofort durchschaut, noch einigen Wert beilegen.*) 
Eine wahre Prachtsammlung derartiger „Briefe“ 


*) Mit ganz unglaublicher, bAswilliger Hai-tnäckigkeit auch! 
die Deutsche Kol. Ges. dieses „Neu-Germania“ zu fördern, be¬ 
schloss sogar (1893-94) der schon Iflngst abgestorbeueu.„deut¬ 
schen* Kcuonic durch die grossartige Subvention von 5000 Mk. 
auf die Beine zu helfen. Spater sollten fflr diese Summe 
Maby (Yerba-) Pflanzungen angelegt werden und erst im 
Fcbr. 1897 liesB der Vorstand diese „geniale Idee" fallen, und 
behielt seine 5000 Mk. 


und „Berichte“ findet sich in Dr. Bemh. Förster’s 
Kolonie „Neu-Germania“ in Paraguay, von E. Förs¬ 
ter, Berlin, 1891. 


! Ein Reformprojekt. 

Von Dr. A. N K s T L E R. 

H. Klatt veröffentlicht in der „Beilage zur 
Samenliste“ (Berlin, Januar 1897) einen Vorschlag 
zu einer Reform der Pflanzenbenenoung, der Recht¬ 
schreibung und des Geschlechtes der Pflanzennamen 
mit der Bitte, die hier angeregten Punkte zu be¬ 
sprechen. Das soll in objektiver Weise geschehen. 

Bezüglich der „Pfianzenbenennung" wird bean¬ 
tragt, dass jeder, der für die Pflanzenwelt Interesse 
hat, sich nur die lateinischen bezw. die lateinisierten 
Namen merken soll, da ein und derselbe - deutsche 
Name oft mehreren Pflanzen beigelegt wird, w’as 
zu Irrtümem Veranlassung giebt; die deutschen 
Namen sollen vollständig verschwinden. — Dieser 
Vorschlag wird wohl schwerlich gebilligt werden 
können. In wissenschaftlichen Abhandlungen wird 
selbstverständlich stets nur der lateinische Name 
mit Angabe des Autors gebraucht; dass aber dem 
Laien, der Interesse für die Pflanzenwelt hat, mit 
der völligen Vernichtung der deutschen Namen ein 
besonderer Gefallen bereitet würde, muss wohl ganz 
entschieden bezweifelt werden. Ist es doch gerade 
die mit so manchem deutschen Pflanzennamen eng 
verknüpfte Poesie, Sage und Mythe, welche dem 
Laien gewöhnlich mehr anziehend erscheint, als die 
Anzahl der StaubgefÜsse einer Blüte, und so oft die 
erste Veranlassung zu einem tieferen Studium der 
Botanik ist. Und unsere Frauen suchen gewiss 
lieber einen „Augentrost“, als eine „Euphrasia“, 
lieber ein „Massliebchen“, als eine „Bellis“. Wenn 
dadurch ab und zu eine Irrung entsteht, so ist der 
Schaden nicht so gross, um eine derartige Reform 
zu rechtfertigen. Wer sich eingehender mit der 
Pflanzenwelt befassen will, dem wird es nicht 
schwer fallen, aus unseren vorzüglichen Bestim¬ 
mungsbüchern die wissenschaftlich feststehenden 
Namen sich anzugeignen. 

Dass ähnliche Pflanzen auch ähnliche Namen 
führen sollen, damit ihre Zusammengehörigkeit im 
System sofort zum Ausdrucke komme, dürfte aus 
sprachlichen Gründen nicht immer durchführbar sein. 

Was die Rechtschreibung der Pflanzennamen 
anbelangt, so wird der phonetischen Schreibweise das 
Wort gesprochen; man schreibe Reum statt Rheuni, 
Kanabis statt Cannabis, Skifantus statt Scyphanthus 
u.s.w. Ein wirkliches Bedürfnis für diese neue„Orto- 
grafie“, welche wieder dem Laien zu Liebe durchge¬ 
führt werden und an Stelle der bisher gebräuchlichen, 
internationalen Schreibweise treten sollte, liegt 
absolut nicht vor, und eine dadurch erzielte För¬ 
derung der Botanik ist durchaus nicht zu erwarten 
Obwohl es dem wissenschaftlich gebildeten Bota¬ 
niker heutzutage ganz gleichgültig ist, ob er „Phlox“ 
oder „Flox“ gedruckt oder geschrieben findet, so 
würde es ihm doch in Folge seiner bisherigen 
Studien, mag er nun dieser oder jener Nation an¬ 
gehören, als eine ganz überflüssige Belastung er¬ 
scheinen, sich auf einmal einer neuen Schreibweise 
der Pflanzennamen bedienen zu müssen. Oder 


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3 o6 


Betrachtungen und kleine Mitteilungen. 


sollte dieselbe eben nur för Laien geschaffen werden ? 
Das wäre wieder keine konsequente Durchführung 
und würde nur Verwirrung hervorrufen. Dieser 
Punkt, er mag gut gemeint sein, wird ebenfalls an 
massgebender Stelle keinen Beifall finden. 

Es wird ferner hervorgehoben, dass es für den 
Laien sehr schwierig sei, an der Endsilbe des Gat¬ 
tungsnamens das Geschlecht zu erkennen und den 
Speciesnamen richtig hinzuzufügen. Diesem Übel¬ 
stand soll dadurch abgeholfen werden, dass alle 
nicht zweihäusigen Pflanzen als Neutra zu betrachten, 
die zweihäusigen dagegen nach ihrem individuellen 
Geschlechte als Masculina oder Feminina zu bezeich¬ 
nen seien; man schriebe also künftig: Ranunculus 
bulbosum, Tilia europaeum, Prunus spinosum, 
Populus albus, bezw. alba u. s. w. Welche Ver¬ 
wirrung durch diese „Verbesserung“ in den Köpfen 
unserer Gymnasialschüler entstehen würde, ist leicht 
einzusehen. Zudem liegt auch hier ein praktisches 
Bedürfnis hn Interesse derer, welche nicht sprach¬ 
kundig sind, nicht vor, da wir an unseren intelligenten 
Gärtnern wahrnehmen können, dass sie viele Hun¬ 
derte der bisher üblichen Pflanzenbezeichnungen 
mit Leichtigkeit lernen und richtig im Gedächtnisse 
behalten. 

Der Reformator spricht schliesslich die Ansicht 
aus, dass es gar nicht notwendig sei, eine Pflanze 
mit zwei Namen zu bezeichnen, da der zweite Name, 
der Speciesname^ sehr oft vollständig unsinnig ge¬ 
wählt sei; er möchte daher an Stelle desselben 
Ziffern setzen und zwar zunächst in chronologischer, 
dereinst in systematischer Folge. — Mag sein, dass 
der Speciesname nicht immer glücklich gewählt ist; 
in den weitaus meisten Fällen aber giebt er ent¬ 
weder einem charakteristischen Artenunterschied 
Ausdruck, was entschieden ein grosser Vorteil ist, 
vorausgesetzt, dass dieses dem Gattungsnamen bei¬ 
gefügte Wort seiner Bedeutung nach verstanden 
wird; oder er hält das Andenken an einen um die 
Wissenschaft verdienten Mann fest. Nun denke man 
z. B. an die Gattung Ranunculus, welche eine grosse 
Anzahl von Species umfasst. Ob es nun eine Ver¬ 
einfachung und Erleichterung wäre, anstatt Ranun¬ 
culus bulbosus und Ranunculus sceleratus, sich 
Ranunculus 37 und Ranunculus 58 einprägen zu 
müssen, überlasse ich dem Leser zur Beurteilung. 

Mit den hier kurz skizzierten Reformen der 
Pflanzenbezeichnung dürfte wohl schwerlich ein 
Botaniker einverstanden sein. Die durch den ge¬ 
nialen Geist eines Linne geschaffene Ordnung durch 
Einführung der binären Nomenclatur, kann durch 
das gebotene Surrogat nicht ersetzt werden. Und 
schliesslich ist nicht zu übersehen, dass der moderne 
Botaniker ganz andere Aufgaben zu lösen hat, als 
die, sich mit einer derartigen Umwälzung zu befassen 
und zu befreunden. Das wäre ganz entschieden 
kein Fortschritt, sondern ein Rückschritt. 


Betrachtungen und kleine Mitteilungen. 

Wir haben kürzlich (in No. 8) auf eine alte Rei- 
chenauer Glossenhandschrift aus dem 8. Jahrhundert 
aufmerksam gemacht, die Prof. Kluge neuerdings 
als eine Quelle germanischer, insbondere gothischer 
Sprachgeschichte nutzbar zu machen gesucht hat. 


Soeben erhalten wir nun von einem andern Ger¬ 
manisten, Prof. Friedrich Kauffmann, Kunde 
von einem neuen Denkmal der goihischen Litieratur, 
das wahrscheinlich keinem Geringeren als dem 
westgothischen Bischof und Bibelübersetzer Wulfila 
selbst zugeschrieben werden darf. Es ist ein lU’ 
teinischer Kommentar zum Malihäusevan^elium 
(C. 1—13,19—25), der längst in der grossen Migne’- 
schen Kirchenschriftensammlung „Patrologia" ge¬ 
druckt vorlag, bisher aber unter dem Namen des 
Chrysostomos ging und deshalb als Fundgrube für 
die germanisene Religions- und Sittengeschichte 
noch nicht einmal erkannt war. Von den Gothen 
selbst ist zwar in dem Kommentar nirgends die 
Rede, aber es spiegeln sich darin .die Lebensver¬ 
hältnisse eines auf dem Balkan angesessenen Oer¬ 
manenstammes in so prächtigen Bildern und Gleich¬ 
nisreden wieder, dass wir in dem Text trotzdem 
einen äusserst wertvollen Schatz kulturgeschicht¬ 
licher Vorfahrenüberlieferung zu erblicken haben. 
Prof. Kauffmann führt in der wissenschaftlichen 
Beilage der „Allgem. Ztg." (No. 44), wo er seine 
Entdeckung zuerst bekannt machq zahlreiche Bei¬ 
spiele dafür an, aus denen wir hier nur einige 
wenige, dem allgemeinen Verständnis zugängliche 
herausheben wollen. So fügt der gothische Ver¬ 
fasser zu der Erklärung, dass der Name „Arnos“ im 
Hebräischen „Tapferkeit“ bedeute, die Bemerkung 
hinzu, dass es ja auch bei den Barbarenvölkern 
Sitte sei, ihren Söhnen Namen beizulegen, die auf 
die Vernichtung reissender Bestien und wilder Raub¬ 
vögel hindeuten, in der Meinung, dass es ein Ruhm 
sei, kriegstOchtige Nachkommen zu haben. An 
einer anderen Stelle schildert der Erklärer aus¬ 
führlich das Los des friedlosen Flüchtlings, und 
zwar ganz in den Farben, die wir aus unsem alten 
Dichtern, vor allem solchen der angelsächsischen 
und altniederdeutschen Litteratur, zur Genüge 
kennen: der Friedlose muss auf den Landstrassen 
bleiben, sich in den Wäldern verbergen und durch 
die Einöden schweifen. Kein Kleid darf er tragen, 
kein Haus darf er betreten, kein Feuer darf er an¬ 
zünden. Wenn aber der Winter kommt, was ge- 
. schiebt ihm dann? Dann muss er entweder in der 
Kälte erstarren oder durchs Schwert seinen Tod 
finden. Bezeichnend für germanische Verhältnisse 
ist auch die Stelle, wo der Verfasser von dem 
Königtum spricht. Niemand, sagt er, kann sich 
sdbst zum König machen, sondern das Volk ist es, 
dass sich seinen König kürt; ist aber der König 
einmal erwählt und bestätigt, dann hat er Gewalt 
über die Leute, und das Volk kann sein Joch nicht 
wieder abschütteln; so wandelt sich der freie Wille 
nachher in den Zwang der Notwendigkeit. — Ganz 
wie ein Held kämpft der tapfere Bischof für seine 
Sache und wählt mit Vorliebe seine Vergleiche aus 
dem kriegerischen Leben seines Volkes. Aber auch 
die Abhängigkeit von der griechischen und der 
römischen Kultur tritt hervor; denn mit lüsternem 
Auge hielt ja das junge germanische Blut Ausschau 
nach den Marmorpalästen und anderen Herrlich¬ 
keiten von Rom und Byzanz. Unser Gothe warnt 
davor, wie vor dem Teufel: sein Stolz ist der Krieger 
und der Bauer. Den Handel verpönt er; die Geld¬ 
wirtschaft ist ihm verhasst. Viehstand und Acker¬ 
bau bilden ihm den Nährboden seines Volkes, über 
dessen Recht und Sitte, Glauben und Aberglauben, 
über dessen Eigentum in Hausrat und Feldflur wir 
eingehende Aufklärung erhalten. Auffallend bevor¬ 
zugt der Bischof die ärztliche Praxis; er interessiert 
sich für alles in der belebten wie in der unbelebten 
Natur. Die Haustiere sind ihm vertraut wie das 
Wild; von einer Gebirgsjagd giebt er eine präch¬ 
tige anschauliche Schilderung. Noch hängt seine 
Gemeinde am Heidentum der Väter, aber der 


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Betrachtungen und kleine Mitteilungen. 


307 


Geistliche selbst urteilt milde darüber: wessen Vater 
noch heidnisch ist, der darf ihm deshalb den Ge¬ 
horsam nicht kündigen; nur wenn ihn sein Vater 
gleichfalls zu dem heidnischen Glauben zwingen will, 
soll er Gott mehr lieben, als seinen Vater. — Prof. 
Kauffmann neigt, wie schon angedeutet, sehr zu der 
Annahme, dass Bischof Wulfila thatsächlich der 
Verfasser des Kommentars: „trifft dies zu, schliesst 
er seine vorläufige Ankündigung, so ist nicht blos 
unsere deutsche Litteratur um ein Werk originellen 
Charakters reicher, dann ist zugleich auch eine 
Quelle erschlossen, aus der wir Ober des Gothen¬ 
bischofs geniale Persönlichkeit und sein grossartiges 
Wirken m ungeahnter Fülle Aufklärung erhalten. 
Jedenfalls aber ist für die germanische Religions¬ 
geschichte ein Werk gewonnen, das wie eine Licht- 
uelle in eine dunkle, aber welthistorische Periode 
eutscher Geschichte hineinrag^t.“ Dr. d. 


Eine antike Darstellung des Virgil. Franzö¬ 
sische Soldaten, welche in Tunesien stationiert 
sind, haben daselbst in der Nähe der Stadt Susa 
im November vor. Jahres bei der Anlage von We¬ 
gen einen äusserst wertvollen Fund gemacht, über 
welchen bisher nur Weniges bekannt wurde; um 
so mehr wird es interessieren, einige nähere An¬ 
gaben darüber zu erfahren, die der Direktor der 
Kunst- und Altertumsgegenstände in Tunesien der 
Academie des inscriptions in Paris übermittelt hat. 
Der Fund besteht in einem kleinen quadratischen 
Mosaik, welches Virgpl darstellt, wie er eben mit 
seiner Hauptdichtung, der Äneis, beschäftigt ist. 
In eine weite weisse Toga mit blauem Saum ge- 
hQllt, sitzt er, dem Beschauer zugewendet, auf einem 
Lehnsessel da; auf den Kmeen hält er eine 
Papyrusrolle; sie ist entfaltet und zeigt in Kursiv¬ 
schrift die bekannten Verse seines Gedichtes: 

Musa, mihi CAUsas memora quo aumine laeso 

Quidve . . . 

Des Dichters rechte Hand ruht auf der Brust, der 
Kopf ist erhoben und aufmerksam lauscht er den 
Worten der Klio und Melpomene, die hinter ihm 
stehen und ihm abwechselnd die Gesänge seiner 
Aneis diktieren. Die beiden Musen sind in Haltung 
und Kleidung verschieden dargestellt. Zur Rechten 
Virgils steht Klio und liest ihm ein Manuskript vor, 
weiches sie mit beiden Händen gefasst hält. Sie ist 
als junges Mädchen charakterisiert, bekleidet mit 
einer blauen Tunica mit hellgelbem Überwurf Links 
steht Melpomene, den Arm auf die Sessellehne 
stützend, und hört mit dem Ausdruck der Aufmerk¬ 
samkeit auf Klios Worte. Sie trägt reifere Züge 
zur Schau als jene, sie Ist eine Frau von strenger 
Schönheit; eine prächtige, hochgegOrtete Robe aus, 
grOnbesticktem und goldverbrämtem Purpur ver¬ 
hüllt die kräftigen Glieder, Ober den linken Arm, 
welcher eine tragische Maske hält, ist ein tiefblauer 
Mantel mit schweren Falten geworfen, an den Füs¬ 
sen trägt sie den Kothurn. — Die Technik des 
Mosaiks ist so tadellos, der Stil und die Kompo¬ 
sition so hervorragend, dass man berechtig ist, eine 
künstlerisch noch auf hoher Stufe stehende Epoche 
— etwa das Ende des ersten Jahrhunderts unse¬ 
rer Zeitrechnung — als die Zeit seiner Entstehung 
und ein vorzügliches Gemälde als seine Vorlage 
zu betrachten, welche von geschickten Händen 
ebenso vorzüglich zum Mosaikbüde umgesetzt 

wurde. q. 

• * 

• 

Internationaler Arcbäologenkongress zu 
Athen. Fast alle Wissenschaften haben ihreinter-, 
nationalen Kongresse, nur die klassische Archä¬ 
ologie noch nicht. Dem soll jetzt abgeholfen wer¬ 


den. Die Ecole fran^aise d’Athenes wird zur Feier 
ihres fünfzigjährigen Bestehens im Laufe dieses 
Monats einen soldien internationalen Archäologen¬ 
kongress einberufen, dem dann in bestimmten Zwi¬ 
schenräumen an von Fall zu Fall zu bestimmenden 
Orten regelmässige Zusammenkünfte dieser Art 
folgen sollen. Die Direktion des französischen archä¬ 
ologischen Institutes hat zunächst ein aus Archä¬ 
ologen aller Länder gebildetes Komitee eingesetzt, 
welches mit den Vorbereitungen für den ersten 
Kongress betraut ist. Derselbe soll vom 26.-28. 
April in Athen tagen und sich nach dem bereits 
seit längerer Zeit fertiggestellten Programm mit 
einer ganzen Reihe wichtiger Fragen beschäftigen; 
er soll beispielsweise beraten über die rationellste 
Ausgrabungsmethode, die Konservierung von Alter¬ 
tümern, die Wiederherstellung des Parthenon, Ver¬ 
mehrung {leider nicht auch Verbilligung!) der archä¬ 
ologischen Publikationen, Verwertung der Archä¬ 
ologie in den Schulen u. s. w. Als Versammlungs¬ 
ort für den ersten Kongress ist Athen gewählt; 
wenn es zur Begründung dieser Wahl in dem betr. 
Zirkulare der ecole frangaise heisst: „Athenes, par 
la primaute de son genie, la beautö de ses monu- 
ments, l’activite scientifique dont eile est le centre, 
parali une ville tout indiquee pour de telles reunions" 
so wird man dies gerne unterschreiben soweit der 
erste Kongress in Betracht kommt; sehr bedauer¬ 
lich aber wäre es, wenn auch für alle folgenden 
Archäologentage Athen als Versammlungsort be¬ 
stimmt würde; denn damit wäre diese Einrichtung 
bei der wenig zentralen Lage Athens allein für die 
archäologischen Professoren- und reichen Dilettan¬ 
tenkreise zugeschnitten und eine ganze Reihe tüch¬ 
tiger Archäologen, denen es weder ihr Beruf noch 
ihre Mittel gestatten, jährlich die weite Reise nach 
Athen zu machen, wäre von der Teilnahme an 
den sonst gewiss allseitig mit grosser Freude be- 
grössten und die Altertumskunde erheblich fördern¬ 
den Kongressen zu ihrem lebhaften Bedauern aus¬ 
geschlossen. Hoffen wir nur, dass die augenblick¬ 
liche politische Lage nicht etwa der ganzen An¬ 
regung den Boden entziehen möge, wenn ihr auch 
vielleicht Athen als erster Versammlungsort zum 
Opfer wird fallen müssen. Q. 

* • 

Das Merkbuch des Ritters Hans von Schwei- 
nichen. Der Rittter Hans von Schweinichen 
(1552—1616) dürfte durch die Arbeiten der bekann¬ 
testen Kulturhistoriker, G. Frey tag, J oh. Scher.r 
etc.; sich in den weitesten Kreisen als Autobiograph 
und kulturgeschichtliche Quelle ersten Ranges eines 
guten Rufes erfreuen. Dr. Konrad Wutke hat 
nun vor einiger Zeit zum ersten Male sein „Merk¬ 
buch“ herausgegeben, worin der fürstlich-liegnitzische 
Rat, Marschall und Hofmeister hochinteressante und 
vor allem ziffermässig genaue Nachrichten über be¬ 
deutende Hoffestlichkeiten, Hochzeiten so gut wie 
Begräbnisse etc., verewigte. Indem er uns redlich 
den meist ganz kolossden Aufwand an Ochsen, 
Schöpsen und Kälbern, an Spanferkeln und „Kap- 
hühnern", „kalykutischen“ Hühnern, „gemeinen* 
Hühnern, Eiern,- Fischen, Gewürzen, Parmesan¬ 
holländischem und anderem Käse, Marzipan, „Kon- 
fekta" süssem Wein, ungarischem, österreichischem, 
mährischem und Rheinwein, an Gerstenbier, Frei¬ 
burger Bier, Scheps, eingebrauen Bier etc. mitteilt, 
den fürstliche Hochzeiten verschlangen, indem er 
durch sorgfältige Aufzeichnung der vorgeschriebenen 
Zeremonien uns vielfach lebendigere kulturgeschicht¬ 
liche Bilder vor Augen führt als selbst in seiner 
Autobiographie, giebt das ganze Buch zugleich ein 
richtiges Verständnis der damaligen Zeit und des 
damaügen Fürstenlebens. Es spiegelt sich darin 


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Betrachtungen und kleine Mitteilungen. 


308 


eine Zeit, die sich mit allem Glanz, Pomp und Luxus 
nicht über das Gefühl ihrer inneren Leere und Hohl¬ 
heit hinwegtäuschen konnte, wie denn der gewiss 
servile Schweinichen selbst einmal seinen Unmut 
darüber nicht ganz unterdrücken kann, dass die 
Festlichkeiten nur ein ewiges Einerlei von Gelagen 
und Tanzereien wären, und dass die Gäste für an¬ 
dere Genüsse absolut kein Verständnis hätten. 

K. Lory. 

• • ^ 

* 

Anfang Mai ds. Js. tritt in Washington der nächste 
Weltpos&ongress Zusammen. Es ist dies der 
fünfte. Der erste internationale Postkongress fand 
auf Anregung Deutschlands im Jahre 1874 in Bern 
statt. Zu demselben hatten sämtliche europäische 
Staateji, die Vereinigten Staaten von Nordamerika 
und Ägypten Vertreter abgesandt. Das Ergebnis 
der Beratungen war der Abschluss des „AUgem. 
Postvereinsvertrages“, an dem sich 22 Staaten mit 
etwa 350 Millionen Einwohnern beteiligten. Dieser 
Vertrag bildete für die in Betracht kommenden 
Staaten hinsichtlich der Briefpostsendungen ein ein¬ 
ziges Postgebiet, innerhalb dessen gleiche, billige 
Gebührensätze und gleiche Befbrderungsbestim- 
mungen in Anwendung kamen. Die bisherige Porto¬ 
teilung wurde beseitigt, jeder Staat behielt die von 
ihm erhobenen Gebühren. Um den Verein sowohl 
nach innen wie aussen weiter auszubauen und zu 
vervollkommnen, wurde beschlossen, alle 3 Jahre, 
welcher Zeitraum später auf 5 Jahre ausgedehnt 
worden ist, einen Kongress abzuhalten. Am i. Juli 
1875 trat der Vertrag in Wirksamkeit, und bald 
darauf meldete eine grössere Anzahl von Ländern, 
die sich bisher fern gehalten hatten, den Beitritt 
zum Vereine an. Letzterer nahm infolgedessen 
auf dem zweiten Kongress im Jahre 1878 zu Paris 
den Namen „Weltpostverein" an ■ und auf den 
Grundlagen des Berner Vertrags wurde der „Welt¬ 
postvertrag“ geschlossen, der neue Verkehrs-Erleich¬ 
terungen und Vereinfachungen schuf. Ausserdem 
wurden von einer Anzahl von Staaten Vereinba¬ 
rungen über den internationalen Austausch von 
Briefen mit Wertangabe und von Postanweisungen 
getroffen. Wegen der Beförderung von Post- 
packeten im Vereinsverkehr kam eine Einigung 
erst auf der besonders zu diesem Zwecke zusam¬ 
menberufenen Konferenz in Paris im Jahre 1880 
zu Stande. Der dritte Weitoostkongress tagte in 
Lissabon im Jahre 1885. Wieder traten zahlreiche 
Staaten sowohl dem Hauptvertrage als auch den 
Nebenabkommen bei. Neu entstand das Sonder¬ 
abkommen Ober den internationalen Postauftrags¬ 
dienst. Auf dem vierten Kongress im Jahre 1891 
in Wien wurde der Zeitungsdienst einheitlich ge¬ 
regelt. Das Vereinsgebiet wurde wesentlich erwei¬ 
tert durch den Beitritt der britischen Kolonien in 
Australien, ln der Zwischenzeit sind die Südafri¬ 
kanische Republik, Natal, Zululand und zuletzt auch 
die Kap-Kolonie dem Weltpostverein beigetreten. 
Es gehören demselben nunmehr mit Ausnahme des 
Oranje-Freistaates sämdiche Länder des Erdballs 
an. die ein geregeltes Postwesen besitzen. Das 
Vereinsausland bildet zur Zeit nur noch der bereits 
genannte Oranje-Freistaat, Rhodesia, sowie die 
Cook- und Tonga-Inseln. Der Weltpost-Verein um¬ 
fasst gegenwärtig ein Gebiet von Ober 100 Millionen 
Quadratkilometern mit etwa 1015 Millionen Ein¬ 
wohnern. Vofft, 

« « 

• 

Poesie im märkischen Sande. Es ‘ sind jetzt 
gerade 100 Jahre her, dass in Berlin bei Haude bt 
Spener ein kleiner Band Gedichte von Friedrich 
Wilhelm August Schmidt, Prediger zu Wer¬ 
neuchen, erschien. Die Gedichte zeugen von einer 


kindlichen Freude an der Natur und einer Innig¬ 
keit des Liebeslebens, welche in ihrer hausbacken¬ 
keuschen Form wohl unübertreflÜch sind. Aber alle 
diese poetischen Schilderungen sind von einer so 
unglaublichen Naivetät, dass die dichterische Muse 
händeringend davorsteht, und nicht weiss, ob sie 
lachen oder weinen soll. Diese Naivetät, welche so 
weit ging, für jede zufällig genannte Blume unter 
dem Stnch den botanischen Namen anzuführen, war 
selbst für die damalige sentimentale Zeit etwas zu 
stark und veranlasste den Meister ß o e t h e in seinem 
Gedichte: „Musen und Grazien in der Mark* den 
Zorn und Spott des Olympiers darüber auszu¬ 
schütten. Diese Gedichtsammlung wäre längst der 
wohlverdienten Vergessenheit anheimgefallen, wenn 
sie nicht hübsche Illustrationen von Chodowiecki 
enthielte. Abgesehen vom Titelbilde von J. W. 
Meil, sind 3 Bilder von Lütke, die übrigen ii von 
Chodowiecki, häufig bloss mit D. Ch—ki bezeichnet. 
Die Illustrationen von Lütke sind landschaftliche 
Stimmungsbilder von hohem Reiz. UnzweifeÜiaft 
hat das Büchlein es nur diesen Illustrationen zu ver¬ 
danken, dass es in der Familie des Unterzeichneten 
ein Jahrhundert lang erhalten blieb. or. jurisch. 

• 

Nach einer Mitteilung von Vennkoff an die 
Pariser Geographische Gesellschaft hat der Araxes 
aufgehört ein Nebenfluss des Kura zu sein; der Fluss 
fliesst gegenwärtig in seinem alten Bett direkt in 
das Kaspische Meer und mündet dort in die Kisi- 
lagatsch-Bai. Da die Bewohner mit dieser Ver¬ 
änderung sehr zufrieden sind, so haben sie die 
russische Regierung ersucht, Massnahmen zu treffen, 
um den jetzigen Zustand dauernd zu wahren. 

Verh. d. Ges. für Erdkundci Berlin, a. x897. 

• « 

• 

Prof. Pinto in Rio de Janeiro hat ein neues 
Verfahren erfunden, Fleisch zu konservieren, indem 
er dazu Elektrizität verwendet. Er bringt das 
Fleisch in eine 3oprozentige Kochsalzlösung, in wel¬ 
che er einen kontinuierlichen elektrischen Strom 
leitet. Nach 10—20 Stunden ist das Einsalzen voll¬ 
endet, und das Fleisch kann getrocknet werden. 
Für 3000 Liter Salzwasser, worin 1000 kg Fleisch 
gesalzen werden können, muss der Strom etwa 
100 Ampere haben bei einer elektromotorischen 
Kraft von 8 Volt. Die Elektroden müssen von 
Platin sein. Sch. 

Sprechsaal. 

Herrn Dr. P. in M. Ein deutsche Schifistonne 
ist s= 1000 kgr. ln der von Ihnen angezogenen 
Notiz ist eine englische Tonne = 1016 Ko. gemeint, 
ein Druckfehler hat daraus 1021 gemacht. 

Herrn M. in B. Jetzt schon wünschen Sie Vor¬ 
schläge für eine Sommerreise ? — Nun, wir können 
Ihnen dienen. Wir gelangten in den Besitz eines 
demnächst erscheinenden Schriftchens: „Aus deut¬ 
scher Gebirgswelt" (Verlag von G. Köhler 
in Wunsiedel, Oberfranken), das so recht Ihren 
Wünschen entsprechen dürfte. Es wird eine neue 
Reiseroute empfohlen, die abseits von der modischen 
Touristensti'asse liegt. Nach dem Besuch des Fichtel- 
gebirgs ladet der Verfasser zu der überaus reiz¬ 
vollen Tour durch die böhmischen Bäder ein, die 
man durchaus nicht erst dann besuchen soll, wenn 
man ihrer Heilkräfte bedarf. Das Büchlein ist in 
Form einer launigen Erzählung geschrieben und 
wirklich empfehlenswert. 

No. 18 der Umschau wird enthalteo: 

Wainiug, Die vierte DimensioD. — Sclineegans, Rabelais. — 
Arends, Rosen&I. - Klemm, Indische Forschungen. — Die 
Wirksamkeit der Post- und Telegraphen-Verwaltung im Dienste 
der öffentlichen Wohlfahrt. 

G. Horstmann's Druckerei. Frankfurt a. M. 


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DIE UMSCHAU 

ÜBERSICHT ÜBER DIE FORTSCHRITTE UND BEWEGUNGEN AUF 
DEM GESAMTGEBIET DER WISSENSCHAFT, TECHNIK, 
WOchenllich eine Nummer. LITTERATUR UND KUNST 


Za beziehen durch 
alle Buchhandlungen und 
Poatanstalteu. 

Postzeitungspreisliste No. 7391a. 

Verlag von: ' 

H. Bechhold Verlag, Frankfurt a. H. 


herausgegeben von 

DR. J. H. BECHHOLD 


Neue Krame ig-si. 


Preis vierteljährlich 
M. 3.50. 

Jahres-Abonnement 
Preis M. 10.—. 

Im Ausland nach Coura. 
Verantwortlicher Redakteur: 

Otto Adolf Wolters, Frankfurt a. M. 


18. 1 . Jahrg. 


Naehäruek aua dtm Inhalt dar Ztitackri/t ohna Erlanbrns 
dar Radaktion varbotan. 


1897. I. Mai. 


Die vierte Dimension. 

Von Dr. E. Wölffino. 

Während die meisten Fortschritte auf dem 
Gebiet der Mathematik dem grossen Publikum 
so gut wie unbekannt bleiben, ist die Kunde 
von der Entdeckung der sog. vierten Dimension, 
die freilich dem Grenzgebiet der Mathematik 
und Philosophie angehört, bereits in weite 
Kreise der Gebildeten gedrungen. Aber diese 
Popularität ist eine solche, wie sie dem Mathe¬ 
matiker nicht erwünscht sein kann. Das 
Publikum zuckt ironisch und mitleidig die 
Achseln, wenn auf die vierte Dimension die 
Rede kommt; es meint augenscheinlich in der¬ 
selben eine Verirrung der Mathematik vor sich 
zu haben, wie Simon^ mit Ingrimm konstatiert, 
und hält sich für berechtigt, über dieselbe 
kurzweg abzuurteilen. Um dieser unrichtigen 
Vorstellung entgegenzutreten, gedenke ich an 
der Hand der neuesten Arbeiten die Ansichten 
der Sachverständigen Ober dieses allerdings 
vielumstrittene Gebiet auseinander zu setzen. 

Dimension ist die Art der Ausdehnung 
eines geometrischen Gebildes. Die Geometrie 
hat es zunächst mit Körpern zu thun, wie sie 
auch in der Wirklichkeit Vorkommen und diese 
haben zweifellos drei Dimensionen, eine Länge, 
Breite und Höhe. Diese Körper führen jedoch 
unmittelbar auf Gebilde von weniger Dimen¬ 
sionen : sie sind von Flächen begrenzt, die 
zweidimensional sind, denn man kann ihnen 
nur Länge und Breite zuschreiben. Die Be¬ 
grenzungen der Flächen aber bilden Linien, 
die nur eine Dimension, die Länge, besitzen; 
endlich sind die Grenzen der Linien Punkte, 
die gar keine Ausdehnung oder Dimension 
haben. Nun hat ein Quadrat mit der Seiten¬ 
länge a den Flächeninhalt a.a oder a*, ein 
Würfel von der Kantenlänge a, der von sechs 
solchen Quadraten begrenzt ist, hat den Raum- 

*) Die Elemente der Geometrie mit Rücksicht 
auf die absolute Geometrie. 1890. 

Ududun 1897- 


Inhalt a.a.a oder a^ Sollte es nicht auch 
Gebilde vom Inhalt a*, a® u. s. f. geben? 
Die reine Geometrie fragte nicht lange nach 
der wirklichen Existenz solcher vier- und 
mehrdimensionaler Gebilde, sondern sie bewies 
sofort, wie dieselben aussehen müssen und 
machte sich daran, ihre Eigenschaften zu er¬ 
forschen. Dabei stellte es sich heraus, dass 
man z. B. ein Gebilde, das sogen. Achtzell, 
ersinnen kann, das von acht Würfeln begrenzt 
ist, die in nicht vorstellbarer und daher auch 
nicht zu beschreibender Weise mit einander 
verbunden sind, und dieses Gebilde hat den 
vierdimensionalen „Inhalt“ a*, wenn a die 
Kantenlänge jener Würfel ist. Ein solcher 
' „Körper“ kann freilich in dem, was wir „Raum“ 
nennen, nicht gedacht werden, so wenig wie 
ein Würfel in einer Ebene untergebracht wer¬ 
den kann; man musste daher einen vierdimen¬ 
sionalen „Raum“ oder sagen wir lieber: eine 
vierdimensionale Mannigfaltigkeit annehmen, 
von welcher unser Raum nur einen Teil 
bildet, wie eine Ebene auch nur einen Teil 
unseres Raumes ausmacht. Durch die vier- 
»und mehrdimensionalen Mannigfaltigkeiten ge¬ 
wann die Geometrie ein ganz neues Gebiet 
für höchst interessante Forschungen; man er¬ 
hielt plötzlich die Möglichkeit, Sätze der Ana¬ 
lysis in geometrischer Einkleidung, die das 
Verständnis ungemein erleichtert, auszu¬ 
sprechen, während dies früher nur in be¬ 
schränktem Masse möglich gewesen war. Dass 
in der hierdurch gewonnenen Einfachheit des 
Denkens ein Gewinn und Fortschritt der 
Wissenschaft liegt, wird von Cranz*) mit Recht 
hervorgehoben. Schon dadurch ist die Lehre 
von den höheren Mannigfaltigkeiten ein un¬ 
entbehrlicher Bestandteil der modernen Mathe¬ 
matik geworden. Aber auch die rein geo- 

‘) Gemeinverständliches über die sogen, vierte 
Dimension. Sammlung gemeinv., wissensch. Vor¬ 
träge von Virchow und Hoitzendorf. Heft 
112-13, S. 58. 

18 


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310 


Wölffing, Die vierte Dimension. 


metrischen Verhältnisse in diesen Mannigfaltig¬ 
keiten stellten dem Scharfsinn der Geometer 
eine Reihe schöner Probleme, deren Bewäl¬ 
tigung umso schwieriger war, weil die Kontrolle 
durch die Anschauung fehlte. Immerhin wurde 
auch hierfür ein teilweiser Ersatz geschaffen. 
Wie die darstellende Geometrie die Körper 
vermittelst des Grundrisses\ir\d^es Aufrisses in 
der Zeichnungsebene abbildet, so konstruierten 
V. Schlegel^) und M. Brückner^) „Projek¬ 
tionen" der vierdimensionalen Gebilde in 
unserem gewöhnlichen Raum; an denselben 
lassen sich alle Eigenschaften dieser Gebilde 
ersehen. Dabei muss hervorgehoben werden, 
dass die geometrischen Untersuchungen über 
die mehrdimensionalen Mannigfaltigkeiten nie¬ 
mals zu einem Widerspruch geführt haben. 

Zur Betrachtung einer vierten Dimension 
wird man jedoch auch auf einem ganz anderen 
Wege geführt. Mit der Unfehlbarkeit und 
Sicherheit, durch welche die Schlüsse der 
Geometrie sich auszeichnen, steht in seltsamem 
Gegensätze die Unklarheit, in welche die 
Grundlagen dieser Wissenschaft gehüllt sind. 
Nicht allein, dass es nicht gelingen will ein¬ 
wandfreie Begriffsbestimmungen für die grund¬ 
legenden Gebilde; die Gerade und die Ebene 
aufzustellen; die Geometrie sieht sich auch 
genötigt, von einer Anzahl von Grundsätzen 
(Axiomen) auszugehen, die sie nicht beweisen 
kann, deren sie jedoch für den Aufbau ihrer 
Wahrheiten bedarf oder wenigstens zu bedürfen 
glaubte. Unter diesen erlangte eine besondere 
Berühmtheit das sogen. Parallelenaxiom des 
griechischen Geometers Euclid: Zwei in einer 
Ebene liegende Gerade a und b, die von einer 
dritten so geschnitten werden, dass die beiden 
an einerlei Seite liegenden inneren Winkel 
« und ß zusammen kleiner sind als zwei rechte 
Winkel, treffen genügend verlängert an der¬ 
selben Seite zusammen. Nach vielen vergeb¬ 
lichen Versuchen, diesen Satz zu beweisen, 
zeigte Lobatschewsky 1832, durch Gauss an¬ 
geregt, dass man auch eine Geometrie auf¬ 
stellen kann, in welcher das Parallelenaxiom 
nicht mehr wahr ist. Allerdings ist alsdann 
die Summe der drei Winkel in einem Dreieck 
nicht mehr, wie Euclid lehrte, gleich zwei 
Rechten, sondern sie ist kleiner. Diese 
Lobatschewsky’sche Geometrie, wie sie zum 
Unterschied von der gewöhnlichen Euclid'schen 
heisst, lässt sich allerdings nicht auf der Ebene 
verwirklichen, wohl aber, wie Beltratni zeigte, 
auf der sogenannten Tractrixfiäche, welche die 

*) Über den sogen, vierdimensionalen Raum. 
AUgem. verst. naturw. Abhandl., Heft i. 1888. 

•) Die Elemente der vierdimensionalen Geometrie. 
Jahresbericht des Vereins f. Naturkunde zu Zwickau 
1893, S. 1-61. 


ungefähre Gestalt eines kelchförmigen Cham¬ 
pagnerglases hat. 

An Stelle der Geraden treten dabei gera¬ 
deste (geodätische) Linien auf, d. h. die kür¬ 
zesten Linien, die auf der Fläche zwischen 
zwei Punkten möglich sind. Später (1854) 
zeigte Rietnann in seiner Habilationsschrift, 
dass ein anderes Axiom, welchem zufolge zwei 
gerade Linien keinen endlichen Raum ein- 
schliessen, ebenfalls entbehrt werden kann; 
man gelangt damit zu der sogen. Rietnann’- 
sehen Geometrie, bei welcher die Winkelsumme 
im Dreieck grösser wird als zwei Rechte. 
Diese Geometrie kann auf der Kugel verwirk¬ 
licht werden, wobei die Grosskreise derselben 
die Stellen der geraden Linien übernehmen. 
Man ist demgemäss in der Lage, an Stelle 
der für die Ebene geltenden Geometrie, wie 
sie uns Euclid und die Alten lehrten, eine 
solche auf der Kugel resp. der Tractrixfiäche zu 
betrachten, welche beide insofern allgemeiner 
sind, als sie von einzelnen Axiomen der ersteren 
keinen Gebrauch machen. Dabei möge man 
wohl beachten, dass die Kugel und die Trac¬ 
trixfiäche zwar auch zweidimensional sind, 
wie die Ebene, dass sie aber wegen ihrer 
Krümmung nur in einem gewöhnlichen drei¬ 
dimensionalen Raum existieren können. Für 
die Ebene fällt diese Voraussetzung weg. Die 
von Lobatschewsky und Riemann aufgestellten 
Geometrien (welche man nach dem. Vorgang 
von Beez ‘) kurz unter dem Nameri Metageo¬ 
metrie zusammenfasst), hat man auch auf den 
Raum übertragen und ist damit zu Räumen 
gelangt, welche von unserem gewöhnlichen 
Raum, in welchem wir uns zu befinden glauben, 
wesentlich verschieden sind: Lobatschewsky’- 
scher und Riemann’sc her Raum. Diese Räume 
sind „gekrümmt“, d. h. es sind in ihnen keine 
geraden Linien möglich. Die Stelle derselben 
vertreten die kürzesten Linien zwischen zwei 
Punkten. Eine klare Vorstellung können wir 
uns von den neuen Räumen deshalb nicht 
machen, weil dieselben zwar dreidimensional 
sind, aber doch zu ihrer Existenz das Vor¬ 
handensein eines vierdtmensionalen Raumes 
(Mannigfaltigkeit) voraussetzen, in welchen sie 
hineinragen, wie Beez * mit Recht hervorhebt. 

Sind nun aber die vierdimensionalen Körper, 
die gekrümmten Räume wirklich nur analytische 
Fiktionen, Gedankendinge, wie Cranz^) meint 
oder entspricht ihnen etwas, das thatsächlich 
vorhanden ist? Soviel scheint gewiss zu sein: 
ein logischer Widerspruch ist in dem Begriff 
einer vierten Dimension nicht enthalten. Es 
lässt sich kein zwingender Grund angeben, 

‘) Über Euclidische und Nichteuclidische Geo¬ 
metrie Progr. Plauen 1888. 

*) a.a. O. S. 31. 

*) a.a O. S. 49. 


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Wölffing, Die vierte Dimension. 


3 “ 


weshalb die Zahl der wirklich vorhandenen 
Dimensionen gerade drei sein müsse. Freilich 
glaubten Donath und Cesäro, der wahre 
Grund der Unbeweisbarkeit des Parallelen¬ 
axioms liege in dem Ausgehen von den zwei 
elementaren Massstäben, mit denen wir einer¬ 
seits. Strecken, andererseits Winkel messen. 
Aber die geistreiche Arbeit des Oberst de 
Tilly, *) der alle geometrischen Verhältnisse 
auf Beziehungen zwischen Entfernungen von 
Punktepaaren zurückführt, beweist, dass der 
Grund der Schwierigkeit nicht auf dem soeben 
angeführten Gebiet liegen kann. Zwischen 
den paarweisen Entfernungen AB, AC, BC, AD, 
B D, C D von vier Punkten A, B, C, D, die 
in einer Ebene oder Fläche liegen, besteht 
eine Beziehung, so dass nur fünf derselben 
beliebige Werte haben können, während die 
sechste hierdurch bestimmt ist. Befinden sich 
dagegen die vier Punkte frei im Raum, so 
dürfen alle sechs Entfernungen willkürlich an¬ 
genommen werden. Hingegen besteht im 
dreidimensionalen Raum zwischen den zehn 
paarweisen Entfernungen von fünf Punkten 
eine Beziehung; liegen die fünf Punkte in 
einer vierdimensionalen Mannigfaltigkeit, so 
dürfen alle zehn Entfernungen beliebig ange¬ 
nommen werden. Die Frage der vierten 
Dimension kommt also darauf hinaus, dass 
für unsere Vorstellung die Lage eines Punktes 
überbestiramt ist, wenn wir seine Entfernung 
von vie^ Raumpunkten geben, während doch 
kein logischer Grund für diese Überbestimmt' 
heit einzusehen ist (Allerdings fordert 
Laquiere^), dass man nicht vom Punkt, dessen 
Begriff kein einfacher Gedanke sei, sondern 
vom Körper als Grundbegriff ausgehe). Hier 
scheint es sich offenbar um eine Unvollkom¬ 
menheit unserer Fähigkeit, uns Vorstellungen 
zu bilden, um einen Mangel unserer Raum¬ 
anschauungen zu handeln; hierin sind die 
meisten Sachverständigen einig. 

Welche Aussichten haben wir nun, diesen 
Mangel im Laufe der Zeit zu verbessern. 
Kant stellte die Behauptung auf, unsere Raum¬ 
anschauungen seien apriorisch, d. h. vor aller 
Erfahrung und daher unabhängig von dieser 
gegeben. Dieser Ansicht haben sich fast alle 
Philosophen angeschlossen, während sich die 
Mathematiker beinahe ebenso ausnahmslos ab¬ 
lehnend dagegen verhielten. In neuerer Zeit 
hat jedoch der Philosoph Erdntann*) mit der 
Kant sehen Anschauung vollständig gebrochen 
und gezeigt, dass unsere Raumanschauungen 

‘) Das mathematische Raumproblem und die 
geometritschen Axiome. Diss. Leipzig i88i. 

*) Essay de g^ometrie analytique generale. Mem. 
cour. Ac Belg. T. 41 (1892—93). 

*) Association fran^aise pour l’avancement des 
Sciences, Congres d’Alger 1881. 

*) Die Axiome der Geometrie. Leipzig 1877. 


auf Grund thatsächlicher, unseren Sinnen wahr¬ 
nehmbarer Beobachtungen gebildet werden. 
Wir sind infolge der besonderen Beschaffen¬ 
heit der Dinge genötigt, folgende Axiome') 
Über die Beschaffenheit unseres Raumes auf¬ 
zustellen: Der Raum hat drei Dimensionen; 
die geometrischen Körper können sich unbe¬ 
schränkt im Raume bewegen und sind starr, 
d. h. sie ändern bei der Bewegung ihre Ge¬ 
stalt nicht; macht ein Körper bei Drehung 
um seine Axe seine vollständige Umdrehung, 
so befindet er sich wieder in der ursprüng¬ 
lichen Lage. Hierzu kommen noch die beiden 
oben angeführten Axiome, deren Fehlen die 
Lobatschewsky’sche resp. Riemann*sche Geo¬ 
metrie bedingen würde. 

Erdmann hält freilich die aufgezählten 
Axiome, insbesondere dasjenige von den drei 
Dimensionen, für unveränderlich, indem keine 
Erfahrung an seiner Zuverlässigkeit Zweifel 
errege. Trotzdem ist es durchaus nicht über¬ 
flüssig, mit aller Sorgfalt zu prüfen, ob nicht 
doch vielleicht eine erfahrungsmässige That- 
sache mit den genannten Axiomen im Wider¬ 
spruch steht. Dabei wollen wir zunächst die 
Frage nach der Möglichkeit einer vierten 
Dimension unseres Raumes ausser Acht lassen 
und nur an die Möglichkeit denken, dass der¬ 
selbe zwar dreidimensional, aber nicht, wie 
wir glauben, „eben“, sondern „gekrümmt“ 
sein könnte. 

Es ist namentlich der Riemann*sche Raum, 
den Forscher wie Zöllner, Most u. A. an' Stelle 
unseres Euclidischen setzen wollten. Wie die 
Oberfläche der Kugel, auf der sich die Rie- 
mann’sche Geometrie abspielt, unbegrenzt 
und doch endlich ist, so gilt das gleiche 
vom Inhalt des Riemann’schen Raums. 

Mit der Annahme des letzteren wäre das 
Unendliche, dass dem Menschengeist an¬ 
scheinend unüberwindliche Schwierigkeiten 
entgegenstellt, beseitigt. Freilich wären dann 
unsere Ebenen nicht mehr Ebenen, sondern 
Kugelschalen, unsere Geraden keine Geraden 
mehr, sondern flache Kreisbögen. Das scheint 
absurd, ist es aber durchaus nicht. Vergessen 
wir doch nicht, dass sich das Menschen¬ 
geschlecht Jahrtausende lang auf der Ober¬ 
fläche einer ziemlich stark gekrümmten Kugel 
befand und dieselbe für eine Ebene hielt. Die 
Krümmung unseres Raumes kann ja so schwach 
sein, dass sie unserer Beobachtung bis jetzt 
sich entziehen musste. Freilich würde sie 
sich zuletzt in einer Abweichung der Winkel¬ 
summe der Dreiecke unseres Raumes von zwei 
Rechten verraten müssen. 

Nun ergeben die bis jetzt angestelltcn 
Messungen der grössten Dreiecke innerhalb 

‘) Mos.t macht mit Recht den Vorschlag, statt 
Axiome Voraussetzungen zu sagen. 

i8* 




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312 


Wölffing, Die vierte Dimension. 


der Beobachtungsfehler genau zwei Rechte, 
so dass wir zur Annahme einer Krümmung 
unseres Raumes keinen thatsächlichen Grund 
haben. Trotzdem können wir, wie Sio/z^) 
hervorhebt, die Giltigkeit der Euclid’schen 
Geometrie nur für die uns zugänglichen Teile 
des Raumes behaupten. Zöllner meinte in 
seinem Buche „Über die Natur der Kometen“, 
dass nur die Annahme des endlichen Rie- 
mann*sehen Raumes mit gewissen physikalischen 
Gesetzen in Einklang zu bringen sei. Auch 
Most *) findet, dass die Annahme dieses Rau¬ 
mes am meisten befriedige, weil er unbegrenzt, 
endlich und gleichförmig sei. Doch hebt 
Cranz^) mit Recht hervor, dass die phy¬ 
sikalischen Gesetze, auf welche sich Zöllner 
beruft, blosse Näherungsgesetze unserer Er¬ 
fahrung sind; ihre Giltigkeit in unendlicher 
Entfernung ist höchst zweifelhaft. 

Wir kommen weiter an die Frage, ob es 
von unserem jedenfalls dreidimensionalen, 
wahrscheinlich „ebenen" Raum abgesehen, 
eine vierte Dimension giebt. So viel ist sicher, 
dass wir uns gegenwärtig eine solche nicht 
vorstellen und dieselbe nicht direkt wahr¬ 
nehmen können; aber, wenn eine vierte 
Dimension existiert, wird diese sich ftSr alle 
Zeiten unserer Wahrnehmung entziehen? Es 
wäre wohl voreilig, diese Frage unbedingt zu 
bejahen. Nach Ansicht der Physiologen hat 
der Mensch zunächst auf Grund der Wahr¬ 
nehmungen des Auges und der Lokalzeichen 
der Haut nur die Vorstellung einer zwei¬ 
dimensionalen Fläche. In den Besitz einer 
dritten Dimension gelangen wir erst allmählig, 
indem wir die Widersprüche in unseren Be¬ 
obachtungen vermittelst des Tastsinns aufzu¬ 
lösen suchen. 

Interessant sind die Ausführungen des 
grossen französischen Mathematikers Poincare*-) 
wie wir leicht hätten fälschlich zur Aufstellung 
von vier Dimensionen gelangen können. Blickt 
man nämlich von einem ferneren Gegenstand 
weg auf einen näheren hin, so stellen sich 
die Augenaxen schiefer, als vorher; gleich¬ 
zeitig aber stellt sich auch der sog. Accomo- 
dationsapparat des Auges für die kleinere 
Entfernung ein. Jeder dieser beiden Vorgänge 
hätte für sich uns zur Einführung einer neuen 
Dimension veranlassen können; womit wir im 
Ganzen zu vier Dimensionen gelangt wären. 

*) Das letze Axiom der Geometrie. Berichte 
des nat. med. Vereins in Innsbruck. Band 15, 
S. 25-34- 

*) Neue Darlegung der absoluten Geometrie und 
Mechanik, mit Berücksichtigung der Frage nach den 
Grenzen des Weltraums. Progr. Koblenz 1883. 

•) a. a. O. S. 61. 

*) L’ espace et la geometrie. Revue de meta- 
physique et de morale 3. ann^e 1885. S. 631—46. 


Aber in Wirklichkeit belehrt uns die Er¬ 
fahrung, dass sich beide Vorgänge in unserem 
Sehorgan nur auf die eine Tiefendimension be¬ 
ziehen. Die meisten Sachverständigen begrün¬ 
den übrigens unsere Unfähigkeit, eine vierte 
Dimension aufzustellen, mit den Eigentümlich¬ 
keiten unserer Leibesbeschaffenheit. Schon 
Bartholomaei meinte, wir tragen unser drei- 
axiges Koordinatensystem immer mit uns herum. 
Er denkt dabei an die Richtung der Schwer¬ 
kraft, an die Symmetrieebene des menschlichen 
Körpers und an die Ebene der Drehung unserer 
Arme. Aus dieser Abhängigkeit unseres Leibes 
von der dreidimensionalen Raumanschauung 
folgert Schlegel, ') dass unser Geist, da er 
vermöge innerer von der Körperwelt unab¬ 
hängiger Thätigkeit sich von den Fesseln des 
Dreidimensionalen emancipieren kann, wesent¬ 
lich immateriell sein muss und für sich allein 
ohne den Leib gedacht an kein Gebiet von 
bestimmter Dimensionenzahl gebunden ist. 
Übrigens meint Nagv, *) es sei immerhin denk¬ 
bar, dass möglicherweise durch Verfeinerung 
unserer Organe unsere Sinne später einmal 
befähigt werden, auch eine vierte Dimension 
wahrzunehmen. Man hat auch in der Zeit die 
vergeblich gesuchte vierte Dimension zu finden 
geglaubt, wodurch sich die Kinematik (Be¬ 
wegungslehre) in eine vierdimensionale Geo¬ 
metrie verwandelt. Richtig ist dies deshalb 
nicht, weil die Zeit nichts mit den übrigen 
Dimensionen gleichartiges und (je nach dem 
Standpunkt) vertauschbares ist; immerhin kann 
die Zeit bei der Erzeugung der vierdimen¬ 
sionalen Körper durch dreidimensionale mit 
Vorteil Verwendung finden. 

Schliesslich sei noch die Frage erörtert, 
ob wir nicht wenigstens auf indirektem Wege 
von der Existenz einer eriva vorhandenen 
vierten Dimension Kenntnis gewinnen können. 
Auch diese Möglichkeit ist nicht im Voraus 
von der Hand zu weisen. Man denke sich 
nach dem Vorgang von Helmholtz in einer 
zweidimensionalen Fläche Wesen (sogenannte 
Flächenwesen), die mit gleicher Wahrnehm¬ 
ungsfähigkeit und Denkkraft ausgestattet sind 
wie wir, deren Vorstellungskreis jedoch völlig 
auf ihre Fläche beschränkt ist, so dass sie 
innerhalb derselben nichts wahrnehmen könnten 
und dass ihnen die dritte Dimension ebenso 
ein Buch mit sieben Siegeln wäre, wie uns 
die vierte. Ein dreidimensionaler Körper, der 
auf seinem Weg durch die Fläche hindurch¬ 
ginge, würde für die Flächenwesen in uner¬ 
klärlicher Weise aus dem Nichts zu entstehen 

• ‘) Theorie der homogenen zusammengesetzten 

Raumgebilde. Nova Acta, Leopoldina, Bd. 44. 

*) Sulla recente questione intoma alle dimensioni 
dello spazio. Rivista Italiana di filosofia. Anno 
V. Vol. 120—51. 


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Wölffing, Die vierte Dimension. 


und wieder in Nichts zu vergehen scheinen. 
Es ist leicht einzusehen, dass wir dieselbe 
Erfahrung mit vierdimensionalen Körpern 
machen würden, die durch den Raum, in 
welchen wir gebannt sind,hindurchgingen. Kein 
Wunder, dass sich dieser merkwürdigen Lehre 
der Spiritismus mit Eifer bemächtigt hat, in¬ 
dem er die Geister, deren Existenz er be¬ 
hauptet, auf solche vierdimensionale Körper 
zurückzuführen und damit seiner Lehre ein 
wissenchaftliches Mäntelchen umzuhängen 
suchte. Um jedoch die Unkörperlichkeit der 
Geister, für welche das Gesetz von der Un¬ 
durchdringlichkeit der Körper keine Giltigkeit 
haben soll, zu erklären, behaupteten die Spiri¬ 
tisten, die Geistererscheinungen seien Schatten 
(Projektionsphaenomene) der vierdimensionalen 
„Astralwesen" in unserem dreidimensionalen 
Raum, gerade wie auch die Schatten unserer 
dreidimensionalen Körper den oben erwähnten 
Flächenwesen den Eindruck von rätselhaften 
Gespenstererscheinungen machen müssten, da 
sie von den schattenwerfenden Gegenständen 
keine Kenntnis haben könnten. Diese Geister¬ 
theorie muss jedoch als ein arger Missbrauch 
der Metageometrie angesehen werden und nur 
durch diesen Unfug, der von Wundt^) und 
Cranz *) gebührend an den Pranger gestellt 
wird, ist die Lehre von der vierten Dimension 
beim Publikum in unverdienten Verruf gekom¬ 
men. So. viel ist ja richtig: wären die Be¬ 
hauptungen der Spiritisten wahr, so könnten 
dieselben auf natürlichem Weg vermittelst der 
Annahme einer vierten Dimension erklärt 
werden. Aber es liegen keine irgend einwand¬ 
freien Beobachtungen der sogen, spiritistischen 
„Thatsachen“ vor; nach Ansicht der Wissen¬ 
schaft beruhen alle diese Experimente auf 
Täuschung, Betrug und Taschenspielerei und 
sind daher auf dreidimensionalem Wege in 
hinreichender Weise zu erklären. Nicht auf 
die Thorheiten des Spiritismus, sondern viel¬ 
mehr auf ganz alltägliche, das gesamte Reich 
des Geschehens beherrschenden Erscheinungen 
müssen wir unser Augenmerk richten, wenn 
wir hoffen wollen, vielleicht einmal Anhalts¬ 
punkte für das Vorhandensein einer vierten 
Dimension zu gewinnen. Die sogen.-inneren 
Eigenschaften der Körper, die Physik des 
Äthers, die chemischen, elektrischen, magne¬ 
tischen, optischen und Wärmeerscheinungen 
in der Natur, die Symmetriegesetze der Krystall- 
struktur: sie sind es, zu deren Erklärung man 
sich vielleicht einmal zur Annahme einer vierten 
Dimension genötigt sieht. Bereits mannigfache 
Versuche in dieser Richtung liegen vor, dis 


Der Spiritismus, eine sogenannte wissen¬ 
schaftliche Frage. 

•) a. a. O. S. 62—64. 


313 


freilich im Einzelnen von ziemlich verschie¬ 
denem Werte sein dürften. 

Schon Riemann soll jedes materielle Atom 
als einen „Eintrittspunkt der vierten Dimension 
in den dreidimensionalen Raum“ betrachtet 
haben. Ein solcher Ausspruch scheint freilich 
an die verflossenen Zeiten der Naturphilo¬ 
sophie zu erinnern; doch darf man einem 
Manne wie Riemann wohl Zutrauen, dass er 
sich etwas darunter gedacht hat. Mach meint, 
der Grund, warum es bisher nicht gelungen 
sei, eine befriedigende Theorie der Elektrizität 
herzustellen, liege vielleicht mit daran, dass 
man sich die elektrischen Erscheinungen durch¬ 
aus durch Molekularvorgänge in einem drei¬ 
dimensionalen Raum erklären wollte. Nach 
Ansicht von Bresch *) beruht die diamagnetische 
Abstossung darauf, dass die Welt aus drei¬ 
dimensional geordneten vierdimensionalen 
Atomen bestehe. 

• Endlich erklärt Rouse Ball^)'. „Mein Ziel 
ist anzudeuten, dass diese und ähnliche Schwie¬ 
rigkeiten überwunden werden, wenn wir, in¬ 
dem wir in einer vierten Dimension uns um 
eine unendlich kleine Entfernung weiter be¬ 
wegen , zu einem homogenen elastischen 
Körper gelangen. 

Man wird freilich den Einwand erheben, 
dass solche Erklärungsversuche, von deren 
Wesen wir uns keine rechte Vorstellung machen 
können, im Voraus zu verwerfen seien and 
dass es nicht erlaubt sei, in die Wissenschaft 
wilde Hypothesen einzuführen, für welche eine 
Kontrolle durch die Anschauung gar nicht 
möglich sei. Das letztere ist jedoch unrichtig. 
Man kann zunächst von der Annahme aus¬ 
gehen, der betreffende physikalische Vorgang 
spiele sich in einer zweidimensionalen Fläche 
ab, und wir ziehen zur Erklärung desselben 
Bewegungen heran, welche aus der Fläche 
heraus in den dreidimensionalen Raum hinein 
erfolgen. Lässt sich auf diesem ohne Zweifel 
anschaulichen Wege eine befriedigende Er¬ 
klärung finden, dann kann man sich auch die 
Übertragung dieses Erklärungsversuchs auf 
den Raum gefallen lassen. Wir würden auch 
sehr thöricht handeln, wollten wir eine Er¬ 
klärung, die kompliziertere Vorgänge in ein¬ 
fachere zerlegt und die wir für richtig zu halten 
irgend welche Gründe haben, blos deshalb 
zurückweisen, weil sie in einem Gebiet jenseits 
unseres Vorstellungsvermögens liegt. Das wäre 
gerade, als ob ein Blinder den Einfluss des 

*) Die Geschichte und die Wurzel des Satzes 
von der Erhaltung der Arbeit. 1872. 

*} Der Chemismus, Magnetismus und Diamagne- 
tismus im Lichte mehrdimensionaler Raumanschau¬ 
ung. Leipzig 1882. 

A hypothesis relating of the nature of ether and 
gravity. Messenger of Math. 2. Ser. Vol. 21, S. 20. 


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3^4 


Schneegans, Rabelais. 


Sonnenlichts auf das Wachstum der Pflanzen 
leugnen wollte, weil er selbst das Licht sich 
nicht vorzustellen vermag. Übrigens will ich 
durchaus nicht behaupten, dass die oben an¬ 
geführten Versuche, physikalische Vorgänge 
durch Hereinziehen einer vierten Dimension 
zu erklären, gerade das Richtige getroffen 
haben. Doch verdienen meiner Ansicht nach 
diese und andere Versuche immerhin (wenn 
auch unter Wahrung der nötigen Vorsicht) 
eine gewisse Ermutigung, zumal die Hypothese, 
auf die sie sich stützen, gewiss nicht gewagter 
ist, als manche andere, die längst Bürgerrecht 
in der Physik erlangt haben. 

Zusammenfassend stellen wir fest, dass, 
während die rein mathematischen Untersuch¬ 
ungen über die vierte Dimension und was 
damit zusammenhängt, durchaus berechtigt und 
unanfechtbar sind, die wirkliche Existenz der¬ 
selben noch durch keine Thatsache bewiesen 
wird. Zur Zeit kann niemandem verwehrt 
werden, eine sölche zu leugnen, doch lässt 
sich vermuten, dass uns der Fortschritt der 
Wissenschaft auf diesem Gebiete noch manche 
Überraschungen bringen wird. 


Rabelais. 

Von Dr. Heinrich Schneegans. 

Der Name Rabelais erweckt gewöhnlich 
beim grossen Publikum ähnliche Vorstellun¬ 
gen wie der Zola’s. Gar viele greifen zu sei¬ 
nem Werke, nur weil sie in demselben Ge¬ 
schichten aus dem Gebiete der Physiologie 
der Liebe zu finden hoffen. Und ihre Er¬ 
wartungwird nicht eben getäuscht. An krassen, 
zotigen, cynischen, ja sogar an unflätigen 
Scherzen und Schwänken ist kein Mangel im 
„Gargantua und Pantagruel“. Aber ebenso¬ 
wenig wie Zola geht Rabelais darauf aus, 
durch Vorführung üppiger und ausschweifen¬ 
der Bilder die Sinnlichkeit zu reizen. Seine 
offene, jeder Heuchelei abholde Natur sieht 
nur nicht ein, weshalb sie einert Schleier über 
Zustände und Verhältnisse des menschlichen 
Lebens ausbreiten sollte, die ihr ebenso na¬ 
türlich Vorkommen, wie andere. Seine ur- 
kräftige joviale Natur sieht sogar in der be¬ 
haglichen Ausmalung derartiger Dinge ein 
Gutes und Gesundes, worüber man nur naive 
und helle Freude empfinden könne. 

Aber das ist nur die eine Seite seines 
Werkes. Bei ihm wie bei Zola hat man sich 
freilich daran gew’öhnt, sie stets in den Vor¬ 
dergrund zu drängen. Mit Unrecht, denn der 
Laie macht sich dann vom Gesamtwerk eine 
ganz einseitige Vorstellung. 

Ähnlich wie Zola in der Geschichte der 
Rougon-Macquart das gesamte soziale Leben 


Frankreichs unter dem zweiten Kaiserreich 
in Bildern aus den einzelnen Klassen ujid 
Berufen vorführt, so lässt auch Rabelais in 
seinem Roman das Gesamtleben seiner Zeit 
an den Augen seiner Leser vorüberziehen. 
Und sie thun es Beide mit derselben oft er¬ 
müdenden Ausführlichkeit, mit derselben'keine 
Einzelheiten ersparenden Gründlichkeit. In 
ihrer Lebensauffassung freilich trennen sie 
sich vollständig. Während Zola, wie alle mo¬ 
dernen Realisten, in trübem Pessimismus am 
Leben verzweifelt und den traurigen Zustän¬ 
den, die er schildert, nur mit skeptischem 
Achselzucken gegenübersteht, greift Rabelais 
in siegesgewissem, tollem Übermut die Thor- 
heiten und Laster seiner Mitmenschen an, 
und entwirft so ungeheuerliche, jeder Mög¬ 
lichkeit hohnlachende Karrikaturen derselben, 
dass sie für ewig ad absurdum geführt sind. 
Er ist eben ein Mensch seiner Zeit, die auch 
in der schwierigsten, traurigsten, gefährlichsten 
Lage zu lachen und zu spotten weiss. Wir 
sind ein winziges, nervöses, kränkliches Ge¬ 
schlecht, das in seinem Kleinmut vor jeder 
Aufgabe zusammenbricht und verzagt. Er ist 
der Typus des jovialen Riesengeschlechts der 
Renaissance, das unbekümmert um kleinliche 
Sorgen mit hoffnungsvoller Zuversicht das 
Mittelalter über den Haufen wirft,' um die 
Neuzeit zu erschaffen. * 

Sein äusseres Leben bereits'ist typisch 
für den Renaissancemenschen, der rastlos von 
einem Ort zum andern, von einer Beschäf¬ 
tigung zur andern Obergeht, der seine Reise¬ 
lust nie zu erschöpfen, seinen Wissensdurst 
nie zu löschen vermag. 

In Chinon, einem Städtchen der Touraine, 
der fruchtbarsten und lebenslustigsten Gegend 
Frankreichs im letzten Jahrzehnt des 15. Jahr¬ 
hunderts zur Welt gekommen, erhält unser 
Franz Rabelais, der von seinen Eltern zum 
Geistlichen bestimmt ist, seine erste Vorbild¬ 
ung in der Abtei Seuilld und dem Kloster 
La Baumette, wo er Beziehungen, die ihm 
später von grossem Nutzen sein werden, an¬ 
knüpft. In einem Franziskanerkloster Fpntenay 
le Comte verbringt er die Jahre der Jugend, 
entgegen dem Brauch seiner Herren Con- 
fratres mit eifrigen Studien beschäftigt. Und 
seine Kenntnisse in Jura und Mathematik, in 
Astronomie und Philologie sind bald so be¬ 
deutend, dass er sich binnen kurzem auch 
ausserhalb des Klosters des Ruhmes eines 
grossen Gelehrten erfreut. Aber gerade seine 
Gelehrsamkeit, namentlich seine Kenntnis des 
Griechischen erregen den Argwohn der in 
Allem Ketzerei witternden Franziskaner. Seine 
Zelle wird durchstöbert, seine Bibliothek kon¬ 
fisziert. Und nur seinen hohen Verbindungen 
verdankt er es, dass er nicht noch Schlimme- 


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Schneegans, Rabelais. 


315 


res erlebt. Das Klosterleben ist ihm aber nun 
verleidet; statt in ein Benediktinerkloster 
überzugehen, wie ihm vom Papste gestattet 
worden war, beginnt er als Laienpriester ein 
abenteuerliches Reiseleben, von dem wir nur 
wenig wissen. Er taucht erst 1530 wieder in 
Montpellier auf, wo er sich medizinischen 
Studien widmet und kurze Zeit darauf als 
Lehrer dort Vorlesungen hält. Aber sein un- 
stäter Sinn lässt ihn auch hier keine Wurzeln 
fassen. Nach längerem Hin- und Herreisen 
begiebt er sich nach Lyon, wo er als Arzt 
eine Stelle im Spital annimmt, fortgesetzt ge¬ 
lehrte Studien betreibt, und um seine kläg¬ 
lichen Einnahmen zu vergrössern, populäre 
Kalender ernsten oder komischen Inhalts her- 
ausgiebt. In diese Zeit fällt auch der Beginn 
seines grossen Werkes. Kaum ist er aber in 
Lyon heimisch geworden, als an ihn die 
Aufforderung ergeht, seinen Gönner, den 
Kardinal Jean du Bellay als Leibarzt nach 
Rom zu begleiten. Mit Freuden ergreift der 
Gelehrte die Gelegenheit, das gelobte Land 
der alten Kultur mit eigenen Augen zu sehen. 
Und er verliert dort seine Zeit nicht. In 
seiner grossartigen Vielseitigkeit geht er nicht 
etwa in philologischen Studien auf, deren 
Frucht eine genaue Topographie Roms ist, 
sondern er betreibt auch mit Eifer zoologische 
und pharmazeutische Studien. Aber diese Ar¬ 
beiten drängen nicht seine Beschäftigung mit 
der Medizin zurück. Kaum nach Lyon zu¬ 
rückgekehrt, hält er eine öffentliche Vorles¬ 
ung über Anatomie mit Demonstrationen am 
Leichnam, eine grosse Seltenheit für die da¬ 
malige Zeit. Und die Politik und die Re¬ 
ligionsstreitigkeiten erregen nicht minder sein 
lebhaftes Interesse. Als Begleiter des mit 
einer politischen Mission betrauten Kardinals 
du Bellay auf seiner zweiten Reise nach 
Italien, hat er Gelegenheit, die Tagespolitik 
genauer kennen zu lernen, aber dabei ver¬ 
liert er seine sonstigen Studien nicht aus den 
Augen, ja er beginnt sogar neue, so z. B. 
die Erlernung der arabischen Sprache, und 
als praktischer Mensch weiss er seinen Aufent¬ 
halt in Rom insofern zu seinen Gunsten zu ver¬ 
werten, als er sich vom Papst für seine eigen¬ 
mächtige Flucht aus dem Kloster Verzeihung 
erbittet. Dass er wegen seiner ohne Er¬ 
laubnis angetretenen Reisen seine Stelle am 
Lyoner Spital verliert, ficht ihn wenig an; 
er nimmt sein Wanderleben durch das süd¬ 
liche Frankreich wiederum auf; wir finden ihn 
in Montpellier, Narbonne, Castres: nur kurze 
Ruhe gönnt er sich als Kanonikus an der von 
seinem Freund, dem Kardinal du Bellay ge¬ 
leiteten Abtei Saint Maur des .Fossös bei 
Paris, und wiederum überschreitet er die 
Alpen, diesmal als Leibarzt des Bruders des 


Kardinals, Guillaume du Bellay, Gouverneur 
d^s Piemonts, dessen militärische Unternehm¬ 
ungen er in lateinischer Sprache erzählt. 
Aber da sein Gönner stirbt, kehrt er wieder 
nach Frankreich zurück. Franz I. ist dem 
Tode nahe, und es sind allerhand Gerüchte 
im Umlauf, dass nach seinem Tode für die 
Freidenker eine schlimme Zeit anbrechen 
werde. Rabelais, der bei aller Keckheit doch 
stets vorsichtig ist, flieht noch vor dem Tode 
des Königs ins Ausland, und tritt als Arzt 
in den Dienst der Stadt Metz ein. Sobald er 
sieht, dass seine Befürchtungen in Betreff der 
Änderung der Regierungspolitik übertrieben 
sind, kehrt er nach Frankreich zurück, be¬ 
sucht dann noch einmal in Begleitung des 
befreundeten Kardinals die heilige Stadt und 
erhält bei seiner Rückkehr eine Stelle als 
Pfarrer von Meudon bei Paris. Persönlich 
verwaltet er zwar seine Pfarrei nie, er giebt 
sie auch nach zwei Jahren wieder auf, wohl 
hauptsächlich deshalb, weil er sieht, dass er 
sonst sein viertes Buch, das scharfe Angriffe 
gegen die Kirche enthält, nicht würde her¬ 
ausgeben können, und stirbt ein Jahr darauf, 
1553, von allen seinen Zeitgenossen als 
grosser Gelehrter bewundert. 

Und das soll der Verfasser der tollen 
Geschichten des Gargantua uijd Pantagruel 
sein? In unserer Zeit, wo der Mensch in 
seinem Berufe aufgeht und der Kastengeist 
so mächtig ist, haben wir Mühe es zu glau¬ 
ben. In der Renaissancezeit war man aber 
freier. Der damalige Gelehrte zog sich nicht 
vornehm und scheu vom praktischen Leben zu¬ 
rück, er sah sich das Weltgetriebe nicht durch 
seine Brillen an, sondern stürzte sich mutig 
und fröhlich in das Leben selbst hinein, er 
genoss es in vollen Zügen und suchte es 
nach allen Seiten zu begreifen. Dieses All¬ 
seitige spiegelt sich in Rabelais Werk auch 
wieder, das man eine grossartige Encyclopädie 
der damaligen Zeit nennen könnte. 

Rabelais verfocht zeitlebens die Ansicht, 
dass man als Arzt nicht blos den Körper, 
sondern auch das Gemüt pflegen müsse. So 
suchte er in Lyon, als er seine Kranken be¬ 
sorgte, stets dieselben bei heiterer Laune zu 
erhalten. Zu dem Zweck wird er ihnen wohl 
die Chronik des grossen Riesen Gargantua, 
die von seinen tollen Abenteuern und wun¬ 
derbaren Heldenthaten im Dienst des Königs 
Artus berichtete, vorgelesen haben. Aber 
ein Humanist wie er, konnte diese Erzählung, 
die wohl ursprünglich im Sinne der Prosa¬ 
romane die Verherrlichung der brutalen Kraft 
und des Wunderbaren im Auge hatte, nicht 
ernst auffassen. Spöttisch angelegt wie er 
war, fand er bald das Komische an derselben 
heraus, übertrieb es, um Lachen hervorzu- 


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3 i6 


Schneegans, Rabelais. 


rufen, so toll er nur konnte, und da er sah, 
dass er auf diese Weise amüsierte, ging er 
in der Richtung immer weiter. Nach der 
Chronik, die vom Riesen Gargantua handelte, 
schrieb er eine ursprünglich als Fortsetzung 
gedachte Geschichte des Sohnes desselben, 
Pantagruel — das heutige zweite Buch, — 
und da diese bald über den Rahmen einer 
einfachen Fortsetzung hinauswuchs, fügte er 
eine Einleitung hinzu, die als erstes Buch 
seines Gargantua und Pantagruel bekannt ist. 
Aber er wollte durch diese Geschichten nicht 
bloss unterhalten. 

Am Anfang des i6. Jahrhunderts las man. 
mit grossem Vergnügen die langatmigen aus 
den Epen der Karlssage und der Artusro¬ 
mane hervorgegangenen Prosaerzählungen, 
die mit der ernstesten Miene die unglaublich¬ 
sten Schwerthiebe und Lanzenstössse beschrie¬ 
ben, welche übermenschlich kräftige Ritter 
austeilten, oder die wunderbaren Abenteuer 
berichteten, welche sentimental angelegte Hel¬ 
den und Heidinnen auf Riesenschlössern oder 
Drachenhöhlen erlebten. Die auf geistige Be¬ 
freiung hinarbeitenden, gegen den dtistern 
mittelalterlichen Wunderglauben sich richten¬ 
den Bestrebungen der vom italienischen Skep¬ 
tizismus beeinflussten Humanisten konnten 
derartige Erzählungen nur ermüden oder zum 
Spotte reizen. So werden wir uns nicht 
wundern, dass der besonders schalkhaft ange¬ 
legte Rabelais die Gelegenheit gerne wahr¬ 
nahm, um dieser veralteten Litteraturgattung 
den Gnadenstoss zu versetzen. 

Und er that es auf dieselbe Art wie seine 
dieselben Bestrebungen verfolgenden Vor¬ 
gänger in Italien, Pulci und Bojardo, Folengo 
und Ariost es gethan hatten. Er übertrieb 
alle hervorstechenden Eigenschaften dieser 
Gattung, die Verherrlichung der physischen 
Kraft, das Wunderbare der Abenteuer, die 
Genauigkeit bei geringfügigen Dingen, die 
Weichherzigkeit der so oft in Thränen zer- 
fliessenden Helden, er übertrieb sie so toll, 
dass sie in ihrer grotesken Verzerrung nur 
Lachen erzeugen konnten, und da Keiner 
mehr an sie glauben konnte, der Verachtung 
anheimfielen. Der Haudegen wurde ihm zum 
keulenbewaffneten Riesen, der weder Panzer 
noch Helm, Schwert oder Lanze nötig hat, 
sondern seine Feinde einfach in seine Ärmel 
oder Hosen steckt, oder so hoch in die Luft 
schleudert, dass sie nicht mehr herunterkom¬ 
men, der so kolossal gross ist, dass er nur 
die Hälfte der Zunge herauszustrecken braucht, 
um sein ganzes Heer vor dem Regen zu 
schützen, der schon als Kind soviel Appetit 
hat, dass er die Milch von 17,913 Kühen 
täglich vertilgt, der so weichherzig ist, dass 
er bei der Nachricht von seines Freundes 


Tod sich sofort entleiben will. Mag sein 
Riese Gargantua oder Pantagruel heissen, 
mag er in der Chronik, im ersten oder zwei¬ 
ten Buch seines Werkes sein Wesen treiben, 
immer zeigt er dieselben ins Hundertfache 
verzerrten Eigenschaften, die wir in den Pro¬ 
saromanen der Zeit finden. Freilich kann ein 
aufmerksamer Leser die Beobachtung machen, 
dass im Laufe der Zeit sowohl im Wesen 
des Riesen als im ganzen Habitus von Ra¬ 
belais’ Werk sich eine Wandlung vollzieht. 
Ebenso wie der Riese sich in den späteren 
Büchern immer mehr als gewöhnlicher Mensch 
beträgt, so wird auch die Satire der Prosa¬ 
romane, die in der Chronik und in dem zu¬ 
erst verfassten, jetzt als zweites bekannten 
Buch den ersten Platz einnahm, in den spä¬ 
ter erschienenen durch andere Satiren grös¬ 
serer Tragweite zurückgedrängt. 

Schon die im Pantagruel vorgeftlhrte, vom 
jungen Riesen besuchte Bibliothek St. Victor 
enthalt im Keime die späteren, gegen die 
Scholastik, das Rechtswesen und die Kirche 
gerichteten Satiren Rabelais’. Um die Lehr¬ 
methode der an der Sorbonne unterrichtenden 
Scholastiker, die äusserliche Rechtsprechung 
der damaligen Juristen, die im materiellen 
Leben aufgehenden Interessen der damaligen 
Kirche zu geissein, teilt uns Rabelais den 
Katalog dieser Bibliothek mit, welche in 
ihren grotesken Büchertiteln eine derbe Ver¬ 
höhnung der angeführten Gesellschaftsklassen 
bietet. Aus diesen doch eigentlich nur dem 
Eingeweihten verständlichen Büchertiteln der 
Bibliothek St. Victor erwachsen in den spä¬ 
teren Büchern lebendige Gestalten, welche die 
Satire Jedermann klar und deutlich machen 
und unsterbliche Typen schaffen. An der 
Seite des Scholastikers Janotus de Bragmardo, 
der die spitzfindige und abstruse Gelehrsam- 
keit seiner Schule im gräulichsten Kauder¬ 
welsch und entsetzlichsten Latein vorträgt, 
erblicken wir den Richter Bridoie, der die 
Prozesse nach dem Los entscheidet, und 
nicht versteht, warum man ihn deshalb ge¬ 
richtlich belangen will. Und zu diesen bie¬ 
dern Herren gesellen sich die von Rabelais 
besonders verspotteten feisten Mönchlein, die 
nur von Wein und Weibern träumen, und 
die in ihrer Anbetung des Papstes und der 
Dekretalien jede Vernunft hintansetzenden 
süsslichen und zugleich fanatischen Bewoh¬ 
ner der Papimaneninsel. Um diese Haupt¬ 
vertreter der Satire, welche im Namen der 
humanistischen Renaissance eine scharfe Kri¬ 
tik an mittelalterlicher Lebensanschauung 
übt, drängt sich eine ganze Schaar anderer 
nicht minder grotesker Gestalten. Neben dem 
leichtsinnigen und ehrgeizigen, despotischen 
und schwachen König Pierochole, der aus 


N 


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Schneegans, Rabelais. 


317 


reinem Mutwillen einen furchtbaren Krieg 
heraufbeschwört, erblicken wir den limusi- 
nischen Schüler, der in seiner Anbetung des 
Lateins über jede Grenze geht, den lustigen 
und rücksichtslosen, stets unentschlossenen 
Schalk Panurge, der sich durch ein ganzes 
Buch hindurch überlegt, ob er heiraten soll 
oder nicht und seinen Entschluss vom Urteil 
der göttlichen Flasche abhängig macht; und 
es umtanzt sie johlend und lachend ein gan» 
zer Faschingszug anderer nicht minder drol¬ 
liger Kumpane. Und all diesen tollen durch 
den Hauch unseres ewig lachenden Autors 
ins Leben gerufenen Karrikaturen, die sich 
aufblähen und anschwellen, bis sie ganz frat¬ 
zenhafte, unmögliche Formen annehmen, ver¬ 
leiht Rabelais noch dadurch ein groteskeres 
Aussehen, als er einen Stil schreibt, der durch 
seine ungeheueren sich überstürzenden Auf¬ 
zählungen, durch seinen unglaublichen Reich¬ 
tum an Wortspielen, durch die sinnliche 
Kraft seiner Sprache, die alle möglichen und 
unmöglichen Mittel zur Erhöhung ihrer Wir¬ 
kung zu Hilfe nimmt, das Abenteuerlichste 
ist, was wir in dieser Art kennen. 

Aber Rabelais ist nicht bloss grotesker 
Satiriker. So vielgestaltig er selber im Le¬ 
ben war, so proteusartig ist auch sein Werk. 
So ist er denn zunächst ein Meister der Er¬ 
zählung. Die Erwähnung irgend eines Na¬ 
mens oder irgend eines Vorgangs ruft ihm 
sofort eine Geschichte ins Gedächtnis zurück, 
die er sich beeilt dem Leser mitzuteilen, 
gleichviel ob sie in den Zusammenhang passt 
oder nicht. Und diese Episoden sind so rei¬ 
zend erzählt, es spricht sich in ihnen eine 
so witzige, prickelnde Laune aus, es macht 
sich in ihnen eine so stauneneiTegende Be¬ 
herrschung der Sprache geltend, dass wir ge¬ 
trost Rabelais zu den hervorragendsten No¬ 
vellisten des 16. Jahrhunderts zählen können. 
Dazu ist er aber auch — wir haben es bei 
der Erzählung seines Lebens genug hervor¬ 
gehoben — ein grosser Gelehrter, ein Uni¬ 
versalgenie, wie so viele seiner Zeitgenossen. 
Und so erhält denn sein Werk auch ein 
wissenschaftliches Gepräge. Auf jeder Seite 
seines Buches staunen wir ob seiner unglaub¬ 
lichen Belesenheit auf dem Gebiete der Theo¬ 
logie, Philologie, Philosophie, der Jurispru¬ 
denz, der Medizin und der Naturwissenschaf¬ 
ten. Und er ist nicht blos Theoretiker. Sein 
kolossales Wissen will er auch zum Nutzen 
und Frommen seiner Zeitgenossen verwerten; 
deshalb teilt er uns seine Vorschläge über 
die beste pädagogische Methode mit, welche 
die Jugend an Geist und Körper stählen und 
aus ihr ein modernes Geschlecht zu erschaf¬ 
fen bestimmt sein soll. Und wie er in die¬ 
sen von der Erziehung des Riesen Gargan- 


tua handelnden Kapiteln der mittelalterlichen 
die moderne humanistische Erziehungsmethode 
entgegenhalt, so legt er in dem berühmten 
Kapitel über die Abtei ThCldme seine An¬ 
sichten über das Lebensideal des Renais¬ 
sancemenschen dar. Richtete sich das Seh¬ 
nen des mittelalterlichen Menschen auf Selbst- 
entäusserung oder Weltflucht, die hinter den 
Mauern eines Klosters in einem nach festen 
Regeln bestimmten der beschaulichen Anbet¬ 
ung gewidmeten Leben ihren geeigneten Aus¬ 
druck fand, so suchte sich der nach der Be- 
thätigung seiner Individualität strebende, je¬ 
dem Zwang abholde Renaissancemensch vor 
allem die Freiheit der Selbstbestimmung zu 
erringen. Und er findet sie in jener von 
Rabelais erdachten phantastischen Abtei ThC- 
iCme, die von keiner Mauer umgeben ist, in 
der Männer und Frauen ungestört verkehren, 
in der sie durch kein Gelübde gebunden sind, 
in der ihnen die Annehmlichkeiten der Kunst, 
Wissenschaft und Natur zur Verfügung 
stehen, in der sie sich auf Rennbahnen und 
Übungsplätzen, Schaubühnen und Schwimm¬ 
plätzen frei ergehen können. 

Mancher wird sich vielleicht wundern, 
dass ein so freiheitlich gesinnter Geist wie 
Rabelais mit der katholischen Kirche nicht 
gebrochen hat. Wie kommt es, dass er, der 
die päpstliche Kirche und ihre Anschauungen 
so schonungslos angreift, sich nicht zum evan¬ 
gelischen Glauben bekehrt hat? Irt seinen 
ersten Büchern zeigt sich eine offenbare Vor¬ 
liebe für die Reform. So oft Gargantua und 
Pantagruel in ernsten gottesdienstlichen Ver¬ 
richtungen erscheinen, hat die religiöse Feier 
ganz protestantischen Anstrich; es wird ge¬ 
predigt, gebetet und gesungen; von der Messe 
ist nie die Rede. In den späteren Büchern 
spricht er sich dagegen in schroffer Weise 
gegen Calvin aus. Diese Wandlung ist leicht 
zu verstehen, So lange die Reform nur auf 
die Befreiung der Gedanken und das För¬ 
dern der Wissenschaft ausging, konnte. und 
musste Rabelais sich ihr anschliessen. Später 
aber, als der Fanatiker Calvin mit seiner 
Prädestinationslehre und dem Verbot des 
freien Willens hervortrat, konnte Rabelais, 
der wie kein Anderer nach unbegrenzter 
Freiheit strebte, nicht mehr folgen. Lieber 
der alten Lehre, wenigstens offiziell, treu 
bleiben, mochte er denken,' da sie bei ge¬ 
nügender Vorsicht einem damals doch noch 
eine ziemliche Freiheit gönnte, als sich unter 
einer neuen, unbequemeren, unduldsameren Ty¬ 
rannei zu beugen. Und es kam wohl noch 
ein anderes Moment hinzu. Bei aller Keck¬ 
heit seiner Angriffe war Rabelais doch eine 
vorsichtige Natur; er schlug nur los, wenn 
er sich teils durch die Autorität des Königs 




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3 i 8 


Klemm, Indische Forschungen des Jahres 1896. 


oder anderer hoher Herren gedeckt fühlte, 
und war durchaus nicht willens, seine An¬ 
sichten etwa bis zum Feuertod zu verfechten. 
Der dem Humanisten eigene Skeptizismus 
verliess ihn nicht, seine Lebensanschauung 
bestand in einem gewissen aufgeklärten und 
edlen Epikureismus, den er gerne Pantagruelis- 
mus nennt; er sympatisiert viel mehr mit Män¬ 
nern wie Erasmus, den er einmal seinen 
Vater und Meister nennt, und mit den ital¬ 
ienischen Humanisten, als mit den kühnen, 
aber auch einseitigen Reformatoren. Er ge¬ 
hört eben zur Renaissance, noch nicht zur 
Reform, er ist Renaissancemensch durch und 
durch, mit seinen grossen Vorzügen, aber 
auch mit seinen Schwächen. 


Indische Forschungsergebnisse 
des Jahres 1896. 

Von Dr. Kurt Klemm. 

Das abgelaufene Jahr hat die ersten Lie¬ 
ferungen des längst erwarteten Grundrisses 
der indo-arischen Philologie, herausgegeben 
von G. Bühl er*) gebracht. Besonders da¬ 
raus hervorzuheben sind G. BOhlers indische 
Paläographie von ca. 350 v. Chr. bis ca. 
1300 n. Chr. und J. Jolly, Recht und Sitte. 
Ferner erschienen in derselben Sammlung 
J. S. Speyer, Vedische und Sanskrit-Syntax, 
R. Garbe, Sämkhya und Yoga, und H. Kern, 
manual of Indian Buddhism. 

Mit dem Buddhismus beschäftigten sich 
in dem in Rede stehenden Zeitraum vorzugs¬ 
weise die archäologische Forschung und die 
wichtigeren literarischen Erscheinungen über 
Indien. In anziehenderFormbehandeltR.Fick 
die soziale Gliederung im nordöstlichen In¬ 
dien zu Buddha’s Zeit,*) auf Grundlage der 
Jätaka. Wir erfahren daraus, dass in dem 
Geburtslande des Buddha die Herrschaft der 
Brahmanen lange nicht so fest begründet war, 
wie weiter im Westen. In den von Geschlech¬ 
tern königlichen Stammes, die man gewöhn¬ 
lich als Anhänger der Kriegerkaste bezeich¬ 
net, regierten Gemeinwesen, nahmen vielmehr 
diese, die Khattiya, den ersten Rang ein. 
Die Brahmanen standen den Kriegern nach, 
eine Thatsache, welche rein äusserlich da¬ 
durch zum Ausdruck gelangt, dass bei Auf¬ 
zählung der Kasten oder Stände die Krieger 
stets an erster, die Brahmanen an zweiter 
Stelle genannt werden. Die Attribute, welche 
die Kaste der brahmanischen Texte mit der 
modernen Kaste gemein hat, finden wir auch 
bei den Jäti der Pälitexte, aber die Schranken 
der Kastenordnung sind noch nicht unüber- 

*) Strassburg, Trübner. 

*) Kiel, Haesel^er. 


schreitbar, gerade wie auch heute noch da, 
wo der Hinduismus sich neue Gebiete erobert, 
die strengen Vorschriften der Kaste eine 
laxere Anwendung erfahren und sich den be¬ 
stehenden Verhältnissen anbequemen. 

Die Texte, auf denen Fick seine Darstell¬ 
ung auf baut, sind in dem Jätaka, einer Reihe 
von 550 Erzählungen aus früheren Existenzen 
des Buddha, enthalten. Viele dieser Erzähl¬ 
ungen haben ihren Weg ins Abendland, ja selbst 
in die christliche Heiligenlegende gefunden. 
Der Pälitext dieser Sammlung, von V. Faus- 
bölP) herausgegeben, liegt mit dem 6. Bande 
nahezu vollständig vor, nur drei grössere 
Jätakas harren noch der Veröffentlichung. 
Inzwischen schreitet auch die, von einer Reihe 
englischer Gelehrter unternommene Übersetz¬ 
ung des Jätaka rüstig vorwärts.*) Von dieser 
auf 7—8 Bände berechneten Übersetzung ist 
nunmehr der 3. Band veröffentlicht, den H. 
T. Francis und R. A. Neil bearbeitet haben. 

Vaterstadt Buddha’s ist, nach den über¬ 
einstimmenden Angaben aller Quellen, Kapi- 
lavastu. Lange war man im Zweifel über die 
Lage jenes Ortes. Nunmehr ist es Führer 
gelungen, die Ruinen der alten Stadt in dem 
Gebiete von Nepal aufzufinden. Die Richtig¬ 
keit der Identifizierung jener Ruinen mit dem 
Geburtsorte Buddha’s wird durch eine Reihe 
von Indicien bewiesen. Zunächst stimmt die 
Lage des Trümmerfeldes genau zu den An¬ 
gaben des chinesischen Pilgers Fä-Hien, 
welcher im Beginn des 5. Jahrhunderts die 
schon damals wüste Stätte besuchte, an der 
er nur wenige Mönche und eine kleine Schaar 
Laien angesiedelt fand. Dann aber spricht 
eine in der Nähe errichtete Säule, welche 
besagt, dass „hier der Buddha, der Säkya- 
Asket geboren“, für die Vermutung Führers. 
Diese Säule ist von dem grossen König Asoka, 
als er die durch Buddha’s Anwesenheit ge¬ 
heiligten Stätten besuchte, im 21. Jahre nach 
seinerSalbung, alsoungefähr240 v.Chr. errichtet 
worden, rührt somit aus einer Zeit, da Buddha 
etwa 240 Jahre verstorben war. Die eben¬ 
falls von Führer entdeckte Säule wurde im 
Jahre 630 n. Chr. von dem chinesischen 
Pilger Hiuen Tsiang an der gleichen Stelle 
gesehen. Eine Erwähnung des Dorfes Lum- 
mini in der Inschrift weist auf den Hain 
Lumbini hin, wo der Sage nach Mäyä den 
künftigen Buddha gebar. Die zur Zeit herr¬ 
schende Hungersnot verhindert vorläufig 
weitere Ausgrabungen, von denen man noch 
wichtige Ergebnisse ftlr die indische Ge¬ 
schichte erwartet. 

') London, Kegan Paul & Co. 

•) The Jätaka, Translated from the Pali under 
the superintendence of E. B. Cowell, Cambridge, 
University Press. 


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Klemm, Indische Forschungen des Jahres 1896. 


319 


Der letzte bedeutende Pilger, welcher aus 
China nach Indien kam, um den Buddhismus 
an der Quelle zu studieren und Handschriften 
zu sammeln, war I-tsing, der nach seiner 
Rückkehr in die Heimat zum Direktor der 
kaiserlichen Übersetzungs-Kommission ernannt 
wurde und 713 starb. Dieser verfasste einen 
Bericht über seine Reise mit Nachrichten über 
die Pilger, welche von China und Korea nach 
Indien gezogen waren. I-tsing selbst ging 
671 auf einem persischen Schiffe nach Su¬ 
matra, studierte dort Sanskrit und landete 
673 in Indien, wo er sich 10 Jahre lang in 
Nälanda aufhielt. Die Universität Nälanda 
war der Mittelpunkt der wissenschaftlichen 
Bestrebungen des Buddhismus, sie verfügte 
Ober grosse Einkünfte und beherbergte mehr 
als 5000 Mönche und Novizen. Der franzö¬ 
sischen Übersetzung von Chavannes ist 
jetzt eine englische von dem Japaner Taka- 
kusu gefolgt, welche Max Müller mit einer 
Einleitung versehen hat. *) 

Die für den vegetarischen Buddhisten an- 
stössige Angabe des Mahäparinisbänasutta, zu¬ 
folge welcher man annimmt, Buddha sei nach 
dem Genüsse von Schweinefleisch gestorben, 
hat ein Anonymus *) in einer dem gläubigen. 
Buddhisten acceptablen Weise erklärt. Da¬ 
nach bestand das Gericht, welches Cunda 
dem Meister vor seinem Eingang in das 
Nirväna darbot, aus' Pilzen,, deren Name 
„sükara maddavam“, die Eberspeise, zu der 
irrigen Annahme führte, es sei von Schweine¬ 
fleisch die Rede. — Die Reden Buddha’s giebt 
zum ersten Mal in deutscher Übersetzung heraus 
K. E. Neumann^), ein Unternehmen, welches 
umsomehr zu begrOssen ist, als sich unsere 
deutschen Gelehrten zwar sehr eingehend 
mit Untersuchungen über die Grammatik des 
Päli beschäftigen, aber uns nur selten einen 
Text in deutschem Gewände vorführen. Eine 
Übersicht über Buddha’s Lehre, ebenfalls in 
Übertragungen von Originaltexten, bietet H. 
Clarke Warren.^) Der Popularisierung des 
Buddhismus dient das neue Buch des ver¬ 
dienten Päliforschers Rhys Davids, Bud- 
dhism: its history and literature.*^) 

Bis in die Zeit Asokas hinein reichen die 
Baudenkmale von Anurädhapura, der alten 

*) I-tsing, a record of the Buddhist Religion as 
practised in India and the Mal^ Archipelago. A. 
D. 671—695. Translated by J. Takakusu. With 
a letter from Max Müller and Index. Oxford, 
Clarendon Press. 

*) A C P im Buddhist VIII. S. 38. 

*) Reden aus der mittleren Sammlung Majjhi- 
manikäyo des Päli-Kanons. Leipzig, Friedrich. 

*) Buddhism in translations. Cambridge, Mass., 
Harvard Oriental Series. Vol. III. 

•) American iectures on the history of religions. 
First series. New-York, Putnam’s Sons. 


Hauptstadt Ceylons, welche James G. Smi¬ 
th er eingehend beschreibt.*) Anurädhapura 
ist nach der Chronik von Ceylon in Buddhas 
Todesjahr von dem Gefolgsmann eines indi¬ 
schen Prinzen gegründet worden. Bald da¬ 
nach wurde der Ort zur Residenz erhoben, 
und seitdem wetteiferten 85 Könige, die Stadt 
durch Bauten zu verzieren. Seit Asokas Sohn, 
Mahinda, den König Devenipiatissa für die 
Lehre Buddhas gewonnen hatte, wurden zahl¬ 
reiche Tempel, Dägabas, als Behälter für Re¬ 
liquien, errichtet, von denen der älteste, der 
Thupäräma Dägaba noch von Devenipiatissa 
erbaut sein soll. Das grösste Gebäude die¬ 
ser Art barg lange Zeit den Augenzahn 
Buddhas. Paläste, Klöster und Badeplätze mit 
zahlreichen Standbildern Buddhas und der 
Könige der Insel sind mehr oder weniger 
gut durch den Schutt der Jahrhunderte vor 
gänzlicher Zerstörung bewahrt geblieben. 

Neues Licht auf die Geschichte des Ku- 
shankönigs Kanishka, welcher im i. Jahrhun¬ 
dert vom Ganges bis zur Wolga herrschte, 
wirft eine Artikelserie im Journal Asiatique, 
in welcher S. L6vi chinesische Quellen 
heranzieht.*) Unter Kanishka wurde bekannt¬ 
lich das grosse Konzil abgehalten, welches 
die Spaltung des Buddhismus in eine nörd¬ 
liche und eine südliche Schule besiegelte. 
L^vis Untersuchung ergiebt, dass der Kir¬ 
chenvater A(?vaghosha Beichtvater des Kö¬ 
nigs, und dass sein Leibarzt der berühmte 
indische Mediziner Caraka war. 

Zu Kanishkas Gebiet gehörten Ka^mir 
und Gandhära, das Land in dem sich später 
am Swätflusse das buddhistische Königreich 
Udyäna erhob. Die Bevölkerung von Udyäna 
bezeichnet Hiuen Tsiang, der um 630 dort 
durchzog, als listig und verschlagen, „die 
Verwendung von Zaubersprüchen ist bei 
ihnen ein Gegenstand des Studiums.“ Etwa 
hundert Jahre nach Hiuen Tsiang ging aus 
diesem Volke der geriebene Stifter des La- 
maismus, Padmasambhava, hervor, welcher 
jetzt in Tibet selbst über Buddha gestellt 
wird. Infolge der Expedition gegen Chitral 
wurde nun auch das abgelegene Swätthal 
von anglo-indischen Truppen besetzt und bald 
zeigte sich, dass hier reiche Schätze der Aus¬ 
beutung durch die buddhistische Archäologie 
harren. Hier stand die Wiege der Gandhära- 
kunst, welche den Ideenaustausch der helle¬ 
nischen Welt mit Indien vermittelte. Hoffent¬ 
lich werden die Reste der alten Kultur, 


‘) Architectural Remains, Anurädhapura, Cey¬ 
lon; comprising tbe Dägabas and certain ancient 
ruined structures; measured, drawn and described. 
Published by order of the Ceylon Government. 

*) Notes sur les Indo-Scythes. J. As. VIII, S 
444 ff- 


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320 


Vogt, Die Wirksamkeit der Post- und Telegraphen-Verwaltung. 


welche nach den Museen Indiens gesandt sind, 
bald durch Bearbeitung allgemein zugänglich. 

Die arische Bevölkerung atu Hindukusch 
weist Ch. V. Ujfalvy^) auf Grund von 
Schädelmessungen dem iranischen Stamme zu. 
Damit finden die Erörterungen ihren Ab¬ 
schluss, welche auf Grund der mitunter vor¬ 
kommenden klassischen Gesichtszüge die ge¬ 
samte Bevölkerung als Nachkommen von 
Soldaten Alexanders erweisen wollen, wenn 
auch nicht in Abrede gestellt werden kann, 
dass die Völkerwanderungen, welche seit der 
Diadochenzeit jene Gebirgsthäler durchflute¬ 
ten und später die Kolonien griechischer 
Künstler nicht spurlos an der ansässigen Be¬ 
völkerung vorübergegangen sind, die sich 
gern als „Brüder der Franken“ bezeichnet. 
Mit den, jetzt unter afghanische Herrschaft 
gelangten, Kafirs beschäftigten sich H. G. 
^averty*) und Sir George Scott Ro¬ 
bertson.®) 

Eine hochinteressante Sammlung, welche 
in unübertrefflicher Vollständigkeit die zahl¬ 
reichen Volksstämnte Asams dem Beschauer 
vorftlhrt, ist durch den Wagemut des kühnen 
Reisenden Otto Ehlers nach Deutschland 
gelangt, und durch die Opferwilligkeit des 
Freiherm Eduard von Ohlendorff dem Kgl. 
Museum ftir Völkerkunde zu Berlin zuge¬ 
wiesen worden. Die Sammlung umfasst 
Kleidpng, Geräte und Waffen der wilden 
Stämihe am Rande des Brahmaputrathaies 
und enthält in bunter Mannigfaltigkeit Stücke 
aus Bhutan, von den an den östlichen Aus¬ 
läufern des Himälaya sitzenden Dafla, Abor, 
Mishmi und Miri und den im Süden des Brah¬ 
maputra wohnenden Khamti, Singpho, Fakial, 
Nagä, Mikir, Khassia und Gäro. Schön und, 
wegen der Verschmelzung altindischer mit 
chinesischer Kunst, besonders interessant, 
ist die farbenprächtige Khassia-Sammlung. 
Reich vertreten sind auch die zahlreichen 
Stämme der Nagä, namentlich die Angämi, 
Ao und Nängta, von denen jede Gruppe durch 
ausgewählte Stücke glänzt. Ganz neu sind 
die Gegenstände aus dem Gebiet der Nagä 
am Namtsikflusse, von denen bisher noch 
nichts bekannt war. Die Sammlung wird 
voraussichtlich im Laufe des Sommers allge¬ 
mein zugänglich werden, und verspricht eine 
Hauptzierde des für die Völkerkunde einzig 
wichtigen Museums zu werden. Soviel lässt 
sich schon jetzt sagen, dass das vorhandene 
Material wohl geeignet ist, helles Licht auf 

') Les Aryens au nord et au sud de 1 ’ Hindou- 
Kouch. Paris, Masson. 

*) The Kafiristan and the Kafiri tribes, Calcutta 
Review Nr. 205. S. 65—109. 

®) Kafirs of the Hindu-Kush. London, Lawrence 
und Bullen. 


die Gruppierung und Klassifizierung der tibeto- 
birmanischen Völker zu werfen, deren Ver¬ 
treter nur zu bald dem zersetzenden Einfluss 
der westlichen Zivilisation erliegen werden. 

Aus dem benachbarten Birma hat Fritz 
Nötling dem Museum ftlr Völkerkunde mehr 
als 100 Reliefs überwiesen, welche Szenen 
aus den Jätakas darstellen. Dieselben stam¬ 
men aus dem grossen Mangalaceti-Tempel zu 
Pagan, der im Jahre 1274 vollendet wurde. 
Als wichtigstes Ergebnis seiner Untersuch¬ 
ungen, die demnächst in den Veröffentlich¬ 
ungen des Museums ftlr Völkerkunde erschei¬ 
nen werden, bezeichnet Grünwedel die That- 
sache, dass die birmanische Tradition des 
Jätaka sich als sehr gut herausstellt. Der 
trostlose Schematismus der Darstellungen 
geht auf die durch den Einfluss der Gand- 
häraskulpturen veranlasste Kompositionsme¬ 
thode zurück. 

Die im 7. oder 8. Jahrhundert aus dem 
dravidischen Stil hervorgegangene Architek¬ 
tur Südindiens behandelt A. Rea in „Chälu- 
kyan Architecture: including examples from 
the Balläridistrict, Madras presidency“.^) E. 
W. Smith veröffentlicht den 2. Band der 
Moghul architecture of Fathpur-Sikri.*) 


Die Wirksamkeit der deutschen Post- und 
l'elegrapbenverwaltung im Dienste der öffent¬ 
lichen Wohlfahrt. 

Von F. Vogt. 

Ihrer Pflichten als öffentliche Staatsanstalt ein¬ 
gedenk hat es sich die deutsche Post- und Tele¬ 
graphenverwaltung jederzeit angelegen sein lassen, 
die bestehenden Verkehrseinrichtungen nach Mög¬ 
lichkeit dem allgemeinen Wohle nutzbar zu machen. 
Diesem Streben danken das Unfallmeldeivesen, der 
Hoclnvassermeldedienst, die Einrichtung der See- 
Telegraphenanstalten, die Mitwirkung bei Beobach¬ 
tung der Eisverhältnisse an den deutschen Küsten, 
sowie bei dem SturmwaniMMgswesen, dem Zeitball- 
dienst und bei der Durchführung der sozialpoli¬ 
tischen Reichsgesetze ihre Entstehung. 

Die Bewohner zahlreicher kleiner Landorte, 
welche bei plötzlichen Erkrankungen oder anderen 
Unfällen, wie Ausbruch von Feuersbrünsten und 
dergl. meist auf Hülfe aus benachbarten Ortschaf¬ 
ten angewiesen sind, hatten es als einen grossen 
Übelstand empfunden, dass sie des Nachts, wo der 
Telegraphenbetrieb ruht, gewöhnlich auf rasche 
Hülfe verzichten mussten. Aus diesem Gnmde 
hat die Postverwaltung im Jahre 1887, anfangs ver¬ 
suchsweise, bei einer Anzahl von Post- und Tele¬ 
graphenanstalten sogenannte Unfallmeldestellen ein¬ 
gerichtet. Zu diesem Zwecke sind bei den betei¬ 
ligten Anstalten in die Telegraphenleitung Weck- 

‘) Archaeological Survey of India New Imperial 
Series. Vol. 21. Madras. 

*) Allahabad, Government Press. 


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Vogt, Die Wirksamkeit der Post* und Telegraphen-Verwaltung. 


321 


Vorrichtungen eingeschaltet, durch welche es ermög¬ 
licht wird, auch des Nachts im Nachbarorte einen 
Beamten zur Abnahme der telegraphischen Meld¬ 
ung an den Apparat zu rufen. 

Die Erfahrungen, die während des lojährigen 
Bestehens des Unfallmeldewesens gemacht worden 
sind, sind recht günstige und die Einrichtung nimmt 
von Jahr zu Jahr an Ausdehnung zu. Während 
im Jahre 1890 erst gegen 2000 Telegraphenanstal¬ 
ten mit Unfallmeldestellen versehen waren, besas- 
sen Ende 1896 von den etwa 14000 Telegraphen¬ 
anstalten bereits 10072 diese Einrichtung. Am häu¬ 
figsten werden die Unfallmeldestellen bei UnglOcks- 
fällen und plötzlichen Erkrankungen von Menschen 
und Vieh behufs Herbeirufung ärztlicher Hülfe be-, 
nutzt. Sehr oft wird aber auch bei Feuers- und 
Wassersgefahr der schnelle Beistand benachbarter 
Gemeinden mittels Unfallmeldung erbeten. Daneben 
bilden Vorkommnisse verschiedenster Art, wie 
Schlägereien, Mord- und Raubanfälle Anlass zur 
Abfassung von Unfallmeldungen, durch welche in 
derartigen Fällen um polizeiliche Hülfe, um die 
Verfolgung von Verbrechern u. s. w. ersucht wird. 

Aus der gleichen Veranlassung, Gut und Leben 
zu schützen, ist in den Stromgebieten des Rheins, 
der Weser, der Elbe, der Oder und der Weichsel, 
sowie der wichtigeren Nebenflüsse ein telegraphi¬ 
scher Meldedienst über Hochwasser und Eisgang 
eingerichtet. Bei Tauwetter oder anhaltenden Re¬ 
gengüssen besteht in den Überschwemmungs¬ 
gebieten der genannten Ströme häufig Hochwasser¬ 
gefahr. Dann ist die schnelle Verbreitung von 
Nachrichten Ober den Stand des Hochwassers und 
den Eisgang von grossem Werte, weil es dadurch 
den gefährdeten Gemeinden möglich wird, Vorkeh- 
ungen gegen die drohenden Gefahren zu treffen. 
Die bei Hochwasser bedrohten Orte — soweit sie 
nicht bereits Tele^aphenstationen besitzen — sind 
deshalb telegraphisch an Telegraphenanstalten an¬ 
geschlossen. Bei Eisaufbruch, Eisversetzung, Damm¬ 
brüchen, beim Steigen des Wassers meldet die 
beobachtende Station das Ereignis sofort der im 
voraus bestimmten Telegraphenanstalt, welche die 
übrigen im Überschwemmungsgebiete des Flusses 
belegenen Stationen, Gemeinden, Wasserbauämter 
u. s. w. ohne Verzug mittels sogenannter Wasser¬ 
standstelegramme benachrichtigt Bis zur Beendig¬ 
ung der Gefahr halten sämtliche bei der Beförder¬ 
ung von Wasserstandstelegrammen beteiligten Te¬ 
legraphenstationen Tag und Nacht ununterbrochenen 
Dienst ab. Um die Wichtigkeit des Hochwasser- 
melde-Dienstes einigerroassen zu veranschaulichen, 
sei erw’ähnt, dass derselbe bei dem Hochwasser 
im Jahre 1891 die Beförderung von über 20000 
Telegrammen nötig gemacht hat. 

Zur Sicherung und Erleichterung der deutschen 
Schifffahrt besteht an den deutschen Küsten im 
Winter ein telegraphischer Nachrichtendienst, der 
den Zweck verfolgt, die Schifffahrt durch regel¬ 
mässige Veröffentlichungen Ober die Eisverhältnisse 
und die durch den Eisgang hervorgerufenen Ver¬ 
änderungen im Fahrwasser zu unterrichten. Die 
Beobachtung der Eisverhältnisse erfolgt von über 
60 Beobachtungsstationen, die mit den Signalstellen 
und Agenturen der deutschen Seewarte verbunden 
sind. Die Eisberichte der Beobachtungsstationen 


werden von zwei Zentralstellen — in Kiel und 
Wilhelmshaven — gesammelt und können im Wege 
des Abonnements bezogen werden. 

Ebenfalls den Interessen der Schifffahrt, sowie 
der Fischerei dient das Sturmwamungsivesen an 
der Nord- und Ostsee. Die deutsche Seewarte in 
Hamburg, welche die ihr telegraphisch zugehenden 
Beobachtungen und Wetterberichte der metereo- 
logischen Anstalten und Beobachtungsstationen zu¬ 
sammenstellt, giebt ausser den täglichen Hafentele¬ 
grammen in den Fällen, in denen Stürme zu er¬ 
warten sind, Sturmwarnungen heraus, die von der 
Telegraphenverwaltung sofort den längs der deut¬ 
schen Küsten eingerichteten Signalstellen telegra¬ 
phisch übermittelt werden. Letztere zeigen durch 
Aufslellen von Signalen den auf See befindlichen 
Schiffen und Fischerbooten die drohende Gefahr 
an, worauf diese ungesäumt die erforderlichen 
Massnahmen treffen. Die kleineren Fahrzeuge 
suchen gewöhnlich möglichst schnell den nächsten 
Hafen zu erreichen. 

Angesichts der grossen Zahl von Un- 
glücksfäilen, die sich alljährlich in der Nähe der 
Küste ereignen — so sind im Jahre 1895 im Küsten¬ 
gebiete der Ost- und Nordsee 528 Schiffsunfälle 
vorgekommen, bei denen 94 Menschenleben umge¬ 
kommen sind, — verdienen die Bestrebungen der Te¬ 
legraphenverwaltung, die Schiffer und Fischer bei 
Ausübung ihres gefährlichen Berufes möglichst zu 
sichern und zu schützen, gewiss die grösste Aner¬ 
kennung. 

Im weiteren ist die Telegraphenverwaltung zu 
Gunsten der Schifffahrt beim Zeitballdienste thätig. 
— Zur genauen Bestimmung des Ortes, an dem 
sich das Schiff während der Fahrt befindet, ist die 
Kenntnis der richtigen Zeit unbedingt erforderlich. 
Da aber wegen der fortwährenden Schwankungen 
des Schiffes die Schiftsuhren nicht in gleichmässigem 
Gange erhalten werden können, so ist für den See¬ 
mann die Vergleichung derselben mit richtig gehen¬ 
den Uhren höchst wünschenswert. Diesem Be¬ 
dürfnis entsprechen die Zeitballstationen, welche 
täglich durch das Fallen des Balles zu einer be¬ 
stimmten Zeit — meistens Mittags 12 Uhr — die 
genaue Zeit angeben. Die meisten der an den 
deutschen Küsten befindlichen Zeitballstationen, 
nämlich diejenigen in Cuxhaven, Bremerhaven, im 
Freihafen von Bremen, in Swinemünde und Neu¬ 
fahrwasser werden von Reichstelegraphenanstalten 
betrieben. Die mit dem Auslösen des Zeitballes 
betrauten Anstalten sind mit der Zeitballstation 
durch eine besondere Telegraphenleitung verbun¬ 
den. Durch das Schliessen des Stromes wird der 
Anker eines Elektromagneten angezogen und da¬ 
durch das Fallen des Balles bewirkt. Damit das 
Auslösen des Balles zur richtigen Zeit erfolgen kann, 
sind die betreffenden Telegraphenanstalten mit einer 
astronomischen Pendeluhr ausgerüstet, deren rich¬ 
tiger Gang mit der Normaluhr einer Sternwarte 
täglich verglichen wird. 

Seit dem Frühjahr 1894 sind auf den Leucht¬ 
türmen zu Bixhöft, Borkum und Helgoland See- 
Telegraphenanstalten eingerichtet. Dieselben haben 
die Aufgabe, Telegramme, für Schiffe in See 

bestimmt sind oder von solchen herrühren, unter 
Anwendung der Signale der internationalen Signal- 


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322 


Über Rosenöl. 


bücher mit den betreffenden Schiffen auszuwech¬ 
seln. Ausserdem liegt diesen Anstalten ob, die 
Namen der voroberfahrenden Schiffe festzustellen 
und dieselben nach dem Festlande zu melden. 

Ein besonderer Schiffsmeldedienst besteht für 
die Elbemündung. Da es wegen der zahlreichen 
Vorkehrungen, die vor dem Einlaufen eines Damp¬ 
fers im Hafen zu treffen sind, für sehr viele Per¬ 
sonen so z. B. die Schiffsrheder, die beim Löschen 
der Schiffsladung beschäftigten Hafenarbeiter, die 
Schiffsmakler, die Polizei- und Zollbeamten, Hötel- 
inhaber u. s. w. wichtig ist, von der Ankunft der 
Schiffe im Hamburger Hafen einige Zeit vorher 
Kenntnis zu erhalten, so werden die Namen und 
die Bauart sämtlicher einlaufenden Schiffe von dem 
Telegraphenamte in Cuxhaven festgestellt und tele¬ 
graphisch dem Telegraphenamte in Hamburg mit¬ 
geteilt. Das gleiche Verfahren wird auch hinsicht¬ 
lich der auslaufenden Schiffe beobachtet, da es für 
die Schiffsrheder und SchiflTahrtsgesellschaften von 
Vorteil ist, zu wissen^ wann das Schiff die offene 
See erreicht hat. Die zur Meldung erforderlichen 
Angaben werden am Tage hei nebelfreiem Wetter 
in Cuxhaven von den Telegraphenbeamten mittels 
Fernrohrs festgestellt. Bei Nebel und zur Nacht¬ 
zeit rudern die Cuxhavener Bootsleute die Schiffe 
an und stellen durch Anrufen den Namen des 
Schiffes fest; das Ergebnis teilen sie dem Telegra¬ 
phenamte mit, das ihnen für jede Meldung eine be¬ 
stimmte Vergütung aus der Postkasse zahlt. Das 
Telegraphenamt in Hamburg stellt aus den zu¬ 
gehenden Nachrichten die sogenannten Schiflfsmelde- 
Zettel zusammen, die dreimal täglich zur Ausgabe 
gelangen und vom Publikum im Abonnement be¬ 
zogen werden können. 

Recht erhebliche Leistungen fallen der Postver¬ 
waltung durch die Mitwirkung bei Durchführung 
der sozialpolitischen Reichsgesetze (der Unfall-, In- 
validitäts- und Altersversicherung) zu. Sie vermit¬ 
telt dabei für Rechnung der Berufsgenossenschaften 
und AusfÖhrungsbehörden, sowie der Versicherungs¬ 
anstalten sowohl die Zahlung der Renten an die 
einzelnen Empfänger als auch den Vertrieb der 
Invaliditäts- und Altersversicherungsmarken. Eine 
Entschädigung für ihre Mühewaltung bezieht die 
Postverwaltung nicht. Welche Ausdehnung die 
oben angeführten Geschäfte angenommen haben, 
geht daraus hervor, dass im Jahre 1895 an Unfall¬ 
entschädigungen, Invaliditäts- und Altersbezügen 
beinahe 80 Millionen Mark gezahlt worden sind, 
die sich aus kleinen, monatsweise zu zahlenden Be¬ 
trägen zusammensetzen. An Versicherungsmarken 
sind gegen 400 Millionen Stück im Werte von 84 
Millionen Mark abgesetzt worden. 


Über Rosenöl. 

Seit alten Zeiten und bei allen Kulturvölkern hat 
der Duft der Rosen nur selten gefehlt, wenn es 
galt, Feste zu feiern oder geliebten Personen durch 
Blumenschmuck und Laubgewinde eine Huldigung 
darzubringen. Es ist deshalb auch nicht verwunder¬ 
lich, dass man sehr bald daran dachte, den Geruch 
derselben in irgend einer Weise festzuhalten. So 
kam es, dass schon im Altertum Versuche gemacht 
w’urden, die Blütenblätter der Rosen mit Oel zu 


extrahiren, und auf solche Weise entstanden die 
ersten Formen des Rosenöls. Von der Möglichkeit, 
den Rosen ihr riechendes Prinzip durch Destillation 
zu entziehen, wussten die Alten nichts. Sie brauchten 
das erwähnte Rosenöl zum Salben und Waschen 
und allerlei andere Rosenpräparate, wie Rosenhonig, 
Rosenessig u. dergl. zu arzneilichen Zwecken. 

Erst später (810—817) finden wir, wie Prof. 
Harhvich*) ausführte, bei den Persern die Desillation 
der Rosen mit Wasser zur Gewinnung von Rosen¬ 
wasser. Die Darstellung desselben geschah damals 
schon in grossem Massstabe, So soll z. B. zu oben¬ 
genannter Zeit die südpersische Provnnz Farsistan 
allein jährlich 30000 Flaschen Rosenwasser als 
Tribut nach Bagdad geliefert haben. Später be¬ 
fassten sich auch die Araber mit der Darstellung 
des Rosenwassers und verbreiteten dasselbe im 
Anfang des 10. Jahrhunderts nach dem Westen. 
Erst verhältnismässig spät, im Jahre 1^4 wurde 
das wirkliche Rosenöl von Geronimo Kossi in 
Ravenna entdeckt und als ein wohlriechendes, butter¬ 
artiges Fett, dass sich bei der Destillation des Rosen¬ 
wassers auf diesem abscheidet, beschrieben. 

Am Anfang des 17. Jahrhunderts fängt das 
Rosenöl auch in den deutschen Apotheken an, seine 
Heimstätte zu finden, doch wurde bis in die Mitte 
des 19. Jahrhunderts neben dem eigentlichen, durch 
Destillation erhaltenen reinen Lile auch noch ein 
Rosenöl vielfach gebraucht, welches man durch 
Extraktion von Rosenblättem mittelst Olivenöls 
gewann. Das reine Rosenöl war zu teuer, als 
dass es hätte allgemeinere Anwendung finden 
können, zumal man seinerzeit das Öl in den 
Apotheken selbst darstellte. Dieser Kleinbetrieb 
ist heute vollständig verschwunden. Die Rosenöl¬ 
gewinnung wird ausser an vereinzelten Orten, 
wie in Persien, Indien, Sodfrankreich, Tunis etc. 
in grösserem Massstabe fast nur noch in Bul¬ 
garien und Ostrumelien betrieben, und ziwar sind 
I als Hauptgewinnungsorte" Kesanlyk und Karlowa 
aufzuführen. In jenen Gegenden oefinden sich die 
berühmten Roscnpflanzungen in Form grosser Rosen¬ 
hecken von Rosa damascena und Rosa alba. 

Man verfährt in Bulgarien auf folgende Weise: 
Die Rosenblätter werden Mitte Mai bis Mitte Juni 
gesammelt und sofort nach dem Pflücken der De¬ 
stillation unterworfen. Letztere geschieht aus 
kupfernen Destiliirblasen, deren mehrere immer in 
einem Schuppen vereinigt sind. Nachdem dieselben 
mit Rosenblättern und Wasser beschickt worden 
sind, wird der Inhalt durch direkte Holzfeuening 
erhitzt. Von dem hierdurch überdestillireriden 
Rnsenwasser werden nochmals ungefähr '/• ab- 
destillirt, die Rückstände aber stets wieder bei der 
folgenden Destillation benutzt. Das konzentrirte 
Sechstel wird alsdann während 2 Tagen bei einer 
Temperatur von mindestens 15“ C. der Ruhe über¬ 
lassen, worauf das sich klar auf dem Wasser ab- 
scheidende Öl mittelst kleiner Glasspritzen oder 
Pipetten abgehoben und in innen verzinnte Kupfer¬ 
flaschen von 0,4—2,5 Kilo Inhalt gefüllt und in den 
Handel gebracht wird. 

Im Jahre 1892 waren in Bulgarien 72^ Destillir- 
blasen in Thätigkeit und 1893 7^2. Die Produktion 
an Rosenöl in Bulgarien betrug in Kilo: 


1882 

... 900 

1889 . 

. . 2650 

1883 

. . . 2300 

1890 . 

. . 2200 

1884 

. . . 2400 

1891 . 

• • 1725 

1885 

. . . 1700 

18^ . 

. . I 3‘0 

1886 

. . . 1400 

1893 . 

. . 1835 

1887 

. . . 2400 

1894 . 

. . 2200 

1886 

. . . 2200 

1895 • 

18^ . 

. . 2300 
. . 2900 


*) Nach Schweiz. Wochenschr. Tar Chem. u. Pharm. 1897, tz. 


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Russner, Neue Einrichtungen an Röntgenröhren. 


323 


Diese Zahlen lassen die Einflüsse, welche die 
Witterung auf die Rosenemte und die Rosenöl¬ 
gewinnung ausübt, sehr leicht erkennen. Die Ge¬ 
samtproduktion in Bulgarien könnte aber bedeutend 
höhere Zahlen erreichen, wenn man sich daselbst 
von der höchst primitiven und unrationellen Ge¬ 
winnungsart lossagen und die Hilfsmittelder modernen 
Technik ausnutzen wollte, wie dies von der Firma 
Schimmel & Co. jn Leipzig geschieht. Diese Firma, 
welche in der Nähe Leipzigs grosse Rosenplantagen 
angelegt, und inmitten derselben eine Fabrik erbaut 
hat, produzierte im vergangenen Jahre bereits 60 
Kilo reines Rosenöl aus 265000 Kilo Rosenblättem 
und hat den Beweis erbracht, dass auch in Deutsch¬ 
land die Kultur von Rosen zum Zwecke der Rosen¬ 
ölgewinnung möglich und lohnend ist 

Der hohe Preis, welcher für das Rosenöl auch im 
Grosshandel noch immer bezahlt wird (etwa 800 bis 
1000 Mk. pro Kilo) hat die Produzenten desselben 
natürlich sehr bald in die Versuchung geführt, ihre 
Ausbeute möglichst zu „verlängern“. Wenn auch 
die durch solche Wünsche bedingten Fälschungen 
von Rosenöl heutigen Tags nicht mehr den Um¬ 
fang erreichen, wie vor einigen Jahrzehnten, so giebt 
es doch noch immer der fröhlichen Fälscher genug 
in Bulgarien, die es recht gut verstehen, der von 
Seiten des Staates und von privater Seite geführten 
scharfen Kontrole zu entgehen. Es zeigt dies der 
Umstand, dass im vergangenen Jahre 688 Kilo 
Schoenanthusöl (von Andropogon Schoenanthus), 
welches fast ausschliesslich zum Verschneiden des 
Rosenöls angewendet wird, nach Bulgarien verkauft 
worden sind, gewiss ein recht ansehnliches Quantum, 
wenn man den Export Bulgariens an Rosenöl durch¬ 
schnittlich auf etwa 2000 Kilo berechnet. Besonders 
schlaue Bulgaren lassen das Schoenanthusöl längere 
Zeit an der Sonne stehen, wodurch es einen lieb¬ 
licheren, dem Rosenöl ähnlicheren Geruch annimmt. 
Dann besprengen sie mit diesem öl die frisch ge¬ 
pflückten Rosenblätter schon auf-dem Felde, sodass 
der im Destillirraume mit grosser Wachsamkeit 
amtierende Kontrolleur nie andere als schon mit 
Schoenanthusöl beschwerte Rosenblätter zu Gesicht 
bekommt Dass besonders im Kleinhandel sehr 
viel öl unter der Bezeichnung Rosenöl angetroffen 
wird, welches nur sehr wenig, hin und wieder aber 
überhaupt kein echtes Rosenöl enthält, dürfte all¬ 
gemein bekannt sein. Besonders in der Türkei 
wird mit dem Verkaufe solcher Fälschungen und 
Surrogate viel Unfug getrieben. 

Eine eigentümliche Erscheinung ist es, dass das 
Rosenöl sich nicht wie andere ätherische öle in 
besonderen Sekretbehältem des Blattes befindet, 
sondern dass es vielmehr dem Zellinhalt, vermutlich 
vorwiegend in den Zellen der beiden Epidermen, 
bei'-emengt ist. Das öl selbst besteht aus einem 
bei gewöhnlicher Temperatur festen und einem 
flüssigen Bestandteil. Der Träger des Geruches 
ist jedoch nur der letztere, dessen Hauptmenge eine 
alkoholartige Verbindung, das Rhodinol ausmacht 
Dieses Rhodinol ist Jedoch kein dem Rosenöl allein 
zukommender Bestandteil. Es ist vielmehr identisch 
mit dem Geraniol, welches man aus einer Reihe 
anderer Pflanzen bereits isoliert hat und das be¬ 
sonders auch den riechenden Anteil des vorher 
erwähnten Schoenanthusöls ausmacht Die Bulgaren 
benutzen demnach zur Verfälschung des Rosenöls 
ein öl, dessen hauptsächlichster Bestandteil mit dem 
wertvollsten Anteile des Rosenöls identisch ist 
Dieser Umstand erklärt es auch, dass der Nachweis 
etwaiger Verfälschungen von Rosenöl auf chemischem 
Wege sehr schwierig, oft sogar unmöglich erscheint. 
Trotz der zahlreichen, zum Teil sehr hervorragen¬ 
den Arbeiten, welche über die Konstitution und 
die Analyse des Rosenöles bisher veröffentlicht 


worden sind, müssen Gelehrte und Praktiker augen¬ 
blicklich noch eingestehen, dass das beste Kriterium 
für die Wertbestimmung des kostbaren Produktes 
ein geschulter Geruchsinn ist a. 


Neue Einrichtungen an Röntgenröhren. 

Von Dr. Joh. Russkcr. 

Wohl jeder, der öfter mit Röntengenröhren 
gearbeitet hat, wird zwei Übelstände empfunden 
haben. Zunächst den, dass man Ober den mehr 
oder weniger guten Zustand einer Röhre kein 
sicheres Urteil abgeben kann. Auch. wenn das 
Glas schön grün fluoresziert, weiss man nicht, ob 
Röntgenstrahlen grosser oder geringer Durchdring¬ 
ungskraft entstehen, und auch das Kryptoskop giebt 
darüber nur unvollkommen Auskunft, abgesehen 
davon, dass in manchen Fällen seine Anwendung 
unthunlich ist. Die Entstehung von stark wirken¬ 
den Röntgenslrahlen ist von einem ganz bestimm¬ 
ten Vaeuum der Röhre abhängig. Leider ist das¬ 
selbe bei der Benutzung schnellen Veränderungen 
unterworfen, ohne dass man den wirklichen Zusam¬ 
menhang kennt, und es tritt ein Zustand ein, bei 
welchem die Röhre überhaupt keine wirksamen 
Strahlen mehr entwickelt. Diese Erscheinung wurde 
besonders unangenehm empfunden bei öffentlichen 
Vorführungen, und hat schon manchen Experimen¬ 
tator dabei in grosse Verlegenheiten gebracht. 

Prof. Dorn hat diesem Übelstande zur Freude 
Vieler zuerst abgeholfen. Nach demselben bringt 
man in ein Ansatzstück der Röntgenröhre etwas 
Ätzkali. Wird das Vaeuum zu gering, so wird 
durch Erwärmen aus dem Atzkali etwas Wasser¬ 
dampf herausgetrieben, bis das richtige Vaeuum 
wieder hergestellt ist. Dr. Walter in Hamburg 
erwärmt, um Schwankungen im Vaeuum zu ver¬ 
meiden, das Dorn ’sche Ansatzstück konstant durch 
einen galvanischen Strom. Zu diesem Zwecke wird 
ein Platindraht spiralförmig tim das Ansatzstück 
gewickelt, und der Strom einer Batterie hindurch¬ 
gehen gelassen, welcher die Spirale erwärmt. Die 
Stärke dieses elektrischen Stromes muss durch Ein¬ 
schaltung von Drahtwiderständen so reguliert wer¬ 
den, bis das Vaeuum gleichmassig bleibt. 

Die Allgemeine Elektrizitätsgesellschaft in Ber¬ 
lin hat auf Grund ihrer Erfahrungen in der Her¬ 
stellung luftleerer Räume bei der Glühlampen¬ 
fabrikation auch eine sehr gut wirkende Röntgen¬ 
röhre in den Handel gebracht. Den erwähnten 
Übelstand besitzen auch diese Röhren; das Ver¬ 
fahren zur Beseitigung desselben ist aber ein ganz 
anderes, als jenes vom Professor Dom. 

Die Erfahrung hat gelehrt, dass auf der äusse¬ 
ren Oberfläche der Röntgenröhren während des 
Betriebes viel Elektrizität angesammelt ist. Schon 
durch Berührung der Oberfläche mit dem Finger 
wird die Strahlung einer Röhre beeinflusst, so dass 
Röhren, welche keine wirksamen Röntgenstrahlen 
mehr gaben, wieder wirksam wurden. Dieser Um¬ 
stand legte die Vermutung nahe, dass die Verän¬ 
derung des Vaeuums mit der Ansammlung von 
Elektrizität an der Oberfläche im Zusammenhang 
stehen müsse. Die in dieser Richtung angestellten 
Versuche haben diese Vermutung bestätigt, aber 
die Erklärung hierfür fehlt noch. 


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324 


Russner, Neue Einrichtungen an Röntgenröhren. 


Die Eintrittsstelle des positiven Stromes in die 
Röntgenröhre nennt man bekanntlich Anode, die 
Austrittsstelle Kathode. Die Oberflächen einer 
Röhre verhalten sich in der Nähe dieser Stellen 
verschieden; es genügt aber schon, die angesam* 
melte Elektrizität von der Kathodenseite zu entfer¬ 
nen. Der erste Hinweis auf diesen Weg stammt 
von dem Engländer Porter, dessen Veröffent¬ 
lichungen zuerst nicht die Beachtung fanden, die 
ihnen zukommen. Porter bekleidete das die Ka¬ 
thode umschliessende Glasrohr mit Stanniol und 
brachte noch in i mm Entfernung vom Rohre 
einen Ring aus Draht an, welcher mit der Katho- 
denzufhhrung in Verbindung stand. Diese Vor¬ 
richtung ist aber nur anwendbar an Röhren, welche 
mit schwachen .Strömen betrieben werden; bei 
starken Strömen wird die Stanniolbekleidung zu einer 
Gefahr für die Röhre, weil dann von ihr aus Fun¬ 
ken an der Glaswand entlang zur Anode über¬ 
springen oder auch selbst das Glas durchschlagen. 

Nach vielen Versuchen von Dr. Berliner hat 
sich folgende Einrichtung sehr gut bewährt. Statt 
der Porter’ sehen Stanniolbekleidung wird einfach 
ein Rohr aus Holz über das Glasrohr geschoben, 
in welchem die Kathode sich befindet. Die Wirk¬ 
ung des Holzrohres beruht offenbar in der Lei¬ 
tung, die das Holz zwischen den einzelnen Punkten 
der Glasoberfläche und der Kathodenzufiihrung ver¬ 
mittelt. Die Leitungsfähigkeit des Holzes für Elek¬ 
trizität kann ohne Mühe nach Bedürfnis abgeändert 
werden, indem die innere Wand des Holzrohres, 
die mit der Glaswand in Berührung ist, einen grös¬ 
seren oder geringeren Grad von Feuchtigkeit er¬ 
hält. Wird die Leitungsfähigkeit zu gross, so tritt 
bei Anwendung starker Ströme derselbe Nachteil 
ein, wie bei der Porter’schen Vorrichtung; es ist 
daher erforderlich, durch Versuche den richtigen 
Grad von Feuchtigkeit festzustellen. Um das 
Trockenwerden des angefeuchteten Holzrohres nach 
Möglichkeit zu verzögern, empfiehlt es sich, Gly¬ 
cerin zum Anfeuchten zu benutzen, da das Glycerin 
infolge der Wasseraufnahme aus der Atmosphäre 
das Holz feucht erhält. Mit dieser Einrichtung wur¬ 
den Röntgenröhren zur Strahlung veranlasst, die 
ohne dieses Hilfsmittel überhaupt keine wirksamen 
Strahlen mehr erzeugten. 



Die Abbildung zeigt eine Röntgenröhre der 
Allgemeinen ElektrizitätsgesellschaA und es bedeu¬ 
tet a die Kathode, b die Anode und r das Holzrohr. 
Die von der Kathode ausgehenden elektrischen 
Strahlen fallen auf das Platinblech c und erzeugen 
hier die Röntgenstrahlen. 

Siemens und Halske in Berlin geben für die 
beim Gebrauche von Röntgenröhren eintretende 


Veränderung des Vaeuums folgende Erklärung. 
Durch die Erwärmung der von den Kathoden¬ 
strahlen getroffenen Röhrenwandung wird die an 
dem Glase festanhaftende Luftschicht losgelöst, wäh¬ 
rend durch Zerstäuben der Metallbestandteile von 
der Anode und Kathode Luft gebunden wird. Je 
nachdem der eine oder andere Einfluss Oberwiegt, 
steigt oder sinkt der Luftdruck in einer Röntgen¬ 
röhre. Da die Entstehung der Röntgenstrahlen an 
einen ganz bestimmten Gasdruck gebunden ist, so 
hört bei zu grossen Druckänderungen die Wirksam¬ 
keit der Röhre auf. 

Das Verfahren von Siemens und Halske, 
eine Röntgenröhre wirksam zu erhalten, ist ähnlich 
dem Verfahren von Dorn. Das Mittel zur Ver¬ 
minderung des Luftdruckes ergab sich aus der Be¬ 
obachtung, dass die beim Stromdurchgange leuch¬ 
tende Luft mit den Dämpfen des Phosphors und 
ähnlicher Stoffe feste Körper bildet, während eine 
Zunahme des Druckes durch Erwärmen der Rohr¬ 
wandung und Vertreiben der an der Glasfläche 
verdichteten Luftschicht erreicht w'crden kann. 

Die untenstehende Abbildung stellt diese neue 
Röntgenlampe dar. Das cylindrische Entladungs¬ 
rohr enthält eine als Hohlspiegel geformte Kathode 
aus Aluminiumblech und eine ebene schräg zur 
Röhrenachse gestellte Platin-Anode. Eine mit dem 
Entladungsrohr verbundene Kugel trägt eine Hilfs- 
Anode und dieser gegenüber ein Ansatzrohr, des¬ 
sen Wandung mit dem zur Luftabsorption dienen¬ 
den Phosphor bedeckt ist. 



Figur 2. 

Mit Hilfe eines fluoreszierenden (Bariumplatin- 
cyanür) Schirmes lässt sich leicht erkennen, ob im 
Entladungsrohr der für die Entstehung von Rönt¬ 
genstrahlen günstigste Luftdruck herrscht. Leuch¬ 
tet der Schirm nur schwach, während von dem 
Aluminium-liolilspiegel ein starkes konisches Bün¬ 
del blauer Strahlen ausgeht, so ist der Luftdruck 
im Rohr zu hoch; man legt in diesem Falle den 
positiven Pol der Stromquelle an die Hilfs-Anode 
der Kugel und lässt den Entladungsstroin so lange 
auf die Luft und den Phosphor in der Kugel ein¬ 
wirken, bis das anfangs das Verbindungsrohr er- 


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Betrachtungen und kleine’ Mitteilungen. 


325 


flUlende blauweisse Licht zu einem dünnen Faden 
zusammenschrumpfl. 

Ein zu niedriger Luftdruck wird durch völliges 
Fehlen des blauen Lichtes bei schwacher Fluores¬ 
zenz des Schirmes angezeigt; man erhöht dann 
den Druck, indem man die Kugel mit einer Flamme 
erwärmt und dadurch die am Glase haftende Luft¬ 
schicht in das Vacuum hineintreibt 

Infolge der möglichst genauen Regulierung des 
Vacuums nach diesem Verfahren, ist die Intensität 
der mit den S i e m e n s’sehen Röntgenröhren er¬ 
zeugten Strahlung bei Verwendung von verhältnis¬ 
massig schwachen Strömen ganz bedeutend. Das 
Knochengerüst einer Hand kann man auf einem 
Schirm mit Bariumplatincyanür ganz deutlich durch 
eine 2 mm dicke MetalJplatte erkennen, eine Leist- 
nug, die bisher mit den stärksten zur Anwendung 
gekommenen Strömen nicht annähernd erzielt wurde. 
Es eignen sich daher diese Röntgenlampen wegen 
der grossen Intensität ihrer Strahlung ganz beson¬ 
ders zur Durchleuchtung des ganzen Körpers von 
Personen. 

Nach Colardeau besitzt die Mehrzahl der zur 
Erzeugimg von Röntgenstrahlen benutzten Röhren 
keine grosse Wirkung, weil die Strahlungsquelle, 
die der Kathode gegenüberliegende Glaswandimg, 
eine beträchtliche Ausdehnung hat. Von den Kon¬ 
struktionen, die diesen Übelstand etwas beseitigen, 
haben sich die Focusröhren am besten bewährt. 
Bei diesen werden die Röntgenstrahlen in einem 
in dem Krümmungsmittelpunkt des Kathodenhohl¬ 
spiegels aufgestellten Stück Platinblech erzeugt. 
Da die Kathodenstrahlen die Kathode nahezu senk¬ 
recht verlassen, so liegt die Spitze des Strahlen¬ 
kegels in der Nähe dieses Krümmungsmittelpunk¬ 
tes; indessen ist die Lage des Vereinigungspunktes 
der Strahlen von dem Grad der Luftleere abhängig. 
Fällt also” das Fokusblech nicht mit dem Brenn¬ 
punkt der Strahlen zusammen, so werden die Bil¬ 
der nicht ganz deutlich. Colardeau giebt aus 
diesem Grunde dem Focusblech eine sehr geringe 
Grösse. 

Ittn 



Figur 3. 

Versuche haben demselben ferner gezeigt, dass 
es günstig ist, den Weg, welchen die Kathoden¬ 
strahlen im Innern der Röhre zurücklegen, mög¬ 
lichst kurz zu machen. Obenstehende Abbildung 
stellt die Colardeau’sche Röhre in natürlicher Grösse 
dar. Die cylindrische Röhre von*6—7 mm Durch¬ 
messer wird durch die Kathode B beinahe aus¬ 
gefüllt. Die Kathode hat einen Krümmungsradius 
von etwa 5 mm und möglichst nahe von ihr befindet 
sich das unter 45 0 geneigte Platinblech A, von 
welchem die Röntgenstrahlen ausgehen. An der 
Austrittsstelle der Röntgenstrahlen ist die Röhre 
zu einer kleinen Ampulle von nur 0,1 mm Dicke 
aufgeblasen, so dass die zu durchsetzende Glas¬ 


schicht möglichst wenig Strahlen absorbieren kann. 
Wegen des geringen Volumens dieser Röhre muss 
man sie, um das Vacuum unverändert zu erhalten, 
mit einem grösseren Gefässe verbinden, was an dem 
seitlichen Ansatz C geschehen kann. 

Bei Verwendung eines grossen Inductors ge¬ 
nügten vier Unterbrechungen des induzierenden 
Stromes, um eine scharfe Photographie einer Hand 
zu erzeugen; sogar eine einzige Unterbrechung gab 
auch schon deutliche Bilder. 

' Mit Hilfe der bisherigen Röhren sind schon eine 
grosse Zahl gelungener Operationen auf Grund 
von Röntgen-Photographien ausgeführt worden und 
mit den neuen Röhren werden noch grössere An¬ 
sprüche zur Befriedigung der Mediziner gelangen. 


Betrachtungen und kleine Mitteilungen. 

Über die in Mode gekommenen Griechenland¬ 
reisen von Nichtarchäologen äussert sich Professor 
W. von Oettingen in einem Aufsatz „Alt-Hellas 
in Nettgriechenlanr (Voss. Ztg. v. 18. 4. 1897) in 
bemerkenswerter Weise. Die nichtarchäologischen 
Majoritäten, alle die tiefer oder oberflächlicher ge¬ 
bildeten Reisenden verschiedenster Stände kommen 
nach Griechenland, um, was für Laien fast selbst¬ 
verständlich ist, durch Zeitungsberichte und Reise¬ 
handbücher auf Merkwürdiges vorbereitet, das 
Merkwürdige in der Form von etwas Gewaltigem 
oder doch von ästhetisch Reizvollem mit Augen zu 
erblicken. Sie vergessen, dass alle diese Dinge, 
etwa den Bücherreihen der Bibliotheken ent¬ 
brechend, gewöhnlich nur merkwürdig sind als 
Grundlagen für mehr oder minder geniäe wissen¬ 
schaftliche Folgerungen, von denen sie nur allge¬ 
meine Vorstellungen, und für die sie nicht hinreichend 
eingehendes Interesse besitzen; sie vergessen, dass 
für den Gelehrten unter Umständen nichts unwe¬ 
sentlich, vielmehr alles merkwürdig ist, da er die 
Macht hat. Jeden unansehnlichsten Stein zum Reden 
zu bringen; und sie fühlen sich enttäuscht und 
lassen nur zu oft nicht ihren Irrtum, sondern die 
Wissenschaft, die sie abstrus und kleinlich schelten, 
für die Enttäuschung büssen. Zwölf Stunden Eisen¬ 
bahn sind sie von Athen nach Olympia gefahren, 
nach Olympia, dem Stolze des Deutschen Reiches, 
der Grosstnat unseres Emst Curtius und seines 
Stabes von Archäologen, Architekten und In¬ 
genieuren, der Fundstätte des Praxitelischen Her¬ 
mes, dessen gipsgegossene Büste fast jede deutsche 
Haushaltimg ziert oder in schlechter Nachbildung 
verunziert, und was finden sie dort? Zwischen dem 
sandigen Bett des Alpheios und dem Kronoshügel 
liegen einige Morgen Landes, auf denen Funda¬ 
mente, Fundamente und wiederum Fundamente 
sichtbar sind, mit oder ohne Stufen, ohne oder mit 
einigen armen Resten von Säulen, umgeben von 
den herumliegenden übrigen Trommeln dieser Säu¬ 
len, von Quadern, Simsstücken, von Altarfragmen¬ 
ten und Statuenbasen. Hier mag freilich das Mu¬ 
seum mit seinen Skulpturen noch manche trösten. 
Aber ist man bei Tschanak Kalessi an den Darda¬ 
nellen gelandet und hat die sieben Stunden Rei¬ 
tens von dort nach Ilion nicht eescheut, so bietet 
das Ziel der unbequemen Reise dem Unbefangenen 
nichts andres als einen kahlen Hügel von mässigem 
Umfang, durchzogen von tiefen Gräben und be¬ 
deckt mit einem Gewirre von halbhohen Mauern; 
nur an einer Ecke tritt eine ansehnlichere Befest¬ 
igung, ein Turm, eine Treppe hervor. Alle diese 
Ruinen mögen ästhetisch oder romantisch wirken, 
wenn irgend eine gewaltsame Beleuchtung oder 


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326 


Betrachtungen und kleine Mitteilungen. — Sprechsaal. 


die Macht einer gesammelten, pathetischen Stim¬ 
mung sie hebt; streng objektiv betrachtet liegen 
sie grau, öd und nüchtern und für einen objektiv 
Gleichgiltigen auch formlos da. Dürfen wir nun 
dem Touristen, der Ihr Geld und Zeit etwas recht 
Schönes, Erquickendes sehen wollte, und dem 
Steuerzahler, der ziemlich unbefragt das Geld für 
die Ausgrabungen hat hergeben müssen, ihr Ach¬ 
selzucken und ihre anzüghchen Redensarten zum 
Vorwürfe machen? Mit Höflichkeit, allerdings! 
Denn wenn wir auch nicht von einem Jeden Be- 
thätigung streng wissenschaftlichen Sinnes verlangen 
können — dieser Sinn ist an sich selten, und wo 
er auftritt, entbehrt er nur zu oft des lebendigen 
Geistes, der ihm erst seinen Wert verleiht — so 
erwarten wir doch, dass jeder Steuerzahler der 
Wissenschaft die Mittel zu ihrem Leben gönne, 
dass sich jeder Reisende über die Natur seiner 
Reiseziele bei Zeiten gründlich aufkläre und dass 
niemand nach Griechenland gehe, der nicht ernst¬ 
haft zu lernen gesonnen ist, was es ihn zu lehren 
hat. Die geweihten Stätten von Hellas sind nicht 
wie Badeörter Tummelplätze für Erholungsbedürf¬ 
tige und Unbeschäftigte. Wer aber, auch als 
Nichtarchäologe, für die Geschichtswissenschaften 
und die bildende Kunst Teilnahme und Hochach¬ 
tung mitbringt, der wird mit Macht in das Interesse 
gerade ftlr die Ausgrabungen hineingezogen. 

• « 

• 

Der russische Riesenkanal. Die Art und 
Weise, wie das moderne Russland an der Ver¬ 
besserung seiner Verkehrswege rastlos aber auch 
zielbewusst arbeitet, erregt das Erstaunen aller 
Kreise. Kaum ist der Bau der Rieseneisenbahn 
durch Sibirien, deren westlicher Teil bis Omsk'und 
deren östlicher von Wladiwostok bis zum Amur 
reicht, teilweise durchgefllhrt, hört man von einem 
neuen Riesenwerke, zu welchem bereits alle Vor- 
und Projektierungsarbeiten vollendet sind. Die 
• Ostsee soll mit dem Schwarzen Meer durch einen 
i6oo km langen Kanal innerhalb 5 Jahren, also 
gleichzeitig mit der Eröffnung der ganzen trans¬ 
sibirischen Bahn im Jahre 1901, verbunden werden, 
so dass die Schiffe durch das Innere von Russland 
von R^a bis Cherson fahren können, anstatt den 

g ewaltigen Umweg Ober Gibraltar machen zu müssen. 

►ieser rCanal ist für den Durchgang der grössten 
Panzerschiffe berechnet und hat daher 65 m Niveau- 
und 35 m Sohle-Breite mit 8,5 m Tiefe. Von Riga 
aus wird die Düna und mittelst Kanal von Düna¬ 
burg nach Lepel die Beresina und später der 
Dniepr benützt, sowie die betreffenden Flussgebiete 
teilweise in das Kanalnetz einbezogen, s. B. soll 
bei Pinsk ein riesiges Sammelbecken neben vielen 
grossen Hafenanlagen am Hauptkanale erbaut wer¬ 
den. Die Gesamlbauko|ten sind auf 400 Mill. Mark 
berechnet und wird der ganze Kanal so hergestellt, 
dass die Schiffe bei Tag und Nacht mit 11 km pro 
Stunde fahren können, vom Schwarzen Meere bis 
nach Riga sohin in 6 Tagen gelangen können, also 
in weniger als der halben Zeit wie seither. Dass 
Russland nach Vollendung seiner Riesenbahn und 
seines Riesenkanals eine noch ganz andere Welt¬ 
machtsstellung einnehmen wird, braucht kaum wei¬ 
ter ausgeführt zu werden. (Bayr. Verkehrsblatter.) 

• 

Unter Vorsitz des Professors Dr. Wilhelm 
Förster, Direktors der Berliner Sternwarte, ist 
der „Nat. Ztg." zufolge am 13. April im Pavillon 
de Breteuil zu Sevres bei Paris die alle zwei Jahre 
stattfindende Session des internationalen Komitees 


für Masse, und Gewichte eröffnet worden. -Die 
fremden Gäste, die ausserdem der Sitzung bei¬ 
wohnten, waren die Herren Arndtson (Christiania), 
v. B o d o 1 a (Budapest), C h a n e y (London), H i r 5 ch 
(Neuchatel), He pites (Bukarest), v. Lang (Wien), 
de Macedo(portugiesischerGesandter),Mendelew 
(Petersburg). Das internationale Büreau für Masse 
und Gewichte, worüber das Komitee, bestehend 
aus Delegierten aller Staaten, die sich der Meter¬ 
konvention angeschlosscn haben, die Oberaufsicht 
führt, hat in seinen Laboratorien nicht nur für die 
vollständige Gleichmässigkeit der Normalmasse des 
metrischen Systems in allen Kulturstaaten zu sorgen. 
Es beschäftigt sich überdies mit allen Fragen, die 
irgendwie auf das Metersvstem und die Präzisions¬ 
arbeiten im Allgemeinen 6 ezug haben. So hat das 
Büreau in den letzten Jahren sämtliche Apparate 
gründlich geprüft, die bei den Erdmessungen in 
allen grösseren Ländern Europas verwendet worden 
sind. Erst nach dieser Revision hat man mit Ge¬ 
nauigkeit den Flächeiünhalt der verschiedenen 
Staaten festeteilen können. Dadurch ist z. B. Deutsch¬ 
land nominell um eine Anzahl Quadratkilometer 
bereichert w'orden. Diesmal wird das Büreau dem 
Komitee einige höchst interessante Arbeiten zu 
unterbreiten haben, darunter die genaue Ermittelimg 
der Normalmasse des Zentimeters und des Millt 
meters durch den Direktor Benoüt und die Ent¬ 
deckung einer neuen Legierung von Eisen imd 
Nickel durch den Dr. Charles GuUlaume aus 
Neuchatel. Dieses neue Metall dehnt sich unter 
dem Einflüsse der Hitze weniger, als alle bis¬ 
herigen Legierungen. Dr. GuiUaume hat in den 
Eissen von Jmphy (Gesellschaft von Commentry- 
Fourchambault) eine Mischung von 36 Teilen Nickel 
und 64 Teilen Eisen bereiten lassen, deren Dehn¬ 
barkeit nur ein Zehntel von der des Platins beträgt 
Für Messungsapparate und Maschinen, die Tem¬ 
peraturwechseln ausgesetzt sind, ist die Entdeckung 
von höchstem Belang. 


Sprechsaal. 

Herrn Prof. M. S. in K. Das Heerwesen 
Griechenlands und der Türkei ist bereits im ersten 
Quartal (in No. ii) behandelt worden: „Änderungen 
und Fortschritte im Militärvi'escn“, II. Die Balkan- 
Staaten. Der Einzelpreis der Nummer beträgt 
40 Pfennig. 


Druckfehler, 

In No. 16 der „Umschau" ist auf S. 289 in 
dem Artikel „Jupiter" bei der kleinen Tabelle über 
die Rotationszeiten statt des Zeichens für Stunde h 
und des für Zeitsekunde s je das Zeichen für 
Bogensekunden " gesetzt worden. Eis muss also 
richtig heissen z. B,: 

—33® jovicentr. Breite 9h 56 m 24,58 
d. h. 9 Stunden 56 Minuten 24,5 Sekunden. 


No. 19 dtr Dmtchan wird enthaltcD: 

Schaefler, Die Entwicklung des Neugeborenen. — Änderungen 
und Fortschritte im MiliUrwesen, III. Russland. — Popp, Die 
Kunst auf der Strasse (das künstlerische Plakat). Illustriert. — 
Russner, Neues aus der Flugtechnik. — Nestler, Die giftigen 
Eigenschafteu des Oleanders, 


G. Horstmann's Druckerei. Frankfurt a. M. 


N 


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DIE UMSCHAU 

ÜBERSICHT ÜBER DIE FORTSCHRITTE UND BEWEGUNGEN AUF 
DEM GESAMTGEBIET DER WISSENSCHAFT, TECHNIK, 
LITTERATUR UND KUNST 

Preis vierteljährlich 

herauggcgeben voa 

DR. J. H. BECHHOLD 


Wöchentlich eine Nummer. 

Zu 'beziehen durch 
alle Buchhandlungen und 
Postanstaltcn. 

PostzeitungspreisHste No. 7331 a. 

V'erlag von: 

H. Bechhold Verlag, Frankfurt a. M. 


Neue Krame 19/ai. 


M. a.5a 

Jahres-Abonnement 
Preis M. 10.—. 

Im Ausland nach Cours. 
Verantwortlicher Redakteur: 

Otto Adolf Wolters, Fr ankf urt a. M. 


19. 1 . Jahrg. 


Naehdn4tk ata ätm Inhalt dtr Ztilachrifl ohm ErlaubnU 
«Ur Rtdaktion vtrboUn. 


1897. 8. Mai. 


Änderungen u. Fortschritte im Militärwesen. 

III. Russland. 

Auch in Russland ist die allgemeine Wehr¬ 
pflicht im Jahre 1874 eingeführt worden und 
hat dadurch Kaiser Alexander III. wie auf 
allen Gebieten, so auch bezüglich des Heer¬ 
wesens, bahnbrechend für sein mächtiges Reich 
die Grundlage für die weitere zeitgemässe 
Entwicklung geschaffen. Unter diesem Kaiser 
ist mit zäher Beharrlichkeit und grosser Um¬ 
sicht an der Reorganisation der Armee stetig 
gearbeitet worden, sodass jetzt dieselbe sowohl 
nach ihrer Organisation, wie auch in Betreff 
der Mobilisierung, auf der Höhe der Zeit 
steht. — 

Der Zusammensetzung des Reichs, bezw. 
seiner Einwohner entsprechend, haben wir 
innerhalb des Heeres 2 Hauptgruppen zu 
unterscheiden: 

1. das reguläre Heer, bestehend aus dem 
stehenden Heer und der Reichswehr, 

2. das Kosakenheer. ^ 

Die Wehrpflicht in dem ersteren erstreckt 
sich vom 21.—43. Lebensjahr, und zwar: im 
stehenden Heer 5 Jahre bei der Fahne, 13 
Jahre bei der Reserve, aus welcher der Wehr¬ 
pflichtige sodann Übertritt zur Reichswehr. 

Hiervon machen die Bevölkerungen einiger 
Gebiete (Transkaukasien u. s. w.) einige Aus¬ 
nahmen; in Finnland beträgt die Dienstzeit 
bei der Fahne nur 3, in der Reserve 2 Jahre. 

Die Reichswehr in zwei Aufgebote; 

das erste, zu welchem die aus dem stehenden 
Heer Ausscheidenden, sowie die bei der Re¬ 
kruten-Aushebung nicht eingestellten, aber 
kriegsbrauchbaren Leute bis zum 43. Jahre 
zählen, dient zur Ergänzung undVerstärkung des 
stehenden Heeres; das zweite Aufgebot, welches 
aus den bei der Aushebung aus Familien- 
Rücksichten vom Friedensdienst befreiten und 
aus den nicht völlig kriegsbrauchbaren Mann¬ 
schaften besteht, wird ausschliesslich zur 

Umschau 1897. 


Bildung von Reichswehr-Truppenteilen als 
Besatzungstruppe verwendet. 

Das „Kosakenhe&c'* wird lediglich aus 
Kosaken gebildet; dasselbe ist jedoch, wie 
wir weiter unten sehen werden, kein in sich 
abgeschlossener Bestandteil der Gesamtarmee. 

Jeder wehrfähige Kosak ist von jeher 
entweder im „Dienststand'* oder in der 
„Heereswehr'*. 

Der Kosaken-Dienststand umfasst 3 Kate¬ 
gorien : 

1) die vorbereitende Dienstzeit: vom 18. Jahre 
ab =a 3 Jahre; 

2) die Front-Dienstzeit in 3 Aufgeboten zu 
je 4 Jahren =12 Jahre; 

3) die Ersatz-Dienstzeit, keine Dienst- und 
Übungsverpflichtung = 5 Jahre, 

im Ganzen 20 Jahre. 

Zur „Heereswehr'* gehören alle wehr¬ 
fähigen Kosaken ohne Altersunterschied und 
-Grenze, die nicht beim „Dienststand“ sich 
befinden. — 

Da die jährliche Rekruten-Einstellung in 
das Gesamtheer ca. 250 000 Mann beträgt, 
die Zahl der Gestellungspflichtigen aber 
zwischen 7—800000 Mann schwankt, so kann 
naturgemäss die im Grundsatz eingeführte 
allgemeine Wehrpflicht nicht streng durch¬ 
geführt werden. Es werden daher teils Mann¬ 
schaften über die etatsmässige Friedensstärke 
eingestellt, (an der Westgrenze, im Kaukasus, 
in Asien wird der Normaletat oft bis zur 
völligen Kriegsstärke überschritten) und vor¬ 
zeitig, — oft schon nach 9 Monaten — wieder 
entlassen, teils finden Familien-Verhältnisse 
durch Dienstbefreiung die ausgedehntesten 
Berücksichtigungen. Ferner sind einzelne 
Berufsstände, wie Geistliche, Lehrer, Arzte, 
im Frieden ganz dienstfrei und die gebildeten 
Klassen geniessen je nach dem Grade ihrer 
Bildungsstufe, d. h. je nach dem Besuch von 
Lehranstalten, den Vorteil wesentlich abge¬ 
kürzter Dien.stzeit (2 —4 Jahre bei der Fahne, 

<9 


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328 


Aenderüngen und Fortschritte im Militärwesen. 


14 — 16 Jahre bei der Reserve), sofern sie 
nicht als Einjclhrig* oder Zweijährig-Freiwillige 
eingetreten sind; die beiden letzteren Kate¬ 
gorien haben sich nur bei der Garde und der 
Kavallerie selbst zu unterhalten; die Wahl 
des Truppenteils steht ihnen frei, in der Re¬ 
serve haben sie nur 2 Jahre zu dienen. 

Der Kriegsminister hat einerseits das Recht, 
Mannschaften bis zu Jahr über die gesetz¬ 
liche Dienstzeit bei der Fahne zu behalten, 
wenn es geboten erscheint, andererseits aber 
auch nach eigenem Ermessen zur Reserve zu 
beurlauben, vor der Beendigung der gesetz- 
massigen Dienstverpflichtung. 

Die Reservisten des stehenden Heeres, 
sowie das i. Aufgebot der Reichswehr werden 
zu Übungen eingezogen; erstere insbesonders 
auch bei Mobilisierungs-Versuchen, welche 
neuerdings in ausgedehntem Masse abgehalten 
werden. 

Die Aushebungs-, Ersatz- und Mobil¬ 
machungs-Angelegenheiten werden durch die 
„Kreistruppenchefs-Verwaltungen“ (Landwehr- 
bezirks-Kommandos) wahrgenommen, welche 
den „Lokal-Brigaden“ als Aufsichtsbehörden 
unterstellt sind. Sämtliche Truppenteile er¬ 
gänzen sich aus einer grossen Zahl von 
Kreisen verschiedener Gouvernements, doch 
erhalten fast immer dieselben Truppen aus 
denselben Kreisen ihren Ersatz, und zwar zu 
ca. */4 Russen und ca. Nichtrussen (Polen 
u. s. w.) Die Einstellung der Rekruten er¬ 
folgt vom Dezember bis Februar, bei den in 
der regulären Armee befindlichen Kosaken- 
Regimentern oft erst bis zum April. Die 
Entlassung findet meist nach den Lager- 
Obungen bezw. den Manövern statt, indessen 
werden in den Grenzbezirken, oder sonst im 
Interesse des Dienstes, die ausgedienten Mann¬ 
schaften oft noch während der Rekruten- 
Ausbildung zurQckbehalten. 

Die oberste territoriale Behörde ist der 
„Militär'Bezirk". Das ganze Reich ist in 
13 solcher Bezirke, welche ein oder mehrere 
Gouvernements umfassen, eingeteilt; der 
Oberbefehlshaber des Militär-Bezirks ver¬ 
einigt in sich auch die höchsten Machtbefug¬ 
nisse in jeder Richtung bezügl. der in seinem 
Bezirk befindlichen 'I'ruppen und entspricht 
somit dem deutschen Kommandierenden Ge¬ 
neral, w’ährend das russische Armeekorps eine 
reine taktische Einheit darstellt, dessen Kom¬ 
mandant nur Befehlshaber der ihm unter¬ 
gebenen Feldtruppen unter unmittelbarem 
Befehl des Oberbefehlshabers des Militär- 
Bezirks ist. Da den Militär-Bezirken ein 
„Bezirksrat'V -Stab“ und -Intendantur", sowie 
verschiedene Spezial-Verwaltungen beigegeben 
sind, so erscheinen sie gleichsam als Filialen 
cl( s Kriegsministeriums, ln territorialer Be- 


j Ziehung sind dem Militärbezirk unmittelbar 
I die „Lokalbrigaden" unterstellt, welchen im 
Krieg und Frieden über alle nicht anderen 
höheren Verbänden angehörenden Reserve-, 
Ersatz- und Lokal-Truppen Befehlsbefugnis 
zusteht. — Das Armeekorps umfasst nur In¬ 
fanterie, Kavallerie (in einer Division) und 
I Feld-Artillerie {2 Brigaden zu je 6 Batterien), 
alle übrigen Waffengattungen befinden sich 
ausserhalb des Korpsverbandes; eine eigene 
Intendantur ist demselben auch erst seit 
: Kurzem beigegeben worden (noch nicht überall 
durchgefOhrt). 

Von den Truppen“ bestanden 

früher nur Regiments- und Bataillons-Kadres; 

; seit einigen Jahren werden aber nach und 
nach vollständige Reserve-Regimenter gebildet 
und in Brigaden zusammengestellt. Da die 
Stäbe der letzteren den Etat eines Divisions¬ 
stabes haben, so können aus den Brigaden 
im Kriegsfall sofort Divisionen entstehen unter 
Beigabe der nötigen Artillerie aus den Reserve- 
Artillerie-Brigaden. Die hiernach aufgestellten 
Reserve - Divisionen 1 . Ordnung werden 
der Feld-Armee beigegeben, diejenigen der 
11 . Ordnung, weniger leistungsfähig, kommen 
in zweiter Linie zur Verwendung. — Als 
besondere Truppenformation sind die Be- 
i'<7/^««^struppen zu erwähnen. Es sind dies 
eine Anzahl von selbständigen Infanterie- und 
Artilletie-Bataillonen. welche nach den Fes- 
; tungen benannt werden, deren ständige Be- 
j Satzung sie im Frieden wie im Kriege aus¬ 
machen. — 

Wie in Frankreich, so wird auch in 
Russland die Ausbildung und Benutzung der 
Grenzwachen als Feldtruppen angestrebt; in 
Europa beträgt ihre Stärke in 24 Brigaden 
formiert ca. 15P00 Mann zu Fuss und 10000 
Mann zu Pferd. — 

Bei der Mobilisierung schliesst sich die 
Gliederung der Armee derjenigen im Frieden 
zu 22 Armeekorps (i Garde-, i Grenadier-, 
I Kaukasus- und 19 Armee-Korps) vollständig 
an. Die Divisionen, welche im Frieden keine 
Kavallerie haben, erhalten Kosaken i. und 
2. Aufgebots; technische Truppen, zu welchen 
die Sappeur-, Pontonnier-, Eisenbahn-Batail¬ 
lone, die Telegraphen- und Luftschiffer-Ab¬ 
teilungen, die Fluss- und Festungsminen- 
Kompagnien zählen, werden nach Bedarf 
zugeteilt, ebenso der in „Kriegs"- und „ge¬ 
mietete Transporte" zerfallende Train. Die 
Mobilisierung des letzteren, welcher zum 
grossen Teil erst neu gebildet wird, wird 
sich wohl als eine schwache Seite erweisen. 
Im Frieden bestehen nur 5 Kadre-Train- 
Bataillone, von denen jedes bei der Mobil¬ 
machung mindestens 4 neue zu formieren hat. 
Die „Kriegstransporte'' entnehmen die Offiziere 


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Aenderungen und Fortschritte im Militärwesen. 


329 


und Mannschaften aus den mobilisierten Train- 
Bataillonen; bei den gemieteten, aber militärisch 
organisierten Transporten werden die Mann¬ 
schaften aus der Zivil-Bevölkerung genommen. 
Ausserdem werden noch Transporte aufgestellt, 
welche vollständig, auch bezüglich der Ver¬ 
pflegung von Unternehmern übernommen 
werden. 

Von besonderem Interesse dürfte die Ein¬ 
richtung der Äosö^^w-Heere sein und wollen 
wir daher noch etwas näher auf sie eingehen. 

Je nach ihren Wohnbezirken werden sie 
Don-Ural-Sibirische-Amur- u. s. w. Kosaken- 
Heer bekannt, als deren Oberbefehlshaber der 
jeweilige Grossftirst-Thronfolger gilt, er hat 
den Titel „Ataman sämtlicher Kosaken-Heere“; 
an der Spitze jedes einzelnen Heers steht 
der Hetman, sehr oft gleichzeitig der Ober¬ 
befehlshaber des Militär-Bezirks, in welchem 
die betreffenden Kosaken wohnen. Jedes 
Kosaken-Gebiet ist in Bezirke eingeteilt, deren 
Vorsteher die Kontrole über alle nicht im 
Dienst befindlichen Kosaken auszuftJhren haben. 
Die Kosaken — fast sämtlich Reiter — müssen 
sich selbst beritten machen, bekleiden und 
ausrüsten, nur Gewehre und Revolver erhalten 
sie vom Staat. 

In der Vorbereitungs-Kategorie befinden 
sich durchschnittlich 65000 Mann; im ersten 
Jahre beschaffen sie ihre Ausrüstung, im 
2. und 3. Jahre werden sie in ihren Heimats¬ 
orten zum Frontdienst vorbereitet. 

Die Front-Kategorie zählt gegen 200000 
Mann. Die Kosaken des i. Aufgebots stehen 
für . sich oder mit Truppen des stehenden 
Heeres zu grösseren Verbänden vereinigt, 
entweder in europäischen Garnisonen oder 
an den Grenzen Asiens. Die Kosaken des 
2. und 3. Aufgebots sind beurlaubt, müssen 
aber in ihrem Wohnort die gesamte Bewaff¬ 
nung, Bekleidung und Ausrüstung, beim 
2. Aufgebot auch die Pferde bereit halten und 
werden zur Übung einberufen. 

Die Ersatz-Kategorie ist zwar nicht Obungs- 
pflichtig, muss jedoch dienstbrauchbare Waffen 
und Sättel im Besitz haben. Die Ausbildung 
der Kosaken und ihre Verwendbarkeit ent¬ 
spricht etwa derjenigen der übrigen Truppen; 
dadurch, dass auch sie sesshafter geworden 
sind und sich ihr Pferdematerial nicht un¬ 
erheblich verschlechtert hat, haben sie an 
ihren früheren hervorstechenden Kriegseigen¬ 
schaften nicht unwesentlich eingebüsst. Der 
Eindruck, den ein Kosakentrupp in einer 
europäischen Garnison macht, ist allerdings 
gerade kein sehr günstiger für ein deutsches 
Militär-Auge: es herrscht Unordnung bei ihnen, 
sie starren mit ihren Pferden vor Schmutz, 
Waffen und Zaumzeug sind nichts weniger 
wie blank. Indessen scheinen sclb.st die weit 


in Asien entfernten Kosaken-Heere die Zu¬ 
friedenheit der dortigen Befehlshaber zu er¬ 
langen, wenigstens liegen Äusserungen des 
Militär-Befehlshabers des Amur-Gebietes vor, 
wonach er in seinen Erwartungen übertroffen 
worden wäre, die Kasernen wären in schönster 
Ordnung vorgefunden worden, das 2. und 3. 
Aufgebot der Kosaken wäre mit Pferden, 
Waffen und sonstiger Ausrüstung gut versehen 
und ausgebildet gewesen. 

Wie schon erwähnt, beträgt die Friedens- 
Sollstärke des russischen Heeres zwischen 
8 — 900000 Mann. Da aber fortwährend neue 
Truppenteile formiert werden, viele Etats die 
Friedensstärke weit überschreiten, so dürfte 
man wohl nicht fehlgehen, wenn man die 
unter der Fahne befindlichen Truppen auf 
ca. I Million berechnet. 

Wie hei den vorhergehenden Betrachtungen, 
mögen auch für Russland über die Zusammen¬ 
setzung seines Heeres einige Angaben folgen: 

Feld-Infanterie: 

193 Feld-Regimenter zu 4 Bataillonen; 

36 Reserve-Regimenter 2 Bataillone u. noch 
eine beträchtliche Zahl von Reserve- 
Bataillonen ; 

24 Schützen-Regimenter zu 2 Bataillonen und 
noch eine Anzahl selbständiger Schützen- 
Bataillone; 

31 Bataillone Festungs-Infanterie. 

Kavallerie: 

60 Garde- u. Armee-Regimenter, \i. Divisionen 

34 Kosaken-Regimenter, / vereinigt. 

Ausserdem nicht im Divisions-Verband und in 
Asien eine grosse Zahl von Kosaken-Regim. 

Artillerie (ausschl. Asien): 

349 fahrende Feld-Batterien zu 8 Geschützen, 

37 „ Reserve-Batterien, 

44 reitende Batterien. 

Technische Truppen (ausschl. Asien): 

21 Europäische Sappeur-Bataillone, 

4 „ Eisenbahn-Bataillone, 

Festungs-, Flussminen-, Luftschiffer-Abteilungn. 

Train: 5 Bataillone. 

Die Gesamt-Krit^gsstärke an Feld-, Reserve-, 
Ersatz- und Besatzungstruppen, an Reichs¬ 
und Heereswehr wird sich, soweit bei dem 
ungeheuren Reich Oberhaupt eine annähernde 
Berechnung möglich ist, auf 31^ — 4 Millionen 
belaufen. 

Wenn — wie wir später sehen werden, — 
Frankreich etwa dieselbe Zahl aufbringt, so 
ist dabei zu beachten, dass dort jeder waffen- 
pflichtige Mann berechnet ist, in Russland aber 
ein grosser Prozentsatz als dienstfrei aus der 
Berechnung ausscheidet. 

Das lyerdc-Material ist in Russland zwar 
ausserordentlich reichlich vorhanden, seine 
Güte lässt aber sehr zu wünschen übrig, da 

19 * 


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330 


Aenderungen und Fortschritte im Militärwesen. 


die hauptsächlich in Betracht kommenden 
Steppenrassen klein, plump, von mangelhafter 
Kopf- und Halsbildung sind, dabei allerdings 
sehr ausdauernd und gegen Witterung, sowie 
schlechte Pflege unempfindlich. Diejetzt hervor¬ 
tretenden Bestrebungen, die Pferdezucht zu 
heben, dürften diesem Übelstande noch lange 
nicht abgeholfen haben. Die besseren Pferde 
stellen sich ftlr die Ankaufs-Offiziere, welchen 
nur eine gewisse Pausch-Summe zur Verfügung 
steht, zu teuer, da diese Offiziere auf eigene 
Verantwortung kaufen und die als unbrauch¬ 
bar von den Kommissionen zurückgewiesenen 
Pferde durch neue ersetzen müssen. 

Die Rechtspflege wird ausgeübt durch 
Regiments- und Militär-Bezirks-Gerichte und 
als oberste Instanz durch das Hauptmilitär- 
Gericht in Petersburg. Die Regimentsgerichte 
sind entsprechend den deutschen Regiments- 
Standgerichten , nur sind die Offiziere als 
Richter auf Vi~2 Jahre ständig kommandiert. 

Bei Bezirksgerichten sind die Richter teils 
ständig, teils auf V, Jahr kommandierte Offi¬ 
ziere und Militär-Prokuratoren; die Gerichts¬ 
verhandlungen sind mit einigen Ausnahmen 
öffentlich, der Angeklagte verteidigt sich selbst 
oder wählt einen Verteidiger. 

Wie in Frankreich, so ist auch in Russ¬ 
land der Unteroffizier- und Offizier-Ersatz fllr 
die Beurteilung des inneren Wertes der Armee 
von hervorragender Bedeutung. Auch hier 
tritt uns dieselbe Erscheinung wie in Frank¬ 
reich entgegen; wenig Neigung der Unter¬ 
offiziere bei der Fahne zu bleiben, daher sind 
wenig diensterfahrene Unteroffiziere vorhanden 
und die jüngeren derselben, welche sich meist 
noch in der Ausübung ihrer aktiven Dienst¬ 
pflicht befinden, haben den gleichalterigen Ge¬ 
meinen gegenüber wenig Autorität. In Folge 
der fortwährenden Truppenvermehrungen und 
der wachsenden Ausbildungsschwierigkeiten des 
Soldaten der Neuzeit, macht sich dieser Übel¬ 
stand um so fühlbarer, als die Schulbildung 
der Unteroffiziere selbst, wie auch bei der 
Mehrzahl der Mannschaften eine höchst mangel¬ 
hafte ist, sodass sogar die nötigen Schreiber 
in Schulen bei besonders bestimmten Reserve- 
Bataillonen ausgebildet werden müssen; ander¬ 
seits ist allerdings der russische Soldat ein 
äusserst genügsamer, williger, blind gehorchen¬ 
der und anhänglicher Untergebener. Die 
Unteroffiziere werden eingeteilt in „jüngere“ 
und „ältere“. Auch der russische Unteroffizier, 
ja sogar der dienstälteste Gemeine besitzt 
Disziplinar-Strafgewalt (Kasernen-Arrest und 
Strafdienst). Je ungebildeter der mit Straf¬ 
befugnis ausgerüstete Vorgesetzte ist, desto 
zweischneidiger ist dies Mittel zur Aufrecht¬ 
erhaltung der Disziplin. 

Das Offizierkorps ist — wie in Frankreich — 


in keiner Weise ein einheitliches. Nach der 
Vorbildung sind 2 grosse Gruppen zu unter¬ 
scheiden : Offiziere, die aus den Kriegsschulen, 
und solche, die aus den Junkerschulen her¬ 
vorgehen ; erstere, meist aus Kadettenschulen 
stammend, besitzen eine bessere militärische 
und wissenschaftliche Bildung, \vie die letzteren, 
welche sich aus freiwilligen und aus ausge¬ 
hobenen Mannschaften ergänzen. Hieraus 
ergeben sich für das russische Offizierkorps 
dieselben Nachteile, v{ie wir sie demnächst beim 
französischen kennen lernen werden: wenig 
Kameradschaft, kein Korpsgeist, kein gegen¬ 
seitiges Vertrauen, dagegen egoistisches 
Strebertum — junge Offiziere in hohen Stel¬ 
lungen, altersergraute „Inhaber* unterer 
Chargen! Neigung zur wissenschaftlichen Fort¬ 
bildung scheint wenig vorhandeh zu sein. 
Zwar ist von Oben angeordnet, dass wöchent¬ 
lich bei den Offizierkorps Vorträge und Kriegs¬ 
spiele stattfinden sollen, indessen vermögen, 
ausser den Generalstabsoffizieren, nur aus¬ 
nahmsweise Offiziere selbständige Vorträge 
zu halten, es werden daher meist nur Regle¬ 
ments vorgelesen, ^ur Leitung von Kriegs¬ 
spielen fehlt aber das Verständnis — so 
verwandelt sich der wissenschaftliche Abend 
sehr bald in ein gemeinsames Abendessen 1 
— Aus dem eigenen Urteil eines russischen 
Generals erfahren wir, dass der Regiments- 
Kommandeur oft kaum die Karte lesen kann, 
dass der Brigade-Kommandeur seinen Posten 
als Ruhestellung betrachtet, in der das Alte 
vergessen und nichts Neues 'gelernt wird. Ja 
selbst der Rubel soll auch hier seine sonst 
so bekannte Rolle spielen. So wird behauptet, 
dass die Soldaten nur deshalb in den schmutzig¬ 
grauen Mänteln zu allen Jahreszeiten einher¬ 
gehen, weil ihnen der Regimentskommandeur 
nicht die zustehenden Kleidungsstücke liefert, 
und dass stets ein grosser Teil der Mann¬ 
schaften beurlaubt wird, um aus dem verdienten 
Lohn einen gewissen Teil abzugeben. Ferner 
soll es offenes Geheimnis sein, dass bei den 
grossen Festen der Millionäre — und deren 
giebt es viele in Russland, — militärische 
Excellenzen für die Stelle eines „Hausfreunds* 
schon um 100 Rubel zur Erhöhung des Fest¬ 
glanzes zu haben sind! Natürlich ist unter 
solchen Umständen auch die gesellschaftliche 
Stellung der russischen Offiziere im Allge¬ 
meinen keine sehr geachtete. — Da bei 
Nichtbeförderung in derselben Charge weiter 
gedient werden kann, ein Kapitain erst mit 
55 Jahren verabschiedet wird, die Generale 
keine Altersgrenze haben, so sind die Avance¬ 
ments-Verhältnisse sehr schlecht, ein Vorwärts¬ 
kommen ist daher fast nur durch Beförderung 
„in Auszeichnung“ möglich. 

Die Generale bleiben so lange wie irgend 


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Aenderungen und Fortschritte im Militärwesen. 


331 


möglich in ihren Stellungen — es giebt Bri¬ 
gade-Kommandeure mit 70 Jahren! Dies ist 
auch der Grund, weshalb sich ein grosser 
Teil der Generale von den „beweglichen" 
Manövern (d. h. in unbekanntem Gelände), 
zu drücken sucht und einfach in den im Som¬ 
mer bezogenen Lagern verbleibt; auch eine 
Menge älterer Stabsoffiziere schliesst sich 
diesem Verfahren an — wohl aus Furcht vor 
dem „unbekannten" Gelände. 

Die Reserve ergänzen sich aus 
den ehemaligen Offizieren des aktiven Dienst¬ 
standes und aus freiwilligen bezw. ausgehobenen 
Mannschaften der ersten Bildungsstufe nach 
einem praktischen Examen. Bei der Qualität 
der ersteren und dem geringen Zudrang der 
letzteren, welche überdies bei der Truppe für 
ihre künftige Stellung ganz ungenügend vor¬ 
bereitet werden, kann man gerade keinen sehr 
günstigen Schluss auf iliren Wert ziehen. Die 
Reserve-Offiziere gehören nicht bestimmten 
Truppenteilen an; die Kreistruppenchefs haben 
die Kontrolle über sie zu führen. 

Bezüglich der Disziplinär-Strafgewalt ist 
noch hervorzuheben, dass gegen Soldaten der 
Strafklasse als Strafe Rutenhiebe verhängt 
werden können (vom Kompagnie-Kommandant 
15, vom Oberst 50). Auch ist charakteristisch, 
dass wenn auf eine eingereichte Beschwerde 
nach eip2ent Monat kein Bescheid erfolgt ist, ^ 
der Beschwerdeführer sich dann wegen Rechts¬ 
verweigerung von Neuem beschweren kann. 

In Beziehung auf die Ausbildung zerfällt 
der Dienst der Truppen in eine Winterperiode 
in der Garnison und in eine Sommerperiode 
in den Lagern (letztere im Allgemeinen vom 
I. Mai bis Mitte September). Der Winter¬ 
dienst in den Garnisonen lässt zur eigent¬ 
lichen Ausbildung und zu Übungen wenig 
Zeit übrig, wie überhaupt der innere Dienst 
die Mannschaften vielfach in Anspruch zu 
nehmen scheint. Ein russischer General schreibt 
hierüber: „Bei uns wird der Soldat eigentlich 
nur 4 Monate ausgebildet (während der Re¬ 
krutenzeit); die übrigen 3^2 Jahre machen 
die nötigen inneren Dienstleistungen und Ab¬ 
kommandierungen die systematische Weiter¬ 
bildung zu einer rein zufälligen“. 

An den Aufenthalt in den Lagern schliessen 
sich die „beweglichen Manöver“ in unbekann¬ 
tem Gelände an; hierbei werden oft sehr 
grosse Massen konzentriert, namentlich in 
den westlichen Militärbezirken; die Truppen¬ 
teile werden durch Einziehung von Reserven 
vielfach auf Kriegsstärke gebracht. — Da die 
Mehrzahl der Leute zur Verwendung ausser¬ 
halb der geschlossenen Truppe nicht geeignet 
sind, so wurden „Jagd-Kommandos" geschaf¬ 
fen : 20 der besten und findigsten Leute der 


Kompagnie (ähnlich auch bei der Kavallerie) 
werden als besonderes Kommando zur Aus¬ 
führung von Erkundungs- und Verbindungs- 
Patrouillen oder von sonstigen besonders schwie¬ 
rigen Aufträgen ausgebildet. Der Name „Jagd- 
Kommando" kommt wohl daher, dass die¬ 
selben zur Stärkung ihrer körperlichen und 
Charakter-Eigenschaften einerseits, anderer¬ 
seits aber auch zur Sicherung des Landes bei 
sich bietender Gelegenheit zu Jagden auf 
Bären, Tiger und sonstige wilde Tiere her- 
ange2;ogen werden. Neuerdings werden diese 
Leute auch als Radfahrer ausgebildet, und 
ein Teil davon als „berittene Ordonnanzen" 
zur Entlastung der Kavallerie (per Regiment 
ein Unteroffizier, 12 Mann), ausrangierte Ka¬ 
vallerie-Pferde dienen zu ihrer Berittenmach- 
ung. Als Notbehelf für mangelnde Kavallerie 
sollen diese berittenen Infanteristen, welche 
zu ihrer sonstigen Ausbildung noch reiten 
lernen müssen, gute Dienste geleistet haben. 

Wenn wir nun noch einen Blick auf die 
Dislozierung der russischen Armee werfen, 
so erkennen wir, dass die in einem Militär- 
Bezirk unter dem einheitlichen Befehl des 
schon im Frieden mit vollständigem Feldstab 
ausgerüsteten Oberbefehlshabers stehenden 
Truppen sich ohne Schwierigkeit zu Armeen 
zusammenschliessen können. Jedenfalls trifft 
dies 2u auf die westlichen Militär-Bezirke 
Wilna, Warschau und Kiew. Von diesen ist 
der weit in unsere Grenzen vorspringende 
Warschauer Bezirk für uns am wichtigsten. 
In demselben stehen ausser 5 vollen Armee¬ 
korps mit 5 Kavallerie-Divisionen und ent¬ 
sprechender Artillerie 2 Schützen - Brigaden 
(werden bei der Mobilmachung Divisionen) 
und ein unter einem besonderen Korpsführer 
vereinigtes selbständiges Kavallerie-Korps von 
j Divisionen. Diese grossartige Häufung von 
Kavallerie lässt wohl den Schluss zu, dass 
die auf Kriegsstärke befindlichen und alsbald 
zu verwendenden Reitermassen, vielleicht im 
Verein mit den Schützen-Divisionen, zur 
Überflutung unseres Grenzgebietes dienen 
sollen. Zur Bildung einer Reserve-Armee be¬ 
finden sich im Warschauer Bezirk drei eben¬ 
falls zu Divisionen sich erweiternde Reserve- 
Brigaden, so dass die Gesamtstärke der im 
Militärbezirk Warschau mobilisierten Truppen 
gegen 300,000 Mann betragen wird. Inwie¬ 
weit die vollständige Mobilisierung dieser be¬ 
deutenden Truppenmacht, welche sich aus dem 
Bezirk allein nicht zu ergänzen vermag, infolge 
derschlechtenWege-und Eisenbahn-Verbindun¬ 
gen sich verzögern wird, lässt sich natürlich 
nicht vorherbestimmen, jedenfalls steht in de¬ 
fensiver Hinsicht von vornherein in den west¬ 
lichen Grenzgebieten eine aussergewöhnlich 
hohe Zahl sofort oder sehr bald verwend- 


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332 


Lory, Die deutsche Verfassungsgescuichte der Gegenwart. 


barer Truppen der russischen Armceleitung 
zur Verfügung. l. 


Die deutsche Verfassungsgeschichte der 
Gegenwart. 

Von 'Kahl Lo b y. 

Man begreift die Gegenwart nur aus der 
Vergangenheit. Auch bei der vorliegenden 
Übersicht über den heutigen Stand der deut¬ 
schen Verfassungsgeschichte thut ein Rück¬ 
blick not. 

Ein sonst verdienter Mann, Justus 
Möser, ist es gewesen, der sich in den 
Tagen, da das klassische Altertum die grössten 
seiner Zeit- und Volksgenossen fast aus¬ 
schliesslich anzog, der deutschen Vorzeit zu¬ 
wandte und dieselbe mehr phantasierend als 
forschend mit jenem romantischen Flitter 
überkleisterte, der noch heutzutage in manchen 
Köpfen spukt, wenn von „Mittelalter“, „Ritter¬ 
tum“ und ähnlichen Dingen die Rede ist. 

Justus Möser hat mit gutgemeintem 
Patriotismus ein Phantasiebiid der deutschen 
Vorzeit geschaffen. Justus Möser gilt zugleich 
als der oder als einer der Begründer der 
deutschen Verfassungsgeschichte. Der Ein¬ 
geweihte erblickt darin einen tieferen inneren 
Zusammenhang: denn nachdem die exakte 
Forschung zwar der Phantasie die Flügel ge¬ 
stutzt, ist die Verfassungsgeschichte bald in 
Gefahr gekommen, von ihren nächsten An¬ 
verwandten, man darf wohl sagen: von ihren 
eigenen Kindern, verdrängt, verdunkelt, wenn 
nicht gänzlich erdrückt zu werden, so oder 
so — gesund war sie eigentlich während ihres 
ganzen bisherigen Lebens nur einmal, solange 
ihr nämlich der grosse fortwährend am 

Pulse fühlte. 

1844 erschien der erste Band seiner 
„deutschen Verfassungsgeschichte“, vierund¬ 
zwanzig Jahre später der letzte. Bis in die 
neueste Zeit immer wieder in ihren Teilen 
neu aufgelegt, ist ihr Einfluss noch immer 
massgebend -- vielleicht ist es diesem Ein¬ 
fluss überhaupt zu danken, dass man heutzu¬ 
tage noch von einer „Verfassungsgeschichte“ 
spricht. 

Mit sicherer Hand wies Waitz dem Wirt¬ 
schafts- und Rechtsleben den ihnen gebühren¬ 
den Platz zu, das erstere als die nicht zu 
umgehende Grundlage, das letztere meist nur 
als Appendix zur Vervollständigung des ge¬ 
gebenen Bildes behandelnd. Vor allem be¬ 
mühte er sich, nie zu vergessen, dass er 
Geschichte schreibe: über die Trümmer 
der Vorzeit und der Völkerwanderung führt 
er den Leser zum Königtum der Merowinger 


und Karolinger, aus dessen Ruinen das deutsche 
Reich ersteht; das Werk schliesst mit dem 
Anheben der zweiten grossen Epoche des 
Mittelalters, mit dem Übergang der wichtigsten 
Rechte des Reiches und des Königs an die 
Territorialfürsten. 

Man sollte nun glauben, dass die Forsch¬ 
ung da angeknüpft hätte, wo Waitz zeitlich 
aufgehört hatte. Vorerst geschah dies jedoch 
in nur geringem Masse; vor allem regte sich 
— als ganz natürliche Reaktion gegen die ge¬ 
waltige darstellende Thätigkeit von Waitz, — 
die Quellenforschung mächtig aufs neue. Auch 
fremde Einflüsse waren dabei mit im Spiel: 
der Einfluss der „Revue historique“ und vor 
allem der „Ecole des chartes“ in Frankreich, 
und jener der Ausgabe der schwedischen 
Gesetze (corp. Jur. Sveo-Gothor. antiqui.) in 
Schweden; leider erwmchs der Verfassungs¬ 
geschichte daraus zugleich eine nicht unbe¬ 
deutende Gefahr: die Arbeiten der Ecole des 
chartes förderten vor allem auch die Diplo¬ 
matik, und durch den Einfluss der schwedischen 
Gesetzesausgaben wurde das Studium der alten 
Rechtsbücher, besonders des Sachsenspiegels 
und der Lex Salica, mächtig angeregt, welches 
der Rcchtsgeschichte mehr von Nutzen wurde, 
als der Verftissungsgeschichte. 

Zugleich wurde, ebenfalls auf Kosten der 
letzteren, die Wirtschaftsgeschichte gross. 
Gerade damals, als Waitz den achten Band 
abschloss, trat Inama-Sternegg mit seinen 
Studien über das deutsche Wirtschaftswesen 
in der ältesten und Karolingerzeit hervor; 
seine Arbeiten ergänzten also jene von Waitz 
nach der wirtschaftlichen Seite hin und sicher¬ 
lich haben sie die Verfassungsgeschichte um 
ein bedeutendes gefördert. Aber für viele 
verwischten sich nun auch die Grenzen zwischen 
ihr und der Wirtschaftsgeschichte, und je 
riesiger die letztere anwuchs — auf ihre Seite 
schlugen sich ja schon sehr bald Lamprecht 
und zahlreiche andereum so dürftiger wurden 
die Arbeiten, die sich speziell noch mit der 
ersteren beschäftigten. Bücher wie Wein- 
holds „Deutsche Frauen im Mittelalter“, 
damals nach dreissig Jahren neu aufgelegt und 
der Anstoss zu einer Hochflut von Arbeiten 
über Frauentum und seine Geschichte ge¬ 
worden, wie Ratzel’s „Völkerkunde“, deren 
Einfluss sich naturgemäss auf alle Zweige 
historischen Wissens erstreckte, förderten die 
wirtschaftliche Betrachtung, der auch der Zug 
der Zeit, selbst den untersten Schichten der 
menschlichen Gesellschaft wissenschaftlich wie 
künstlerisch gerecht zu werden, auf halbem 
Wege entgegenkam. Den Sklaven, den Un- 
und Halbfreien wandte sich die Forschung 
zu. Fast immer aber hielt sie sich hart an 
der Grenze zwischen Verfassungsgeschichte 


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Lory, Die deutschiü Verfassungsgeschichte der Gegenwart. 


333 


einerseits und Wirtschafts- oder Rechtsge¬ 
schichte andererseits. 

Herrschte auf diese Weise schon Ver¬ 
wirrung in vielen Punkten, so musste es Waitz 
auch noch erleben, dass seine eigene Forsch¬ 
ung und Forschungsmethode angegriffen wurde. 
Nachdem er ca. zwei Decennien unbestritten 
die Herrschaft geführt, trat ihm einer seiner 
eigenen Schüler, Sy bei, in seinem Buche 
über die Entstehung des deutschen Königtums 
heftig entgegen; i88i erschien das Werk in 
neuer Auflage. Sybeis Ansicht darf heut¬ 
zutage als überwundener’) Standpunkt gelten; 
schon 1883 meinte F. Dahn, dieselbe werde 
bereits von niemand anderem mehr gehalten, 
als von ihrem Urheber; jedenfalls aber hat 
sie diesen ihren Urheber zum berühmten Mann 
gemacht, und ausserdem die Thätigkeit auf 
dem Gebiete der Verfassungsgeschichte in eine 
ihrer Hauptrichtungen geführt, die Frage nach 
Entstehung und Stellung des mittelalterlichen 
deutschen Königtums. 

Sickel wandte sich gegen die Methode 
von Waitz; er wollte der Konstruktion einen 
weit grösseren Spielraum eingeräumt wissen, 
die subjektive, vorgefasste Ansicht des For¬ 
schenden sollte gleichsam die Hauptsache 
werden, der die Quellen nur als Beweismaterial 
zu dienen hätten. Waitz wollte von solchen 
neuen Richtungen nichts wissen, die Ange¬ 
legenheit kostete viel Tinte; vielleicht aber hat 
F. Dahn damals das richtige Wort gesprochen, 
wenn er meinte, dass man bei der mangel¬ 
haften Überlieferung und bei der Lückenhaftig¬ 
keit der Quellen der Konstruktion nie ganz 
werde entbehren können, obwohl sie nie 
Hauptsache werden dürfe. Auf jeden Fall 
hat die Affaire Sickel contra Waitz manches 
zur Klärung der Verhältnisse beigetragen, in¬ 
dem sie einen der Hauptiinterschiede zwischen 
der Thätigkeit des Historikers und jener des 
Juristen darlegte; bei letzterem wird ja immer 
ein gewisser Formalismus, ein Streben nach 
Krystallisierung der geschichtlichen Erschein¬ 
ungen überwiegen, nach unserer Ansicht nicht 
das unbedeutendste Moment, durch welches 
sich die Rechtsgeschichte von der Verfassungs¬ 
geschichte unterscheidet. 

Zugleich trat in der Rechts- und vielfach 
auch in der Wirtschaftsgeschichte ein Um¬ 
schwung ein: von der Erforschung der Ver¬ 
gangenheit wandte man sich zur Betrachtung 
der Gegenwart, ebenso wurde — gegen Ende 
der achtziger Jahre — bei den bedeutendsten 
Rechtshistorikern (Amira, Siegel, Schröder) 
das Streben nach Zusammenfassung bemerkbar. 

’) Dagegen sind Sybcls Ausführungen über 
die auf dem Gesamteigentum beruhende Wirtschafts¬ 
verfassung der Urzeit nunmehr fast allgemein als 
gesichertes Resultat angenommen. 


Von ihren berufensten Vertretern (auf Seite 
der Nationalökonomie nennen wir nur neben 
Inama und Lamprecht Gothein und 
Roscher) nach allen Richtungen hin aus¬ 
gebaut und abgerundet, traten beide Disziplinen, 
beide eigentlich die Kinder der Verfassungs¬ 
geschichte, in das letzte Dezennium des Jahr¬ 
hunderts ein. 

Und die Verfassungsgeschichte selbst? 

Die Quellenarbeiten dauerten im allgemei¬ 
nen gleichmässig fort; so lange allerdings die 
Rechtshistorie dominierte (80er Jahre), be¬ 
schäftigte man sich hauptsächlich mft den alten 
Land- und Stadtrechten, in denen man die 
Vorläufer der späteren Gesetzgebung erkannte. 
Je mehr diese dann in unserem Jahrzehnt 
zurücktraten, um so stattlicher wurden die 
Bände der Hansa-Rezesse, Reichstagsakten, 
der Sammlung der eidgenössischen Abschiede 
u. s. w. Den Karlingischen Kapitularien und 
den alten Volksgesetzen wandte sich neuer¬ 
dings die gelehrte Forschung zu; die Ge¬ 
richtsurkunden der fränkischen Zeit wurden 
gesammelt. 

Daneben war es vor allem die durch Sybel 
angeregte Frage nach der Entstehung und 
Stellung des deutschen Königtums (s. o.), die 
immer und immer wieder die bedeutend¬ 
sten Historiker beschäftigte. Die Entstehung 
des Kurfürstenkoliegs wurde wiederholt unter¬ 
sucht, von Lamprecht, Tannert, Quidde u. a., 
zuletzt von Lindner (1893), zu dem Er¬ 
gebnis kam, dass bis 1275 die Entwicklung 
erst an der Schwelle der Bildung eines Wahl¬ 
fürstenkollegs angelangt war. Über Absetz¬ 
barkeit oder Nichtabsetzbarkeit des Königs 
(Weizsäcker), über Erblichkeit oder Wahl 
(v. Pflugk-Harttung), über die Kompetenzen 
des Königsstuhls zu Rense (Weizsäcker) wurde 
gehandelt. In allerjüngster Zeit scheint sich 
jedoch auch das Interesse für diese Frage 
verloren zu haben. 

Nur sporadisch beschäftigen sich daneben 
noch einige Forscher mit anderen Fragen der 
mittelalterlichen Reichsverfassung: unter ihnen 
dürfte G. Seeliger in Leipzig der frucht¬ 
barste sein (Hofmeisteramt, Reichskanzler und 
Reichskanzleien etc.), zugleich derjenige, wel¬ 
cher von der durch Sickel gewollten Kon¬ 
struktion am wenigsten wissen will. 

Andere, jüngere Richtungen sind es, in 
denen der Strom der Verfassungsgeschichte 
breiter flutet, wobei sich freilich seine Ge¬ 
wässer noch immer nicht selten recht bedenk¬ 
lich mit jenen der verwandten Disziplinen, 
der Wirtschafts- und Rechtsgeschichte, ver¬ 
mischen. Auf der einen Seite ist es die Frage 
nach der Entstehung, Ausbildung und Ver¬ 
fassung der Städte und des Städtewesens, die 
bereits seit den Tagen, da Waitz noch un- 


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334 


Lory, Die deutsche Verfassungsgeschicmte der Gegenwart. 


umschränkt dominierte, immer zahlreichere 
gelehrte Arbeiter in ihre Dienste zog und 
immer massenhafter werdende Litteratur pro¬ 
duzierte. Das Streben nach Abrundung und Zu¬ 
sammenfassung, das im Laufe der Zeit im¬ 
mer unabweisbarer hervortrat, hat viel dazu 
beigetragen, sich an die Städte, an die ein¬ 
zigen noch einigermassen abgeschlossenen 
Ganzen des mittelalterlichen Verfassungssys¬ 
tems, heranzumachen. Man begann mit den alt¬ 
berühmten Reichsstädten mit Augsburg, Strass¬ 
burg u. s. w. und endete mit Monographien 
über zahllose oft recht unbedeutende Städte, 
Städtchen und Dörfer, in denen meist Ver¬ 
waltung, Recht und Wirtschaftsleben kunter¬ 
bunt durcheinander gemengt sich findet, und 
wie uns noch der Beginn des laufenden Jahres 
solche in grosser Anzahl auf den Bücher¬ 
markt gebracht hat. 

Bei den Arbeiten über die Städte lassen 
sich abermals zwei hauptsächlich beachtete 
Gesichtspunkte unterscheiden: die einen (und 
nicht die weniger Bedeutenden) beschäftigen 
sich hauptsächlich mit der Frage nach der 
Entstehung der Städte an sich; wir möchten 
hier an die populäre Übersicht über die Ent¬ 
wicklung des Städtewesens erinnern, die Dahn 
und Lamprecht fast gleichzeitig (1883) gaben. 
In neuerer Zeit ist es besonders die Hypo¬ 
these, wonach die Stadtverfassung aus der 
Dorfverfassung hervorgegangen sein soll, 
welche die Federn in Bewegung setzte, und 
die trotz glänzender Arbeiten (z. B. von Below) 
noch immer als unerwiesen betrachtet wer¬ 
den muss. 

Hat uns das Jahr 1896 der Lösung dieser 
Frage leider nicht näher gebracht, so ver¬ 
danken wir einer Studie von Flemming über 
die Dresdener Innungen einen um so will¬ 
kommeneren Beitrag auf dem zweiten am 
meisten kultivierten Gebiet der Städtege¬ 
schichte, dem Zunft- und Innungswesen; un¬ 
ter der zahlreichen hierher gehörigen Litte¬ 
ratur namentlich der beiden vorausgegangenen 
Dezennien zeichnet sich die erwähnte Arbeit 
vor allem dadurch aus, dass sie über das 
Mittelalter hinaus bis ins 17. Jahrhundert her¬ 
absteigt, wie das bei einer verhältnismässig 
jungen Stadt ja eigentlich durch die Natur 
der Sache schon bedingt war. 

Das Hinausgehen über die Grenze des 
Mittelalters ist überhaupt zu gleicher Zeit der 
schwache und der starke Punkt der neueren 
deutschenVerfassungsgeschichte, Der schwache 
deshalb, weil die wuchtigsten und interessan¬ 
testen Institute der alten Reichsverfassungallem 
Anscheine nach endgültig ^darauf verzichten 
müssen, bis zu ihrem und des Reiches seligem 
Ende verfassungsgeschichtlich erforscht zu 
werden: der starke deshalb, weil gerade die 


wertvollsten und besten Arbeiten auf unserem 
Gebiete sich mit der Neuzeit befassen oder 
wenigstens auch befassen, aber leider zu¬ 
gleich fast ausschliesslich nur die Verfassung 
einzelner Provinzen und Territorien behan¬ 
deln. Diese Provinzial-Verfassungsgeschichten 
sind vielleicht der bedeutendste der neueren 
Zweige unserer Disziplin. Die Litteratur des 
abgelaufenen Jahres ftlhrt uns bei Betrachtung 
desselben in den äussersten Norden und Nord¬ 
osten des Reiches: das Herzogtum Pommern 
und das Bistum Dorpat haben den Mittel¬ 
punkt wertvoller Neuforschungen gebildet 
(vgl. Spahn, Verfassungs- und Wirtschafts¬ 
geschichte des Herzogtums Pommern; Gernet, 
Verfassungsgeschichte des Bistums Dorpat, 
in den Verhandl. d. gel. esthn. Gesellschaft.) 
Ein Blick in diese neueste Litteratur ist in 
vieler Beziehung lehrreich und interessant: 
welch ein Weg von der Verfassungsgeschichte 
vonWaitzzu diesen „Verfassungsgeschichten“ 
des scheidenden Jahrhunderts, welch ein Weg 
und — welch eine \Vandlung! 

Wenn wir nun noch das Werk von Leh¬ 
mann über das longobardische Lehenrecht 
und jenes von Mell über den steierischen 
Unterthanenverband anführen, so stehen wir 
schon hart an der Grenze gegen die Rechts¬ 
geschichte, die wir mit der Erwähnung von 
Werunskys „österreichischen Reichs- und 
Rechtsgeschichte" schon ebenso überschritten 
haben dürften, wie mit der Erwähnung von 
Wutkes „Studien über die Entwickelung des 
Bergregals in Schlesien" und Bachmanns 
„Lehrbuch der österreichischen Reichsge¬ 
schichte" jene der Wirtschafts- bez. der po¬ 
litischen Geschichte, obwohl natürlich hier 
wie dort auch die Verfassungsgeschichte nicht 
ganz leer ausgehen konnte. 

Auch die Neuauflage von G. L. Maurers 
1854 erschienenen „Einleitung zur Geschichte 
der Mark-, Hof-, Dorf- und Stadtverfassung 
und der öffentlichen Gewalt", welche uns das 
Jahr 1896 — allerdings ganz unverändert — 
gebracht hat, glauben wir nicht übergehen zu 
dürfen, desgleichen das Buch über „die Ju¬ 
dengemeinden des Mittelalters" von Nübling. 

Das Jahr 1897 brachte Quellenmaterial: 
„ausgewählte Urkunden zur brandenburgisch- 
preussischen Verfassungs- und Verwaltungs¬ 
geschichte" von Bernheim, und eine „Über¬ 
sicht über die Rechtsquellen des Kantons 
St. Gallen bis zum Jahr 1798" von GmOr. 

Wir haben weit ausgeholt, um den Leser 
bis zum Standpunkt von . heute zu führen; 
wir sahen aber kein anderes Mittel, um eben 
diesen heutigen Stand unserer Disziplin der 
glänzenden Vergangenheit gegenüber zu er¬ 
klären und — zu rechtfertigen. 

Zum Schlüsse erübrigt uns nur noch zu 


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SCHAEFFER, DeR EnI WICKLÜ.NGSGANC DES NEUGEBORENEN. 


335 


bemerken, dass wir es absichtlich vermieden 
haben, einer Kritik der einschlägigen Fach- 
litteratur irgendwie vorzugreifen, sowie den 
Wunsch auszusprechen, dass die Fülle inter¬ 
essanter Probleme, welche die spätere Reichs¬ 
verfassung fast Schritt für Schritt darbietet, 
recht bald und recht zahlreich zur Behand¬ 
lung reize. 


Der Entwicklungsgang des Neugeborenen 
und seine Abhängigkeit von der Lebensweise 

und Körperkonstitution der Eltern. 

Von Dr. OsKAK Schaefff.r. 

Der beste Massstab für das Gedeihen 
eines Säuglings ist die Bestimmung des Kör¬ 
pergewichtes. Das neugeborene Kind reprä¬ 
sentiert noch auf lange Zeit hinaus ein — 
besonders im Vergleich mit den Jungen der 
meisten Säugetiere — relativ „unfertiges“ 
Wesen. Seine Willensäusserungen und seine 
„Leistungen“ beschränken sich in den ersten 
Wochen ausschliesslich auf die Erfüllung und 
die Regulierung der vegetativen Funktionen; 
hierdurch erhalten die einzelnen Organe des 
Körpers die nötige Widerstands- und Spann¬ 
kraft, um — allmählich selbständig thätig wer¬ 
dend — nicht nur gegen die von Aussen 
andringenden schädlichen Einflüsse gewapp¬ 
net zu sein, sondern auch um durch eigene 
Beobachtungen, eigene Schlussfolgerungen 
zufolge der allmählich erworbenen Erfahr¬ 
ungen und endlich eigene, immer mehr zweck¬ 
mässig gestaltete Bewegungen und Hand¬ 
lungen in den Kampf um’s Dasein einzugrei¬ 
fen, also sich zu einem aktiven Individuum 
zu gestalten, dessen Existenz nicht mehr nur 
als eine behütete, geduldete anzusehen ist, 
sondern schon eine direckt aktiv beeinflus¬ 
sende, gestaltende, in einem gewissen Sinne 
fordernde und agressiv handelnde Stellung 
zur Umgebung, zur Aussenwelt einnimmt. 

Das Uebergangsstadium thut sich kund in 
dem Erwachen derjenigen Sinnesorgane (und 
zugehörigen Hirnregionen), welche auf das 
kindliche Vorstellungsvermögen durch lebhaf¬ 
tere Eindrücke wirken; es ist dies zunächst 
der Gesichts-, dann der Gehörssinn. Damit 
ist aber nicht gesagt, dass die Augennetz¬ 
haut, der Augennerv oder der Gehörsnerv 
mit den zugehörigen Apparaten in der Pau¬ 
kenhöhle dieses psychische „Erwachen“ gleich¬ 
sam hervorrufen. Die Beeinflussung dieser 
spezifischen nervösen Endorgane, welche wir 
als S\r\r\t%werkzeuge sehr geeignet bezeichnen, 
findet bereits vorher statt, auch funktionieren 
die hirnwärts leitenden Nervenstränge bereits, 
aber die zunächst zentralisierenden Hirnpar¬ 


tien sind noch .nicht im Stande, Eindrücke 
oder gar Vorstellungen zu produzieren; sie 
verhalten sich wie feuchtgewordenes Pulver 
beim Anlangen des Funkens der Zündschnur. 
Das cerebrale^) Sehen und Hören ist also 
noch nicht erwacht, — und ist es erst er¬ 
wacht, so knüpfen sich noch nicht sofort be¬ 
stimmte Vorstellungen daran: hierzu verhilft 
erst der wiederholte Eindruck, also die Er¬ 
fahrung. Diese Vorgänge, welche von den 
Sinnesbildern zur Bildung von Vorstellungen 
und weiterhin endlich durch Vergleichungen 
und Erfahrungen zu Reflexionen führen, spie¬ 
len sich bekanntlich in der Grosshirnrinde 
ab, dem graufarbigen, mit zahlreichen Fur¬ 
chen und Windungen ausgestatteten Mantel 
dieses Zentrainervenorganes. Diese Uneben¬ 
heiten der Hirnrinde sind bereits bei dem 
neugeborenen Kinde recht vollkommen ent¬ 
wickelt, aber einerseits noch nicht lange 

— der Beginn der „Modellierung“ der Ober¬ 
fläche datiert erst seit dem 2. bis 3. Monate 
vor der Geburt — und andererseits ist die 
„Substanz“ des Gehirnes, also die sowohl 
chemische wie morphologisch gewebliche Zu¬ 
sammensetzung desselben, eine noch unvol¬ 
lendete; während der Rauminhalt dieses Or¬ 
ganes in der foetalen Entwicklung *) mit den 
übrigen Organen und dem Gesamtkörper 
ziemlich gleichen Schritt hält, bleibt es an 
Gewicht hinter diesen zurück. Das spezifische 
Gewicht ist dementsprechend ein geringes, 

— ja, es ist sogar geringer als dasjenige des 
Blutes. Mithin ist das Gehirn des neugebo¬ 
renen Kindes wasserreicher als sein Blutl 
Dieses Verhältnis ändert sich im i. Lebens¬ 
jahre ziemlich rasch dadurch, dass das Ge¬ 
webe durch EinrOcken von nervösen Zell- 
und Faserelementen fester wird. Es ist leicht 
einzusehen, dass dieser Vorgang Hand in 
Hand geht mit der erwähnten Zunahme an 
Wahrnehmungs- und Vorstellungsfähigkeit. 
Die „Funktion und das anatomische Substrat“ 
bedingen eben auch hier einander wechsel¬ 
seitig so sehr, dass wir nicht das Eine oder 
das Andere als das Primäre, vielmehr Beide 
als untrennbar von einander zugleich ent¬ 
stehend, ansehen dürfen, gleichgiltig ob wir 
die Entwicklung bei dem einzelnen Indivi¬ 
duum (ontogenetisch), oder die Entstehung 
von „Organ und Funktion“ im Laufe der 
Zeit bei der ganzen Art und Gattung (phylo¬ 
genetisch) betrachten. 

An diesem einen Organe allein sehen wir 
schon, dass die Gewichtszunahme des Kindes 
nicht nur von seinem Wachstum, seinem 
CröÄsrrwerden als Solchem allein . abhängig 


*) Vom Gehirn abhängig. 

*) Vom 4. Monat bis zur Geburt. 


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336 


SCHAEFKEK, DeR ENTWICKLUNGSGANG DES NeUGEUORENEN. 


ist, sondern auch von dem /Vs/^rvverden der 
einzelnen Organe durch Einlagerung der für 
ihre spezifischen Funktionen bedeutsamen 
Gevvebselemente. Da aber — mit Ausnahme 
der Lungen — alle „vegetativen“ Organ¬ 
systeme bereits monatelang während dem 
foetalen Leben in Thätigkeit gesetzt sind 
(Herz und Gefässsystem, Leber mit Gallen¬ 
bildung, Nieren, ja sogar Magen und Darm, 
— der Foetus macht Schluckbewcgungen und 
Magen und Darm sondern VerdauungsflUssig- 
keiten ab), so finden wir dieselben auch bei 
dem Neugeborenen bereits in einer gewissen 
Vollendung vor, so dass sofort der wichtige 
Stoffwechselprozess beginnen kann. 

Zugleich mit dem Gehirn liegt während 
des foetalen Lebens auch die willkürliche 
Bewegung der Gliedmassen- und Rumpf- 
Muskulatur im Schlummer; freilich sind ja 
die sogenannten „Kindsbewegungen“ vom 
5. foetalen Monate ab leicht fühlbar, aber 
dieselben stellen erstens nur reflektorische 
Bewegungen dar, d. h. solche, die ohne ei¬ 
gentliche bewusste Vorstellung nur durch die 
Reflexzentren im Rückenmark ausgelöst wer¬ 
den, so dass sie keineswegs irgendwie „Zvveck- 
mässiger" Natur sind, - und zweitens wer¬ 
den dieselben mit nur scheinbar grösserer 
Kraft ausgeführt; in der That ist dieselbe 
sehr gering, da das Kind sich ja in einem 
mit wasserähnlicher Flüssigkeit von verhält¬ 
nismässig ziemlich hohem spezifischem Ge¬ 
wichte geftlllten Sacke befindet, mithin Rumpf 
und Glieder sich leicht bewegen, wie es das 
Dahingleiten des Schwimmenden oder des 
Badenden illustriert. 

Dementsprechend lassen sich auch an die¬ 
ser, unserem Willen unterworfenen Musku¬ 
latur mikroskopisch sowohl wie auch schon 
mit blossem Auge Unterschiede zwischen dem 
foetalen Aussehen und solchem nach mehr¬ 
tägigem Leben konstatieren. Die dem Wil¬ 
len unterworfenen Muskeln unserer Glied¬ 
massen unterscheiden sich von denjenigen 
Muskelfasern, welche in Speiseröhre, Magen, 
Darm, Luftröhre u. s. w. auch ohne Zuthun 
von selbst funktionieren und ebenso beim 
Foetus schon funktioniert haben, dass die 
letzteren unter dem Mikroskope im Wesent¬ 
lichen glatte Fasern darstellen, jene hin¬ 
gegen sowohl der Länge wie auch besonders 
der Quere nach gestreift sind, sodass beide 
Streifungen zusammen die ganzen Fasern wie 
mit feinen Quadraten bedeckt erscheinen las¬ 
sen, oder den Anschein erwecken, als seien 
die Fasern aus kleinen Würfeln aufgebaut 
(„Muskelkästchen“). Die gesättigt rote Farbe 
kräftiger Muskeln ist bekannt. 

Beim Foetus und beim Neugeborenen hin¬ 
gegen finden wir blasse Muskeln, welche auf 


elektrische Reizung hin sehr rasch ermüden, 
d. h. in Ermüdungskrampf verfallen, woraus 
es sich erklärt, dass Neugeborene so leicht 
„Krämpfe bekommen“. Registrieren wir die 
Leistung der Muskeln von Neugeborenen, 
so gleichen dieselben den ermüdeten Muskeln 
von Erwachsenen. Mikroskopisch lassen 
solche blassen Muskeln auf den ersten Blick 
deutlich nur die Querstreifung erkennen, 
während von Kindern, welche 5 —8 Tage ge¬ 
lebt haben, nicht nur die Muskeln eine tiefer 
rötliche Farbe haben, sondern auch sofort 
deutlich Längs- und Querstreifung erkennen 
lassen. Also auch hier eine rasch erfolgende 
chemische und physikalische Veränderung. 

Wie rasch die Imprägnierung des Ske¬ 
lettes mit' Kalksalzen vor sich geht, lässt sich 
aus der Umwandlung der bei der Geburt 
meist noch ziemlich leicht eindrückbaren Schä¬ 
delknochen in feste und dem, in anbetracht 
des bedeutenden Hirn- und Schädelwachstums, 
rasch erfolgenden Schlüsse der Nähte und 
Fontanellen‘) erkennen - andererseits aber 
auch daraus, dass bei ungenügender Nahr¬ 
ungs- bezw. Kalksalzzufuhr leicht die rhachi- 
tische Knochenerweichung der sogen, „eng¬ 
lischen Krankheit“ oder wenigstens eine ab¬ 
norm lange Verzögerung des Fontanellen¬ 
schlusses bis über das erste Jahr hinaus oder 
,,Pergamentknittern" der biegsam und beweg- 
, lieh gebliebenen Schädeldeckknochen ein- 
treten. 

Mit dieser stofflichen Konsolidierung sehen 
wir das Neugeborene in seinen ersten LebenS' 
Wochen ausschliesslich beschäftigt. Dasj enige 
Sinnesorgan, welches zuerst das Erwachen 
des geistigen Lebens erkennen lässt und be¬ 
fördert, ist der Gesichtssinn. Dieser Moment 
bahnt sich langsam heran und tritt nach in¬ 
dividueller Begabung, vor allem aber indivi¬ 
dueller Körper- und Gesundheiiskonstitution 
verschieden früh auf, etwa im zweiten Le¬ 
bensmonate. Die erste Wahrnehmung er¬ 
streckt sich auf auffallend helle Lichtscheinc, 
z. B. auf eine brennende Kerze; derartige 
Lichtreize im allgemeinen werden bereits so¬ 
fort nach der Geburt w’ahrgenommen. Der 
leuchtende Punkt wird von dem Auge em¬ 
pfunden, wenngleich es denselben weder nach 
Grösse, noch Entfernung oder gar seiner 
Form und Natur nach zu beurteilen versteht; 
die Augen sind auch noch gar nicht im Stande 
das Objekt zu fixieren; sie irren umher und 
bewegen sich unabhängig von einander. All¬ 
mählich aber gelingt die Fixation mit 4- 5 
Wochen; es fehlt jetzt noch die richtige 
Distanzschätzung, denn das Kind greift nach 
dem Licht, gleichgiltig ob cs ihm dicht vor- 

') Häutige Stellen am Schädel des Neugeborenen. 


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SciJAtFKER, Dük Entwicklungsgang des Neugeborenen. 


337 


gehalten wird oder irgendwo weitab in der 
Stube steht. Gegen Ende des zweiien Mo¬ 
nats beginnt das Kind Personen zu erkennen 
und vermag etnen Monat spater seine Mutter, 
bezw. Amme von Fremden zu unterscheiden; 
cs sieht befremdet den mit Brille bewehrten 
Arzt an und schaut sich hilfesuchend nach 
seinen wohlvertrautcn Pflegerinnen um, denen 
cs seine Sympathie mit dem Lächeln der 
Befriedigung und Freude bezeugt. Nach 4 
Monaten erfolgt die Unterscheidung der Farben. 

Das Hörverständnis erwacht freilich be¬ 
deutend später, und doch bezüglich feinerer 
Tonunterschiede nicht so spät, als im allge¬ 
meinen angenommen werden dürfte. Gehür- 
reize im allgemeinen werden vom 2. Lebens¬ 
lage an empfunden. Hörversuche mit dem 
Cri-Cri ergaben positive Resultate nach i bis 
12 Stunden bei ro Kindern, nach 12 bis 24 
Stunden bei 7 Kindern, nach 2 bis 4 Tagen 
zuerst bei 17 Kindern, nach 5 und mehr Ta¬ 
gen bei 16 Kindern; es besteht kein Unter¬ 
schied hierbei zwischen rechtzeitig und zu 
früh Geborenen. Mit sechs Monaten reagieren 
die Kinder auf einen langgezogenen anrufen¬ 
den Ton, wenn er nicht zu tief gewählt wird, 
meist mit einem ähnlichen Ton, und sie hal¬ 
ten diesen Ton fest, auch wenn die anrufende 
Stimme weiterhin höher oder tiefer wird. 
Anders bei Kindern im achten oder neunten 
Monate. Auch -sie reagieren.nach.mebrnia- 
ligem Anrufen fast mit genau demselben Tone. 
Steigt der Anruf um einen Ton höher, dann 
behalten sie den erst gerufenen tieferen Ton; 
steigt die anrufende Stimme aber im Drei¬ 
klang um zwei Töne in die Hölie, dann er¬ 
widern die Säuglinge denselben mit einem 
höheren Tone, den sie manchmal sogar bis 
auf wenige Schwingungen ganz richtig tref¬ 
fen. Jn dieser Weise steigen sie mit der 
anrufenden Stimme fast i '/s Oktaven. Im 
//. und J2. Monate erfasst das Gehör bereits 
Intervalle von einem Ton. Ausgesprochen 
lustige Melodien erregen weit mehr den Bei¬ 
fall der Kleinen; sie reagieren hierauf mit 
lebhaftem Gezappel, sogar wenn lebhafte T^nz- 
weisen z. B. bei einer Musikuhr zwischen 
anderen ernsteren Stücken eingeschoben wer¬ 
den, wo also das Ohr sich bereits an das 
Spielen der Dose gewöhnt hatte. 

Die oben angegebenen Termine für das 
Erwachen der bewussten Empfindungen der 
sinnlichen Wahrnehmungen, der bewussten 
Vorstellungen und endlich des bewussten Ge¬ 
dächtnisses sind recht verschieden, sobald es 
sich um kränkliche oder schwächliche Kinder 
handelt. Das ist aber aus dem Gesagten 
leicht begreiflich; die Stoffivechselleistungen 
sind bei solchen so ungenügend, dass die „ani¬ 
malischen“ Organsysteme ~ hier speziell das 


Gehirn — noch nicht in Stand gesetzt sind, 
die Eindrücke aufzunehmen oder zu willkür¬ 
lichen zweckmässigen Bewegungen weiter zu 
verarbeiten. Das Erwachen dieser Funktionen 
ist also weniger abhängig von einem bestimm¬ 
ten Lebensalter des Säuglings, als viel¬ 
mehr von einer bestimmten Energie des Gc- 
samtstoffwechsels und der hierdurch erreichten 
nötigen Substanzreife der einzelnen Organe. 

In den ersten LebensWochen vegetiert das 
Neugeborene also ausschliesslich unter dem 
„Zeichen des Stoffwechsels“; derselbe wird 
automatisch und unbewusst geregelt. Sobald 
das Kind geboren, beginnt cs von selbst 
Saug- und Schluckbewegungen auszuführen; 
es schluckt „leer“, d. h. Speichel. Diese 
Schluckbewegungen sowohl wie die Speichel¬ 
bildung entstammen bereits einem früheren 
foetalen Lebensalter.') Seine lebhaften Be¬ 
wegungen sind ebenfalls unbewusster Natur; 
diese Reflexauslösungen vollziehen sich in 
den Rückenmarkszentren; ihre Entstehungs- 
ufsache liegt aber in den Empfindungen der 
sensiblen Nerven.'^) Ein Sinnesorgan ist also 
bereits thätig, und zwar angeboren thätig. 

Vulgär wird von fünf Sinnen gesprochen, 
welche der Mensch besitzt. Dieses ist streng 
physiologisch nicht richtig: unter dem „Tast¬ 
sinn“ werden mehrere Empfindungsgruppen 
begriffen, welche nur grob anatomisch nicht 
gesondert auffallen, da sie in der Haut in 
Gestalt vielfacher Nervenendigungen dicht 
durch einander gemischt liegen. Wir haben 
hier zu unterscheiden; i) sensible Nerven im 
engeren Sinne, welche die Gemeingefühle, 
wie Schmerz, Kitzel, Hunger, Durst, Ekel, 
Schauder, Ermüdung, Schwindel, Wohlseinge¬ 
fühl der freien oder beengten Atmung u. s. w. 
vermitteln; 2) TnÄ’/nerven für a) Druck-, b) 
7>wArrc7/«rwahrnehmungen, 3) den Raumsinn, 
vermöge dessen wir uns klar sind, leo wir 
die verschiedenen Empfindungen haben; der¬ 
selbe ist am feinsten an der Zungen- und 
den Fingerspitzen entwickelt, 4) der Muskel- 
oder Kraftsinn. 

Bei dem Neugeborenen ist nun nach dem 
Gesagten das Th.sVgefühl stark entwickelt, 
schwach hingegen das Schmerzgefühl; Mus¬ 
kelempfindungen sind zweifelhaft vorhanden. 
Verschiedene Reize werden nicht gleichzeitig 
wahrgenommen. Während später bei Kind 
und Erwachsenen durch eine zentralnervöse 
Einrichtung, das Reflexhemmungszentrum, 
nicht auf jede Empfindung hin eine entspre¬ 
chende Muskelempfindung zu erfolgen braucht, 
— z. B. bei Schmerz eine Abwehrbewegung, 

') Geruch und Geschmack werden von dem 
Neugeborenen und auch noch lange von dein Säug¬ 
linge mit einander verwechselt. 

*) Die, welche Empfindungen vermitteln. 


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338 


Nestler, Die giftigen Eigenschaften des Oleandf.rs. 


-- sondern meist erst auf unsere willkürliche 
Absicht hin, so steht bei den Neugeborenen 
hingegen dieses Zentrum noch nicht in Thätig- 
keit, so dass jede Empfindung auch jedesmal 
die entsprechende Reflexbewegung hervor¬ 
ruft. Dadurch aber ist es möglich, dass das 
Neugeborene bereits eine ganze Reihe von 
Schutzmassregeln zu seinem Wohle trifft: es 
schreit und saugt, wenn es Hunger hat; es 
meldet sich durcK Schreien, wenn es sich 
verunreinigt und benässt hat — und es thut 
dieses (worin wir wieder eine ungehemmte 
Reflexerscheinung — zugleich aber auch de¬ 
ren wichtige Bedeutung — sehen müssen) 
mit einer solchen Ausdauer, wie es ein Er¬ 
wachsener kaum auszuführen vermöchte. An 
sich zweckmässige, aber ohne Zuthun des 
Willens, ohne Verstandesoperation, also le¬ 
diglich reflektorisch hervorgerufene Beweg¬ 
ungen haben Experimentatoren bei geköpften 
Fröschen beobachten können, sodass hierdurch 
und durch andere Versuche die reflektorische 
Natur solcher unbewusster und ohne Zuthun 
der Gehirnesthätigkeit zustande kommender 
Handlungen erwiesen ist. 

Mit dem Momente, wo das Kind das Licht 
der Welt erblickt hat, vollzieht sich in allen 
seinen Organen eine gewaltige Revolution; 
während bis zu diesem Augenblicke die Rei¬ 
nigung seines Blutes, die Versorgung dessel¬ 
ben mit solchen fertigen Stoffwechselproduk¬ 
ten, wie sie direkt zum Aufbau des Körpers 
benötigt werden, ausschliesslich von der Mutter 
besorgt sind, ja sogar der kindliche Blutkreis¬ 
lauf ganz wesentlich indirekt durch jene un¬ 
terstützt wird, so wird der kindliche Orga¬ 
nismus jetzt plötzlich ganz auf sich selbst an- 
ge’wiescn. Das Herz muss nicht nur eine 
weit energischere Arbeit leisten, sondern da¬ 
durch, dass die ganze Blutmasse erst jetzt 
mit der beginnenden Lungenrespiration diese 
zum Zwecke der Sauerstoffaufnahme und Koh- 
Icnsäureabgabe passieren muss, findet auch 
eine ganz veränderte Blutzirkulation durch 
ein weitverzweigtes und durch seine Enge 
einen erheblichen Widerstand bietendes Haar- 
gefäss-System statt. Sodann müssen jetzt die 
Verdauungsorgane die Aufnahme sowohl wie 
die Zubereitung der Rohprodukte, d. h. der 
Milch, soweit besorgen, dass dieselben als 
feinstverteiltes Baumaterial in leichtflüssiger 
Form durch das Lymphgefässsystem direkt 
dem Blute zugeführt w’erden können. Da 
der Verdauungsapparat aber noch ni^ht so 
weit fertig ist, dass er die gemischten und 
groben Speisen verdauen kann, wie wir sie 
aus dem Tier- und Pflanzenreiche beziehen, 
so gewährt die Natur dem Säugling die Mut¬ 
termilch. Diese Muttermilch ist aber so ge¬ 
nau sowohl an die Bedürfnisse als auch an 


die chemische Verarbeitungsfähigkeit seitens 
des Magens und Darmes angepasst, dass die 
menschlichen Säuglinge gar nicht oder nur in 
Ausnahmefällen die unpräparierteMilch der Kuh 
oder anderer Tiere vertragen können. Die Kuh¬ 
milch z. B. enthält weit mehr käsige Eiweiss¬ 
stoffe als die menschliche Milch; der kindliche 
Magensaft kann dieselben nicht verdauen, nicht 
in flüssige Form überführen, die Käseteilekom¬ 
men dadurch über dasGerinnungsstadium in dem 
sauren Magensaft nicht hinaus und passieren 
unverdaut den Darmkanal. Diese klumpigen 
Bröckel irritieren nicht nur die Schleimhaut, 
sondern werden weiterhin zu Trägern und 
Ernährern schädlicher Bakterien, welche sonst 
in dem feinen Brei des Magens durch dessen 
Säure abgetötet werden. 

Aber nicht nur Milch von Tieren wirkt 
ungünstig, sondern auch die Milch der Mut¬ 
ter selbst, wenn diese ungesund, ja sogar 
wenn die Milchbildung durch eine plötzliche 
heftige nervöse Erregung (Schreck, Zorn, 
Krampfanfall) beeinflusst wird. Solche Milch 
erbricht das Kind; es treten diarrhoische 
Stühle mit Koliken oder sogar allgemeine 
Krampfanfälle auf. 

Es ist einleuchtend, dass der Säugling 
gegen solche Zufälle auch mit Abwehrvor¬ 
richtungen versehen sein muss; dieselben sind 
aber von individuell sehr verschiedener In¬ 
tensität. Es hängt dieses ab von der ererb¬ 
ten Lebensenergie, von der angeborenen Wi¬ 
derstandskraft, also von dem, was man als 
„Körperkonstitution“ bezeichnet. 

(Schluss folgt.) 


Die giftigen Eigenschaften des Oleanders. 

Von Dr. A. Nestler. 

Der Oleanderstrauch, auch öfters in Fonn eines 
Bäumchens gezogen, ist infolge seiner überaus leich¬ 
ten Vermehrung durch Stecklinge bei uns allgemein 
verbreitet. Man steckt einfach ein frisches Zweig¬ 
lein in eine Flasche mit Brunnenwasser, dasselbe 
treibt nach einiger Zeit Wurzeln; sind dieselben 
genügend gross, dann pflanzt man den Zweig im 
Boden ein. — Ich erinnere mich deutlich, dass in 
meinem Eltemhause stets einige Oleander im Schlaf¬ 
zimmer standen, welche nur ab und zu an schönen 
Tagen in’s Freie gestellt wurden, um ihr Wachs¬ 
tum zu befördern. Waren sie in voller Blüte, dann 
blieben sie stets im Zimmer, um sie vor Schaden 
zu bewahren. . 

Wenn man die grosse Verbreitung dieser Emanze 
und ihre allgemeine Beliebtheit bedenkt, so muss 
man sich wundern, dass meines Wissens bei uns 
niemals ernstliche Vergiftimgen Vorkommen, deren 
Ursachen mit Sicherheit auf jenes Gewächs zurück- 
zuführen sind. Denn dass es zu den narkotisch 
scharfen Giftpflanzen gehört, daran ist gar kein 
Zweifel. Schon G m e l i n sagt in seiner allgemeinen 
Geschichte der Pflanzengifte (Nürnberg 1803), dass 
unser Oleander in allen seinen 'feilen sehr giftig 
sei; sein Laub sei den meisten Säugetieren tötlich 




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Die Herstellung der Glühlampen für elektrisches Licht. 


339 


und auch dem Menschen sehr gefährlich; der Ge¬ 
nuss desselben verursache unerträgliche Bangigkeit, 
Aufschwellen des Leibes, Ohnmächten und Ent¬ 
zündungen. Wo diese Beobachtungen gemacht 
worden sind, ob bei uns oder in jenen Gegenden, 
wo der Oleander (Nerium Oleander) wild wachsend 
vorkommt, in Griechenland oder im südlichen 
Spanien — hier ist er an Flussufeni sehr gemein 
und bildet, gleich unseren Weiden, dichte Büsche 
— oder an anderen Orten, ist nicht näher ange¬ 
geben. Man erzählt ferner, dass die Landleute um 
Nizza Mäuse und Ratten mit der pulverisierten Rinde 
vertreiben. Es sei auch schon vorgekommen, dass 
auf den Genuss von Kuchen, welche mit Oleander¬ 
blüten geschmückt waren, heftige Vergiftungen sich 
einstellten. Aber nicht allein der Genuss von Tei¬ 
len dieser Pflanze, sondern auch die blossen Aus¬ 
dünstungen derselben sollen nach Professor Län¬ 
derer in Athen die schädlichsten Wirkungen her- 
vorrufen: ein längerer Aufenthalt unter Oleander¬ 
gebüschen, besonders während der Mittagsstunden, 
erregt Schwindel, Mattigkeit und Erbrechen. 

Nun ist wieder ein Vergiftungsfall angeblich durch 
das Einathmen der schätüichen Ausdünstungen der 
Oleanderblätter bekannt geworden: 

Der französische Arzt Artault de Vevey 
berichtet an die Pariser Gesellschaft für Biologie, 
dass ein junger Mann, in dessen Schlafzimmer einige 
Oleander standen (ob Nerium Oleander, N. odorum 
oder ekle andere Spezies, wird nicht angegeben), 
an Schwindelanfällen, Kopfschmerzen und grosser 
Muskelschwäche zu leiden hatte. ' Der Arzt, der 
während seiner Studienzeit dieselbe giftige Wirk¬ 
ung des Oleanders an seiner eigenen Person ken¬ 
nen gelernt hatte, hebt in seiner Schilderung be¬ 
sonders hervor, dass nicht allein die Blüten, son¬ 
dern auch die Blätter Oberaus schädlich auf die 
Gesundheit des Menschen einwirken können. 

Dieser Bericht, an dessen Glaubwürdigkeit nicht 
zu zweifeln ist, widerepricht sehr den gemachten 
Erfahrungen; denn niemand dachte bisher daran, 
den schönen Oleander aus dem Zimmer zu ver¬ 
bannen, so lange seine Dimensionen nicht so be¬ 
deutend waren, dass er im Wohnzimmer nicht gut 
untergebracht werden konnte. Bevor ein vernich¬ 
tendes Urteil über diese Pflanze gefällt wird, ist es 
notwendig, alles bisher Über dieselbe in Erfahrung 
Gebrachte genau zu prüfen. 

Dass es eine Giftpflanze ist, steht wie gesagt 
nach den Untersuchungen der Chemiker und Ärzte 
fest: Lukowsky hat in den Blättern desselben 
ein Herzgift nachgewiesen, das er Oleandrin nannte, 
und das schon in einer Menge von 0.25 Mgm. ein 
Zusammenziehen der Herzkammern des Frosches, 
den sogen, systolischen Stillstand, hervorruft. Nach 
Schmiedeberg soll in frischen Blättern noch ein 
anderer Stoff, das Neriin Vorkommen, das dieselbe 
Wirkung, wie das Oleandrin hervorruft. Pieszczek 
untersuchte die chemischen Bestandteile der Rinde 
und fand neben reichlichen Mengen fettartiger Sub¬ 
stanzen einen sehr giftigen Stoff, den er Rosaginin 
nannte; er soll dem Digitalin ähnlich sein. — In 
einer anderen Spezies, dem Nerium odorum, hat 
Greewish zwei Bitterstoffe entdeckt, das Nerio- 
dort» und Nerioderein, welche gleichfalls als Herz¬ 
gifte schon in kleinen Dosen wirken sollen. Ob 
auch in der Blüte Giftstoffe Vorkommen, ist meines 
Wissens nicht geprüft worden. Auf diese Unter¬ 
suchungen der Chemiker stützt sich einzig und al¬ 
lein das Urteil des Botanikers, wenn er sagt: „Der 
Oleander ist scharf narkotisch giftig.“ Er weiss bis 
heute nicht genau, in welchem Gewebe der Pflanze 
die Giftstoffe Vorkommen, er weiss nicht, ob im 
Zellinhalte oder in der Zellwand oder in beiden. 
Was die giftigen Wirkungen der Ausdünstung des 


Oleanders betriftt, so sind, wie aus den angeführ¬ 
ten Berichten zu entnehmen ist, bisher keine exak¬ 
ten Untersuchungen gemacht worden, um das Ur¬ 
teil zu fällen: „Der Oleander ist aus den Wohn- 
räumen zu entfernen.“ Es wäre nicht undenk¬ 
bar , dass die bei uns kultivierten Oleander, 
deren Stammeitem seit vielen Jahrzehnten aus 
ihrer Heimat nach Deutschland gebracht worden 
sind, ihre giftigen Eigenschaften unter den ver¬ 
änderten Lebensbedingungen ganz oder wenigstens 
zum Teil verloren haben. Auch wäre der Fall zu 
er%\'ägen, ob es nicht zwei äusserlich sehr älmliche, 
in ihren Wirkungen aber völlig verschiedene Formen 
des Oleanders gäbe. ' Der Schierling (Conium 
maculatum), der bei uns ungemein ^ftig ist, enthält 
in Schottland nach Darwin keinen Giftstoff (Coniin); 
in Niederösterreich kommt ein „Waldmeister“ vor, 
dem der bekannte Wohlgeruch, das Cumarin, voll¬ 
ständig fehlt. 


Die Herstellung der Glühlampen für elektrisches 
Licht. 

Die Herstellung der Glühlampen wird von den 
meisten Fabriken bisher noch als Geheimnis be¬ 
trachtet und auch verschiedentlich gehandhabt. 

Allgemein interessieren dürften einige Mitteilungen 
Ober das Verfahren der Allgemeinen ElekirizUäts- 
Gesellschaft in Berlin, die wir einem in der Elektro¬ 
technischen Gesellschaft in Leipzig gehalten Vor¬ 
trage des Ingenieurs Meyer nach der „Elektrizität'^ 
entnehmen. 

Bekanntlich besteht der Glühkörper aus einem 
Kohlenfaden. Die Herstellung desselben aus Karton¬ 
papier, Gräsern, Wurzeln oder Bambusfasern er¬ 
möglichte es nur mit grossen Schwierigkeiten, die 
Fäden in gleichmässigen Stärken herzustellen. Das 
Material, dass sich zur Zeit als das geeigneteste 
bewährt, ist reine Cellulose, welche sich wegen 
ihrer physikalischen Eigenschaft ganz besonders 
dazu eignet. 

Die Fadensubstanz wird durch eine Düse von 
vorgeschriebenem Durchmesser gepresst und da¬ 
durch zu einem endlosen Faden geformt, dessen 
Dicke gleich dem Durchmesser der Düse ist. Der 
Faden wird auf eine Art Haspel aufgewickelt und 
dann, nachdem er getrocknet ist, in kleinere Fäden 
von bestimmter Länge zerschnitten. 

Nachdem nun die Fäden die übliche Form der 
Schleife oder des Hufeisens erhalten haben, werden 
sie, um für die Glühlampen einen brauchbaren 
Kohlenbügel zu erhalten, in dem Karbonisierofen 
verkohlt. Letzteres geschieht allerdings unter Ab¬ 
schluss der Luft, weil sonst durch den Hinzutritt 
derselben der Faden verbrennen würde. Der so 
hergestellte Kohlenbügel würde als Glühkörper ge¬ 
eignet sein. Er wird jedoch noch einem Prozess 
unterworfen, der seine physikalischen Eigenschaften 
nach verschiedenen Richtungen verändert und fiir 
seinen Zweck geeigneter macht. Dieser Prozess 
geht in der Weise vor sich, dass der Kohlenfaden 
zum Glühen gebracht wird, während man ihn vor¬ 
her mit kohlenstofffreien Gasen z. B. Leuchtgas, 
umgeben hat. Die Einwirkung der Gase hat zur 
Folge, dass sich, nicht nur die Beschaffenheit der 
Oberfläche, sondern auch die Beschaffenheit des 
Inneren vorteilhaft verändert. Hierdurch wird das 


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Betrachtungen und kleine Mitteilungen. 


' Lichtausstrahlungsvermögen ein grösseres und 
ebenso dem Faden eine grössere Elastizität gegeben, 
sodass er den mechanischen Angriflen während 
der Fabrikation grössere Widerstandsfähigkeit ent¬ 
gegensetzt. 

An den Enden des so präparierten Kohlenfadens 
werden die Platindrähte befestigt, die später in die 
Form des Glasballons eingeschmolzen werden und 
als Stromzuführung dienen. Das Bindemittel zwischen 
den Kohlenfäden und Platinenden resp. Nickel¬ 
drähten ist Kohlenstoff, der auf chemischem Wege 
aus kohlenwasserstoffreichen Stoffen ausgeschieden 
und direkt an jeder Verbindungsstelle abgelagert 
wird. Der Bügel ist jetzt soweit fertig, dass er in 
den Glasballon eingeführt werden kann. 

Der andere wichtige Bestandteil der Glühlampe 
ist der Glaskörper. Derselbe hat in seinem ersten 
Stadium, wenn er die Glashütte verlässt, die be¬ 
kannte bimenähnliche Form. An Jenem Ende, wo 
der Sockel befestigt wird, befindet sich ein röhren¬ 
förmiger Ansatz, in den die mit dem Kohlenbügel 
verbundenen Platindrähte eingeführt und ver¬ 
schmolzen werden. Die beiden Platinenden ragen 
aus dem Glaskörper hervor und werden mit den 
Kontaktdrähten verlötet, welche nach Fertigstellung 
der Lampen derselben den Strom zuführen. Der 
Hauptzweck der Verwendung von Platindrähten 
liegt in der bekannten, vorzüglichen Eigenschaft 
dieses kostbaren Metalles und zwar erstens darin, 
dass Platin denselben Ausdehnungskeeftizienten hat, 
wie das Glas. Es ist dies von grosser Wichtigkeit, 
da sonst nach dem Erkalten sich ein Spalt bilden 
würde, der den Zutritt der Luft ermöglichte. Es 
würde dadurch selbstverständlich die Lampe un¬ 
brauchbar werden. Zweitens ist das Platin sehr 
feuerfest und wird beim Einschmelzen in dem Glase, 
melches mit starken Gasgebläsen erfolgt, von der 
entwickelten Hitze derselben nicht angegriffen. 

An dem oberen gewölbten Ende der Lampe, 
wo sich bei der fertigen Glühlampe die Spitze be¬ 
findet, wird ein dünnwandiges Glasröhrchen ange¬ 
schmolzen und dient dieses dazu, nachdem die 
Lampe soweit fertig ist, die in dem Ballon ent¬ 
haltene Luft abzusaugen. Bevor jedoch die Luft 
abgesaugt wird, werden die soweit hergestellten 
Lampen auf ihre Dichtigkeit probiert, und zwar 
werden die Körper durch einen angesetzten Schlauch 
an dem oben erwähnten Röhrchen mit starkem Luft¬ 
druck unter Wasser geprüft, denn der kleinste 
Spalt und Riss macht die Lampe unbrauchbar. 

Um aus dem soweit hergestellten Fabrikat eine 
brauchbare Glühlampe zu machen, fehlt noch, dass 
die Luft aus dem B^lon entfernt wird. Dies er¬ 
folgte früher ausnahmslos durch Quecksilberpumpen, 
in neuerer Zeit wird jedoch eine neue Luftpumpe 
benutzt, die weit wirksamer und zweckentsprechen¬ 
der ist und ist es jedenfalls ein grosser Vorteil, 
dass das der Gesundheit schädliche Quecksilber 
hierbei in Wegfall kommt. Alle Anzeichen sprechen 
dafür, dass die so erzielte Luftleere als vollkommen 
hinreichend zu betrachten ist. Aber nicht nur die 
Luft allein muss aus der Glasbirne entfernt werden, 
sondern auch die Gase, welche der Kohlenbügel 
beim ersten Glühen abgiebt. Die Entfernung dieser 
G.'isc erfolgt in der Weise, dass man, nachdem zu¬ 
erst die Luft abgesaugt ist, einen Strom durch den 


Kohlenbügel schickt, der denselben zur Rotglu 
bringt. Dann werden mittelst der Pumpe die Gase 
entfernt, und die Evaeuierung sowie die Verstärk¬ 
ung des Stromes soweit fortgelührt, bis die letzten 
wahrnehmbaren Gasreste beseitigt worden sind. 
Dann wird das Rohr kurz über dem Ballon mit 
einer spitzen Gasflamme abgeschmolzen. 

Jetzt gelangen die Glühlampen in eine Abteil¬ 
ung, wo sie mittelst eines Ruhmkorff-Induktoriums 
auf ihre Luftleere geprüft werden. Zu diesem Zweck 
wird die zu untersuchende Lampe mit den Polen 
des Induktoriums verbunden und muss, wenn sie 
brauchbar ist, blaugrOnlich fluoreszieren. Im ande¬ 
ren Falle hat sie einen Sprung oder einen Riss, 
durch welchen tvieder Luft in die Birne gelangt 
ist. Obgleich alle Glühlampen in derselben Weise 
hergestellt werden, sind sie einander doch nicht 
vollkommen gleich und giebt die eine bei höherer, 
die andere bei etwas niederer Spannung die von 
ihr verlangte Lichtstärke. Um diese Abweichungen 
zu bestimmen, werden die Lampen einer Licht¬ 
messung mit Hilfe des Photometers unterworfen 
und wird hierbei die ftir die Lampe erforderliche 
Stromspannung festgestellt. Die Lampen werden 
sowohl in verschiedener Form, als auch in ver¬ 
schiedener Lichtstärke hergestellt. Die gebräuch¬ 
lichsten sind IO, i6, 25 und 32 kerzige, doch wer¬ 
den auch 50 bis roo Kerzen-Lampen in den Handel 
gebracht. Die gebräuchlichsten Spannungen, ftlr 
welche die Lampen hergestellt werden, schwanken 
zwischen 65 und 70 resp. 100 bis 120 VoH. 

Die eigentliche Glühlampe ist nun fertig und 
wird sie noch, um sie bequem in das Leitungsnetz 
einschallen zu können, mit dem sogenannten Sockel 
versehen. Letzterer besteht im wesentlichen aus 
zwei Metallteilen, einem schraubenförmigen Ring 
und einem Kopfstückchen. An diesen beiden Metall¬ 
teilen w-erden die Verlängerungen der Platindrähte, 
die der Ersparnis halber aus dünnen Kupferdrähten 
bestehen und so den stromzuföhrenden Teil der 
Lampe bilden, angelötet Das Isoliermaterial des 
Sockels bestand früher aus Gips, in neuerer Zeit 
wird hierzu fast ausschliesslich Porzellan verwendet 

Nachdem die Lampen soweit fertiggestellt sind, 
gelangen sie in eine Abteilung, wo sie mit Eti- 
quetten versehen werden, welche die jeweilige 
Spannung nebst Lichtstärke angeben. 

Die Lebensdauer der Lampe hängt im wesent¬ 
lichen davon ab, dass die Spannung des zur Speis¬ 
ung der Lampe verwendeten Stromes nicht höher 
ist, als die Etiquette angiebt. Jede Überschreitung 
der Spannung zieht selbstverständlich nur Kürzung 
der Lebensdauer nach sich. Es sollte daher in 
jeder Beleuchtungsanlage auf einen regelmässigen 
Gang der Maschinen, sowie auf die Verwendung 
von präzis anzeigenden Spannungsmessem beson¬ 
ders Gewicht gelegt werden. 


Betrachtungen und kleine Mitteilungen. 

Die Bedeutung der Photographie und der 
auf ihr beruhenden sog. mechanischenRepro- 
duktionsverfahren für die Popularisierung der 
bildenden Kunst ist gewiss nicht gering zu schätzen, 
ebenso sicher steht aber fest, dass der Kunst- 


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Betrachtungen und kleine Mitteilungen. 


341 


geschmack in mancher Beziehung nicht vorteilhaft 
von denselben beeinflusst wird. 

Der Photographie ist eine Charakterlosigkeit im 
Ausdruck eigen, die durch alle technische Vervoll¬ 
kommnung der modernen Verfahren nicht beseitigt 
wird, und die bei jeder Wiedergabe eines Bildes 
das unterdrückt, was dem Kunstwerk den beson¬ 
deren Reiz verleiht, die Handschrift, die individuelle 
Technik des Künstlers, kurzum den Ausdruck seiner 
Persönlichkeit. Was überbleibt, ist schliesslich nur 
eine Vorstellung von dem behandelten „Sujet“, das 
denn auch beim grossen Publikum das Hauptinter-- 
esse bei Betrachtung von Kunstwerken absorbiert. 
Dass der Farbenreiz und die Stimmung eines 
Gemäldes in dem in einfarbigen Schatten abgestuften 
Lichtbild untergehen, ist selbstverständlich, fehlt 
doch dem mechanisch reproduzierenden Auge der 
Camera das Mittel, die Werte, die direkt nicht 
wiedergegeben werden könnnn, in äquivalente 
umzusetzen. 

Hier wird der freischaffende Künstler immer in 
seinem Recht bleiben, und eine gute Radierung nach 
einem Gemälde wird nicht nur einen reineren künst¬ 
lerischen Genuss bieten, wie zehn Photographien, 
Autotypien oder Phototypien, sondern auch der 
Entwicklung des Geschmackes dienlicher sein. — 

Mit Freude ist deshalb die Herausgabe des 
Hausschatzes moderner Kunst zu begrOssen, 
der soeben im Verlag der Gesellschaft für vervielfäl¬ 
tigende Kunst in IVien zu erscheinen beginnt, eine 
Sammlung von Radierungen bedeutender moderner 
Bilder von unseren ersten Stechern. 

Der „Hausschatz moderner Kunst“, der 
in zwanzig monatlichen Lieferungen, im Format von 
30:40 cm, jede mit 5 Blatt Radierungen, zur 
Ausgabe gelabt, ist bei dem ganz aussergewöhnlich 
niedrigen Preis von Mark 3.— für jede Lieferung 
.durchaus gwignet,,.die Freude an den Werken der 
bildenden Kunst auch in den breiten Volksschichten 
rege zu erhalten und zu fördern. Das soeben er¬ 
schienene erste Heft enthält: A. Böcklin, Viila 
am Meer, Radierung von W. Hecht; H. Kauff- 
mann. Verliebt, Radierung von H. Bür kn er; F. 
A. vonKaulbach, Ein Maitag, Radierung von 
W. Unger; E. Grützner, Klosterschäftlerei, Ra¬ 
dierung von C. Vaditz; F. von Uhde, Auf 
dem Heimweg, Radierung von W. Unger. Auf 
das weitere Fortschreiten des Werkes werden wir 

zurückkommen. o. a. w. 

« « 

« 

Preussen und die Geschichtsforschung. Nach¬ 
dem die preussische Regierung jahrelang in puncto 
Archivbenutzung sich ziemlich zurückhaltend gezeigt 
hatte, ist es jetzt in dieser Hinsicht anders gewor¬ 
den; nicht allein, dass den Forschern ziemlich weit¬ 
gehende Vergünstigungen zugestanden wurden, die 
Regierung selber nahm die Publizierung wichtiger 
Archivalien in die Hand, und die Schaffung von 
hundert neuen Archivstellen, die vor noch nicht all- 
ziilanger Zeit angeordnet wurde, beweist, dass in 
dieser Richtung fortgefahren werden soll. Der 
Ausgang des alten und der Beginn des neuen Jah¬ 
res hat neue sehr erfreuliche Zeugnisse für die Ar- 
Ijeitsfreudigkeit der mit der Publizierung betrauten 
Männer gebracht: in kurzer Zeit sind drei neue 
Bände der „Publikationen aus dem königl. preuss. 
Staatsarchiv“ erschienen, darunter — als wichtige 
Quelle für die neuere brandenburgische Verfas- 
siings-und Verwaltungsgeschichte — der „Protokolle 
und Relationen des brandenburgischen geheimen 
Rates unter Kurfürst Friedrich Wilhelm“ vierter 
Band, der 66. der bisher insgesamt erschienenen. 
Von der „politischen Korrespondenz Friedrich’s 
des Grossen“ erschien um die Jahreswende der 


23. Band, das erste Friedensjahr nach dem sieben¬ 
jährigen Kriege umfassend. Endlich sollen hier 
auch die Arbeiten an dem grossen Monumentalwerk 
der „Acta Borussica“ nicht vergessen werden, von 
denen — allerdings schon etwas früher — der erste 
Band der Serie, betr. die Behördenorganisation und 
die allgemeine Staatsverwaltung im 18. Jahrhundert, 
publiziert wurd •. Alle diese Arbeiten sind im gros¬ 
sen Stile begonnen und fortgeführt worden, und 
von ihrem endliclun Abschluss darf die Wissen¬ 
schaft die bedeutendste Förderung erwarten. 

Karl Lory. 

• • 

• 

Die Metallcarbide, das sind die Verbindungen 
einer Anzahl Metalle mit dem Kohlenstoff, waren 
zum Teil schon seit einigen Jahrzehnten dem Che¬ 
miker bekannt, zum Teil'wurden sie erst in der 
letzten Zeit durch H. Moissan mittels des elek¬ 
trischen Ofens dargestellt oder doch zuerst in 
grösserem Massstabe gewonnen. Einige derselben, 
und unter diesen namentlich das Calciumcarbid, 
zersetzen sich bekanntlich bei Berührung mit Was¬ 
ser unter Entwicklung von Acetylen, einem gas¬ 
förmigen Kohlenwasserstoff', welcher mit starkleuch¬ 
tender Flamme brennt und dem Calciumcarbid eine 
wachsende technische Bedeutung verschafft hat. 
Andere Carbide wiederum liefern bei Berührung 
mit Wasser keine gasförmigen, sondern flüssige 
Kohlenwasserstoffe, welche in ihrer Zusammen¬ 
setzung dem Petroleum ungemein ähneln. Beiden 
Klassen von Carbiden schreibt nun Moissan, nach 
dem Vorgänge von Berthclot, eine wichtige 
Rolle im Haushalte unseres Planeten, sowohl in 
früheren geologischen Epochen, wie in der gegen¬ 
wärtigen, zu. Diejenigen Carbide, welche gasförmige 
Kohlenwasserstoffe liefern, lässt er eine Rolle bei 
vulkanischen Eruptionen spielen, in den anderen 
erblickt er eine Quelle der Petroleumlager. Aller¬ 
dings führte man die Entstehung der letzteren bis- 
h • meist auf die Zersetzung von Tier- und Pflanzen- 
i\ ;en früherer geologischer Epochen zurück; und 
dieser Auffassung will auch Moissan keines¬ 
wegs unbedingt entgegentreten; er ist lediglich 
der Ansicht, dass das Petroleum, welches ja nicht 
allenthalben die gleiche Zusammensetzung aufweist, 
an verschiedenen Orten auch einen verschiedenen 
Ursprung haben könne. n. d. 


Die elektrische Kraftübertragung hat in der 
Landwirtschaft noch eine grosse Zukunft. Nach 
dem Urteil massgebender Fachleute stellt sich die 
elektrische Beleuchtung und die elektrische Kraft¬ 
übertragung unter Berücksichtigung eines ange¬ 
messenen Betrages für Verzinsung und Abschreib¬ 
ung des Anlagekapitals billiger wie die bisherige 
Pctroleumbeleuchtung und die Vcrw’endung von 
Arbeitern und Zugtieren für gleiche Arbeitsleistun¬ 
gen. Diese Ersparnis beruht in erster Linie auf der 
grossen Feuersicherheit der elektrischen Beleucht¬ 
ung und der grossen Teilungsfähigkeit der elek¬ 
trischen Bett ebskraft. Infolge dieser Eigenschaften 
können nf als die Arbeiten auf den Gutshöfen 
fortgesetzt werden, wenn dieselben ohne elektrische 
Einrichtung aufhören müssten. Ferner kann an je¬ 
der Stelle, wo bisher eine Pferdekraft, oder gar 
eine Menschenkraft nötig war, mit Vorteil ein 
Elektromotor gesetzt w’erden, z. B. bei Wasser¬ 
pumpen, Zentrifugen, Rübenschneiden u. s. w. Die 
Ersparnis beruht auch wesentlich darauf, dass die 
Arbeitszeit besser ausgenutzt werden kann. Dies 
ist z. B. beim Dreschen der Fall. Während das 
Aufstellen einer Lokomobile 1 — 114 Stunden dauert, 
wird das Anstellen eines fahrbaren Elektromotors 




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342 


Betrachtungen und kleine Mitteilungen. 


in U Stunde besorgt. Daraus ergiebt sich schon 
ein Zeitgewinn von etwa i Stunde für sämtliche 
beim Drusch benötigten Arbeitskräfte. Ein beson¬ 
derer Vorteil bleibt den elektrischen Einrichtungen 
gegenüber dem Lokomobilenbetrieb in dem Um¬ 
stande, dass die lästige, mitunter auch kostspielige 
Zufuhr von Wasser erspart wird, und dass alle die 
argen Schwierigkeiten, welche beim Transporte 
der schweren Lokomobilen auf den zumeist schlech¬ 
ten Feldwegen oder auf schwachgebauten Brücken 
u. s. w. im allgemeinen und bei jedem Wechsel 
der Arbeitsstelle zu bekämpfen sind, wegfallen. 

(.Elektriziiai", Leipzig.) 

« 

• * 

Auf elektrischem Wege aus Torf hergestellte 
Kohle. Die aus Schweden herrOhrende Methode 
besteht darin, dass die eisernen Retorten, in denen 
bisher der Torf durch Erhitzen in eine brauchbare 
Torfkohle übergeftihrt wurde — ein Verfahren, wel¬ 
ches grosse Mängel zeigte — innen ganz mit Asbest 
ausgekleidet sind, und um die Innenwände auf die 
Asbestverkleidung eine starke Drahtspirale schrau¬ 
benförmig gelegt ist, welche Wicklung auch um 
einen mittleren achsialen Zapfen geföhrt wird.- Die 
Retorte wird alsdann mit dem Torf gefüllt und in 
die Enden der Spiraldrähte, welche isoliert durch 
die Retortenwand nach aussen geführt werden, 
ein starker elektrischer Strom geleitet, so dass die 
Drahtspirale ins Glühen kommt und der Torf durch 
und durch gleichmässig verkokt. In 15 Minuten 
ist die Charge einer Retorte von etwa 1300 Liter 
Inhalt fertig. Die erhaltene Kohle stellt eine poröse, 
schwarze, die Struktur des Torfs vollkommen 
zeigende Masse dar, die etwa halb so schwer wie 
Steinkohle ist. Eine Analyse ergab 76 Prozent 
Kohlenstoff 4,6 Proz. Wasserstoff, 8,2 Proz. Sauer¬ 
stoff, 4,82 Proz. Feuchtigkeit und nur 3 Proz. Asche. 
Der theoretische Heizwert wurde zu 7000 Wärme- 
Einheiten ermittelt, also gerade so gross wie jener 
guter Steinkohle! Angestellte Kalkulationen über 
die Kosten der Herstellung der Kohle ergaben, dass 
bei ungünstigster Annahme aller Verhältnisse der 
Zentner Kohle mit gutem Fabrikationsgewinne zu 
0.40 Mk. verkauft werden kann. Es haben sich be¬ 
reits Kapitalisten gefunden, welche die Realisier¬ 
ung der Ausnutzung der deutschen Torfmoore auf 
solche elektrisch dargestellte Kohle hin anstreben. 
Versuche, um verschiedene deutsche Torfsorten zu 
verkohlen und die daraus erhaltenen Kohlen zu 
probieren, werden von C. F. Reich eit in Berlin 
angestellt. 

* • 

• 

Das neueste Heft der Mitteilungen des archäo¬ 
logischen Instituts in Athen bringt u. a. einen aus¬ 
führlichen Bericht über die Ausgrabungen, die 
Professor Sam Wide aus Lund im Verein mit 
seinem Freunde L. KJ ellberg, Museumsassistenten 
in Stockholm, im Herbst 1894 in Aphidna in 
Nordattika vorgenommen hat. Die Reste der 
alten, sagenumsponnenen Burg liegen auf einer jetzt 
Kotröni genannten, die Ebene mächtig überragen¬ 
den Höhe und sind schon vor langen Jahren von 
G. Finlay, dessen Erben jetzt hier Grundstücke 
besitzen, als solche erkannt worden. Auf der Burg¬ 
höhe finden sich noch durch Erde verdeckt einige 
Mauern, und bereits vor der Grabung bemerkte 
Wide bei einem ersten Besuch der Gegend eine 
grössere Anzahl mykenischer Vasenscherben. Aber 
das Hauptinteresse der Ausgräber wandte sich 
einem grossen Grabhügel zu, der etwa 25 Miniitcn 
von der Spitze der alten Berghöhe entfernt liegt 
und dessen Ausplünderung schon früher versucht 
worden ist, aber glücklichervv'eisc wohl ohne 


grösseren Erfolg. Die Ausgrabungen begannen mit 
der Anlegung eines 24 Meter langen, von Osten 
nach Westen gehenden Grabens. Zunächst wurden 
nur Bruchstücke von Gefässen aus sehr alter Zeit 
gefunden, dann aber bald in der Mitte des Tumulus 
eine Reihe von Gräbern in verschiedener Höhe. 
Wide unterschied drei Arten von Gräbern, in die 
Erde eingetiefte Schachtgräber ohne Verkleidung 
der Wände, grosse GefÜsse aus grobem braunrotem 
Thon, in welche die Leichen gelegt waren, und 
Gräber, die aus grossen Steinen c^er Steinplatten 
gebaut waren. Mit grosser Sorgfalt haben die beiden 
auch durch ihre Ausgrabungen auf Kalauria vor¬ 
teilhaft bekannten nordischen Archäologen ihre Auf¬ 
gabe gelöst: ihr Bericht entspricht durchaus den 
Anforderungen, welche die Wissenschaft jetzt an 
die Veröffentlichung solcher Gräberfunde stellt. Alles 
ist genau beobachtet und gebucht worden. Professor 
Wide, der sich seit längerer Zeit mit altgriechischer 
Vasenkunde beschäftigt, und von dem einezusammen- 
fassende Behandlung der geometrischen Vasen in 
naher Aussicht steht, hat in den auf den Bericht 
folgenden Blättern auch gleich den Schluss auf die 
Kultur gezogen, von der die Gräberfunde zeugen. 
Zum ersten Male auf dem griechischen Festlande 
begegnet uns hier in grösserem Umfange eine in 
die Bronzezeit gehörende Kultur. Von Eisen fand 
sich keine Spur, Metallwaffen fehlen: Gold, Silber, 
Bronze sind spärlich vertreten; daneben finden sich 
Messer und Pfeilspitzen aus Obsidian und Perlen 
aus durchsichtigem Stein. Am wichtigsten sind 
aber die Vasenfunde. Denn sie beweisen, dass wir 
es hier mit einer vormykenischen Kultur zu 
tnun haben. Die Vasen erinnern am meisten an 
primitive Thonwaaren von den Inseln: in Aigina 
z. B. sind kürzlich ähnliche Vasen gefunden worden. 
Vor allem aber sind graue Thongefässe der in 
Aphidna konstatierten Art in Hissarlik (Troia) in 
grosser Masse gefunden worden. Die mit geo¬ 
metrischen Ornamenten verzierten Vasen sind lange 
Zeit neben den mykenischen Gefässen verfertigt 
worden; die geometrische Gefässbildnerei ist mit 
Recht als Bauernkunst, die mykenische als Herren¬ 
kunst bezeichnet worden. So erklärt es sich, dass 
die Bauern in der Ebene, denen der aufgedeckte 
Grabhügel bei Aphidna zugehört, die primitive Kunst 
lange Jahrhunderte noch übten, währen oben auf 
der Burg der Fürsten die mykenische Kultur längst 
ihren siegreichen Einzug gehalten hatte. Voss. Zig. 


Die Verwendung von flüssiger Kohlensäure 
bei Seeunfällen ist neuerdings gebräuchlich ge¬ 
worden, um die Seefahrzeuge im Falle eines Schiff¬ 
bruches wenigstens vorübergehend vor dem Ver¬ 
sinken zu bewahren bezw. dasselbe nach Möglichkeit 
hinauszuschieben und sie bei einer etwaigen Feuers¬ 
brunst vor dem allzuraschen Umsichgreifen der 
Flammen zu schützen. Das Verfahren beruht nach 
der „Zeitschr. f. d. ges. Kohlens.-Ind.“ auf der An- 
w’endung von Flaschen aus Eisen oder Stahl, welche 
die flüssige Kohlensäure enthalten und die im Innern 
des Schiffes angebracht sind, während die Hähne 
nach aussen geleitet werden, um dieselben leichter 
erreichen zu können. Sobald Feuer ausbricht, dreht 
man einfach die Hähne dieser Behälter auf, sofern 
der durch die Hitze in den Flaschen entstehende 
Druck dieselben nicht schon gesprengt hat, und so 
fort strömt das kohlensaure Gas heraus, die Ver¬ 
brennung hindernd, da es selbst völlig unverbrennbar 
ist. Es ist dies dasselbe Prinzip, auf welchem auch 
die meisten Feuerlösch-Ap^parate beruhen. Bei 
Leckwerden kann man das Eindringen des Wassers 
und das Sinken des Schiffes dadurch aufhalten, dass 
man die Flaschen in dem Teile des Schiffes, welches 


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Betrachtungen und kleine Mitteilungen. 


343 


vom Wasser zuerst heimgesucht wird, öffnet und 
sorgsam die Zwischenwände um das Leck herum 
schliesst. Das ausströmende Gas verzögert durch • 
seinen Gegendruck, den es ausObt, die Verwüstungen, 
die das Wasser anrichtet und kämpft gegen den 
äusseren Druck des Wassers an. — Versuche in 
dieser Richtung werden gegenwärtig auf Veran¬ 
lassung der Deutschen Seeberufsgenossenschaft an¬ 
gestellt, die besonders eine von dem Chemiker 
Martin Stange in Vegesack vorgeschlagene 
Methode zum Gegenstand einer Prüfung h^en. 

• • 

• 

Elweissverdaaender Speichel bei Insekten¬ 
larven. Als der Tübinger Physiologe Wilibald 
A. Nagel für Studienzwecke eine Anzahl erwachse¬ 
ner Larven des bekannten grossen Schwimmkäfers 
Dyticcus marginalis, des Gelbrandes, im Aquarium 
hielt, hatte er Gelegenheit, sehr interessante Eigen¬ 
schaften des Speichels dieser Tiere kennen zu 
lernen. Die Resultate seiner Beobachtungen und 
Versuche sind kurz folgende: i) Die Schwimmkäfer¬ 
larve saugt den Tieren nicht nur das Blut aus, 
sondern sie vermag deren ganze Eiweisssubstanz 
in sich aufzunehmen; 2) zu diesem Zwecke ergiesst 
sie durch ihre Saugzungen ein fermenthaltiges Se¬ 
kret in das auszusaugende Tier, wodurch dessen 
Eiweiss verflüssigt, peptonisiert wird; 3) das Sekret 
hat gifhge Wirkung, es lähmt und tötet die ange¬ 
bissenen Tiere in kurzer Zeit; 4) das Sekret reagiert 
neutral. Die Verdauung ist eine tryptische; die Ei¬ 
weissmassen quellen nicht, sondern zerfallen bröcke¬ 
lig > 5) ebensolche extraorale Eiweissverdauung 

findet, abgesehen von den nächsten Verwandten 
der Schwimmkäferlarven, aller Wahrscheinlichkeit 
nach bei den mit ähnlichen Saugzungen ausgerüsteten 
Larven einiger Neuropteren oder Netzflügler, bei 
den Ameisenlöwen (Myrmecoleon) und Blattlaus¬ 
löwen (Chrysopa) statt. (Biolog. Centralbl. XVI, 
No. 2(3.) Rk. 

• * 

Der Kaviar. 

• Über die Zubereitung des Kaviars bringt Dr. 
Henry de Varigny vom Naturhistorischen Mu¬ 
seum zu Paris interessante Mitteilungen in der 
,Revue sclentifique“ 1897, Nr. la. Der Genannte 
hatte im Aufträge des französischen Unterrichts- 
Ministeriums die vorjährige Ausstellung zu NischniJ 
Nowgorod besucht und daselbst die verschiedenen 
Kaviar-Präparate untersuchen können, war dann 
die Wolga abwärts gefahren bis nach Astrachan 
und hatte hier die Zubereitung des Kaviars an der 
Quelle beobachten können. 

Der Kaviar wird bekanntlich — abgesehen von 
einigen minderwertigen Sorten — von verschie¬ 
denen Störarten gewonnen, besonders vom gemei¬ 
nen Stör (Acipenser sturio L.), vom Hausen (Ac. 
huso L.) und vom Sterlet (Ac, ruthenus L.). Ein 
Fisch von etwa 15 kg Gewicht liefert 2—3 kg Eier. 
Die Eierklumpen werden in kleineren Mengen in 
kaltem Wasser etwas abgeschwenkt und dann auf 
ein aus Fäden geflochtenes Netz gebracht, dessen 
rechteckige Maschen 5 10 mm Weite haben; unter 
diesem Fadensiebe befindet sich ein mit viel engeren 
Maschen versehenes Metallsieb, das auf einem Eimer 
ruht. Indem nun auf den im oberen Siebe liegen¬ 
den Eierklumpen etwas gedrückt wird, trennen sich 
die Eier von einander und fallen durch die Maschen 
hindurch auf das feinere Sieb; die Häute und das 
Fett des Eierstockes bleiben auf dem oberen Siebe 
zurück. Nachdem nun die Eier noch einmal durch¬ 
einander gemengt und mit kaltem Wasser über- 
ossen worden sind, lässt man sie einige Augen- 
licke abtropfen und bringt sie dann in eine Ter¬ 


rine, wo sie mit einigen Fingerspitzen Salz schwach 
gewürzt werden. 

Die Zubereitung dieser Art Kaviar geht unge¬ 
mein rasch vor sich; so konnte Varignv schon 
10 Minuten später, nachdem die Störe auf seinem 
Schiffe geschlachtet worden waren, frischen Kaviar 
essen. Bei uns ist dieser frische Kaviar ganz un¬ 
bekannt, da er wegen seines schwachen Salzge¬ 
haltes die weite Reise nicht verträgt. Bemerkt sei 
noch, dass im russischen Volke unser Ausdruck 
„Kaviar“ (wir haben das Wort von den Franzosen 
übernommen) ganz unbekannt ist, dort wird er nur 
Ikra genannt. 

Der für den Versandt bestimmte Kaviar wird 
in der Weise hergestellt, dass man die Eier in Ge- 
fässe mit salzhaltigem Wasser, etwa 25 pCL Salz 
enthaltend, fallen lässt, in dem sie etwa eine Viertel¬ 
stunde bleiben; dann holt man sie heraus und lässt 
sie trocknen. Dieser Kaviar hält sich gut, da er 
stark genug gesalzen ist. Noch stärker gesalzen 
ist der sogenannte Presskaviar, der in der Weise 
zubereitet wird, dass man die Eier, nachdem sie 
einige Zeit im Salzwasser gelegen haben, noch mit 
Salz mischt und dann in leinene Säckchen bringt, 
wo sie einem gelinden Drucke auseesetzt werden. 

In manchen Gegenden wird auch von anderen 
Fischarten Kaviar gewonnen. So bereitet man aus 
den Eiern des Karpfens einen roten Kaviar (Ketzin), 
welcher vor etwa 200 Jahren in Russland durch 
die Juden in Mode kam, da dieselben dem Stör¬ 
kaviar Schuld gaben, den Aussatz zu erzeugen. In 
Norwegen benutzt man den Rogen des Kabeljaus, 
den man einfach in der Sonne trocknen lässt, in 
Hamburg den des Elbstörs, in Italien die Eier der 
Thunfische und Brassen; am Schwarzen Meer be¬ 
reitet man eine Art Kaviar aus den Eiern ver¬ 
schiedener Meeräschen, indem man die ganzen Eier¬ 
stöcke in Salzlake legt und dann trocknet, dieser 
Kaviar wird besonders nach Griechenland verkauft. 
Keine dieser Sorten kommt aber an Wohlgeschmack 
dem echten russischen Kaviar gleich. In der Wolga 
und an ihrer Mündung werden nach der neuesten 
Statistik etwa 384 Mill. kg Fische gefangen: daraus 
gewinnt man allein 640000 kg echten Störkaviar. 

Sch. 

• • 

• 

Zusammensetzung der Luft in grossen Höhen. 
Bekanntlich wurden in der Nacht vom 13. zum 
14. Nov. vorigen Jahres zur selben Stunde von 
Paris, Berlin, Strassburg und Petersburg aus un¬ 
bemannte Ballons ausgesandt. Das Gesamtresultat 
dieses Versuches wird sich erst nach Prüfung und 
Vergleichung der einzelnen Beobachtungen fest¬ 
stellen lassen; über ein Ergebnis indessen wurde 
schon jetzt der Pariser Akademie berichtet. Der 
Pariser Ballon hatte nämlich ausser der übrigen 
Ausrüstung ein luftleeres Gefäss mitgeführt, wel¬ 
ches sich, als der Ballon seine grösste Höhe von 
15,000 Metern erreicht hatte, automatisch öffnete 
und dann sofort wieder schloss. Es brachte also 
eine Luftprobe aus jener Höhe mit. Die Analyse 
ergab für dieselbe einen etwas stärkeren Prozent¬ 
gehalt an Kohlensäure und einen etwas, aber nur 
wenig geringeren Gehalt an Sauerstoff, als für die 
Luft an der Erdoberfläche. Dieses Resultat ist des¬ 
halb von Interesse, weil die Theorie gerade für 
die schwereren Gase der Atmosphäre, also für 
Kohlensäure und Sauerstoff, eine raschere Abnahme 
des Prozentgehaltes mit der Höhe fordert, als für 
den leichteren Stickstoff. Die Beobachtung aber 
hatte für die Luft auf den Bergen bisher immer 
nahezu die gleiche Zusammensetzung ergeben, wie 
in den Thälem; man hatte diese Abweichung von 
der Theorie der ausgleichenden Wirkung der Luft¬ 
strömungen und der Diffusion zugeschrieben. Das 


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Betrachtungen und Kleine Mitteilungen. 


Resultat des Pariser Versuchs lehrt nun, dass diese 
Faktoren auch in grösseren Höhen der Atmosphäre 
in gleicher Weise wirksam sind. b. d. 


Eine lebendig gebärende Eintagsfliege wurde 
von Causard beobachtet. Dazu zeichnet sich das 
Tier, welches den Namen Chloeopsis diptera ftüirt, 
noch durch eine relativ erstaunlich lange Lebens¬ 
dauer aus; denn die eingefangenen Tierchen blie¬ 
ben über drei Wochen am Leben. {Compt. rend. 
T. 123, p. 705.) Rk. 


Im oberen Devon Westpennsylvaniens wurde, 
wie O. C. Marsch mitteilt, die guterhaltene Fusa- 
spur eines Wirbeltieres gefunden. Damit ist der 
Beweis erbracht, dass schon im Devon, aus wel¬ 
chem man bisher nur Fische kannte, luftatmende 
Wirbeltiere gelebt haben. (American Journal of 
Science 1896, ser. 4, vol. II, p. 374.) Rk. 


Sprechsaal. 

Herrn fV. M. in L. Auf Ihre Anfrage betreffs 
einer Erklärung für den Umstand, dass eine Magnet¬ 
nadel sich immer in die Richtung Nord-Süd einstellt, 
falls sie in einer horizontalen Ebene frei beweglich 
ist, dass aber ferner sich ihre Axe an verschiedenen 
Punkten der Erde um verschiedene Winkel gegen 
den Horizont neigt, wenn völlige Freiheit der Be¬ 
wegung vorhanden ist, wenn sie alßo z. B. in ihrem 
Schwerpunkt an einem Faden aufgehängt wird, ist 
Folgendes zu erwidern: Zunächst ist bekannt, dass 
die Richtung „magnetisch Nord-Süd“ nicht den gastro¬ 
nomischen Meridianen entspricht, sondern dass diese 
mit den Meridianen an verschiedenen Erdorten sehr 
verschiedene Winkel, die sogenannte Deklination 
(Variation oder auch Abweichung) einschliesst, dass 
auch diese Richtungen nicht etwa alle in grössten 
Kreisen liegen, die sich in denselben zwei Punkten 
auf der Erdoberfläche schneiden, sondern dass die 
Verhältnisse weit verwickelter sind. Weiterhin ist 
auch nicht etwa der geometrische Äquator die¬ 
jenige Linie, auf welcher die gänzlich frei schwin¬ 
gende Nadel sich überall horizontal stellen würde, 
sondern die Linie, auf der dies geschieht, der so¬ 
genannte magnetische Äquator oder die „Null- 
Isokline" ist gar kein grösster Kreis, sondern eine 
Linie mehrfacher Krümmung auf der Erdoberfläche, 
die allerdings in der Nähe des Erdäquators ver¬ 
läuft, aber zum Theil auf der nördlichen Halbkugel 
gelegen ist (von Cap Palmas östlich bis nach den 
Phönix-Inseln im Stillen Ozean), zum Teil auf der 
südlichen (auf der zwischenliegenden Strecke), aber 
in ganz ungleichmassiger Entfernung vom Äquator. 
Danach ist schon zu vermuten, dass diejenigen 
Stellen auf der Erdoberfläche, an denen die Nadel 
vertikal steht, nicht mit den geometrischen Polen 
zusammenfallen. In der That hat nun den im Norden 
gelegenen auch Ross in der Nähe der Insel Boothia 
Felix im nordamerikanischen Archipel aufgefunden, 
während der entsprechende Punkt der SOdhalb- 
kugel nur aus theoretischen Betrachtungen ange¬ 
geben w’erden kann. Die durch die Praxis gefun¬ 
denen Richtungen der Magnetnadel lassen sich nun 
aber erklären, wenn man annimmt, dass die Erde 
ebenso auf dieselben einwirke, wie ein Eisenmagnet 
von ganz bestimmter Lage, Grösse und Stärke. 
Dass das möglich ist und auch mit einem gewissen 
Grad der Annäherung auf Grund der uns doch 
immer nur von einem verhältnismässig sehr kleinen 
Teile der Erdoberfläche bekannten Beobachtungs¬ 


daten (Deklination, Inklination und Grösse der Richt¬ 
kraft im horizontalen und vertikalen Sinne) hat 
schon Gauss durch seine theoretischen Forschun¬ 
gen über den Erdmagnetismus gezeigt.') Aus den 
von ihm geführten Rechnungen, die sehr kompli¬ 
zierter Natur sind, geht hervor, dass die mag¬ 
netische Wirkung der Erde gleichkommt der¬ 
jenigen von etwa je 8 einpfondigen Magnet¬ 
stäben auf jedes Kubikmeter des Erdinhätes, 
deren Axen alle parallel gerichtet wären einer 
Linie, die e(nen Punkt von 73“ 35' N. B. und 264® 
21' ö. L. von Gr. verbände mit einem solchen von 
72® 35' S. B. und 152® 30' östl. L. Der dieser Linie 
paraUele Erddurchmesser jedoch würde die Erd¬ 
oberfläche auf der Nordhemisphäre in 77® ^of Br. 
und 296“ 29' L. schneiden.*) In neuerer Zeit sind 
weiterhin dergleichen Berechnungen im Wesent¬ 
lichen nach den Gauss’sehen Prinzipien ausgeführt 
worden, namentlich auf Veranlassung eines der 
besten Kenner der erdmagnetischen Verhältnisse, 
des Wirkl. Geh. Admiralitäts-Rates Neumayer, 
Direktor der Deutschen Sternwarte. Die Resultate 
der teilweise von Pe ter sen*) und von A. Schmidt 
in Gotha ausgeführten Rechnungen Anden sich zu 
anschaulichen graphischen Darstellungen verwertet 
in der neuesten Ausgabe des Berghaus’schen 

g hysikalischen Handatlas, auf den wir an dieser 
teile verweisen müssen. Was nun die weitere 
Frage nach dem Zustandekommen der geschilder¬ 
ten magnetischen Wirkung der Erde anlangt, so 
ist zunächst klar, dass natürlich ein Mamet von 
oben angegebenen Eigenschaften in Wirklichkeit 
nicht die Ursache ist. — Sehr wohl können aber 
die überall, und namentlich in den langen Tele¬ 
graphenlinien häufig beobachteten sogenannten Erd¬ 
ströme sowohl Wirkung als Ursache dieses Ver¬ 
haltens sein. In wiefern die Einwirkung der übrigen 
Himmelskörper an dem Zustandekommen der mag¬ 
netischen Eigenschaften der Erde beteiligt sind und 
in wieweit sie dieselben zu beeinflussen vermögen, 
z. B. durch periodische Änderungen in denselben 
(die Schwankungen der Magnetnadel haben that- 
sächlich tägliche und jährliche Perioden), das quan¬ 
titativ zu bestimmen, ist bis heute noch nicht g?e- 
lungen; zu einer eingehenden Kenntnis wird es 
auch noch langer umfangreicher Beobachtungen be¬ 
dürfen. Ich verweise hier nur auf die Bestrebun¬ 
gen, die gemacht worden sind, den einheitlichen 
Charakter der abnormen magnetischen Erscheinun- 

g en für die ganze Erde nachzuweisen, z. B. bei 
telegenheit intensiver Polarlichterscheinungen, die 
offenbar damit in innigem Zusammenhang stehen. 
Natürlich sind es hier die Verhältnisse, welche in 
den Gebieten der magnetischen Pole stattfinden, 
die der Aufklärung bedürfen und welche schon an 
sich die Unternehmungen zur Erforschung dieser 
Gebiete rechtfertigen. a. 


I) Gauss, Ges. Werke. Bd. V. S. 163. 

*) Diese Orte verändern aber im Laufe der Zeit ihre Lage 
buchstäblich. Vgl. daher die Untersuchungen von Prof.Weyer 
in d. Astr. Nachr. 

*) Ernau u. Petersea, Die Grundlagen der Gauss'scben 
Theorie u. d. Erscheinungen d. Erd-Magn. etc. Berl. 1874. 


No. ao der Umsebaa wird enthalten: 

Schaeffer, Die Entwicklung des Neugeborenen. (Schluss). — 
Popp, Die Kunst auf der Strasse (das kOnstlerische Plakat). 
Illustriert. — Neubaur, Die deutschen Kolonien. I. Ostafrika. — 
Traber, Beeinflussung des Wetters. — Quilling, Die Tiara des 
Saitaphernes. — Teizner, Sprachliche Fragen. 


G. Horstmann’s Druckerei. Frankfurt a. M. 


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DIE UMSCHAU 

ÜBERSICHT ÜBER DIE FORTSCHRITTE ÜND BEWEGUNGEN AUF 
DEM GESAMTGEBIET DER WISSENSCHAFT, TECHNIK, 
LITTERATUR UND KUNST 

herauegegeben von 

DR. J. H. BECHHOLD 


Wbcheotlich eine Nummer. 

Zu beziehen durch 
jüle Buchhandlungen und 
Poatanstalten. 

Poatzeitungspreialiste No. 72913. 

Verlag von: 

H. Bechhold Verlag, Frankfurt a. M. 


Neue Kr&me i9.'ai. 


Preia vierteljährlich 
M. a^. 

Jahres. Abonnement 
Preis M. IO.— . 

Im Ausland nach Cours. 
Verantwortlicher Redakteur: 

Otto Adolf Wolters, Frankfurt a. U. 


^ 20. 1. Jahrg. 


Nachdruck aua dem lukcdt der Zeilaehrifl ohne Erlauhuü 
der Redaktion verboten. 


1897. 15. Mai. 


Die Kirnst auf der Strasse. 

Von Hermann Popp. 

Seit ungefähr fünf Jahren hat bei uns in 
Deutschland, nachdem wie gewöhnlich andere 
Länder vorangingen, der Satz, dass die Kunst 
erst beim Ölbild und der Marmorstatue be¬ 
ginne, keine Berechtigung mehr. Künstler 
und Publikum kamen, durch die Beispiele 
unserer Nachbarn im Westen, ebenfalls zur 
Einsicht, dass es ausser den beiden genann¬ 
ten Kunstgattungen doch noch etwas gäbe, 
wodurch sich künstlerisches Empfinden aus- 
drOcken, worin sich hohe Kunst widerspie- 
geln Hesse. Dieses Etwas ist die sogenannte 
Kleinkunst, die räumlich beschränkter wie die 
Malerei und Plastik, in ihren technischen 
Hilfsmitteln jedoch umfassender, reichhal¬ 
tiger ist. 

Die zum Teil mit grossem Erfolg gekrön¬ 
ten Versuche, die beim Beginn dieser maler¬ 
ischen und zeichnerischen Kleinkunst, der 
Kunst der feinen Illustration, der Buchorna¬ 
mentik, der Lithographie und Affiche in 
Deutschland gemacht wurden, haben sich bis 
heute in dem Masse entwickelt, dass wir 
staunend vor den Erzeugnissen dieses neuen 
voll entwickelten Kunstzweiges stehen, der 
sich, von der grossen Menge kaum beachtet, 
allmählich und fast im Stillen zur Knospe aus¬ 
reifte, um dann quasi über Nacht als präch¬ 
tige buntschillernde Blume aufzubrechen. 

Mit sorgsamen Händen muss sie aller- 
dingä weitergepflegt werden, um uns erhalten 
zu bleiben, fleissig muss sie begossen und 
genährt werden, damit sich uns nicht eines 
Tages ein leerer verkrümmter Stengel ent¬ 
gegenstreckt und wir vor den Resten einer 
einst glänzenden Modeblume stehen. 

Vorläufig ist allerdings für solchen Pessi¬ 
mismus noch kein Grund vorhanden. 

Ich gebrauchte vorhin beim Spezifizieren 
der Kleinkunst den Ausdruck „Affiche", der 

Uinacbau 1897. 


uns als „Plakat" geläufig ist und Gegenstand 
unserer weiteren Betrachtungen sein soll. 

Die Heimat des Plakats ist England, von 
wo aus es um die Mitte der fünfziger Jahre 
hauptsächlich durch Ch^ret nach Frankreich 
verpflanzt wurde, dort seinen künstlerischen 
Höhepunkt erreichte und seit einigen Jahren 
einen neuen Impuls zur zeichnerischen Thätig- 
keit unserer deutschen Künstler bildet. 


B 

f\ 

R 

B 

U 

R 


HETOA liAMPDEK 

AhD HA5 MO FEftR 



MITHHELL STHLtT 



Plakat von Burch. 


ao 


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346 


Popp, Die Kunst auf der Strasse. 


Vereinzelt und schüchtern trat es auf, bald Dresden, Leipzig, Berlin und kürzlich inMün'chen 
hier bald da für Kunstausstellungen Reklame stattfanden. Berühmte Namen waren da auf 
machend, ohne jedoch anfänglich für mehi' ' den bunten Verherrlichungen von Cigaretten-, 
als eben einen Maueransclilag angesehen zu Lampen- und Nähmaschinenfabriken zu lesen, 
werden. Man hatte sich von dem Vorurteil, und freudig konnte man erkennen, dass der 
das die sogenannte „hohe Kunst“ ins Leben letzte Rest von Jenem alten Vorurteil ver- 
rief, noch nicht einancipiert, die Zeichner j schwunden war, dass man sich sagte — ja 
galten nicht als Künstler in dem Sinne wie j wenn hier die Künstler, die durch ihre Ge- 
die Maler, und erst als Letztere sich daran | mälde, durch „hohe Kunst“ zu Berühmtheiten 
erinnerten, dass Künstler wie Dürer, Holbein, geworden, in künstlerischer Form van Hou- 
Jost Amman u. A. es nicht als die hohe ' ten's Cacao anpreisen, so ist dies eben doch 
Kunst entwürdigend ansahen, wenn sie Knt- keine Prostitution, sondern es ist wirkliche 
würfe für kunstgewerbliche Arbeiten wie Dolch- Kunst. Wenn man dies auch schliesslich nicht 
scheiden, Geschmeide, Buchverzierungen, He- im vollsten Masse empfand, so gew'ährte 
schlage etc. verfertigten, da griffen sie denn einem doch des Künstlers Name eine gewisse 
endlich auch zum Zeichenstift. Damit war Garantie. 

der neuen Kunst der Boden urbar gemacht, Im Jahre 1896 machte Berlin den ersten 

in dem sie feste Wurzel fassen konnte. Gar Versuch mit einer Plakatausstellung, die im 
bald überzeugte man sich, dass diese Kunst, vorigen Jahre wiederholt, ein höchst interes- 
die sich haupsächlich in den Dienst der In- santes Bild internationaler Plakatkunst gab 
dustrie stellte, trotzdem des Künstlers Indi- und für Leipzig die Anregung zu den Aus- 
vidualität und wahres Kunstempfinden zum Stellungen der Kunstaiistalten Grimme & 
Ausdruck brachte, dass ferner den sich be- Hcmpel und Gi esecke & Devrient war, 
merkbar machenden dekorativen Trieben der die besonders reich mit Plakaten der Näh- 
Weg gebahnt werden konnte und «dass schliess- maschinen- und Fahrrad - Industrie vertreten 
lieh, was bei der ,,hohen Kunst“ doch immer waren. Man sah hier schon die praktische 
mit gewissen Schwierigkeiten verknüpft war, Bethätigung der Industrieinteressen und eine 
Name und Geld zu verdienen sei. Von die- Steigerung der künstkrischen Interessen des 
sen Gesichtspunkten ausgehend, erweiterte Publikums. 

sich nun der Kreis der Zeichner zusehends. Die Münchener Sezession vom Frühjahr 


Das Interesse wurde 
nicht nur beim Publi¬ 
kum, sondern auch, 
was für die Existenz¬ 
fähigkeit der künst- 
lerischenReklamevon 
grösster Wichtigkeit 
ist, bei der Industrie.- 
erweckt, die allerdings 
noch behutsam und 
vorsichtig tastend, 
aber doch sehr neugit ■ 
rig dieserErscheinung 
gegenüberstand. Die 
KunstverlagshändKr 
und Kunstanstalten, 
die hier wieder sehr fei¬ 
ne Nasen hatten, ver¬ 
anstalteten auf einmal 
Spezialausstellungen, 
erliessen Preisau.c- 
schreiben für Plaka;- 
entw’ürfe,an denen viin 
Seite der Künstler leb¬ 
haft Teil genommtn 
wurde. Deutsche und 
Ausländer beschickten 
die Ausstellungen, die 
inden letztenjahren in 



Ä-RTISTIiaVE 




I y Coi'n de lä rue Des^Rry^ 

4,3RU6KkA'TäuR 0’AuV6g6Ni 

luMi'u «.MUtM« /•» nuatTttM» 


1896 vereinigte end¬ 
lich Hohe Kunst mit 
Klein-Kunst und ge¬ 
währte in den Räu¬ 
men, in denen Boeck- 
lin’s gewaltige Phan¬ 
tasien hingen, den 
Plakatentworfen von 
De Feure, den Far¬ 
bendrücken von Tou- 
louse-Lautrec, den 
Lithographien vonLu- 
nois und denen des 
durch seine wuchtigen 
englischen Seifensie¬ 
der-Plakate berühmt 
gewordenen Beards- 
ley eine Freistätte. 

I n denselbenRäumen 
veranstaltete kürzlich 
der Kunstverlag Lit- 
tauer eine bedeu¬ 
tende internationale 
Plakatausstellung, die 
sich vor andern der¬ 
artigen Ausstellungen 
durch ihre Reichhal¬ 
tigkeit an französi¬ 
schen Plakaten aus- 


Wien, Frankfurt a.M., 


Plakat von Grün. 


zeichnete. Eineunend- 


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Popp, Die Kunst auf der Strasse. 


347 


liehe Fülle von feinem Geschmack, wirklichem 
künstlerischem Talent, sprühendem Geist und 
reicher Erhndung trat einem da entgegen und 
zeigte wieder, dass der Franzose überall, wo das 
Leben einen seiner Reize enthüllt, zugreift 
und ihn künstlerisch verwertet. 

Neben dem König der Affiche, Jules 
Chöret, dessen blitzender Geist und schim¬ 
mernde Eleganz auf den Reklamen für „Pa- 
piercigarettes-Job'^ wie auf den Riesenpro¬ 
grammen des „Palais de Glace'^ stets originell 
und zündend wirkt, treffen wir den grossen 
Kreis der andern „maitres d’affiche". Tou¬ 
louse • Lautrec ver¬ 
blüfft mit seinen pi¬ 
kanten Momentbil- 
dem aus „moulin 
rouge“, Georges 
Meunier zeigt uns 
intime Reize des 
„Elys^eMonmartre“, 
der Pessimist Forain 
fOhrtuns einepacken- 
deStrassenszene vor, 
um irgend welche 
Art von Zündhölzern 
anzupreisen, Thöo- 
phile Steinlen, der 
grosse Psychologe, 
empBehlt „les meil- 
leures thös de la 
Chine“ und Fran<;ois 
Copp^e’s Roman „le 
coupable“.. Sein Bild 
der Yvette Guilbert 
entzückt durch die 
feine Charakteristik 
wie die als Jeanne 
d’Arc verherrlichte 
Sarah Bernhardt 
Grasset’s, dessen 
Hauptleistung das 
Plakat für „Encre 
L. Magnet“ (la meil- 
leure de toutes les 
eueres) bildet — und 
so etwas sollte viel¬ 
leicht nicht in die 
Kategorie der hohen 
Kunst gehören, da es doch eines Platzes in 
jeder Gallerie würdiger wäre, als manches 
Gemälde. 

Alle französischen Künstler, unter denen 
noch Puvis de Chavannes, Victor Mignot, der 
Schöpfer des herrlichen Plakats „Kermesse de 
Bruxelles“ und viele Andere besonders auf¬ 
fielen, auch nur anzuftihren, wäre hier unmöglich. 

Die Genannten sind nur einige köstliche 
Perlen aus der Krone. Von Frankreich aus 
verfolgen wir die Anregungen zur „Affiche“ 


hinüber nach Belgien, das durch den origi¬ 
nellen Berchmanns und Henri Meunier ver¬ 
treten war, und dann nach England, das, ob¬ 
wohl es die ursprüngliche Heimat des Plakats 
ist, doch wieder von Paris aus neu befruchtet 
wurde. 

Hier sind es der schon genannte einfache 
aber wuchtige Aubrey Beardsley, Hardy, 
Gibbs, Gray, Greiffenhagen, Dearmer, Louis 
Rhead u. A., die wie die Amerikaner Bradley 
und E. Ponfield Carqueville sehr viel geschickt 
hatten. 

Die englischen und besonders die ameri¬ 
kanischen Plakate 
verleugnen den Na¬ 
tionalcharakter nicht. 
Während die fran¬ 
zösischen wie auch 
die deutschen Rekla¬ 
men sich bemühen, 
auffallend ohne auf¬ 
fällig zu sein, be¬ 
mühen sich jene so 
laut wie möglich ihr 
„SunlightSoap is the 
best“ in die Welt hin¬ 
auszuschreien. Un¬ 
geheure Dimensio¬ 
nen einnehmend,stel¬ 
len sie in grellen 
Farben den nur fürs 
Excentrische geneig¬ 
ten Sinn der Kauf¬ 
mannsnation dar. 

Alles erinnert un¬ 
willkürlich an die 
zwanzig Stock hohen 
Häuser, an die im¬ 
mensen Eisenbahn¬ 
brücken. Es sind 
wirkliche Reklamen, 
diese bunten gro- 
teskenDarstellungen, 
sie haben Künstler 
zu Autoren, aber ihr 
qualitativer, künst¬ 
lerischer Wert ist ge¬ 
ring. 

Zum Schluss kom¬ 
men unsere Deutschen. Obwohl ihre Leist 
ungen, die doch erst aus jüngster Zeit datieren, 
mit den plakatgeschulten Ausländern keinen 
Vergleich zu scheuen brauchen. 

Wie die Franzosen unterstehen auch sie 
dem Einfluss der aus weiter Ferne, aus Japan, 
auf sämtliche europäische Zeichner einge¬ 
wirkt hat. 

Die freie, jeder Konvention entgegenstre¬ 
bende Auffassung der Natur, der ungemein 
scharfe Blick für jede Art von Bewegung, 

20 * 



Plakat von R. Riemerschmied. 


PreisgekrAaC mit dem ersten Preise in der Konkurrenz 
der Firma Giesecke & Devrient, Leipzig. 


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348 


Popp, Die Kunst auf der Strasse. 


die spielende Grazie, der liebenswürdige an¬ 
mutige Humor, der den japanischen Zeich¬ 
nungen jenen unsagbar poetischen Duft ver¬ 
leiht und ihre Verfertiger zu den geistvollsten 
Zeichnern der Welt gestempelt hat, macht 
sich auch bei uns geltend. 

Die Naivetät der Linien, die nur nur das 
Wesentliche der Dinge wiedergeben, das ab¬ 
sichtlich Unsymmetrische, die geniale Nach¬ 
lässigkeit, die so ungemein zur Erhöhung 
malerischer Wirkungen beiträgt, das Alles 
haben wir den Malern von Nippon, an deren 
Spitze jener herrliche „peintre des maisons 
vertes“ stand, zu verdanken. 

Von den deutschen Künstlern, die diese 
Münchener Ausstellung beschickten, waren 
die Einheimischen 
durch Franz Stuck, 

Jank, R. Seitz, O. 

Fischer, Gysis, 

Speyer, HansThoma, 

Greiner, Zumbusch 
und Th. Heine, der 
vielleicht den stärk¬ 
sten japanischen Ein¬ 
fluss aufweist, ver¬ 
treten. Von den Be¬ 
schickern des Nor¬ 
dens fielen nur Un- 
ger, Sattler und 
Sütterlin auf. 

Ungemein Vieles 
und Mannigfaches 
war dem Auge des 
Beschauers darge¬ 
boten, dem ein über¬ 
aus reiches, verglei¬ 
chendes Material zur 
Verfügung stand, aus 
dem viel zu lernen 
war. Wenn im Ver¬ 
gleich zu den Cham- 
pagnerblütigen F ran- 
zosen, deren „af- 
fiches“ durch irgend 
eine spontane Gei¬ 
steslaune mit raffi¬ 
nierter Technik auf 
die weisse Fläche gezaubert werden, unsere 
deutschen Künstler vielleicht etwas zu viel 
zum Ausdruck zu bringen suchen und dadurch 
etwas schwer in der Wirkung sind, so bleiben 
sie doch in Allem Künstler im w'ahren Sinne 
des Wortes. 

Grosses und Schönes und für die Zukunft 
Vielversprechendes war in den Räumen der 
Secession unter dem Namen Plakatausstellung 
zusammengetragen. 

•) Ahs dem .Kunstgewerbeblatt“, Veil.ig von Seemann & 
Comp., Leipzig. 


Nun ist aber doch der Kunstsalon nicht 
der Ort, der als die Heimstätte der künst¬ 
lerischen Reklame bezeichnet werden kann. 
Der Ort ist vielmehr die Strasse, die Litfas- 
Säule, die Häusermauer, jeder freie Platz 
unter freiem Himmel, aber nur kein geschlosse¬ 
ner Raum. 

Der grosse Erfolg, der den Künstler, die 
Industrie und das Publikum zu gleichen Tei¬ 
len befriedigen würde, hängt von der Er¬ 
oberung der Industrie, von dem Erscheinen 
des Plakats auf der Strasse ab. 

Hierin sind wir Deutsche aber noch sehr 
zurück. Welch entzückendes Bild bieten die 
Strassen von Paris in dieser Beziehung, ge¬ 
genüber den unseren. Dort lacht einem von 

jeder Anschlagsäule, 
Häusermauer und 
Bretterwand lächeln¬ 
de Grazie, prickeln¬ 
des Leben entgegen. 
Aus jedem Thorweg 
kichert ein Ch^ret’- 
scher Schalk im sei¬ 
denen „jupon“ und 
lockt und.winkt, bis 
man abends eben 
doch im Palais de 
Glace herumnascht 
— W’ährend einem 
bei uns in grossen 
Buchstaben und 
Zahlen Kathreiners 
Malzkaffee und Was- 
muths Hühneraugen¬ 
ringe entgegengäh¬ 
nen. 

Selten kommt es 
vor, dass unter der 
Menge brutalerBuch- 
staben und Zahlen 
aller Grössen eine 
künstlerische Leist¬ 
ung angenehm und 
erfreuend auffällt. 
Und doch zeigen die 
Plakatausstellungen, 
wie schön das Alles 
sein könnte. Wie wohl thäte einem in dem 
Hasten und Lärmen der Strassen, wo es stets 
genug Hässliches zu sehen giebt, so eine 
lachende erfrischende Oase. 

Die ♦ Hauptanregung geht bis jetzt im¬ 
mer noch von gelegentlichen grossen Unter- 
nelmiungen, von einzelnen Gesellschaften 
und Kunstanstalten aus. Auf diese Weise 
entstand im Jahre 1889 das Stuck’sche 
Secessionsplakat, ferner das bekannte Sütter- 
’ lin’sche Plakat zur Berliner Gewerbeausstell- 
, ung, und das herrliche Plakat des Malers 



Plakat von Hans Paul.*J 


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Popp, Die Kunst auf der Strasse. 


349 





Plakat von Johanna Hipp. 

Äibert Wimmer für die Htterarische Gesell¬ 
schaft in Leipzig, das noch heute das Ent¬ 
zücken der Stadt bildet, so dass man sich gar 
nicht entschliessen kann, es zu überkleben. 

Dem Winter mit seinen Faschingsfreuden 
war es Vorbehalten, für Karnevalsgesellschaften 
und Redouten manche künstlerische Reklame 
erstehen zu lassen. In München sind es 
speziell zwei für die Bals-pares im Deutschen 
Theater entworfene Reklamen von Johanna 
Hipp und Frieda Ehrhardt (in Farbendruck 
ausgeführt von der Aktiengesellschaft Mün¬ 
chener Chromolithographische Kunstanstalt), 
die zum Besten gehören, was wir hier seit 
Langem auf der Strasse zu sehen bekamen. 

Kleinere Blätter von plakatartiger Wirk¬ 
ung sind in den Schaufenstern der Kunst¬ 
handlungen in Hülle und Fülle zu sehen. Da 
sind herrliche dekorative Arbeiten von Mucha, 
dessen farbenprächtige Reklame für Alfred 
de Mussets „Lorenzaccio“, Originallithogra¬ 
phien von Hans Thoma und Dasio, originelle 
Titelblätter moderner Bücher und Musikstücke, 
dann die jede Woche in neuem Umschlag 
prangende Zeitschrift „Jugend“, die der 
grossen Künstlerschaar Gelegenheit giebt, sich 
in Linie und Farbe auszutoben. Ich will nur 
an Zumbuschs köstliches Blatt, auf dem die 
beiden jugendfrischen Mädchen mit dem alten 


vertrockneten Männlein Ober eine Wiese tollen, 
an Rezniceks flotte Weiber, an einzelne Blät¬ 
ter von Meisseis, Karl Bauers erinnern, die 
mit zum Originellsten gehören, was auf diesem 
Gebiete geleistet wird. Vieles, vieles wäre 
noch anzuftlhren, darunter auch der Kuriosität 
wegen die grünen, in Pfauenschwänze aus¬ 
laufenden weiblichen Figuren des Herrn 
Witzei, die wirklich als Verirrungen oder 
schlechte Witze zu betrachten sind. 

Doch der Platz hier ist beschränkt; ich 
werde gelegentlich w'eiter darüber berichten, 
denn wir stehen noch im Zeichen der Ent¬ 
wicklung, des Aufschwungs. 

Gerade war wieder ein stark beteiligter 
Wettbewerb für ein Plakat der Parfümerie¬ 
fabrik Jünger & Gebhardt in Berlin, in 
dem Hans Seliger den ersten, Fritz Bersch 
den zweiten und Julius Voss den dritten Preis 
erhielten. 

Möge doch in allen Städten diese Berliner 
Firma viele Nachahmer finden, und es da¬ 
durch ermöglichen, dass die Plakatkunst nicht 
nur im Ausstellungsgebäude die Gourmands, 
sondern als Kunst auf der Strasse das Volk 
erfreue. Dass die Kunst zum Volk will, sehen 



Plakat von Frieda Ehrhardt. 


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35° 


SCHAEFFER, DeR ENTWICKLUNGSGANG DES NEUGEBORENEN. 


wir an tausend Beispielen aus dem Gebiet 
der Kleinkunst, und wahrlich durch diese 
Kunst auf der Strasse kann unendlich viel 
Gutes geschaffen werden, kann das Volk all* 
mählich zum Verständnis der modernen hohen 
Kunst herangebildet werden, von dem es 
noch so weit entfernt ist. 


Der Entwicklungsgang des Neugeborenen 
und seine Abhängigkeit von der Lebensweise 

und Körperkonstitution der Eltern. 

Voa Dr. Oskar Schaeffer. 

(Schluss.) 

Wir hatten letzthin erörtert, dass der Ter¬ 
min des Erwachens der Sinnes-Wahrnehmun- 
gen bei den Säuglingen von dem individuellen 
Fortschritte der gesamten Körperentwick¬ 
lung abhängig ist, und dass diese ebensosehr 
durch die angeborene Konstitution, wie durch 
die Ernährung und Pflege bedingt wird; wir 
erwähnten, dass zu dem Zwecke des Über¬ 
ganges von dem foetalen, im wesentlichen 
diu'ch die Mutter versorgten, zu dem selbst¬ 
ständigen Stoffwechsel die ersten Lebens¬ 
wochen des Säuglings ausschliesslich dem 
widerstandsfähigeren Aufbau des ganzen Or¬ 
ganismus gewidmet seien. Das Körpergewicht 
gewährt deshalb den sichersten Anhalt für 
den Fortschritt des Gedeihens des Kindes 
oder für die Hemmungen durch irgend welche 
verborgene Schäden, deren Ursachen oft ge¬ 
nug garnicht in dem Kinde oder der Nahr¬ 
ung, ja garnicht einmal dauernd konstitutionell 
in den Eltern zu liegen brauchen, sondern 
vorübergehend einmal die Mutter während 
der Schwangerschaft oder noch früher das 
Eltempaar betroffen haben können. 

Vergleichen wir die Gewichtsschwankungen 
lauter gesunder Kinder (von gesunden Eltern) 
vom ersten Lebenstage an, so finden wir ganz 
typische Senkungen und Hebungen, welche — 
mittelst einer Linie graphisch vergegenwärtigt 
— eine Kurve repräsentieren, die gleich nach 
der Geburt stark abfällt und das Mindest' 
gewicht als am 3. Lebenstage erreicht dar¬ 
stellt. Dann steigt das Körpergewicht allmäh¬ 
lich wieder; aber nur 14 pCt. aller Kinder 
erreicht bereits am Ende der ersten Lebens¬ 
woche dasselbe Gewicht, mit dem sie „das 
Tageslicht erblickten“; viele gedeihen erst 
am 7. oder 10. Tage so weit, und 44 pCt. 
bleiben sogar am Schlüsse der ziveiten Woche 
noch unter ihrem Anfangsgewichte. 

Suchen wir nach der Quelle dieser Ge¬ 
wichtsabnahme, so müssen wir dieselbe im 
Stoffwechsel suchen. Vergleichen wir das 
absolute Gewicht der eingenommenen Milch 


mit der Summe der abgegebenen Endprodukte 
des Darmes und der Nieren, dazu noch der 
durch die Haut und die Lungen ausgeschie¬ 
denen wässerigen und gasigen Stoffwechsel¬ 
produkte, so sehen wir, wenn wir erstere 
Gnippe mit Plus, die letztere kurzweg als 
Ganzes betrachtet mit Minus bezeichnen, dass 
sich gegenüberstehen 

für die Zeit des i. bis 3. Tages incl.: 

+ 300 g eingenommene Milch, 

— 453 g aus geschiedene Stoffwechselprodukte 

— 153 g beträgt also das voraussichtlich zu berech- 

rechnende Defizit des Körpergewichtes; 
in der That beträgt dasselbe aber in 
diesen drei Tagen durchschnittlich 
JJ7i6gr; es bleibt also noch der Sub- 
stanzverbrauch von — iS ^6 gr zu er¬ 
klären. 

Für den Zeitraum vom 4. bis 7. Tag incl. erhal¬ 
ten wir folgende Zahlen: 

Das Kind hat in dieser Zeit 
eingenommen in Sa. . -p 1539g Milch 
Das Kind hat in dieser Zeit 
ausgeschieden in Sa. . — 1013 g Sto ffwechselprod. 
die voraussichtlich zu be¬ 
rechnende Körper-Z m- 

nahme .-f 526g V 

in der That aber hat das ^ 

Kind durchschnittlich 
nur zugenommen um . -p 210g 
so bleibt also auch hier die Gewichtszunahme hinter 
der Erwartung und Berechnung zurück; es bleibt 
auch hier ivieder der Substanzverbrauch von 

— erklären! 

Nun wissen wir aber, dass beim Stoff¬ 
wechsel ein erheblicher Teil unserer Nahrungs¬ 
zufuhr in eine andere nicht mehr mittelst der 
gröberen Wagschale nachweisbare Form um¬ 
gewandelt wird, d. K. dass feste und flüssige 
Stoffe chemisch so zerlegt werden, dass sie 
in Form von Gasen abgeführt werden. Bevor 
diese Ausscheidung eintritt, repräsentiert sich 
uns also ein „Wechsel“ der Form, die ich 
kurz und allgemein als „Bewegung“ bezeich¬ 
nen will, eine feinste Molecular- und Atom¬ 
bewegung. Diese Bewegung stellt sich uns 
dar in Gestalt der mancherlei Funktionen des 
Körpers. Die Verdauungsorgane verarbeiten 
die zugeführte Nahrung in derartige Stoffe, 
dass sie schliesslich in Gestalt von Lymphe 
oder Blut ebensowohl allen Organen wie auch 
für sich selbst die aufbauenden Substanzen be¬ 
reiten ; gerade aber während die Verdauungs¬ 
organe arbeiten, nutzen sie sich ab; sie be- 
dürfen um diese Zeit einer stärkeren Blut¬ 
zufuhr. Dadurch entsteht weiterhin im Blute 
und in. der Lymphbahn ein gewisser Mangel 
an „Subsistenzmitteln“ für die derselben be¬ 
dürftigen arbeitenden Organe. Die Regene¬ 
ration des Blutes findet aber unablässig in 
besonderen blutbereitenden Organen (z. B. im 
Knochenmarke, in der Milz, der Leber) statt; 
von dort kommt also so lange kräftiger neuer 
Zuschuss, als diese Organe selbst genügend 


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SCHAEFFER, DeR ENTWICKLUNGSGANG DES NEUGEBORENEN. 


351 


ernährt werden, bezw. aus dem mit Lymphe 
vermischten Speisesafte die nötigen Stoffe 
entnehmen können. 

Im Blute finden wir teils in den roten, 
teils in den weissen Blutkörperchen, teils im 
Blutwasser, worin jene suspendiert sind, Ei¬ 
weisskörper (Hämoglobine), an welche Eisen, 
Sauerstoff, Kohlensäure und Stickstoff che¬ 
misch gebunden sind. Ferner farblose Ei¬ 
weisskörper (Albumin, Globuline), Kalium und 
phosphorsaure Salze, Kochsalz, Natriumcar¬ 
bonat, Fette, auch Seifen und Cholesterin, 
sodann Lecithin, dessen Spaltungsprodukt die 
Glycerinphosphorsäure ist, Traubenzucker, 
Harnstoff — alles enthalten in etwa 90 pCt. 
Wasser. 

Von den Eiweiskörpern haben aber Ver¬ 
schiedene offenbar ganz spezifische und für 
den Körper höchst wichtige andere Eigen¬ 
schaften, als lediglich zur Ernährung der Or¬ 
gane zu dienen; sie repräsentieren eine Art 
„Gegengift“ teils gegen giftige Stoffwechsel¬ 
produkte, wie sie sich im Körper ständig selbst 
erzeugen, teils gegen feindlich eingedrungene 
Bakterien. Solche Stoffe entstehen z. B. in 
der Schilddrüse; ist dieselbe erkrankt, wie bei 
der Kropfkrankheit, so leidet der Stoffwechsel 
des gesamten Körpers darunter, es entsteht 
eine Allgemeinkrankheit. Wird eine Schild¬ 
drüse herausgenommen, so entstehen heftige 
Beschwerden, sogenannte Aüsfallssymptome; 
bei einigen Tierarten führte dieser Versuch 
zum Tode unter Vergiftungserscheinungen. 
Wird hingegen Schilddrüsensaft unter die 
Haut gespritzt, so verschwinden alle diese 
Symptome. 

Was oben von der stärkeren Blutzufuhr 
zu den Verdauungswerkzeugen während ihrer 
Thätigkeit gesagt wurde, gilt für jedes Or¬ 
gan, so lange es in Funktion tritt; für die 
Muskeln, ftlr die Nerven, das Gehirn, — 
dauernd für Herz und Lungen. Die Funktio¬ 
nen der Organe sind „spezifische Bewegun¬ 
gen", die sich in den Zellsystemen derselben 
vollziehen; die Bewegungen haben einen spe¬ 
zifischen Effekt, eben das Resultat jeder be¬ 
treffenden Funktion; als Nebenerscheinung 
finden wir, wie bei vielen chemischen und 
physikalischen Vorgängen, das Auftreten von 
Wärme. Da nun die Summe aller Funktionen 
in 24 Stunden bei jedem Individuum eine 
sich ziemlich gleichbleibende ist, da ferner 
die Blutzirkulation ftlr eine in gleicherweise 
sich vollziehende Wärmeverteilung sorgt, die 
auf nervösem Wege von einem Wärmezentrum 
im Gehirn aus reguliert wird, und da end¬ 
lich der Hunger nach mehr oder minder 
wärmeproduzierenden Nahrungsmitteln, der 
Trieb zur lebhafteren Bewegung bei niedrigerer 
Temperatur (event. sogar Muskelbewegungen 


wider Willen — Zähneklappern vor Frost) 
und die Bekämpfung des Frostgefbhles durch 
wärmere Kleider und Zimmertemperatur auch 
in dieser Hinsicht regulierend wirken, so ist 
die Folge, dass die Körpertemperatur inner¬ 
halb physiologischer Schwankungen je nach 
der Tageszeit zwischen 36,2° und 37,5'^ C. 
eine in allen Klimaten und bei allen atmo¬ 
sphärischen Temperaturen im Wesentlichen 
gleichbleibende ist. 

Der Stoffwechsel im Körper bestimmt also 
nicht nur das Gewicht, sondern durch die 
gesamten Funktionen auch die Wärme des¬ 
selben; wir sehen die aufgenommeneNahrungs- 
menge sich umwandeln in i) Erhaltung der 
Substanzmenge und Aufbau des Körpers, mit¬ 
hin des Gewichtes, 2) die Leistung der verschie¬ 
denen Organfunktionen, d. h. Arbeit und Be- 
wegung, 3) die im Gefolge der letzteren sich 
bildende Wärme, die regulierte Bilanz der 
Körpertemperatur. 

Wenden wir uns unter Benutzung dieser 
Betrachtungen zu jenen auffälligen Körper- 
gewichtsdi^erenzen zurück, so können wir zu¬ 
nächst nur daraus schliessen, dass die in den 
ersten Tagen aufgenommene Milch nicht zum 
Aufbau des Körpers verwendet wird; denn 
das Gewicht desselben nimmt ja sogar ab. 
Anders steht es bezüglich der Verwendung 
zur Instandsetzung der verschiedenen Funktio¬ 
nen. Bisher waren, wie wir gesehen haben, 
nur wenige der Organe in Thätigkeit und 
auch diese weit schwächer, als vor der Ge¬ 
burt; die Bewegungen der Gliedmassen waren 
seltener und weit weniger kräftig, die Atem¬ 
bewegungen fehlten, die Darmthätigkeit und 
die der Verdauungsdrüsen war eine minimale; 
nur die dem eigenen Körperaufbau dienen¬ 
den Organe verarbeiteten energisch die im 
foetalen Blute von der Mutter eingetauschten 
Stoffe; die Leber, Milz, Nieren, Nebennieren, 
Schild- und innere Brustdrüse (Thymus), das 
Knochenmark; das foetale Herz schlägt zwar 
viel häufiger (120— 140 mal die Minute), leistet 
aber doch eine weit geringere Arbeit. 

Die erwachende Respiration stellt einen 
neuen Posten in den Konsum von Kraft¬ 
material ein, schafft aber gleichzeitig durch 
die Verbrennung des letzteren, d. h. durch 
die chemische Verbindung mit Sauerstoff im 
inneren Stoffwechsel, den mächtigen Faktor 
der Wärmeproduktion. 

Die dem Körper in Gestalt von Nahrung 
und Sauerstoff zugeftlhrten „Spannkräfte“ wer¬ 
den also in „lebendige Arbeit" und in Wärme 
umgesetzt. Ruht der Körper, so wird nur 
Wärme produziert; wird gearbeitet, so.setzen 
sich die „Spannkräfte" in Arbeit und Wärme 
um. Um nun direkte Vergleichungen an¬ 
stellen zu können, hat man als „ Wärmeein- 


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35* 


SCHAEFFER, DeR ENTWICKLUNGSGANG DES NEUGEBORENEN. 


hexC^ (Calorie) eine Kraft angenommen, welche 
die Temperatur von i Gramm Wasser um 
I Grad Celsius erhöht, und gefunden, das 
diese 425,5 Gramm-Meter leistet, d. h. 425,5 
Gramm i Meter hochhebt. 

Die Wärmei^/ÄzwÄ des Körpers ergiebt sich 
wenn man die Spannkräfte der zugefilhrten 
Nahrung in Wärmeeinheiten berechnet — und 
damit die vom Körper, von der Haut ausge¬ 
strahlte Wärme plus den unbrauchbaren oder 
unverbrauchten Abgaben des Darmes, der 
Nieren, der Lungenrespiration, ebenfalls in 
Calorien umgerechnet, vergleicht. Damit stel¬ 
len wir also die Verbrennungswärme der zu¬ 
geführten und der abgegebenen Stoffe ein¬ 
ander gegenüber. 

Was die Ausstrahlung anlangt, so beträgt 
die Hauttemperatur über der Magengrube bei 
Erwachsenen durchschnittlich 35® C., bei 
Säuglingen in den ersten 8 Tagen hingegen 
36,1® C., bei Knaben etwas höher als bei 
Mädchen; die dichte Einschliessung mit 
schlechten Wärmeleitern bei geringer Be- 
wegungsföhigkeit und demnach geringer Er¬ 
neuerung der Luftschicht am Körper erklärt 
leicht, warum durch die Ausstrahlung so viel 
weniger Wärme verloren geht, als beim Er¬ 
wachsenen. Freilich hilft die Natur selbst 
hierbei, indem das Kind trotz seiner höheren 
Körperwärme doch eine geringere Hauttem¬ 
peratur als der Erwachsene besitzt, nämlich, 
nur 25-29® C. gegen 32-34,4® C. 

Es ist dies aber ausserdem ein Finger¬ 
zeig, dass wir allen Grund haben, das neu¬ 
geborene Kind vor jeder unnötigen Abkühl¬ 
ung zu bewahren, zumal da die Schnelligkeit 
der Erkältung parallel geht mit der niedrige¬ 
ren Temperatur. Schon die Abkühlung von 
der Geburt bis nach dem ersten Bade ge¬ 
nügt, um eine Abnahme der Körpertemperatur 
von 37,4® bis gegen 36® hervorzurufen. Der 
Foetus verhält sich — und demgemäss auch 
Neugeborene unmittelbar nach der Geburt — 
wie ein poikilothernies Wesen (d. s. Tiere, 
welche wie die Amphibien ihre Temperatur 
der atmosphärischen jeweilig anpassen), bezw. 
auch wie die blindgeborenen Tiere. Die 
Faktoren der Erzeugung eigener Wärme sind 
ja noch minimal; daher kommt es, dass in 
den ersten Lebenswochen nach der Milch¬ 
aufnahme und nach dem Schreien sofort die 
Körperteinperatur steigt. Speziell von der Ver¬ 
dauung wissen wir, dass infolge der dabei 
erfolgenden Leberthätigkeit das aus der Leber 
«Äfliessende yenenblut innerhalb kurzer Zeit 
um 3 — 4 Grade wärmer wird und wärmer ist 
als das sMgeführte Arterienblut; die Wärme 
wird also bei dem Chemismus, der sich in 
dem Organe vollzieht, produziert. 

Dem ungeborenen Foetus fehlt also die 


Fähigkeit, seine Temperatur zu regulieren, 
wenngleich aus seinen vegetativen Funktionen 
eine geringe eigene Wärmeproduktion erfolgt, 
so dass seine Temperatur um 0,70 C. im 
Mittel höher ist, als diejenige seiner Mutter. 
Wie gering diese Wärmequelle aber ist, lässt 
sich daraus entnehmen, dass ein Erwachsener 

— analog in einem Bade von Körpertemperatur 

— eine Zunahme der gesamten Körpertempera¬ 
tur von lO C. in einer Stunde, von 20 C. in 
iVs Stunden hervorrufen würde. 

Das Missverhältnis zwischen den in der 
Milch aufgenommenen Spannkräften und der 
Gewichtsabnahme oder der unerw'artet gerin¬ 
gen Gewichtszunahme in den ersten 8—14 
Lebenstagen findet seinen Ausgleich bei Be¬ 
trachtung der Verbrennungswärme der Milch 
und der Hautausstrahlung, also des Wärme- 
bedür/nisses. 

Da in den ersten 3 Tagen die Milchzu¬ 
fuhr in den meisten Fällen nicht für das 
letztere ausreicht, wie überhaupt die Organe 
sich individuell verschieden rasch an die Be¬ 
wältigung ihrer Funktionen gewöhnen, so ver¬ 
zehrt der Körper in dieser Zeit sein eigenes, 
von der Mutter her mitbekommenes Material. 
In der That geht auch die Gewichtskurve pa¬ 
rallel derjenigen der Körpertemperatur und 
derjenigen der von den Nieren secernierten Ver¬ 
brennungsschlacken, worunter wir die zur Aus¬ 
scheidung gelangenden Endprodukte der oxy¬ 
dierten Eiweisse verstehen (Harnstoffe und 
Harnsäure). Die bei Säuglingen in den ersten 
8 Tagen so oft zur Beobachtung kommende 
„Gelbsucht" findet hierin ihre Erklärung. 

Soweit erkennen wir die allgemeinen phy¬ 
siologischen Gewichtsschwankungen, an denen 
besonders kräftig entwickelte Kinder (über 4Kilo) 
weniger teilnehmen, indem ihre GewichtsfliJinah- 
men am 14. Tage sind, als bei nor¬ 

malen Kindern von Durchschnittsgewicht (3100 
bis 3400 g), die Zunahmen aber grösser, — 
von denen umgekehrt aber schwächliche Kin¬ 
der oder zu früh geborene erheblicher zu 
ihren Ungunsten betroffen werden. 

Der Einfluss der Mutter macht sich im 
allgemeinen dahin geltend, dass Kinder von 
solchen, die zum ersten Male niederkommen, 
wenn sie unter 55 kg wiegen und noch nicht 
20 Jahre alt sind, die Prädisposition 

zur Z«nahme zeigen. Dasselbe gilt für solche 
Mütter, welche während der Zeit, wo sie in 
der Hoffnung sind, schwer arbeiten müssen, 
bei schlechter Ernährung, oder krank sind. 
Umgekehrt erweisen sich bezOgl. derGewichts- 
zMnahme die Kinder von solchen Müttern am 
günstigsten veranlagt, welche über 55 Kilo 
wiegen und zwischen 20 —29 Jahre alt sind; 
dieselben bringen auch durchschnittlich mehr 
Knaben znr'Neit. Kräftige kompensieren 


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SCHAEFFER, DeR EnTWICKLUKüSGANG DES NEUGEBORENEN. 


353 


zu Gunsten des Gewichtes der Kinder meist 
Schwäche der Mütter; sogar der zeitweilige 
mehr oder minder kräftige Zustand des Va¬ 
ters zur Zeit der Zeugung fällt hierbei ins 
Gewicht. Bei Mischlingen machen sich die 
Eigenheiten der verschiedenen Rassen, Völker, 
Stämme schon hierbei geltend. 

Diese Beziehungen gelten nicht nur für 
die Gewichts««- und y^Änahmen, sondern auch 
für die absoluten Gewichte selbst, mit denen 
die Kinder zur Welt kommen; je schwerer' 
das Körpergewicht einer gesunden kräftigen 
Mutter ist, desto progressiv grösser ist durch¬ 
schnittlich das Gewicht der Kinder; indessen 
bestehen auch typischeDurchschnittsdilferenzen 
je nach dem, ob das Kind das Erstgeborene 
oder ein späteres ist; erstere sind meist 
leichter. 

Die Kinder tuberkulöser oder skrophulöser 
Mütter weisen am 14. Lebenstage noch ein 
durchschnittliches Defizit von — 6,2 pCt. 
des Anfangsgewichtes auf, dagegen die¬ 
jenigen gesunder Mütter nur -0,14 pCt. 
Während die letzteren im ersten Monat 
um täglich circa 35 g, im zweiten Monat 
um 28 g zunehmen, ergiebt sich bei den Kin¬ 
dern tuberkulöser Mütter im ersten Monat 
nahezu gar keine Zunahme im Durchschnitt, 
im zweiten Monat nur 4 g! 

Die Durchschnittsgewichte der Kinder von 
gesunden, und kranken Fa&r» verhalten sich 
wie 3500 : 2600 g. Das Goethe’sche Wort von 
der Vererbung der „Statur“ ist sicher schon 
ftlr das neugeborene Kind stichhaltig. Dieser 
Nachweis wird am ehesten durch die Kon¬ 
figuration des Schädels geliefert werden 
können. 

Wie sehr Ernährung und Lebensweise der 
Mütter auf das Gewicht der Kinder Einfluss 
haben, lehrt die tägliche Erfahrung in wohl¬ 
habenden Kreisen, wo auffallend häufig schwere 
Kinder, auch schon bei jungen Ehefrauen 
zur Welt gelangen; es ist also zu behaupten, 
dass hier zu Folge mangelnder tüchtiger kör¬ 
perlicher Arbeit und relativ zu kräftiger Er¬ 
nährung der Mutter der Foetus weit über sein 
Durchschnittsgewicht zunimmt. Es besteht 
demnach eine Möglichkeit, durch die Diät der 
Mutter die körperliche Gewichtszunahme des 
Kindes zu beeinflussen. Mithin ist es kein 
Wunder, dass in wohlhabenden Kreisen Kinder 
über 4 Kilo weit weniger selten sind, als 
z. B. in den Entbindungskliniken. Es ist 
freilich zu erwähnen, dass die Natur den Kin¬ 
dern bei schwächlichen Müttern zuweilen auf 
Kosten der Letzteren zur Hilfe kommt und 
zwar dadurch, dass sie dieselben kräftig ge¬ 
deihen lässt bei völligem Wohlsein der Mutter 
bis zur Geburt, trotz mangelhafter Ernährung 
oder Kränklichkeit, dass unmittelbar|*nachher 


aber die Letztere sich in Monaten auffallend 
schlecht oder unter Umständen gar nicht wieder 
erholt. So z. B. bei Tuberkulose. 

Von Seiten der zuckerkranken Mutter findet 
sich ein noch üblerer Einfluss auf die Kinder, 
als bei dem letzterwähnten Leiden: 5 pCt. 
derselben stirbt bereits vor dem Geburts¬ 
termine ab. 

Ähnlich verhält es sich bezüglich der 
syphilitischen Übertragung; indessen weisen 
selbst diejenigen Kinder, die von so infizierten 
Müttern gesund geboren und geblieben waren, 
eine weit geringere Gewichtszunahme, bezw. 
grössere Gewichtsabnahme auf, als von ge¬ 
sunden Müttern; nur teilweise kann hierfür 
die künstliche Ernährung verantwortlich ge¬ 
macht werden. 

Im Allgemeinen fördert die künstliche 
Ernährung gesunder Kinder fast niemals die Ge¬ 
wichtszunahme und das Gedeihen derselben 
in der gleichen Weise, wie das Stillen seitens 
der mütterlichen Brust. Vergleichen wir die 
Körpergewichte von gesunden Kindern, welche 
mittelst der heute am gebräuchlichsten Methode 
nach Soxhlet aufgezogen sind, — also Dar¬ 
reichung von Kuhmilch, der zur Verdünnung 
Wasser und ferner Zucker zugesetzt ist, um 
sie der menschlichen Milch ähnlicher zu machen, 
und die endlich gekocht wird, um schädliche 
Gährungspilze und andere Bakterien abzutöten 
— mit natürlich gestillten Kindern, so finden 
wir bei ersteren am 14. Tage das Anfangs¬ 
gewicht weit seltener erreicht, als bei letzteren, 
wir finden auch eine grössere Durchschnitts¬ 
abnahme um 7,3 pCt. des Anfangsgewichtes 
(gegenüber 5,5 pCt.), derart, dass als Gesamt¬ 
abnahmemittel — 3,7 pCt. (statt — 0,14 pCt.) 
zu verzeichnen sind. Weiterhin nehmen die 
ErKs/kinder im i. und 2. Monate um ca. 30 g 
täglich zu, die künstlich genährten dagegen 
Kinder nur erst um 23, dann 19 g. Bleiben 
die Kinder nun gesund — wie leicht bei der 
künstlichen Ernährung nicht nur ein einfaches 
Versagen des Verdauungsapparates in Folge 
der Nichtbewältigung der käsigen Bestandteile 
der Kuhmilch, sondern auch eine infectiöse 
Darmentzündung eintreten kann, wurde bereits 
auseinandergesetzt — so tritt freilich in der 
zweiten Hälfte des i. Jahres, wo das Kind 
ja ohnehin eine Mischkost verträgt, die Ge¬ 
wichtskompensation ein; immerhin besteht also 
in den fast immer eintretenden Folgen der 
künstlichen Ernährung im ersten Lebenshalbjahr 
eine Gesamtschwächung der Widerstandskräfte 
des kindlichen Organismus. Da der Säugling 
in diesem frühen Altersstadium bereits im 
Stande ist, präparirte Stärke zu verdauen, d. h. 
in löslichen Zucker überzuführen, so haben 
wir das Recht, der Kuhmilchnahrung auch 
präparirte mehlige Bestandteile in allen den 


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354 


SCHAEFFER, DeR ENTWICKLUNGSGANG DES NEUGEBORENEN. 


Fällen möglichst früh zuzusetzen, wo die 
Milchnahrung allein nicht ausreicht; das beste 
Milch-Stärke-Zuckerpräparat ist das Nestlö’sche, 
sogenannte „Kindermehl“, bestehend aus ein¬ 
gedickter, sterilisierter Milch mit einer Art 
Zwiebackmehl und etwas Rohrzucker. Andere 
gute Präparate sind die von Kufeke, 
Theinhard. 

Wie wir gesehen, bedarf das neugeborene 
Kind einer bedeutendenZufuhr von wärmebilden' 
den Nahrungsstoffen; loo g Eiweiss (der Käse- 
stoflF in der Milch, der in der Kuhmilch relativ 
den gleichen Gehalt in der Muttermilch sehr 
überwiegt und für das Kind nahezu unver¬ 
daulich ist), liefert nur ebensoviel Verbrennungs¬ 
wärme wie 52 g Fett. Deshalb ist der 
kindliche Verdauungstraktus zunächst auf die 
Verarbeitung eiweissärmerer und Jettreichercr 
Milch eingerichtet. Durch Zentrifugierung 
lässt sich die Kuhmilch von einem Teile ihres 
Caseins auf mechanische Weise befreien; theo¬ 
retisch ist dadurch zunächst die Frage der künst¬ 
lichen Ernährung in diesem Sinne aufs Beste 
gelöst. Jede Molkerei kann mit der Zentri¬ 
fuge diese Gärtner’sche FettmWch hersteilen. 

Dass indessen auch die Mutter- und Ammen¬ 
milch, selbst von gesunden Individuen, Üble 
Einflüsse auf das Kind ausüben kann, ist dem 
Volke wohl bekannt. Geringfügige Unpässlich¬ 
keiten, sowohl wie auch nervöse Erregungen 
(Schreck, Zorn, Neid, Eifersucht) wirken so¬ 
fort derart auf die Milch, dass sie nicht nur 
eine weniger nahrhafte Zusammensetzung 
sondern auch schädliche Beimischungen er¬ 
hält, deren Chemismus wir noch nicht kennen, 
die aber diarrhoische Erscheinungen und sons¬ 
tige Verdauungsstörungen hervorzurufen im 
Stande sind. Eine Amme wird krank; sie 
stillt drei verschiedene Kinder (in der Klinik); 
sofort ist am folgenden Tage bei allen drei 
Kindern eine Gewichtsabnahme zu konstatieren. 
Eine andere Amme gerät in heftigen Zorn: 
die beiden von ihr ernährten Kinder nehmen 
ab; sie bekommen auch sofort Diarrhoe. An¬ 
dere Kinder erkranken während dem einge¬ 
tretenen Unwohlsein ihrer Amme an Haut- 
Ausschlägen, welche so schlimm werden 
können, dass sie anderen Ammen gegeben 
werden müssen. Dass Kinder, welche von 
einer mit Krämpfen behafteten Person genährt 
werden, ebenfalls Krämpfe bekommen können, 
ist bekannt. Selten ist es, dass das Kind die 
eine Brust zu nehmen verweigert, weil der 
Milch dieser einen zu viel Salz beigemengt ist. 

Von der Fähigkeit, das Kind mit Mutter¬ 
milch zu ernähren, hängt also zum grossen 
Teil das Leben und die Gesundheit der Nach¬ 
kommenschaft ab. In Norwegen und Schweden, 
wo fast alle Kinder lange Zeit hindurch an 
der Mutterbrust ihre ausschliessliche Nahrung 


finden, ist die Sterblichkeit des ersten Lebens¬ 
jahres etwa II pCt., in Württemberg dagegen, 
wo die meisten Kinder künstlich aufgefüttert 
werden, beträgt sie schon 35 pCt. Auch ist 
erwiesen, dass das Stillen auf die spätere 
Kraft und Gesundheit, bezw. Widerstandskraft 
der Menschen ebenfalls einen höchst günstigen 
Einfluss hat. 

Aus der Beschaffenheit der Brüste lässt 
sich ein Schluss auf die Konstitution der Frau, 
speziell auf die Fähigkeit, eine gesunde Nach¬ 
kommenschaft zur Welt zu bringen und auf¬ 
zuziehen, herstellen. Entschiedene Gestalts¬ 
fehler an diesen Organen sind als Degenera¬ 
tionszeichen anzusehen. 

Der bedeutende Frauenarzt Hegar stellte 
fest, dass unter den Wöchnerinnen der Frei¬ 
burger Frauenklinik nur ca. 54 pCt., etwa 
IO Tage lang ihre Kinder ausreichend mit 
Milch versorgen konnten, und des weiteren 
nimmt er an, dass nur 30 pCt. der Wöchner¬ 
innen ihre Kinder etwa 6 Monate hindurch 
ausschliesslich an der Brust zu ernähren 
vermögen. 

Wegen derartiger Beobachtungen stellt 
Hegar eine Warnung auf, zumal da in 
neuester Zeit die Surrogate der Muttermilch 
so sehr verbessert sind, dass es zu befürchten 
steht, dass die Brüste, wie auch andere ausser 
Gebrauch gesetzte Körperteile, zu rudimentären 
Organen werden. Aus dem..oben Gesagten 
geht hervor, wie wenig wünschenswert es für 
die Nachkommenschaft sein kann, dass der 
Soxhlet-Apparat die Mutterbrust verdrängt, da 
er sie doch nicht ganz ersetzen kann. Dem 
muss vorgebeugt werden. Den Frauen das 
Selbststillen zur Pflicht zu machen, würde 
wenig verschlagen, da so Viele eben nicht 
dazu im Stande sind. Der Hebel der Ver¬ 
besserung muss also an der Pflege der Brüste 
im jugendlichen Alter angesetzt werden. Jeder 
fest anschliessenden, einschnürenden, zu war¬ 
men Kleidung muss der Krieg erklärt werden; 
eine passende Pflege der Haut und des ganzen 
Körpers, was sowohl die Einfachheit der Er¬ 
nährung wie der ganzen Lebensweise anlangt, 
genügende Bewegung, frische Luft — kurz 
die ganze Hygiene des kindlichen und jung¬ 
fräulichen Alters muss auch zu diesem Zweck 
mobil gemacht werden. 

Gut gedacht sind die Ratschläge des ge¬ 
nannten Autors, man müsste eine mit 
schlechten Milchdrüsen versehene Bevölkerung 
mit einem Stamm zu kreuzen suchen, welcher 
sich durch eine gute Ausbildung jener Organe 
auszeichnet. Noch besser wäre freilich eine 
methodische Auslese der heiratsfähigen jungen 
Leute. 

Zum Schluss noch ein Punkt: es ist viel¬ 
fach Sitte, Neugeborene mit der Erst- 


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Trabert, Beeinflussung des Wetters durch die Menschenhand. 


355 - 


anlegung an die mütterliche Brust so lange 
hinzuhalten, bis gehörig Milch fliesst; das ist 
gewöhnlich erst am zweiten, oft erst am dritten 
Tage der Fall. So lange hungert das Kind 
ganz regelrecht, indem es mit versüsstem 
Fenchelthee beruhigt wird. Hieraus lassen 
sich manche ganz erhebliche Gewichts¬ 
abnahmen bis zum dritten und Alnften Tage 
ableiten. Es ist nur richtig, das Kind schon 
nach 6—8 Stunden an die Brust zu legen 
oder mit einem Milchpräparat zu versehen. 
Die Jungen der Tiere weisen deshalb eine 
so viel geringere Gewichtsabnahme auf, weil 
sie weit früher gesäugt werden — einige 
unmittelbar nach dem Wurf. 


Beeinflussung des Wetters durch die 
Menschenhand. 

Von Dr. Wi LH, Trabert. 

Wir haben uns so sehr an die Unver¬ 
änderlichkeit der Naturgesetze gewöhnt, dass 
wir nur allzu leicht geneigt sind, auch dort 
eine unabänderliche Notwendigkeit zu sehen, 
wo es thatsächlich sehr wohl möglich ist, 
eine willkürliche Änderung im altgewohnten 
Verlaufe einer Erscheinung hervorzurufen, 
dadurch,- dass wir eine Abänderung der ge¬ 
wöhnlichen Ursachen dieser Erscheinung 'her¬ 
beiführen. 

Gehören nun die Vorgänge unserer Atmo¬ 
sphäre zu jenen, bei welchen wir eine Ab¬ 
änderung ihrer Ursachen in der Hand haben? 
Der Spottname „Wettermacher", welchen man 
so gerne den Meteorologen beilegt, drückt 
auf das Deutlichste aus, für wie unmöglich 
man Eingriffe in den Verlauf des Wetters 
hält. Und doch hat der Mensch die Frage 
längst gelöst, indem er, ohne es zu ahnen 
und ohne es beabsichtigt zu haben, thatsäch¬ 
lich Veränderungen des Wetters herbeige¬ 
führt hat. 

Dass durch Veränderung der Erdoberfläche 
— denken wir nur an Entwaldungen — eine 
Beeinflussung der klimatischen Verhältnisse 
erfolgt, ist übrigens wohl bekannt, ja der 
Einfluss des Waldes auf das Klima ist sogar 
meistens überschätzt worden. Die Bedeutung 
der Entwaldungen ist allerdings weit mehr 
in einer anderen Richtung zu suchen, die 
Fähigkeit des Bodens, das Wasser zurück¬ 
zuhalten, wird durch dieselben verringert und 
damit wird ein rascheres Abfliessen und 
Überschwemmungsgefahr hervorgerufen. Wir 
brauchen uns aber nur an den Karst zu er¬ 
innern, um zu erkennen, dass auch tiefgreifende 
klimatische Veränderungen wenigstens unter 


Umständen durch Entwaldungen hervorge¬ 
rufen werden können. 

Wie es scheint, weit wichtiger und jeden¬ 
falls interessanter ist die Einwirkung der In- 
dustrie-Thätigkeit auf das Wetter, eine Ein¬ 
wirkung, die heute kaum mehr bezweifelt 
werden kann: wir meinen die Zunahme der 
Nebel und die Zunahme der Häufigkeit und 
Intensität der Gewitter. 

Was die erstere Erscheinung betrifft, so 
hat sie bekanntlich in der Millionenstadt Lon¬ 
don einen geradezu erschreckenden Grad er¬ 
reicht. Sie wird hier, wenn sie in demselben 
Grade nur noch eine kurze Zeit ansteigt, alle 
Gartenkultur in der Umgegend unmöglich 
machen. In den Wintermonaten Dezember bis 
Februar betrug hier die Zahl der Nebel 

i. Zeitraum 1870/75 1875/80 1880/85 1885/90 
Anzahl der 

Nebel 93 119 131 156 

Allein in den 20 Jahren seit 1870 hat 
sich die Zahl der Nebel beinahe verdoppelt! 
Aber wie können wir uns darüber wundern, 
wenn wir bedenken, dass sich auch der Kohlen¬ 
konsum in dieser Zeit fast verdoppelt hat und 
allein seit 1875 bis 1889 um 2 Millionen 
Tonnen gestiegen ist? 

Seit den Untersuchungen Aitken’s 
über die Menge der Staubteilchen in der 
Luft wissen wir auch, dass diese letz¬ 
teren die Kerne darbieten, an welchen 
sich der Wasserdampf kondensiert. Die 
Möglichkeit einer Beeinflussung der Nebel¬ 
bildung durch die zahllosen Rauch- und Staub¬ 
teilchen, welche bei unserer unvollkommenen 
Verbrennung und überhaupt durch die In- 
dustriethätigkeit der Luft zugeführt werden, 
liegt somit auf der Hand. In Edinburgh z. B. 
ermittelte Aitken durch seine sinnreiche Me¬ 
thode der Stäubchen-Zählung 250,000 Staub¬ 
teilchen pro Cubikc^w/iW/^r, während in der 
reinen Luft auf dem Rigi oder am Meeres¬ 
strand diese Zahl nur wenige Hundert betrug. 

Man wird kaum fehlgehen, wenn man auch 
die seit Beginn der zweiten Hälfte dieses 
Jahrhunderts merkliche, konstante Zunahme 
der Gewitter auf den Einfluss des Staubes 
und Rauches, welcher durch die Thätigkeit 
der Fabriken erzeugt wird, zurückfOhrt. Ira 
Zeitraum von 1864/76 bis 1877/89 ist in 
Mitteldeutschland die Zahl der Blitzschläge 
um 129 pCt. gestiegen. Im ersteren Zeitraum 
wurden an 586 Tagen 3704 Blitzschläge be¬ 
obachtet, im letzteren an 760 Tagen 8659 
Blitze. Es haben also nicht bloss die Ge¬ 
witter zugenommen, sondern auch die ein¬ 
zelnen Gewittertage sind schwerer, blitzschlag¬ 
reicher geworden. Schon 4jährige Zeitab¬ 
schnitte zeigen eine regelmässige Steigerung: 


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356 


Trabert, Beeinflussung des Wetters durch die Menschenhand. 


Zeitraum: 1876/79 1880/83 1884/87 1888/91 
Blitzschläge 
in Mittel¬ 
deutschland 2431 3601 5202 5547 

Die Zunahme ist eine geradezu rapide! 
Besonders stark zeigt Sachsen das Anwachsen 
der Gewitterhäufigkeit, ein weiterer Hin¬ 
weis, dass wir in der Industriethätigkeit die 
Ursache der Erscheinung zu suchen haben. 

Nicht verwunderlich ist, dass mit der Ge¬ 
witterhäufigkeit auch die Hagelgefahr gestie¬ 
gen ist. So betrug pro Hageltag 
Zeitraum: 1828/47 1848/66 1868/87 

die verhagelte 

Fläche 659 757 967 Hektar 

Man hat zur Erklärung der Gewitter-Zu¬ 
nahme auf die gewaltigen Dampfmengen hin¬ 
gewiesen, welche durch die Dampfmaschinen 
in die Atmosphäre geführt werden, doch lehrt 
eine leichte Rechnung, dass z. B. in Deutsch¬ 
land durch die Thätigkeit aller Dampfmaschinen 
nur eine Wasserschicht von 0.0015 mm Höhe 
täglich zur Verdampfung gebracht wird, also 
auch nur ein Niederschlag von dieser ver¬ 
schwindend kleinen Höhe dadurch hervorge¬ 
rufen werden kann. 

Ganz anders steht es mit der Bereicher¬ 
ung der Luft an Staub- und Rauchteilchen, 
wenn wirerwägen, dass von der verbrauchten 
Kohlenmenge (in Deutschland etwa 200 kgr 
pro Quadratkilometer und Tag) ein grosser 
Teil in ungemein fein verteiltem Zustand in 
die Atmosphäre geführt wird. Wiegt doch 
im allgemeinen ein Staubteilchen nur etwa 
0.01 Büliontel-Gramm! 

Es ist auch keineswegs schwer, sich von 
den Konsequenzen eines grösseren Staub¬ 
reichtums der Luft eine Vorstellung zu machen. 
Experiment und Theorie haben zu dem Re¬ 
sultate geführt, dass feuchte Luft, welche über 
einer ebenen Wasseroberfläche bereits ge¬ 
sättigt ist, d. h. keinen weiteren Wasserdampf 
aufnimmt, für Wasser/rö^^r/r^« noch nicht ge¬ 
sättigt ist. Von gekrümmten Wasserflächen, 
wie es Tropfen sind, vermag diese Luft noch 
immer Dampf aufzunehmen und zwar umso¬ 
mehr, je kleiner die Tröpfchen sind. Je grös¬ 
ser die Krümmung der Tropfen, d. h. je 
kleiner sie sind, um so weiter kann die 
„Übersättigung“ der Luft, in welcher sich 
solche Tröpfchen befinden, getrieben werden, 
umso höher liegt der „Thaupunkt“. 

Was wird nun die Folge eines grösseren 
Staubreichtums der Luft sein, wenn die letz¬ 
tere im Begriffe ist, den Wasserdampf zum 
Teil zu kondensieren? Je mehr Staubteilchen 
als Kondensationskerne vorhanden sind, um¬ 
so kleiner werden die Tröpfchen sein müssen, 
da ia doch im allgemeinen die kondensierte 
Dampfmenge eine gegebene Grösse ist. Wenn 


nun aber der Thaupunkt umso höher liegt, 
je kleiner die ausgeschiedenen Tröpfchen sind, 
dann können wir auch sagen: je mehr Staub¬ 
teilchen die Luft enthält, um so höher wird 
der Thaupunkt liegen, umso grösser wird die 
Neigung der Luft zu „Übersättigung" sein. 
Übersättigung der Luft ist aber die Grund¬ 
bedingung für das Zustandekommen heftiger 
und plötzlicher Niederschläge, wie wir sie im 
Gewitter vor uns haben. 

Wenn nun aber die Menschenhand, ohne 
es beabsichtigt zu haben, einen Einfluss auf 
das Wetter zu Oben vermochte, sollte dann 
ein solcher nicht auch mit Absicht und Ziel¬ 
bewusstsein möglich sein? Wenn wir uns die 
Frage vorlegen, ob schon derartige Versuche, 
bewusst das Wetter zu beeinflussen, mit un¬ 
zweifelhaftem Erfolge angestellt wurden, so 
können wir nur auf die Hervorbringung 
künstlicher Wolken zur Bekämpfung des Nacht¬ 
frostes hinweisen. In Frankreich und vielfach 
auch anderwärts hat man in grossem Stile 
durch Verbrennen von feuchtem Stroh, Busch¬ 
werk, Fichtenzweigen, welche man fortwäh¬ 
rend mit feinverteiltem Wasser begiesst, 
künstlich Wolken erzeugt und dabei die 
schönsten Erfolge bei den Weinkulturen er¬ 
zielt. Durch die Wolken wird vor allem die 
in heiteren Nächten so kräftige Ausstrahlung 
in den Weltraum verhindert und die durch 
die Wiederkondensation des Wassers frei¬ 
werdende Wärme trägt wohl auch das ihrige 
zur Verhinderung zu starker Abkühlung bei. 

Hier haben wir ein Beispiel — wir haben 
es von den Indianern gelernt — in welchem 
zweifellos und zwar auf leichte und billige 
Weise eine Beeinflussung des Wetters wirk¬ 
lich möglich ist. Keineswegs dasselbe können 
wir von den in Amerika angestellten Ver¬ 
suchen, künstlich Regen zu erzeugen/ sagen. 
Dieselben müssen nicht nur als gescheitert 
betrachtet werden, sondern man kann gerade¬ 
zu behaupten, es sei prinzipiell so gut wie 
ausgeschlossen, den auch bei relativ trocke¬ 
ner Luft noch immer beträchtlichen Wasser¬ 
dampfgehalt zur Kondensation zu bringen, 
wenn nicht schon die Neigung zur Wolken¬ 
bildung vorhanden ist. Es ist eben die 
Arbeit, welche da nötig ist, so gross, dass 
wir dieselbe kaum aufbringen dürften. 

Wohl aber wäre es möglich, dass man 
dann, wenn die Witterungsbedingungen für 
die Kondensation des Wasserdampfes günstig 
sind, wirksam eingreifen könnte und viel¬ 
leicht bei herannahenden Gewittern eine recht¬ 
zeitige Auslösung des Prozesses, eine Art 
künstliche Regulierung desselben erzielen 
könnte. 

*) Die Kosten belaufen sich pro Hektar auf 
17 V* Francs. 


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Aenderüngen und Fortschritte im Militär wesen. 


357 


Hierher gehört wohl der alte Volksbrauch 
des „Wetterschiessen" und „Wetterläuten", 
welcher seinerzeit in den österreichischen 
Alpenländern viel verbreitet war, durch Kaiser 
Joseph II. verboten wurde, sich aber dennoch 
bis auf den heutigen Tag erhalten hat. Im 
Laufe des letzten Sommers wurden derartige 
Schiessversuche in grossartigem Massstabe 
zur Bekämpfung der Hagelgefahr im südlichen 
Steiermark in der Umgegend von Windisch- 
Feistritz von dem dortigen Bürgermeister 
Stiger angestellt und thatsächlich blieb das 
betreffende Gebiet vom Hagel verschont, 
während in der Umgegend vielfach Hagel 
niederging. Freilich kann der Zufall eine 
Rolle dabei gespielt haben, aber unmöglich 
wäre eine derartige Einwirkung nicht, und 
man darf auf die Fortsetzung der Versuche 
gespannt sein. Die Schiess-Stationen waren 
(17 an der Zahl) in drei grossen Linien senk¬ 
recht auf die gewöhnliche Zugrichtung der 
Gewitter aufgestellt und in jeder derselben 
wurde mit durchschnittlich lo Böllern in 
raschestem Tempo geschossen, sobald die Ge¬ 
witterwolken auf 6 —IO km nahe waren. Wie 
schon erwähnt, blieb im vergangenen Som¬ 
mer das etwa 3 Quadratmeilen umfassende 
Gebiet der Böller vom Hagel verschont. 

Wenn wir bedenken, dass der Hagel sich 
aus unterkühlten Wassertropfen bildet, dass 
eine Unterkühlung des- Wassers nur bei 
grosser Ruhe möglich ist und Erschütterun¬ 
gen sofort das Wasser zum Gefrieren bringen, 
dann erscheint es durchaus nicht wunderbar, 
dass durch energisches und systematisches 
Schiessen die Bildung grosser Tropfen unter¬ 
kühlten Wassers und damit der Hagel bekämpft 
werden könnte. 

Übrigens wäre es auch nicht ausgeschlos¬ 
sen, dass durch die Lufterschütterungen recht¬ 
zeitig der labile Gleichgewichtszustand der 
Atmosphäre, der sich im Sommer sehr leicht 
durch abnorme Erhitzung der untersten Luft¬ 
schichten herstellt, gestört und der Gewitter¬ 
prozess eingeleitet würde, ehe noch das labile 
Gleichgewicht einen hohen Grad erreicht hat. 
Vielfach berichten auch die Beobachter, dass 
„die Wolken scheinbar zum Regnen gezwun¬ 
gen wurden". Würde dies nicht sehr daftir 
sprechen, dass es sich — wenn nicht eben 
der Zufall sein Spiel dabei getrieben hat — 
um eine vorzeitige oder, wenn man will, 
rechtzeitige Auslösung eines beginnenden 
Prozesses gehandelt hat? 

Eine künstliche Beeinflussung in diesem 
Sinne, eine Art Regulierung des Wetterver¬ 
laufes, sei es durch Erregung von Luftwellen, 
sei es, wie auch schon vorgeschlagen wurde, 
auf elektrischem Wege, kann jedenfalls nicht 
als unmöglich bezeichnet werden. Wir ken¬ 


nen leider im Einzelnen den Vorgang bei 
der Kondensation, bei der Hagelbildung, ins¬ 
besondere die unmittelbare Ursache des Zu- 
sammenfliessens kleinerer Tröpfchen zu grös¬ 
seren, viel zu wenig, um mehr sagen zu 
können und um angeben zu können, auf 
welche Weise die Versuche am meisten Er¬ 
folg versprechend angestellt werden könnten. 


Änderungen u. Fortschritte im Militärwesen. 

IV. Grossbritannien. 

Während das Heerwesen der 5 Kontinental- 
Grossmächte, wie wir auch später bei Franko 
reich sehen werden, im Grossen und Ganzen 
auf denselben Grundlagen bezüglich des Wehr¬ 
systems, der Organisation und Gliederung be¬ 
ruht, tritt uns in dem Heerwesen Grossbritan¬ 
niens in jeder Beziehung ein anderes Bild 
entgegen. Vertrauend auf seine mächtige 
Flotte und seine geographische Lage hat es 
sich noch nicht entschliessen können, dem 
Beispiel der Festland-Mächte zu folgen, son¬ 
dern hat sein altes, in Anwerbung bestehen¬ 
des Heeres-Ergänzungs-System beibehalten, 
obschon seit 1870 manche gewichtige Stimme 
sich zu Gunsten der allgemeinen Wehrpflicht 
schon deshalb erhoben hat, weil das Re¬ 
krutenangebot nicht immer das Ergänzungs- 
Bedürfnis an Mannschaften deckt. Da ohne 
Erlaubnis des Parlaments in England ein 
stehendes Heer Oberhaupt nicht bestehen darf, 
so muss dessen Lebensdauer von Jahr zu 
Jahr durch einen neuen Beschluss des Par¬ 
laments verlängert werden. 

Die Leitung des Heeres ist eine doppelte; 
die militärische und Kommando-Gewalt übt 
der Oberbefehlshaber aus, welcher dem partei¬ 
politischen, für die Verwaltung verantwort¬ 
lichen Kriegsminister untergeordnet ist. 

Dies hierdurch bedingte Verhältnis, welches 
manche Mängel aufwies, ist erst seit 1896 
neu geregelt worden: während bis dahin der 
Oberbefehlshaber, in dessen Person sich alle 
militärischen Machtbefugnisse vereinigten, 
allein dem Kriegsminister verantwortlich war, 
wurden nun dem letzteren beratende Kom¬ 
missionen beigegeben und neben dem Ober¬ 
befehlshaber — dessen Amtsdauer auf fünf 
Jahre festgesetzt wurde — einzelne verant¬ 
wortliche Departementchefs geschaffen. 

Die Rekrutierung wie erwähnt, durch 
Anwerbung, durch welche jeder Truppenteil 
selbständig seinen Ersatz zu gewinnen sucht. 
Für unseren Massstab macht es einen eigen¬ 
tümlichen Eindruck, wenn man in den eng¬ 
lischen Städten an den Anschlagsäulen die 


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358 


Aenderungen und Fortschritte im Militär wesen. 


reich illustrierten Anpreisungen liest, durch 
welche die einzelnen Truppenteile ihre Re¬ 
kruten anzulocken suchen und wonach die 
Wahl für die Betreffenden wirklich schwer 
sein muss. Bezüglich der militärischen Dienst¬ 
leistung ist zu unterscheiden; stehendes Heer, 
Armee-Reserve, Miliz, Miliz-Reserve, Frei- 
willigen-Korps und „Yeomanry“. 

Die Dienstzeit im stehenden Heer ist nach 
Wahl eine „lange“' — 12 Jahre bei der 
Fahne, oder „kurze“ — im allgemeinen 7 
Jahre bei der Fahne und 3 Jahre bei der 
Reserve; der Eintritt kann vom 18. bis 25. 
Jahre erfolgen; im Alter von 14—16 Jahren 
können Spielleute und Handwerker eingestellt 
werden. Die Rekruten werden in den Depots 
der Truppenteile ausgebildet und erst dann 
diesen zugesandt. Nach dreimonatlicher Dienst¬ 
zeit hat jeder Rekrut das Recht, gegen ein 
Reugeld von 200, später 360 M. seine Ent¬ 
lassung zu erkaufen. Die Armee-Reserve be¬ 
steht aus Leuten mit kurzer Dienstzeit und 
aus solchen, welche sich nach ihrer Gesamt¬ 
dienstzeit noch zum Weiterdienen verpflichtet 
haben; sie werden zu Übungen eingezogen 
und dürfen das Königreich nicht ohne Er¬ 
laubnis verlassen. 

Die Milizmannschaftcn werden in dersel¬ 
ben Weise rekrutiert, wie für das stehende 
Heer, sie treten auf 6 Jahre in das Batail¬ 
lon einer bestimmten Grafschaft ein. Diese 
Bataillone werden in sehr ungleicher Zahl 
Linien-Regimentern zugeteilt. Die Miliz-Re¬ 
kruten werden zunächst 3 Monate ausgebildet; 
in der Folgezeit werden jährlich Übungen bis 
zu 4 Wochen abgehalten. Der Übertritt zum 
stehenden Heer ist gestattet und findet auch 
vielfach statt. Während die Miliz ausserhalb 
des Königreichs nicht verwandt werden darf, 
dient die Miliz-Reserve, welche aus Miliz¬ 
mannschaften besteht, die sich zu weiterer 
Dienstpflicht im Kriegsfall verpflichten, zur 
Verstärkung des stehenden Heeres. Die Frei- 
willigen-Korps (Volunteers) dienen unbesoldet 
und ergänzen sich freiwillig. Jedes Freiwil- 
ligen-Bataillon hat seinen bestimmten Stamm 
von aktiven Offizieren und Unteroffizieren; sie 
sind verpflichtet, jährlich eine Anzahl Exer- 
zier-Übungen abzuleisten; sie stellen eine be¬ 
trächtliche Anzahl von Radfahrern. 

Die „ Yeomanry** sind meist Farmerssöhne 
und verpflichten sich im Kriegsfall auf eigenen 
Pferden als berittene Truppe zu dienen. Sie 
werden jährlich zu einer ytägigen Übung ein¬ 
berufen. Diese sowie die Freiwilligen dürfen 
ausserhalb des Königreichs nicht verwandt 
werden. 

Grossbritannien wird in 17 Militärdistrikte 
eingeteilt, welche aber lediglich Ausbildungs¬ 
und Verwaltungszwecken dienen, ohne jede 


englischen Heeres 
650,000 Mann und 

rd. 220,000 Mann 


taktische Bedeutung; ebenso sind die Regi¬ 
menter keine taktische Einheiten, ihre Eiti' 
teilung in Bataillone ist auch ganz ungleich- 
ihässig, meist wird ein Bataillon nach Indien 
abgegeben. Auch die Zahl der in den ein¬ 
zelnen Distrikten untergebrachten Truppen 
ist eine ganz verschiedene. (In Schottland 
stehen z. B. nur 2 Bataillone Infanterie). 
Ausser zu Übungszwecken bestehen höhere 
taktische Verbände im Frieden nicht. Hier¬ 
durch wird natürlich die Mobilisierung sehr 
erschwert. 

Die Gesamtstärke des 
berechnet sich auf rund 
zwar: 

1) stehendes Heer 
hiervon 

in Ägypten 5,000 M. 

„ Indien 77 . 50 o « 

„ übr. Kolon. 31,800 „ 

114,300 M. 

2) Armee-Reserve 

3) Miliz und Milizreserve 

4) Freiwillige Reserve 

5) Yeomanry 
Für die Landesverteidigung verbleiben nach 

Abzug der Truppen in den Kolonien und 
i 5 '’/o Ausfall bei der Mobilmachung 
500,000 Mann. Die Feldarmee besteht 
4 Kavallerie-Brigaden 110,000 M. 

3 Armeekorps 
22 freiwill. Brigaden mit 

79 Positionsbatter. 62,000 „ 

17 Brigad. Yeomanry 
als Divisions-Kavall. 


80,000 

120,000 

231,000 

IO,OÖQ 


rund 

aus: 


8,000 


180,000 M. 


Uneingeteilte (Malloted 

Units.) 40,000 M. 

Besatzungstruppen 170,000 „ 

210,000 „ 

Es verbleibt somit ein Überschuss von ca. 
100,000 Mann für Ersatztruppen und sonstige 
Reserveformationen. 

Für eine Verwendung ausserhalb des Lan¬ 
des stehen zur Verfügung: 

Stehendes Heer, Armeereserve und 

Milizreserve mit rund 200,000 M. 

Es werden formiert: t 
2 Armeekorps u. Etappentruppen ( 

I Kavallerie-Division \ 9°,000 „ 

Der Kavallerie-Division, bezw. den Ka¬ 
vallerie-Brigaden werden berittene Infanterie- 
Kompagnien und Revolver-Geschützabteilun¬ 
gen beigegeben. Es ist noch zu bemerken, 
dass für Neuformationen aus überschiessenden 
Mannschaften weder ein Organisationsplan 
noch irgendwelche Ausrüstung vorhanden ist. 

Alle Verhältnisse im englischen Heere 
sind so sehr von denen der übrigen Mächte 


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Russner, Neues aus der Flugtechnik. 


359 


verschieden, dass näher darauf einzugehen 
hier nicht möglich ist. Doch wollen wir be¬ 
züglich des Offizierkorps noch hervorheben, 
dass dasselbe sich von dem russischen und 
französischen in Beziehung auf Korpsgeist 
und gesellschaftliche Stellung, welche der¬ 
jenigen entspricht, welche die Offiziere ihrer 
Geburt entsprechend im bürgerlichen Leben 
einnehmen würden, vorteilhaft unterscheidet. 
Allerdings ist es fast nur jungen Leuten der 
reichen Aristokratie und der vornehmen, wohl¬ 
habenden Klassen möglich, diesen Beruf zu 
wählen, da das Leben in den Offizierkorps 
äusserst kostspielig ist und in denselben ein 
grosser Luxus entfaltet wird. Wenn auch den 
Unteroffizieren die Teilnahme an den Offi¬ 
ziers-Examen gestattet ist, so ist ein nennens¬ 
werter Zuwachs aus den Unteroffizier-Korps 
bei diesen Verhältnissen nicht möglich. Alle 
unverheirateten Offiziere müssen in den ihnen 
zugewiesenen Kasernen wohnen und gemein¬ 
schaftlich speisen; das ganze Leben der Of¬ 
fiziere eines Regiments ist gewissermassen ein 
Familienleben. Die Anmeldung zum Offi¬ 
zier erfolgt zwischen dem 17. und 21. Jahre, 
der früher übliche Stellenkauf — wonach 
sich der Oberstlieutenants-Rang in guten Re¬ 
gimentern bis 200,000 M. stellen konnte — 
ist schon längst abgeschaffi und findet die 
Beförderung (nach Ablegung eines Examens 
zu jeder Charge einschl. Stabsoffizier) nach 
dem Dienstalter oder ausser der Tour statt. 

L. 


Neues aus der Flugtechnik. 

Von Dr. Johannes Russner, 

Das Flugproblem hat man bisher auf verschie¬ 
dene Weise zu lösen versucht. Der nächste Ge¬ 
danke war der, den gewöhnlichen Luftballon durch 
Ausstattung desselben mit Maschinen und Lenk¬ 
flächen zum Flugap¬ 
parate einzurichten. 

Nach den bisherigen 
Erfahrungen und theo¬ 
retischen Erwägun¬ 
gen wird es Jetzt aber 
kaum einen Techniker 
geben, weicher die 
Lösung auf diese 
Weise noch zu verwirklichen bestrebt wäre. Die 
Jetzige Richtung im Bau von Flugmaschinen ist die 
Herstellung von 6egelflugapparaten; dieses sind Ma¬ 
schinen, an welchen verstellbare Segelflächen ange¬ 
bracht sind und bei welchen ausser einem Motor auch 
d^ Gewicht des Apparates zur Fortbewegung mit 
benutzt wird. Der nach diesem Prinzip von Pro¬ 
fessor Langley in New-York gebaute Flugappa¬ 
rat besteht hauptsächlich aus einem vogelflügelar¬ 
tig geformten, zweiteiligen und wagerechten Segel 
(Fig. i), in dessen Mittelpunkt ein kleiner Dampf¬ 
motor aufgehängt ist, der zwei Propellerschrau¬ 


ben in entgegengesetzte Drehung bringt. Die wage¬ 
rechten Segel waren so eingerichtet, dass man den¬ 
selben beim Abfluge eine nach vorne geneigte Stel- 



Fig. I. 


lung zu geben vermochte. Liess Langley diesen 
Flugapparat von einem Höhenpunkte frei fallen 
(Fig. 2) und wurden gleichzeitig die beiden Propel¬ 
lerschrauben mit horizontal gestellter Achse durch 
den Dampfmotor in Bewegung gesetzt, so entstand 
eine Fluglinie, welche anfänglich durch das Gewicht 
des Apparates nach abwärts gerichtet war, sodann 
durch die Wirkung der Propeller horizontal wurde 
und endlich, nachdem der Dampfvorrat verbraucht 
und die Propeller zum Stillstände kamen, durch die 
Wirkung der Apparatschwere und den Einfluss der 
Schrägstellung der Segelfläche schräg nach abwärts 
ging. Die horizontale Flugstrecke betrug bei einem 
Versuche etwa looo m. Längley liess seinen Ap¬ 
parat immer allein den Flug ausführen, um nicht 
von demselben Schicksal wie Lilienthal heimge¬ 
sucht zu werden, welcher bekanntlich am 10. Aug. 
1896 bei einem Flugversuche abstürzte und ?einen 
Verletzungen erlag. 

Es unterliegt nicht dem geringsten Zweifel, dass, 
wenn Prof. Langley seine ausgesprochene Absicht, 
nunmehr einen grösseren Apparat zu bauen, wel¬ 
cher einen Menschen trägt, auch ausführt, er mit 
einem solchen Apparate, der eine viel kräftigere 
Dampfmaschine mit grösserem Dampfvorrat be¬ 
sitzen wird, Wegstrecken von mehreren Meilen 
Ausdehnung zurücklegen können wird, denn der 
im Apparat sitzende Mensch ist sodann im Stande, 
die Stellung der Segelfläche auf und ab zu verän¬ 
dern und dadurch den Wellenflug der Raubvögel 
auszuführen. Man wird hierbei aber sofort die Er¬ 
fahrung machen, dass, wenn grössere L^ten mit 
solchen Seglern zu befördern sind, die Ausdehnung 
der Segelfläche eine grosse, die-Lenkung erschwe¬ 
rende sein muss. Ausserdem wird es schmerzlich 
empfunden werden, dass man nur einmal landen 

kann, da ein Wieder¬ 
aufsteigen durch ei¬ 
gene Kraft bei diesen 
Apparaten, welche 
nur einen kleinen Mo- 
tor zur Überwindung 
desStimwiderstandes 
besitzen, unmöglich 
ist, da für die Hebung 
des Apparatgewichtes immer eine viel grössere 
Arbeitskraft als für den Horizontalflug erforder¬ 
lich ist. 

Aber letzterem Mangel abzuhelfen schien im 
Bereiche der Möglichkeit zu liegen. Es ergab sich 
dies daraus, dass die allerdings grosse, für den Auf¬ 
flug notwendige Arbeitskraft immer nur für die 
kurze Dauer des Auffluges, also für einige Sekun¬ 
den, beizustellen notwendig ist und dies nach dem 
Vorschläge von Lorenz durch Anwendung von 
leichten Torpedomaschinen, wie sie in der Marine 
in Anwendung stehen, geschehen könnte. 



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Betrachtungen und kleine Mitteilungen. 


360 


Professor Wellner in Brünn, welcher sich 
schon seit zwei Dezennien mit der Flugtechnik be¬ 
schäftigt, fand es zunächst erforderlich, dass Ver¬ 
suche mit Luftschrauben von grösseren Dimensionen 
zu machen sind, um zu erfahren, welche Hebekraft 
man mit denselben ausüben kann. Durch die hoch¬ 
herzige Unterstützung des Fabrikanten Dr. Fries 
wurde es Wellner im verflossenen Jahre ermög¬ 
licht, mit einem Kostenaufwande von 7000 Mark 
ziemlich umfangreiche Versuche in der gewünsch¬ 
ten Richtung vorzunehmen. 

Es wurden zunächst zwei Luftschrauben zur 
Ausführung gebracht, welche mit den Schrauben 
bei Schiffen viel Ähnlichkeit haben. Das Holzgerippe 
der einen Schraube erhielt Ballonstoffüberzug, die 
andere Aluminiumblechbelag. Beide Schrauben 
waren gleich gross und in ihrem Gerippe gleichar¬ 
tig gebaut mit einer anfänglichen Fläche von 
13,5 qm, welche nach und nach durch Wegnahme 
von Stücken auf 7,4 qm vermindert wurde. Die 
Achse der Schraube bestand aus einem Mannes¬ 
mannrohre und wurde mit Hilfe eines grossen Holz¬ 
gerüstes in vertikaler Stellung leicht drehbar singe- 
ordnet. Das untere Ende dieser Achse ruhte auf 
einer gewöhnlichen Dezimalwage, und man konnte 
so das Gewicht der Schraube samt Achse im Ruhe¬ 
zustände erfahren. 

An dem Holzgerüste war ferner ein Lager für 
eine Riemenscheibe, welche mit dem Schwungrade 
einer Dampfmaschine in Verbindung stand. Die 
Achse der Schraube hatte zwei Anne, welche die 
Riemenscheibe bei der Bewegung mitnahm und so 
die Drehung der Schraube veranlasste. Durch diese 
Anordnung konnte sich die Achse der Schraube 
frei auf- und abbewegen und der Zug des Riemens 
wurde von dem Lager der Riemenscheibe aufge¬ 
nommen. Wurde die Schraube in Bewegung ge¬ 
setzt, so hatte sie das Bestreben wegen des Luft¬ 
widerstandes vorwärts, in diesem Falle also auf¬ 
wärts zu gehen; hierbei wird ein Teil ihres Ge¬ 
wichtes von der Luft getragen und dadurch die 
Wage entlastet. Die Grösse der Gewichtsabnahme 
war die Hebekraft der Schraube. 

Mit den anfänglichen grossen Schraubenflächen 
wurde mit 130 Umdrehungen in der Minute eine 
Hebekraft von 39 kg und bei der verminderten 
Fläche mit 126 Umdrehungen auch 39 kg Hebekraft 
erzielt. Bei 160 Umdrehungen ergab die erste Schraube 
62 kg und bei 140 Umdrehungen die zweite Schraube 
47 kg Hebekraft. Die Versuche ergaben weiter, 
dass die Aluminiumfläche der Ballonstofflläche ent¬ 
schieden überlegen war, und dass die kleine 
Schraube bei gleichen Ümlaufszahlen einen kräf¬ 
tigeren Auftrieb erzeugte. Deutlich war ferner zu 
beobachten, dass jede Unebenheit der Oberfläche 
Schaden brachte, weil sie die Luftreibung ver- 
grösserte. ^ 

Auf Grund dieser Erfahrungen wurde eine neue 
Schraube von leichterer Bauart und einer Fläche 
von nur 3,4 qm für rascheren Umlauf bestimmt, 
angefertigt. Die Resultate mit dieser kleinen Schraube 
waren gegen die früheren sehr günstig, denn man 
erzielte bei 300 Umdrehungen 61,5 kg Hebekraft. 
Dieselbe trägt soweit bei einem Eigengewichte von 
25 kg mit Sicherheit 60—70 kg, also mehr als das 
2‘/*fäche des Eigengewichtes oder für jeden Quadrat¬ 


meter Fläche 18—20 kg. Hierzu war eine motorische 
Arbeitskraft von 4—5 Pferdestärken erforderlich, 
so dass auf jede Pferdestärke 15 kg Hebekraft ent¬ 
fallen; Wellner hofft, dass man mit der Zeit we¬ 
nigstens die doppelte Hebekraft erzielen können wird. 

Durch Anstellung dieser Versuche hat sich Well¬ 
ner ein ausserordentliches Verdienst um die Flug¬ 
technik erworben, seinen Arbeiten ist es zuzuschrei¬ 
ben, dass man heute klar sieht, dass man die Be¬ 
dingungen, die zu erfüllen sind, genau kennt, dass 
ungesunde Phantasien unterdrückt werden und end¬ 
lich die Flugtechnik in die Reihe der Wissenschaften 
eingetreteh ist. Die Flugtechnik steht bezüglich ihrer 
Aufgabe nicht mehr vor einem unlösbaren Rätsel; 
sie weiss nun ganz bestimmt, dass, wenn sie es zu 
Stande bringt, in einem Apparat einen Vorrat an 
Kraft unterzubringen, welche die Hebung ermög¬ 
licht, auch der Vorwärtsflug mit entsprechender 
Geschwindigkeit zweifellos gesichert ist. 


Betrachtungen und kleine Mitteilungen. 

H. Kluge, Die Schrift der Mykenier.*) 

Nachdem bereits vereinzelt auf sogen, mykeni- 
schen*) Gegenständen verschiedener Fundorte 
Schriftzeichen zu Tage getreten waren, hatte der 
englische Gelehrte Evans auf Kreta eine grosse 
Reihe von geschnittenen Steinen der mykenischen 
Epoche entdeckt, welche entweder bildliche, hiero- 
glyphische, oder lineare, buchstabenartige Zeichen 
tragen. Als nunmehr vor einiger Zeit die Nach¬ 
richt sich verbreitete, dass Kluge diese Schrift ent¬ 
ziffert habe, sah man der Veröffentlichung allent¬ 
halben teils mit Spannung, teils mit Misstrauen ent- 
gegein. Das vor Kurzem erschienene Buch Kluge’s 
hat das Misstrauen in vollstem Masse gerechtfer¬ 
tigt; denn die Entzifferung der mykenischen Schrift 
ist nicht nur nicht gelungen, sondern das ganze Heft 
bietet auch nicht den geringsten Beitrag zur Lösung 
dieses Problems. 

Kluge gründet sein Gebäude auf eine Voraus¬ 
setzung, die durch sein Buch erst bewiesen werden 
sollte: nämlich dass die Mykenier griechisch rede¬ 
ten. Nur für die Bewohner des griechischen Fest¬ 
landes in der mykenischen Epoche haben archäo¬ 
logische und historische Erwägungen es wahrschein¬ 
lich gemacht, dass sie griechischen Stammes waren; 
bei Kreta aber sind wir noch ganz im Ungewissen, 
oder vielmehr manche Umstände sprechen hier ge¬ 
rade für einen unhellenischen Charakter der da¬ 
maligen Bevölkerung. U. a. hat ebenfalls Evans 
auf Kreta eine Inschrift gefunden, welche in griechi¬ 
schen Buchstaben, jedoch in ungriechischer Sprache 
abgefasst ist. 

Kluge nimmt also für die einzelnen'Gegenstände, 
deren Bilder durch die mykenischen Zeichen mehr 
oder minder deutlich dargestellt werden, die grie¬ 
chische Benennung; und wenn ider griechische 
Buchstabe, mit dem der Name anfängt, in seiner 
^äteren Gestalt dem betreffenden mykenischen 
Zeichen ähnlich ist oder sich aus ihm entwickelt 
haben kann, — dann bedeutet das Zeichen eben 
jenen Laut. Z. B. aus dem Bilde tler Doppelaxt, 
•Hirt] kann der griechische Buchstabe A sehr 
wohl hervorgegangen sein; somit ist die Doppelaxt 


<) Cöthen bei O. Schulze. 1896. 

*J Der ältesten Periode Gnechenlaods nn^ehOrift. Verpl. U m- 
schau No. 13 S. 399. 


9 


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Betrachtungen und Kleine Mitteilungen. 


361 


= A. Das runde, ein Auge vorstellende Zeichen, 
oii/in ist = O. Auf diese Weise bringt Kluge ein 
anzes mykenisches Alphabet zusammen, wooei es 
ei einigen Buchstaben nicht ohne Gewaltsamkeiten 
abgeht Die Richtigkeit des Alphabets wird auch 
dadurch zur Genüge gekennzeichnet, dass Kluge 
ihr den Laut & kein eigenes Zeichen aufzufinden 
vermochte, sondern dass seiner Ansicht nach die 
Mykenier für & und T dasselbe Zeichen verwen¬ 
deten. In Wirklichkeit sind natürlich die beiden 
in der Sprache durchaus verschiedenen Laute auch 
bereits in der ältesten griechischen Schrift ausein¬ 
andergehalten worden. Eine beträchtliche Anzahl 
mykenischer Zeichen konnte in dem Alphabet nicht 
untergebracht werden; da fand Kluge aen Ausweg, 
sie ftlr Ligaturen zweier oder mehrerer Buchstaben 
zu erklären. Hiermit war der Willkür Thür und 
Thor geöfihet. Selbst das bedeutungsloseste Häk¬ 
chen erhielt nunmehr als Verbindung zweier Buch¬ 
staben einen Sinn. Namentlich waren O und I für 
diesen Zweck sehr geeignet; daher die vielen O- 
Laute in den Kluge’schen Lesungen mykenischer 
Inschriften. Bis zu welcher Höhe das Ligaturen- 
Unwesen getrieben ist, zeigt am Besten der folgende 
Fall: das Bild eines geschnittenen Steines, das un¬ 
verkennbar ein Schiff und nichts mehr als ein Schiff 
verstellt, wird von Kluge, indem er verschiedene 
unwesentliche Haken und Linien je als Zusammen¬ 
fassung mehrerer Buchstaben deutet, allen Ernstes 
ab Teil eines griechischen Wortes gelesen, unge¬ 
fähr in der Art heutiger Bilderrätsel. So darf es 
denn nicht Wunder nehmen, dass er im Stande ist, 
sämtliche vorhandenen mykenischen Inschriften nach 
Wunsch zu entziffern; sie sind —- man höre und 
staune — in gutem, reinem, etwas archaischem 
Griechisch abgefasst. Wie würde sich Schliemann 
über diese grosse Entdeckung, dass die Zeitgenos¬ 
sen seiner mykenischen Goldschätze ein echt ho¬ 
merisches Griechisch sprächen, gefreut haben! Und 
welcher Triumph der Wissenschaft ist es, dass wir 
jetzt aus den! 2. Jahrtausend v. Chr. sogar den 
Namen eines griechischen Künstlers, eine ganze 
Konstlerfamilie kennen: die KOnstlerfamilie des 
Oiosios! 

Das Buch Kluge’s kann als ernste Mahnung die¬ 
nen, trotz aller Entdeckerfreuden doch nicht die un¬ 
umgänglichste Selbstkritik zu verlieren. s. b. 

• » 

• 

Die Frage, ob Argon, das vor zwei Jahren von 
Raleigh und Ramsay entdeckte dritte Element 
unserer Atmosphäre, auch in den Pflanzen enthal¬ 
ten sei, ist von G. Tolomei untersucht worden. 
Dass dasselbe sich nicht in den fertigen Geweben 
der höheren Pflanzen finde, war ja wohl voraus¬ 
zusehen und ist auch durch Tolomei’s Untersuch¬ 
ungen bestätigt. Anders aber stand es mit der 
Frage, ob die in den Wurzelknöllchen der Legu¬ 
minosen lebenden Bakterien, welche belcanntlich 
den freien Stickstoff der Atmosphäre assimilieren 
und dann in Form chemischer Verbindungen an 
ihre Wohnpflanze abgeben, auch dem Argon, w’el- 
ches chemischen Einwirkungen gewöhnlicher Art 
noch unzugänglicher ist als der Stickstoff, beizu¬ 
kommen vermögen. Wirklich fand Tolomei in Rein¬ 
kulturen dieser Bakterien, und ebenso in den Wurzel- 
knöDchen jünger Erbsenpflanzen, welche für ihre 
Ernährung gewissermassen noch auf jene Bakterien 
angewiesen sind, das Argon vor; dagegen fehlte 
dasselbe in älteren Pflanzen, deren WurzelknöUchen 
mit ihrem Inhalte bereits im Absterben sind. 
Tolomei ist deshalb der Ansicht, da’ss auch die 
Bakterienkulturen das Argon nicht in Form che¬ 
mischer Verbindung^en, sondern nur gewissermassen 
gelöst enthalten. Der Name des Argons, welcher 


seinen Widerstand gegen die Eingehung chemischer 
Verbindungen kennzeichnet, wäre also abermals 
gerechtfertigt. b. d. 

* 

Über eine neue Art, Licht aufzuspeichem, hat 
Charles Henry, wie die „Deutsche Techn. Ztg.“ 
berichtet, der französischen Akademie der Wissen¬ 
schaften Mitteilung gemacht; das Prinzip der Sache 
ist danach folgendes: Man weiss, dass Lichtstrahl¬ 
ung stets von Wärmeerscheinungen begleitet ist. 
Durch Wärmezufuhr wird die Lichtstrahlung leuch¬ 
tender Körper energischer (rotglühendes Eisen wird 
z. B. durch weitere Erhitzung weissglühend, also 
heller leuchtend). In geringem Masse kann man 
diese Erscheinung bei allen phosphoreszierenden 
Körpern schon unter dem Einfluss der geringen 
Wärmemenge beobachten, welche die menschliche 
Haut ausstrahlt, denn berührt man einen phosphores¬ 
zierenden Körper mit der flachen Hand, so leuchtet 
er an den berührten Stellen. Henry schloss nun 
umgekehrt, dass intensive Kälte im Stande sein 
müsse, die Lichtstrahlung von im Dunkeln leuch¬ 
tenden phosphoreszierenden Körpern zu verhindern. 
Es zeigte sich bei einer Reihe von Versuchen, dass 
die Vermutung richtig war, und dass ferner der¬ 
artige Körper, wenn sie wieder in Räume von nor¬ 
maler Temperatur gebracht wurden, auch wieder 
anfingen zu leuchten. Selbst wenn nach längerer 
Belichtung im Dunkeln leuchtende Körper lange 
Zeit hindurch bei intensiver Kälte in dunkeln Räu¬ 
men aufbewahrt waren, hatten sie die ihnen durch 
die vielleicht vor Wochen erfolgte Beleuchtung er¬ 
teilte Fähigkeit, im Dunkeln zu leuchten, nicht ver¬ 
loren, sie strahlten vielmehr, in ein dunkles Zimmer 
von etwa 15* Wärme gebracht, Licht aus, als wenn 
sie eben erst beleuchtet worden wären. Leider 
lässt die interessante Entdeckung eine praktische 
Verw’ertung in der Technik oder im öffentlichen 
Leben überhaupt zur Zeit noch nicht erkennen, 
denn die Erzeugung der zur Konservierung des Licht¬ 
strahlungsvermögens erforderlichen K^te dürfte 
sich so teuer stellen, dass der Wert der aufge¬ 
speicherten Lichtmenge ganz bedeutend überschrit¬ 
ten wird. Ob die Entdeckung für arktische Gegen¬ 
den, wo die Kälte an sich billig ist, Wert hat, lässt 
sich naturgemäss jetzt ebenfalls noch nicht beur¬ 
teilen, interessant aber, namentlich für den Phy¬ 
siker, ist immerhin die damit aufs Neue wieder 
konstatierte innige Wechselbeziehung zwischen Licht 
und Wärme. 


Das Atmen verwundeter Pflanzen. Jede le¬ 
bende Pflanze atmet, gleichwie das Tier, d. h. sie 
nimmt aus der atmosphärischen Luft Sauerstoff auf 
und scheidet Kohlensäure aus. Dieser Prozess geht 
Tag und Nacht vor sich und zeigt sich besonders 
stark bei lebhaft wachsenden Pflanzenteilen, so bei 
sich entfaltenden Blüten und ganzen Blättern;, sehr 
energisch ist der Atmungsprozess bei Keimpflanzen. 
— Dass mit diesem Vorgänge eine mehr oder we¬ 
niger bedeutende' Erhöhung der Temperatur ver¬ 
bunden ist, wurde bereits früher in diesem Blatte 
(Nummer 4 pag. 74) erwähnt. — Es lag der 
Gedanke nahe, dass bei verwundeten Pflanzen eine 
Steigerung der Atmung eintrete, ohne dass hierfür 
bisher ein exakter Beweis vorlag. Nun hat 
Richards durch zahlreiche Experimente und Un¬ 
tersuchungen im Pfeffer’schen Institute zu Leip¬ 
zig den Nachweis geliefert, dass verwundete pflanz¬ 
liche Organismen thatsächlich stärker*atmen, als 
intakte. Er brachte an Rüben, Kartoffeln und an¬ 
deren Objekten Verletzungen an und konstatierte 
eine beträchdiche Zunahme der Atmung, welche im 


Dii.;iiized by v^ooQle 



302 


Betrachtungen und kleine Mitteilungen. 


\ 

J 


Laufe von 2 Tagen ein Maximum zeigte und mit 
dem aUmähligen Heilungsprozesse wieder ab¬ 
nahm. N. 

• 

Ein wichtiger Industriezweig ist die Herstel¬ 
lung der Kartoffelstärke. In Deutschland werden, 
wie wir einem Vortrag des Professors S a a r e nach 
der „Zeitschr. f. angew'. Chemie" entnehmen, jähr¬ 
lich 2 bis 3 Millionen Doppelzentner Kartoffelstärlce 
und Kartoffelmehl hergestellt und in den Handel 
ebracht. — Die Produktion geschieht teils in in- 
ustriellen Fabrikanlagen, teils in landwirtschaft¬ 
lichen Betrieben, welche die Kartoffelstärkefabri¬ 
kation als landwirtschaftliches Nebengewerbe aus¬ 
üben. Die Anzahl der landwirtschaftlichen Betriebe 
ist die überwiegende, die Höhe der Produktion an¬ 
nähernd wohl die gleiche, wie die der industriel¬ 
len. Die feinsten und besseren Produkte haben 
bestimmte Fabrikmarken, z. B. K. M. F. der Nord¬ 
deutschen Kartoffelmehlfabrik Küstrin, St. B. Stärke¬ 
fabrik Bentschen, B. & K. Stärkefabrik Glogau, 
M. & K. Stärkefabrik Gransee, Hahnmarke, Schiffs¬ 
marke u. s. w. — Die feinsten Produkte bilden eine 
rein weisse, fast geschmack- und geruchlose Masse 
von hohem Glanze. Die Nachprodukte dagegen 
sind je nach der Stelle, welche sie in der Fabri¬ 
kation einnehmen, mehr oder weniger abweichend 
von dem reinen Weiss, stumpfer und reicher an 
Fremdkörpern, welche als gelbliche, dunklere bis 
tiefschwarze Punkte sich von der Stärke abheben, 
den sogen. Stippen, — Kartoffelmehl ist gemahlene 
und gesichtete Kartoffelstärke. — Letztere ist mehr 
oder weniger grossstOckig, je nach der Art der 
Trocknung der Stärke. Man unterscheidet:/fort/e«- 
stärke, d. h. aut Horden ohne Bewegung getrock¬ 
nete, besonders grossstückige Stärke und Apparat' 
stärke, meist weniger grossstückige. Bezüglich der 
Qualität ist bei den jetzigen vervolikommneten 
Trockenapparaten ein wesentlicher Unterschied 
zwischen beiden nicht mehr festzustellen. Die Ver¬ 
wendung von Kartoffelstärke und Kartoffelmehl ist 
eine recht vielseitige. Sie dient entweder zu direk¬ 
tem Verbrauch oder als Rohstoff filr die sogen. 
Kartofielfabrikate. Im direkten Verbrauch finden, 
beide Verwendung hauptsächlich als Verdickungs¬ 
und Versteifungsmittel für Färberei, Weberei und 
Papierfabrikation, als Klebstoff dient ihr Kleister 
dem Buchbinder, Tapezierer, Hutmacher etc., zum 
Steifen und zur Glanzerzeugung braucht sie die 
Wäschefabrikation, oft unter Zuhilfenahme von Zu¬ 
sätzen wie Borax, Stearinsäure u. a. als Glanz¬ 
stärke; als Nahrungsmittel spielt die Stärke eine 
Rolle zum Verdicken, Sämigmachen von Saucen. 
Suppen, zur Herstellung von Mehlspeisen, Kartof¬ 
felgraupen und Kartoffelsago, in der Feinbäckerei 
zur Herstellung von Sandtorten, in der Brotbäckerei 
als Zusatzmittel. Dasselbe soll jedoch 10 Prozent 
nicht wesentlich übersteigen, da sonst das Brot 
trocken und bröckelig wird. Als Heilmittel (Puder) 
oder Zusatz zu solchen wird Stärke jetzt seltener 
wie früher verwandt; als Hilfsmittel wird sie z. B. 
in der Bäckerei zur Verhinderung des Anklebens 
der Teigwaren gebraucht, als Streumaterial für 
Gussformen in der Metallindustrie; endlich als Zu- 
satzmittel zur Presshefe, Waschpulvern, Seife 
u. a. m. Als Rohstoff dient sie der Herstellung 
von Stärkesyrup, Stärkezucker und Couleur der 
Dextrinfabrikation und zur Herstellung der löslichen 
Stärke und der Ozonstärke und Ozongummiarten. 
Versuchsweise ist auch Nitrostärke zu Spreng- 
zwecken und für Gewinnung rauchlosen Pulvers 
hergestellt, doch sind die Präparate hierfür nicht 
stabil genug. Naquet in Paris hat endlich Wein¬ 


säure daraus zu gewinnen gesucht durch Einwirk¬ 
ung von Schwefel- und Salpetersäure, 

m 

• • 

Hafeneingänge durch schwimmende Wellen¬ 
brecher zu schützen, schlägt der berühmte Polar¬ 
forscher Professor Nordenskiöld nach einer 
Mitteilung der „Voss. Ztg." vor. Nordenskiöld hat 
bei seinen Nordpolexpeditionen die Erfahrung ge¬ 
macht, dass das Treibeis einen mächtigen Einfluss 
auf den Seegang ausObt. Während hoher Seegang 
im eisfreien Wasser herrschte, legte sich derselbe, 
sobald das Schiff sich in einer Zone befand, in der 
Treibeis zerstreut war, und inmitten des dichter 
mit Eis bedeckten Wassers hörte der Wellenschlag 
gänzlich auf. Professor Nordenskiöld ist der An¬ 
sicht, dass die Wirkung des Treibeises auf den 
Seegang zum grossen Teil einem Interferenzphäno¬ 
men zuzuschreiben ist und dadurch hervorgerufen 
wird, dass die Woge von jedem Eisstück, dem sie 
begegnet, sowohl in Bezug auf Bewegungsge¬ 
schwindigkeit wie Ausdehnung und Richtung beein¬ 
flusst wird. Unter der Voraussetzung, dass diese 
Annahme richtig ist, hält Nordenskiöld es für er¬ 
forderlich, dass an Stelle der Wellenbrecher von 
mächtigem Umfang, mit denen früher Versuche 
macht wurden, eine grosse Anzahl verhältnismässig 
kleiner Flösse gebaut und vor dem Hafeneingang 
in mehreren unregelmässigen Reihen verankert 
werden müssen. Welches die zweckmässigste Form 
sei, werde die Erfahrung lehren. Nordenskiöld 
meint jedoch auf Grund seber Betrachtungen, dass 
derartige Wellenbrecher aus Eisenblech gebaut wer- 
d^ flache Unterseiten enthalten und von geringem 
Tiefgang sein müssten. Da die Erbauung der Mo¬ 
len, durch welche jetzt ausschliesslich Hafenein¬ 
gänge gegen Seegang geschützt werden, sehr kost¬ 
spielig ist, hat eine erfolgreiche Ausführung des 
Nordenskiöld’schen Planes allerdings grosse Be¬ 
deutung. 


Der Franzose Foa berichtet der Pariser Geo¬ 
graphischen Gesellschaft (Comptes Rendus 1896, 
308» Ober beträchtliche Kohlenlager, die er ^ 
oberen Schire und zwar einige Kilometer westlich 
vom Moatize, einem Nebenfluss des Revonge, ge¬ 
funden hat. Auch am linken Ufer des Sambesi, nur 
wenige 100 Meter vom Fluss entfernt, sollen Koh¬ 
lenlager gefunden sein, für deren Ausbeutung eine 
französische Gesellschaft bereits die Erlaubnis besitzt. 


Sprechsaal. 

Herrn R. L. in W. Sie stellen die_Frage: 
Schloss Prof. Hertz aus einer Reihe von Überein¬ 
stimmungen zwischen Elektrizität und Licht auf die 
W ellenbewegung der ersteren, die man beim Licht 
voraussetzt, oder hat er davon unabhängig Beweise 
für die Wellenbewegung der Elektrizität gegeben ? 
Wir antworten: Der Kern der Hertz’schen Ar¬ 
beiten und ihr unvergänglicher Wert liegt darin, 
dass er durch viele Versuche ganz unumstössliche 
Beweise für die Existenz elektrischer Wellen er¬ 
bracht hat. Wir empfehlen Ihnen den populär ge¬ 
haltenen Vortrag; „Über die Beziehungen zwischen 
Licht und Elektrizität" von H. Hertz. Bonn 1889. 

Dr. Pr. 


No. 31 der UmBChan wird eochalten: 

Ratze], Der Lebensraum. — MOsebeck, FViedrich der Grosse. 
— Neubaur, Die deutschen Kolonien. I. Ostafrika. — Fraoe^ 
Das tierische Chlorophyll. — Tetzner, Sprachliche Fragen lo. 


G. Horstmann’s DruckereL Frankfurt a. M. 




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DIE UMSCHAU 

ÜBERSICHT ÜBER DIE FORTSCHRITTE UND BEWEGUNGEN AUF 
DEM GESAMTGEBIET DER WISSENSCHAFT, TECHNIK, 

Wöchentlich eine Nummer. LITTERATUR UND KUNST vierteijahnid. 

Zu beziehen durch herausgegeben von M. 9.50. 

alle Buchhandlungen und „ ■Dirr'XIXJ/^tn Jahres-Abonnement 

Poslansulten. J* BECHHOLD PreU M 10.-. 

Postzeitungspreisliste No. 7991 a. - Im Ausland nach Cour«. 

Verlag von: Verantwortlicher Redakteur; 

H. Bechhold Verlag, Frankfurt a. M. Otto Adolf Wolters, Frankfurt a. BL 

Neue Kräme ig/ai. 


21. I. Jahrg. 


Nachäruek aus dem Inhalt der Zeitschrift ohne Erlaubnis 
der Redaktion verboten. 


1897. 22. Mai. 


Ueber den Lebensraum. 

Eine biogeographische Skizze. 

Von Prof. Dr. Friedrich Ratzel. 

Betrachten wir die Betvegung, jene Grund¬ 
eigenschaft des lebenbegabten Eiweisses, die 
das Leben getrieben hat, über alle Teile der 
Erde sich auszubreiten, wo Leben _ möglich 
ist, so erhebt sich vor uns eine Fülle von 
biogeographischen Raumproblemen. Das erste 
und grösste ist das Verhältnis des Lebens zum 
Raum der Erde. Fassen wir einmal der Ein¬ 
fachheit wegen nur das Leben am Lande ins 
Auge, so sehen wir, wie dessen Verhältnis 
zu dem verfügbaren Raum in den verschie¬ 
denen Zeitaltern verschieden gewesen sein 
muss. Verminderung seiner Ausbreitung in 
den Polargebieten bis zur äussersten Lebens¬ 
armut war nicht immer. Die Erde hat wärmere 
Zeiten in der Arktis gesehen,- wo eine Vege¬ 
tation unter 83® N. B. kräftig genug war, um 
Steinkohlen zu bilden. Kohlen sind auch auf 
den Kergulen-Inseln gebildet worden, wo 
heute das organische Leben kärglich ist. In 
einer solchen Zeit bot also die Erde ihrem 
Leben viel mehr Raum als heute. Das Ge¬ 
genteil zeigt uns aber die Geschichte unseres 
Planeten ebenso klar in der Eiszeit, die das 
bis zum Pol vorgedrungene Leben äquator- 
wärts zurücktrieb, also den dem Leben be¬ 
stimmten Raum verkleinerte, die Biosphäre 
in einen Gürtel zusammendrängte. Den Le' 
bensraum zu bestimmen, den die Erde in 
einem Zeitpunkt bot, oder auch nur zu 
schätzen, wird man nicht nur als eine wich¬ 
tige Aufgabe anzusehen haben, weil von die¬ 
sem Raum die Menge des Lebens abhängt, 
sondern auch wegen der Vermehrung der 
Anlässe zur Differenzierung, die mit jeder 
Raumvergrösserung gegeben ist. Dieser An¬ 
lässe sind es zweierlei. Ein weiter Raum 
vermehrt die Möglichkeiten des räumlichen 
Auseinandergehens der Lebensformen, der 

Unachau 1897. 


Absonderung; entsprechend vermindern sich 
diese Möglichkeiten im engen Raum. Sehen 
wir nun mit Moritz Wagner in der räum¬ 
lichen Absonderung eine unerlässliche Be¬ 
dingung der Artbildung oder mit Darwin nur 
einen begünstigenden Umstand, immer wird 
die Entwickelung neuer Lebensformen von 
dem gegebenen Raum abhängig sein. Eine 
Periode der Erdgeschichte, in der der Lebens¬ 
raum sich verengerte, sah auch die Weiter¬ 
entwickelung des Lebens durch die Schöpfung 
neuer Formen sich verlangsamen. Je kleiner 
ein Raum, desto früher vollendet sich in ihm 
jede Bewegung, jedes Wachstum. Frühreife 
“Mt also das Merkmal der engen Räume. Nun 
ist aber die Oberfläche der Erde nach allen 
Zeugnissen der Geologen immer verschieden 
gewesen nach Höhe, Gliederung und stoff¬ 
licher Beschaffenheit. Also bedeutet auch 
jede Vergrösserung des Lebensraumes eine 
Vermehrung der in der Bodenverschiedenheit 
gegebenen Anlässe zur Differenzierung. Der 
weite Raum steigert ebensowohl die Diffe¬ 
renzierung aus räumlichen als die Differenzier¬ 
ung aus geographischen Gründen. Denken 
wir uns Grönland eisfrei, welche eigentüm¬ 
lich und mannigfaltig abgestufte Lebewelt 
müsste sich auf diesen 2 Millionen Quadrat- 
Kilometern Hochland und Hochgebirge ent¬ 
falten. Welche Lebewelt mag erst eine eis- 
I freie Antarktis getragen haben? 

Die Biologen haben in einer einzigen 
Richtung die Erscheinung der Lebewelt in 
einem bestimmten geographischen Raum mit 
Aufmerksamkeit ins Auge gefasst, nämlich 
dem der Inseln. Die Erörterungen Darwins, 
Moritz Wagners und Wallace’s über das Tier- 
und Pflanzenleben der Inseln gehören zum 
Besten, vorzüglich zum Anregendsten, was sie 
geleistet. Wie merkwürdig aber, dass Keiner 
von allen den Schritt bis zu der Einsicht ge- 
than hat, dass diese Räume nur relativ eng 
sind, dass die Erdteile doch auch nur Inseln 

21 


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3^4 


Ratzel, Ueber den Lebensraum. 


im Weltmeer, und dass überhaupt auf einem 
Planeten, der. zu drei Vierteilen mit Wasser 
bedeckt ist, nur ein insulares Leben den 
landgebannten Lebewesen verstattet sein kann! 
Nun hat aber weiter im Laufe der erdge¬ 
schichtlichen Entwickelung diese insulare Ver¬ 
teilung des Landes ganz verschiedene Formen 
angenommen. Wie man sich auch zur Per¬ 
sistenz der Meeresbecken stellt, es ist die 
heutige Landverteilung mit dem Grundmerk¬ 
mal der Zusammenschiebung auf der Nord¬ 
halbkugel und der Auseinanderlegung auf der 
Südhalbkugel nicht immer dagewesen. 

Verschiedenheiten der Lebewelt, die auf 
Unterschiede in der Verteilung von Land und, 
Meer zurOckführen, findet man in allen geo¬ 
logischen Perioden; auch schon in den ältes¬ 
ten. Es giebt kein Zeugnis, das die An¬ 
nahme stützte, dass einmal die Erde so ein¬ 
förmig gewesen sei, dass die gleichen Lebens¬ 
bedingungen über ihre ganze Ausdehnung 
hin herrschten. Die ältesten sicheren Spuren 
des Lebens in der kambrischen Formation 
zeigen eine so grosse Übereinstimmung zwi¬ 
schen nordeuropäischen und nordostameri¬ 
kanischen Tierformen, dass man eine Ab¬ 
lagerung um einen nordatlantischen Kontinent 
der den Osten des heutigen Norden und den 
Westen Europas zum Teil in sich begriff, anzu¬ 
nehmen hat. Dagegen sind die kambrischen 
Reste imWesten Nordamerikas sehr verschieden 
von denen im Osten; sie müssen in getrennten 
Meeren abgelagert sein. Übrigens spricht die 
Zusammensetzung der kambrischen Ablager¬ 
ungen aus Sandstein und Konglomeraten für 
die Nähe von Land. Die einförmige, Inseln 
und Erdteile ausschliessende Meeresbedeck¬ 
ung ist sicherlich schon für diese geologische 
Periode nicht anzunehmen. In den böhmischen 
Silurschichten treten mitten zwischen Tier¬ 
formen, die dem Untersilur angehören, solche 
des Obersilur auf. Man kann kaum zu einer 
anderen Deutung gelangen als, dass es mehrere 
Silurmeere gab, gerade so wie es heute ver¬ 
schiedene Ozeane giebt, und dass diese Meere 
einmal getrennt und dann wieder in Ver¬ 
bindung gesetzt Waren. 

Nicht nur die Klimaveränderungen haben 
Verschiebungen des Lebensraumes bewirkt, 
die Änderungen der Landverteilung sind 
in der gleichen Richtung thätig gewesen. 
Welchen tiefen Einfluss muss eine noch 
ausgesprochener insulare Lebensvertheilung 
auf das Gesamtleben unserer Erde geübt 
haben, wenn wir den kleinsten Erdteil Austra¬ 
lien als den biogeographisch eigentümlichsten 
allen anderen gegenübergestellt sehen! Den¬ 
ken wir uns eine Periode derartiger Verteilung 
zusammenfallend mit einer Periode grösserer 
Ausdehnung des Lebensraumes nach den 


Polen hin, so sehen wir eine Steigerung des 
absoluten Lebensreichtums weit über den 
heutigen Betrag hinaus. Wir können uns über¬ 
haupt die Geschichte des Lebens nicht anders 
denken, als unter der Einwirkung wechseln¬ 
der Erweiterungen und Verengungen, Zer¬ 
teilungen, Vereinigungen und Verschiebungen 
des Lebensraumes, die einen entsprechen¬ 
den Wechsel von Armut und Reichtum in 
der Entfaltung des Gesamtlebens unserer 
Erde bedeuten. Über all diesem bleibt 
aber zuhöchst bestimmend das in der Grösse 
des Planeten gegebene Mass, das diesem 
Ebben und Fluten.enge Schranken zieht. Gegen 
sie brandet das nach allen Seiten hinausstre¬ 
bende Leben wie ein Meer an; aber die Wel¬ 
len rinnen von allen Seiten vom Strande her 
machtlos in das grosse Becken zurück. 

Mit den räumlichen Veränderungen in den 
dem Leben offenstehenden Gebieten der Erde 
sind Verschiebungen der Lage und Gestalt 
des Lebensraumes gegeben. Wir greifen hier 
die elementarste heraus, um ein einfaches 
Beispiel für die Bedeutung dieser Veränder¬ 
ungen zu gewinnen. In einer Periode, die 
das Leben von Pol zu Pol reichen sah, wie 
es wahrscheinlich noch in der späteren Tertiär¬ 
zeit der Fall war, waren zirkumpolare Wan¬ 
derung und austrahlendes Wandern äquator- 
wärts gleichmässig erleichtert. Ein grosser Teil 
der erstaunlichen Übereinstimmung, die auch 
heute die Lebewelt der Norderdteile bietet, 
ist viel eher aus diesem Zustand, als aus 
einer unwahrscheinlichen Atlantis herzuleiten. 
Auch auf der Südhalbkugel scheinen Erinner¬ 
ungen an ein solchen Zustand erhalten zu sein. 
Wurde nun die Lebewelt auf einen äquatorialen 
Gürtel zusammengedrängt, so verschlossen sich 
diese Wege im Norden und Süden und es war 
die Gelegenheit zur Herausbildung grösserer 
Unterschiede der Lebewelt der Haupterdteile, 
sowie zur Mischung polarer und tropischer 
Formen gegeben. Dabei musste aber immer 
die Abhängigkeit von der schwankenden Ver¬ 
teilung des Landes zwischen den Ozeanen 
in diesem Gürtel sich stärker geltend machen, 
je entschiedener jene leichteren und kürzeren 
zirkumpolaren Wege verschlossen waren. 

Fassen wir das Leben an der Erde als 
ein Ganzes — wir mögen es Biosphäre nen¬ 
nen, wiewohl der Ausdruck gewagt ist — so 
werden wir doch nicht übersehen dürfen, 
dass es grosse Unterschiede des Zusammen¬ 
hanges und der Dichte zeigt. So wie der 
Statistiker in einer menschlichen Bevölkerung 
dichtere und dünnere Stellen findet, so sehen 
wir das Leben in den höchsten Erhebungen 
der Hochgebirge und an Stellen, die ewiges 
Eis bedeckt, von Lücken durchbrochen oder 
mindestens stark verdünnt; wogegen seine 




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Ratzel, Ueber den Lebensraum. 


365 


grösste Mächtigkeit unfehlbar dort liegt, wo das 
in allen Tiefen belebte Meer die tiefsten Senken 
der Erdoberfläche ausfüllt. Die Wissenschaft 
wird eines Tages dazu kommen, die Dichtigkeit 
des Lebens und seine Intensität, d. h. das Mass 
seiner horizontalen und vertikalen Erstreckung 
auf der Erdoberfläche zu messen. Es ist sehr 
zu wünschen, dass exaktere Ausdrücke ftlr 
tropische Üppigkeit, steppenhafte Verkümmer¬ 
ung, polare Armut gewonnen werden, und 
dass man die Lebensftllle des Meeres mit der 
des Landes vergleichen könne. Die Auf¬ 
gabe ist nicht leicht. Durch Erde, Wasser 
und Luft: wirkt und webt das Gewand der 
organischen Decke seine Fäden und selbst 
das Inlandeis Grönlands trägt einen dünnen 
Anflug lebendiger Wesen in den farbigen 
Schneealgen. Es greift auch nicht nur im 
Meere und in den Seen in die Tiefe der 
Erde, sondern das Leben strebt auch in und 
mit den Wurzeln der Pflanzen, mit der Flora 
subterranea der Schächte und Gruben, mit 
der Fauna der Höhlen unter die Erdober¬ 
fläche hinab. Dieses Hinabstreben ist aller¬ 
dings räumlich wenig bedeutend, wenn man 
es mit der Thatsache vergleicht, dass an den 
tiefsten Stellen des Meeres das Leben noch 
nicht ausgestorben ist. Es verstärkt nur noch 
den Eindruck des innigen Verwachsenseins 
der organischen Hülle mit der Oberfläche des 
Erdkörpers. 

Die Schwankungen des Klimas und der 
Gestalt der Erdoberfläche haben diese Ver¬ 
teilungsweise des Lebens oft verändert und 
arbeiten immer noch weiter an ihrer Umge¬ 
staltung. Unter unseren Augen vollzieht sich 
ein Vor- und Rückschwanken der Baum- und 
Waldgrenzen in den Alpen. Viel augenfälliger 
sind aber die Veränderungen der Lebens¬ 
dichte, die auf Eingriffe der Organismen selbst 
zurückführen. In erster Linie ist der /Mensch 
thätig, der in allen Waldländern seine „Kultur¬ 
steppe“ von Äckern und Wiesen an die Stelle 
des dichten Waldwuchses legt und nur in we¬ 
nigen Fällen durch Waldanpflanzungen ein 
intensiveres Leben auf vorher kahlem Boden 
hervorruft. Kleine Insekten können geradeso 
rücksichtslose WaldverwOster sein und der 
Biber wandelt durch seine Staudämme Wälder 
in Wiesen um. Derartige Veränderungen ha¬ 
ben immer vor sich gehen müssen und wer¬ 
den immer wieder stattfinden. Indem sie die 
Raumverhältnisse des Lebens und die Be¬ 
ziehungen zum Boden verändern, tragen sie 
hier zum Untergang und dort zur Neubildung 
organischer Formen bei. 

Wenn in dem grossen Lebensgebiete der 
Erde der Raum eine Grundthatsache ist, die 
Ober die Ausdehnung, die Fülle, den inneren 
Reichtum und endlich sogar die Fortbild¬ 


ung des Lebens mit entscheidet, so wirkt 
er noch mächtiger durch die einzelnen Le¬ 
bensformen, von denen jede einzelne unter 
besonderen Raumbedingungen lebt. Jede 
Pflanzenart, Thierart und Völkergruppe hat 
ihr Verbreitungsgebiet. Die Menschheit hat 
ihre Ökumene und so jede Lebensform, d. h. 
jede nimmt ein Gebiet ein, in dessen Innerm 
ihre Lebensbedingungen am vollkommei\sten 
vertreten sind; dort ist sie am stärksten, am 
zahlreichsten und nach den Rändern zu nimmt 
sie ab, bis sie verschwindet. Diese einzelnen 
Lebensräume oder Ökumenen mögen gross 
oder klein, natürlich begrenzt oder mehr ge¬ 
schichtlich gegeben sein. Niemand kann leug¬ 
nen, dass jedes pflanzliche, tierische oder 
menschliche Wesen für sein Gedeihen einen 
bestimmten Raum verlangt. Und wenn man 
weitergeht, so lehrt die Flora un<f Fauna 
kleinerer Inseln, dass auf engbegrenztem Raume 
andere Eigenschaften zur Entwickelung bei 
Pflanzen- und Thierarten kommen, als wo 
weite Gebiete sich der Verteilung der Massen 
von Individuen darbieten, die eine Art aus¬ 
machen. Die paar Quadratmeilen, auf welche 
der europäische Bison, auch Auerochse ge¬ 
nannt, oder der Steinbock der Alpen einge¬ 
schränkt ist, zeigen diese Arten dem stärksten 
Rückgang und dem Erlöschen nahe. Sie 
blühten, als sie noch Wohnsitze von tau¬ 
sendfachem Betrage der Oberflächengrösse 
derjenigen einnahmen, auf welche sie heute 
zurückgedrängt sind. Wir haben keinen Grund 
anzunehmen, dass sie sich nicht wieder aus¬ 
breiten würden, wenn die altefi Lebensbe¬ 
dingungen sich wieder herstellen Hessen. 
Teile der Menschheit, die man zwar nicht 
als Arten mit diesen Tieren vergleichen, aber 
immerhin als- gut charakterisierte besondere 
Gruppen ansehen kann, wie die Tasmanier, 
sind ausgestorben. Zweifelt man, dass sie 
sich länger erhalten haben würden, wenn sie 
auf einem bedeutend grösseren Raume sich 
hätten bewegen können, als dem dieses Tas¬ 
maniens, welchen man kaum mit der Ober¬ 
fläche von Bayern ohne die Pfalz vergleichen 
kann? Die Basken, Träger eines Sprach- 
stammes, der einst viel weiter verbreitet ge¬ 
wesen sein muss, . sind auf eine Seelenzahl 
von einer halben Million zusammengeschmol¬ 
zen. Wie lange wird es dauern, bis über 
diesen alten Stamm die Wogen des spanischen 
und französischen Volkstums zusammenschla¬ 
gen? Sie werden dann an der Enge ihres 
Raumes zu Grund gegangen sein. Der Kampf 
ums Dasein wird also durch den Raum, der 
ihm gewährt wird, ebenso beeinflusst, wie 
etwa jene Höhepunkte bewaffneter Konflikte 
der Menschen, die wir bezeichnenderweise 
Schlachten nennen. Dieser Kampf lässt sich, 

21 * 


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366 


Ratzel, Ueber den Lebensraum. 


wie die Schlacht, auf vor- und zurückdrängende 
Bewegungen zurückführen. Im weiten Raum 
kann der angegriffene Gegner ausweichen, auf 
engem wird der Kampf verzweifelt und ent¬ 
scheidend, weil kein Ausweg bleibt. Charles 
Darwin, der den Kampf ums Dasein nicht 
erfunden, aber seine hohe Bedeutung für die 
Geschichte des Lebens am eingehendsten 
behandelt hat, hält den Blick auf die ver¬ 
schiedene Vermehrungskraft der Organismen 
gerichtet, welche ungehindert nur bei ent¬ 
sprechender Ausbreitung über einen grösseren 
Raum stattfinden kann'. Dies ist der Ausgangs¬ 
punkt des berühmten dritten Kapitels des 
Buches „Origin of Species“. Die Betrachtung 
des geometrischen Wachstums der Vermehr¬ 
ung führt ihn mit Malthus zu der Annahme, 
dass der Mensch, wiewohl er zu den lang¬ 
sam sich vermehrenden Wesen gehört, in 
weniger als looo Jahren bei ungehemmter 
Vermehrung die Erde so ganz erfüllen müsste, 
dass kein Raum mehr übrig bliebe. 

Wir können uns keinen Menschen, ge¬ 
schweige denn eine menschliche Gemeinschaft 
losgelöst vom Boden denken. Die Staats¬ 
wissenschaftler mögen in scharfsinnigen 
Schlüssen dem Staatsgebiet nur die Rolle 
eines Besitzes des Staates zuerkennen, wir 
wissen alle, dass das Gebiet mit dem Staat 
viel zu eng zusammenhängt, um so wenig zu 
sein. Volk und Boden sind im Staat zu Einem 
organisch verbunden. Der Staat könnte nicht 
seinen Boden wechseln, ohne ein ganz an¬ 
derer zu werden. Was Wunder, dass nun 
auch die Kämpfe der Staaten Kämpfe um 
Raum sind? Schon im Krieg handelt es sich 
darum, dem Gegner den Raum zu verengen, 
aber noch mehr ist die ganze Geschichte der 
Staaten ein Gewinnen und Verlieren von 
Raum. Die Polen existieren nach wie vor, 
aber der Raum, auf dem sie wohnen, hat 
aufgehört, politisch ihr Boden zu sein, und 
damit ist ihr Staat vernichtet. Aus diesem 
Ringen um Raum sehen wir nun in der ge¬ 
schichtlichen Zeit immer grössere politische 
Einzelräume hervorgehen. Wir sehen die 
Staaten von der alten Zeit bis zur Gegen¬ 
wart herab räumlich wachsen; das Perser¬ 
reich und das Römische Reich sind klein 
neben dem russischen, britischen, chinesischen 
Reich. Und ebenso sind die Staaten tiefer¬ 
stehender Völker Kleinstaaten neben denen 
höherstehender. Der Zusammenhang dieser 
Abstufung mit dem Wachsen der Verkehrs¬ 
räume und Verkehrsmittel liegt auf der Hand. 
Und dieses führt uns nun auf das allgemeine 
Raumproblem der Biogeographie zurück. 

Wir sehen in dem Lebensraum die tel- 
lurische, Beschränkung, die ihn ti*otz aller 
Veränderungen im Einzelnen zu einer kon¬ 


stanten Grösse im Ganzen macht. Ebenso 
sicher ist das Leben als ein wesentlich und 
dauernd bewegliches in diesem Raum zu 
denken, das ununterbrochen diesen Raum über¬ 
schreiten will, aber an seinen Grenzen zurOck- 
kehren muss. So muss es immer wieder auf 
seinen eigenen Spuren sich bewegen, alte 
Wege von neuem beschreiten. Das bedeutet 
in der Geschichte des Lebens auf unserer 
Erde die unablässige Verdrängung der einen 
Form durch die andere. Und je beweglicher 
die Lebensformen werden, desto rascher 
geht die Verdrängung vor sich. Die Ver¬ 
gleichung höherer und niederer Lebensformen 
lässt nun eine Steigerung der Beweglichkeit 
und der Raumbewältigung in den verschie¬ 
densten Gruppen erkennen. Wie die kultur- 
liche und politische Entwickelung der Völker 
uns den Fortschritt von kleineren zu grösse¬ 
ren Verkehrsgebieten und Staaten zeigt, so 
bewältigen erdgeschichtlich jüngere Geschöpfe 
leichter den Raum als ältere. Ein Haupt¬ 
ergebnis des Fortschrittes der Organisationen 
ist besonders im Tierreich sichtlich die Stei¬ 
gerung der Beweglichkeit. Der Raum be¬ 
deutet für eine Schwalbe viel weniger als 
lür eine Schnecke, für einen Tiger viel 
weniger als ftlr ein Faultier. Die beweg¬ 
lichsten Tiergruppen sind am weitesten ver¬ 
breitet und dabei in den Grundlinien ihrer 
Organisation am einförmigsten. In der Ge-i 
schichte der Menschheit hat dieselbe Steiger¬ 
ung die raumumfassende Fähigkeit der Ein¬ 
zelnen, der Völker uud Staaten nur immer 
vergrössert und damit der Geschichte aller 
Glieder der Menschheit einen immer ein¬ 
heitlicheren Zug verliehen. 

Behalten wir diese Raumbedingtheit des 
organischen Lebens im Auge, so drängt sich 
eine geographische Auffassung der organischen 
Schöpfung gleichsam durch die historische 
durch. Wir können uns nicht mehr dabei 
beruhigen, die Schöpfung als ein Nachein¬ 
ander zu denken. Wir brauchen Raum dafür 
und wissen, dass dieser Raum beschränkt ist. 
Cuvier mochte über diese Schwierigkeit weg¬ 
kommen, indem er streng abgegrenzt aufein¬ 
anderfolgende Schöpfungen annahm. Die erste 
liess er vernichten und die zweite mochte auf 
dem Leichenfelde fröhlich sich von Grund aus 
neu entfalten, bis es ihr ebenso erging, worauf 
die dritte an die Reihe kam. Und so weiter. 
Jede Schöpfung fand einen ganz leeren 
Raum. 

Wir können uns mit der Raumfrage nicht 
so einfach abfinden. Zu jeder Zeit gibt 
es Entstehen und Vergehen. Hier regt es 
sich zum Werden, dort senkt es sich zum 
Absterben, beständig und überall lebt Altes 
und Neues nebeneinander. Der geographische 


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Neubaür, Die deutschen Kolonien. 


3Ö7 


Aspekt dieser Anschauung lässt jeden Einzel¬ 
nen Punkt der Erde als Schöpfungszentrum 
erkennen, von welchem aus die lebenskräf¬ 
tigen Formen sich über einen kleineren oder 
grösseren Teil der Erde oder über die ganze 
Erde verbreiten. Natürlich nur soweit sie 
Raum finden. Wir sehen ältere und neuere 
Lebewesen nebeneinander. Soweit die Erde 
Raum gewährt, beherbergt sie Vertreter der 
verschiedensten Epochen, die man in der Ent¬ 
wickelung der Lebewelt unterscheidet. Die 
Fauna Australiens ist grossenteils uralt im 
Vergleich mit der Europas oder Nordameri¬ 
kas. Wir können daraus schliessen, dass der 
Charakter des organischen Lebens eines Welt¬ 
körpers immer von dem Raum abhängt, der 
dem Leben ofFensteht. Zweifellos würde eine 
Erde von der doppelten Oberfläche auch dop¬ 
pelt so viel Möglichkeiten für die Fortdauer 
alter Formen neben neuen, aber auch für die 
Entstehung neuer Formen bieten. Nicht blos 
die Summe der Bewohner würde entsprechend 
grösser sein, ihre Unterschiede würden durch 
Auseinanderrücken tiefer gehen, das Netz der 
Wechselbeziehungen würde weitmaschiger, 
die ganze Schöpfung müsste eine viel rei¬ 
chere Skala von örtlichen und geschichtlichen 
Abwandlungen umschliessen, deren Existenz 
der weite Raum begünstigt. Aussterben und 
Neubildung würden in langsameren Tempo 
stattfinden als auf einer engeren Erde, wo das 
Leben ein Gedränge mit viel mehr Reibung 
und Kampf ist. So wie wir auf Inseln die¬ 
selben Formen früh ausgestorben sehen, die 
auf benachbarten Festländern fröhlich weiter¬ 
leben, wofür dann einzelne geschützte For¬ 
men dort eine viel reichere Entfaltung erfah¬ 
ren, so trägt auch das organische Leben auf 
unserer Erde die Merkmale eines verhältnis¬ 
mässig engen Raumes. Es ist viel mehr durch 
Uebereinstimmungen als Unterschiede charak¬ 
terisiert, ja es ist in den beweglichsten Grup¬ 
pen wie den Vögeln und vielen Seetieren 
durch eine grosse Einförmigkeit ausgezeichnet. 
Und sind wir nicht selbst Zeugen, wie innerhalb 
der Menschheit der Prozess der Vernichtung 
älterer, abweichender Formen durch Ausster¬ 
ben und mehr noch durch Vermischung diesen 
selben tellurisch begründeten Zielen zustrebt. 


Die deutschen Kolonien. 

Von Dr. Neubaur. 

Wir beabsichtigen in der „Umschau“ der 
deutschen Kolonialpolitik eine dauernde Auf¬ 
merksamkeit zu schenken und den Leser mit 
der wirtschaftlichen Bedeutung jeder unserer 
Kolonien nicht nur bekannt zu machen, son¬ 
dern ihn auch über die Fortschritte jeder 


Kolonie in wirtschaftlicher Hinsicht auf dem 
Laufenden zu erhalten. 

Die ersten Artikel werden dabei natur- 
gemäss einen mehr allgemein einführenden 
Charakter tragen müssen, während Einzel¬ 
heiten, beziehungsweise die Bearbeitung be¬ 
stimmter wirtschaftlicher Faktoren späteren 
Arbeiten Vorbehalten bleiben. 

/. Deutschosta/rika. 

Das deutschostafrikanische Schutzgebiet 
bildet nach dem Festlegen der Grenzen im 
Zanzibar-Vertrag vom Jahre 1895 ein ein¬ 
heitliches Ganzes. 

Der Gesamtflächeninhalt Deutschostafrikas 
beziffert sich auf fast 1000000 Quadratkilo¬ 
meter, d. h., es ist etwa dreiviertel Mal so 
gross wie das deutsche Reich (560000 qkm). 
Das gesamte gewaltige Gebiet hat nach den 
bisherigen Schätzungen eine Einwohnerzahl 
von 3 — 4 Millionen. 

Die ostafrikanischen Neger gehören ins¬ 
gesamt der Bantu-Bevölkerung an, das heisst 
einem gemeinsamen Sprachstamme, der sich 
in ungemein viele einzelne Sprachen scheidet 
und dessen Eigentümlichkeit die Wortbildung 
durch Vorsatzsilben darstellt. Eine Ausnahme 
davon bilden nur einige Völkerschaften in 
Deutschostafrika z. 6. die Massai. 

Die Bevölkerung selbst ist in unzählige 
Stämme gespalten, welche untereinander zum 
Teil sehr grosse Rasseverschiedenheiten 
aufweisen. 

Von sehr grosser Bedeutung in wirtschaft¬ 
licher Hinsicht ist der Umstand, dass, mit 
einigen Ausnahmen, in Deutschostafrika kei¬ 
nerlei grössere Staatenwesen bestehen, sondern 
dass der Zusammenhang der .einzelnen Völker¬ 
schaften nicht viel über den Begriff der 
Stammesgenossenschaft hinausgeht. Die Zer¬ 
splitterung ist eine so grosse, dass im Wesent¬ 
lichen die einzelnen Völkerschaften nur kleine, 
wenige Dorfschaften zählende Gemeinwesen 
umfassen. Es ist das eine Folge der jahr¬ 
hundertelangen Kämpfe, welche die betreffenden 
Völkerschaften untereinander oder mit Ein¬ 
dringlingen von aussen her auszufechten hatten. 

Eine Ausnahme hiervon bilden im grossen 
Ganzen nur vier Völkerschaften, welche jede 
für sich eine grössere Einheit darstellen und 
nach aussen hin gelegentlich zum Ausdruck 
bringen. Diese Völkerschaften sind erstens 
die Massai, deren Wohnsitze im nördlichen 
Teil unseres Schutzgebietes vom Kilimandjaro 
südlich bis Ugogo und westlich bis Unyam- 
wesi sich erstrecken, ein kriegerisches Hirten¬ 
volk, welches bis in die neueste Zeit hinein 
den Schrecken der Reisenden bildete. Ein 

‘) Eine orientierende Kartenskizze erscheint mit 
dem Schluss dieses Aufsatzes in nächster Nummer. 


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3 ö8 


Neubaur^ Die deutschen Kolonien. 


Durchzug durch das Massai-Gebiet ist bei¬ 
läufig bemerkt, noch von Stanley als zu 
gefährlich hingestellt worden. Erst deutschen 
Reisenden ist es Vorbehalten gewesen, dieses 
Vorurteil zu zerstreuen und die Furcht vor 
den Massai zu vernichten, nämlich den 
Zügen des Dr. Peters, Dr. Baumann u. a. 

Eine' zweite Völkergruppe, bei welcher die 
Stammesgenossenschaft stark zum Ausdruck 
kommt und ein ziemlich enges Zusammen¬ 
halten bewirkt, sind die IVanyaniwesi. 

Ihre Wohnsitze erstrecken sich von Ugogo 
westlich bis an den Tanganika-See und nörd¬ 
lich mit Anschluss von Ussukuma bis an 
den Viktoria-Nyanza. Eine einheitliche Ober¬ 
herrschaft unter den Wanyarawesi besteht nicht 
mehr. Es giebt eine ganze Reihe gröserer 
sogenannter Sultane. Die Wichtigkeit der 
Wanyamwesi für die deutschen wirtschaftlichen 
Interessen beruht in dem Umstand, dass die 
Wanyamwesi gegenwärtig noch das Haupt¬ 
transportmittel in Ostafrika darstellen. Ihnen 
wohnt eine überaus grosse Wanderlust inne. 
Viel Tausende gehen jährlich als Träger in 
den Karawanen zur Küste und von der Küste 
nach dem Innern zurück. Abgesehen von 
diesem mechanischen Dienst, den sie der Kultur 
leisten, bringen sie umgekehrt durch ihre 
fortwährende Berührung mit der Küste und 
den Kulturzentren daselbst Anschauungen in 
das tiefe Innere zurück, welche einer Kulti¬ 
vierung des Landes nach verschiedenen Rich¬ 
tungen Vorarbeiten. Die Erfahrungen, welche 
bisher in Unyamwesi nach dieser Richtung 
gemacht worden sind, berechtigen zu den 
besten Hoffnungen für die Zukunft. 

Dasjenige Volk, welches zweifellos die ein¬ 
heitlichste Gestaltung zeigt und bei welchem 
man am ersten von einem wirklichen Staats¬ 
wesen sprechen kann, sind die Wahehe. Ihre 
Wohnsitze erstrecken sich südlich von Ugogo 
nach Südwesten hin. Die Wahehe haben 
bisher den Schrecken der ostafrikanischen 
Küstenbevölkerung gebildet. Alljährlich er¬ 
schienen sie in der Zahl von 5 - 6000 und 
noch mehr Kriegern mit Blitzesschnelle in 
den Küstengebieten, überall mordend, raubend 
und plündernd. Die durchzogenen Gebiete 
blieben als Einöden zurück. Erst dem deut¬ 
schen Vorgehen in Ostafrika ist es Vorbehalten 
geblieben, die ausserordentliche Frechheit und 
Kriegslust der Wahehe einzudämmen. Aber 
auch wir haben dabei schwere Opfer zu be¬ 
klagen gehabt. Es ist bekannt, dass die erste 
grosse Expedition, welche im Jahre 1891 gegen 
die Wahehe ausgerüstet w’urde, nämlich die 
Expedition Zelewski fast vollständig ver¬ 
nichtet worden ist. Nur die Nachhut unter 
den Lieutenants von Tettenborn und von 
Heydebreck konnte sich behaupten und 


ihren Rückzug nach der Küste antreten. Da¬ 
mals war von dem Gebiet der Wahehe so 
gut wie nichts bekannt. Erst durch den Kriegs¬ 
zug des Gouverneurs Freiherm v. Scheele 
(1894) ist einige Aufklärung über das Land 
geschaffen worden. Es stellte sich dabei heraus, 
dass die Wahehe unter einem Oberhäuptling, 
dem Quava, stehen, welcher eine überaus 
starke und kunstreich befestigte Residenz 
Kuirenga besitzt. Kuirenga wurde durch Frei¬ 
herrn v.Scheele gestürmt und geschleift, den 
Wahehe später aber der Frieden bewilligt. 
In der neuesten Zeit haben abermals erhebliche 
Räubereien und Angriffe der Wahehe statt¬ 
gefunden und erst vor wenigen Wochen ist 
es dem Kompagnieführer Prinee, einem 
unserer ältesten Afrikaner, gelungen, ihre 
Macht, wie es scheint, dauernd zu brechen 
und die von ihnen unterjochten Völkerschaften 
teils zu befreien, teils gegen die Wahehe zu 
benutzen. 

Die vierte Völkergruppe endlich, mit 
welcher wir in unsern wirtschaftlichen Be¬ 
strebungen als mit einer Art von Einheit zu 
rechnen haben, sind die Magtvangwara im 
südlichen Teile unseres Schutzgebietes. Ihre 
Wohnsitze schliessen im Süden an Uhehe an 
und erstrecken sich über die Hochplateaus des 
Nyassa bis an den See selbst. 

Die Magwangwara sind ähnlich wie die 
Wah^e ein überaus unruhiges Volk, welches 
noch heute nicht fest in seinen Wohnplätzen 
sitzt, sondern fortwährend sich auf Eroberungs¬ 
zügen befindet. Wir erwähnen dieselben hier, 
weil die Hochländer des Nyassa, wie später 
noch zu erwähnen sein wird, ein besonders 
geeignetes Kolonisationsgebiet für uns bilden 
und weil wir daher mit dieser Völkerschaft 
zu rechnen haben werden. 

Die gesamte übrige Bevölkerung Deutsch¬ 
ostafrikas ist im Wesentlichen zersplittert. 
Die Küstenbevölkerung hat ihre nationalen 
Eigentümlichkeiten längst fast ganz verloren 
und die von aussen kommenden Einflüsse, 
Sitten und Gewohnheiten angenommen, welche 
ihr ein besonderes Gepräge verleihen. 

Um diese Einflüsse und ihre Wirkungen 
verstehen zu können, ist es nötig, der ge¬ 
schichtlichen Entwicklung Deutschostafrikas 
einige Worte zu widmen. 

Von wesentlichstem Einfluss auf die Ge¬ 
schicke der Bevölkerung ist, wie in Nordafrika 
und zum Teil in Westafrika auch im Osten 
der Mohammedanismus und die arabische Ein¬ 
wanderung geworden. Bis auf welche Zeit 
dieselbe zurückdatiert, ist mit Sicherheit nicht 
festzustellen. Die in Ostafrika einwandernden 
Araber kamen aus Maskat, von wo aus sie 
ihre Handelsfahrten mit dem Norden der ost¬ 
afrikanischen Küste in Berührung gebracht 


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Neubaur, Die deutschen Kolonien. 


369 


und allmählich immer weiter südlich geleitet 
hatten, bis endlich im Jahre 1859 die Grün¬ 
dung des Sultanats Zanzibar durch einen 
Zweig der in Maskat herrschenden fürstlichen 
Familie stattfand. Zanzibar bildete und bildet 
noch heute zum grossen Teil das Bollwerk 
des Arabertums und ihren Zentralsitz. Von 
hier aus fanden die grossen HandelszOge, ins¬ 
besondere abef die SklavenraubzOge nach dem 
heutigen Deutschostafrika hinein statt und ent¬ 
völkerten dasselbe. Der Einfluss der Araber 
ist es gewesen, welcher insbesondere die 
Küstenbevölkerung dezimiert und dem zurück¬ 
gebliebenen moralisch wenig widerstands¬ 
fähigen Rest, das ihm noch heute wenigstens 
teilweise anhaftende Gepräge der Halbbildung 
gegeben hat, in dem Sinne nämlich, dass die 
Kostenbevölkerung sich besser dünkt, als der 
reine Neger des Innern und dabei doch 
nicht die geistige Qualität des Arabers er¬ 
reicht. Sie haben alle Fehler der Araber 
angenommen, ohne sich zu den Tugenden und 
zu der geistigen Höhe derselben aufschwingen 
zu können. 

Je weniger die Küstengebiete selbst an 
brauchbarem Sklavenmaterial hergeben konn¬ 
ten, je mehr ferner das wertvollste Produkt, 
nämlich das Elfenbein von der Küste zurück¬ 
wich, desto weiter dehnten die Araber ihre 
Züge aus, insbesondere dahin, wo gleichzeitig 
mit dem grossen Elefantenreichtum die ge¬ 
fügigste Bevölkerung angetroffen wurde, welche 
leicht einzuschüchtern, leicht zu Sklaven zu 
machen war und somit den Arabern bei ihren 
Handelszügen den doppelten Vorteil gewährte, 
erstens nämlich als Träger des Elfenbeins zur 
Küste zu dienen und zweitens in sich selbst 
als Sklaven mit dem Elfenbein einen Verkaufs¬ 
artikel zu bilden. Die Zahlen der Sklaven¬ 
ausfuhr entziehen sich selbstverständlich für 
die früheren Jahrzehnte, jeder Beurteilung, 
man kann sich aber einen ungefähren Begriff 
davon machen, wenn man bedenkt, dass heute 
noch der grössere Teil Arabiens, das Sultanat 
Maskat, die Euphrat- und Tigrisebenen und 
alle arabischen und türkischen Besitzungen 
bis nach Kleinasien hinein von Sklaven be¬ 
wirtschaftet werden, deren Ursprung im 
wesentlichen in Deutschostafrika zu suchen 
ist. Der unheilvolle Einfluss solcher Verhält¬ 
nisse braucht nicht näher erörtert zu werden. 
Mit den Arabern, oder wenigstens bald nach 
ihnen, kamen die Inder ins Land, welche als 
überlegene Geschäftsleute den Araber und den 
Schwarzen auszubeuten verstanden. Der 
Handelsverkehr zwischen Vorderindien und 
dem Sultanat Maskat ist uralt und es ist nur 
natürlich, dass die indischen Kaufleute, welche 
die Natur des Arabers zu studieren reichlich 
Gelegenheit gehabt haben, von jeder neuen 


Eroberung derselben ihrerseits Vorteil zu ziehen 
sich bestrebten. Der Araber glaubt sich zum 
Herrschen geboren. Insbesondere der Maskat- 
Araber ist von seiner eigenen Herrlichkeit 
so sehr durchdrungen, dass man gar keinen 
besseren T5rpus für den Grand-Seigneur finden 
kann. Damit verbindet sich eine Ubergrosse 
Neigung zum Glanz. Der Reichtum hat für 
den Araber nur einen Wert, wenn er ihn 
zeigen kann. Die vielen Sklaven sind nicht 
so sehr der Arbeit wegen von ihm erstrebt, 
als der Repräsentation wegen. Je mehr 
Sklaven, desto grösser der Herr. 

Diese Neigung zu äusserer Machtentfaltung 
und zu äusserem Glanz haben die Inder sich 
zu Nutze gemacht und es verstanden, den 
Araber gerade durch diese Neigung sich dienst¬ 
bar zu machen. Sie eröffneten Überall den 
Arabern einen unbeschränkten Kredit, brachten 
dieselben in Schulden und zwangen sie zu 
immer neuen Handes- und Raubzügen in 
das Innere des schwarzen Kontinents hinein. 
Bevor eine solche Araberexpedition auszog, 
war der ganze Ertrag, den dieselbe an Elfen¬ 
bein und Sklaven aufzubringen vermochte, 
längst von den Indern aufgekauft oder durch 
deren Wucherzinsen verschlungen. Hieraus 
ergab sich dann abermals eine erhebliche 
Schädigung der betroffenen Landstriche da¬ 
durch, dass die Araber, welche schliesslich 
nicht mehr wussten, wie sie sich aus ihren 
Schulden befreien sollten, im Innern Ostafrikas 
blieben und dort Ansiedelungen errichteten, 
zunächst zu dem Zweck, um von hier aus 
Handel zu treiben, Elfenbein einzutauschen 
und Sklaven zu erlangen. Später, als sie sahen, 
dass die Negerstämme im Innern ihnen keinen 
Widerstand entgegenzusetzen vermochten, 
blieben sie an Ort und Stelle und errichteten 
hier Zentralsitze, von denen aus weite Gebiete 
unter ihre Botmässigkeit fielen, ihnen tribut¬ 
pflichtig wurden und vor allen Dingen durch 
die fortwährenden Raub- und Plünderungszüge 
der Araber der Entvölkerung anheimfielen. 
Die einzelnen Etappen, auf denen der Araber 
in das Innere vorgedrungen ist, sind heute 
noch zu verfolgen. Sie sind auf diese Weise 
bis über den Tanganika-See hinweggedrungen. 
Einzelne Araber haben wie selbständige Könige 
im Innern gewirtschaftet und wie reine Des¬ 
poten vom geistigen Niveau des Arabers be¬ 
trachtet, gehaust. Der bekannte Tippu Tip 
besass in Kawele mehr als 10 000 bewaffnete 
Sklaven. Der berüchtigte Rumaliza und eine 
ganze Reihe anderer gaben ihm nicht viel 
nach. 

Diese Z^ntralpunkte der Araber im Innern, 
so z. B. Tabora, Udjidji und insbesondere 
Kawele, sind allerdings auch Handelsmittel¬ 
punkte gewesen. Aber diese ihre Bedeutung 


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370 


Neubaur, Die deutschen Kolonien. 


tritt erst in der Gegenwart hervor, wo durch 
das europäische und insbesondere durch das 
deutsche Eingreifen die Sklavenjagden auf¬ 
gehoben, der Sklave als solcher wenigstens 
als Ausfuhrartikel entwertet ist. Gerade in 
diesem Moment aber, wo die Bedeutung der 
Handelszentren steigt, steigt auch wieder der 
Einfluss der Inder, wenn wir nicht unsererseits 
in der Lage sind oder uns in die Lage setzen, 
diesen Einfluss zu brechen. In kurzem aus- 
gedrückt, verhält sich die Sache folgender- 
massen: Der Träger des Handelsverkehrs ist 
der Araber, der Elfenbein durch Träger, meist 
Wanyamwesi und Wassukuma zur Küste be¬ 
fördert. An der Küste sitzen die Inder- 
Kaufleute, welche das Elfenbein bei der An¬ 
kunft der Karawanen aufkaufen. Diese 
Inder der Küste sind ihrerseits nur vorge¬ 
schobene Personen der grossen indischen 
Kaufleute, die in Zanzibar ihre Hauptgeschäfte 
oder ihre Filialen haben und ihrerseits die 
Kreditgeber für die kleinen Inder, zum Teil 
auch für die Araber direkt darstellen. Unter 
diesen letztgenannten indischen Kaufleuten sind 
eine ganze Reihe Welthäuser, deren Haupt¬ 
sitz gewöhnlich in Bombay sich befindet, 
während Filialen in Aden, in Zanzibar, aber 
auch in London und New-York sich befinden, 
Filialen, in denen der Europäer als Kommis 
arbeitet. Die Schädigung, welche die deutschen 
Interessen durch diese Verhältnisse erfahren, 
liegt auf der Hand. Der Haupteinfuhrartikel 
für Ostafrika sind leichte Baumwollstoffe. Da 
der Handel mit dem Innern vorwiegend durch 
indisch-arabische Hände geht, so ist auch die 
Herkunft der Baumwollstoffe zum grossen Teil 
nicht Deutschland, sondern Bombay oder 
Manchester. Da ferner das Hauptausfuhr¬ 
produkt, das Elfenbein, zunächst in indische 
Hände gerät, so haben wir, falls wir dasselbe 
für uns beziehen wollen, die Kommission und 
Provision an die Inder zu zahlen. 

Wir haben diese Verhältnisse hier generell 
beleuchtet, weil sich daraus Fingerzeige da¬ 
für ergeben, wie wir vorzugehen haben, um 
den bestehenden Handel an uns zu bringen, 
w'eil ferner die gegenwärtige wirtschaftliche 
Gestaltung, soweit sie nicht Neuanlagen sei¬ 
tens der Europäer betrifft, unbedingt eine Um¬ 
änderung zu unsern Gunsten erfahren muss. 

Die Aufgaben Deutschlands in seinen 
Kolonien sind ethischer, und materieller Natur. 
Die ethischen, soweit sie sich um die Thätig- 
keit der Missionen und die Ausbreitung eu¬ 
ropäischer Kultur bewegen, können im Rahmen 
dieser Arbeit nicht beleuchtet werden. Nur 
insoweit die Erziehung des Negers zur Arbeit 
in Frage kommt, haben sie ein Interesse für 
uns. Für die Beurteilung des Wertes unserer 
Kolonien für das deutsche Vaterland, ist die 


materielle Seite der Sache von ausschlag¬ 
gebender Bedeutung. Deutschland ist in die 
Kolonialpolitik eingetreten, weil die wirtschaft¬ 
lichen Faktoren dies verlangten. Die Ver¬ 
mehrung der Produktion, die Zunahme der 
Bevölkerung, die wachsende Schwierigkeit des 
Absatzes im nichtdeutschen Auslande, die Not¬ 
wendigkeit, mit unsern Bezügen uns vom 
Ausland unabhängig zu machen, sind die 
leitenden Gesichtspunkte, welche für den Ko¬ 
lonialpolitiker massgebend sein müssen. 

Die Gesamt-Ein- und Ausfuhr Deutschost¬ 
afrikas beläuft sich zur Zeit auf ca. 12 Millionen 
Mark; davon entfallen auf die Einfuhr 8 Mil¬ 
lionen, auf die Ausfuhr 4 Millionen. Eine 
grosse Entwicklimgslähigkeit dieser Ziffern 
steht ausser Frage. 

Solange allerdings der deutsche Kaufmann 
in Zanzibar sitzen bleibt, oder höchstens an 
der Küste einige Filialen aufmacht, ist eine 
erfolgreiche Konkurrenz mit den indischen 
Kaufleuten nicht zu erwarten. Wir müssen 
ins Innere des Landes selbst Vordringen, die 
bestehenden Handelszentren für uns ausnutzen, 
Filialen daselbst eröffnen, von denen aus 
weite Gebietsstrecken unter den gegenwärtigen 
Verhältnissen handelspolitisch berherrscht wer¬ 
den können. Solche Handelszentralpunkte 
sind von selbst gegeben in den arabischen 
Zentren in Tabora und Udjidji. Von ausser¬ 
ordentlicher Wichtigkeit ist ferner das Seen¬ 
gebiet des Viktoria-Nyanza und des Nyässä. 
Um den Viktoria-Nyanza herum sind geschlos¬ 
sene Negerstaaten in grosser Zahl und von 
verhältnismässig festem inneren Zusammen¬ 
hang vorhanden. Ihre politische Gestaltung, 
die Thatsache ihrer Existenz und Lebensfähig¬ 
keit, beweist von vornherein eine verhältnis¬ 
mässig hohe Kulturstufe, wenn wir dieselbe 
nicht ohne weiteres aus ihren Landesprodukten 
und aus ihrer gewerblichen Thätigkeit ersehen 
könnten. Ebenso verhält es sich im Gebiet 
des Nyassa, nur dass hier noch ein wesent¬ 
liches, treibendes Moment, — die Möglichkeit 
der Besiedelung durch Europäer — hinzu¬ 
kommt. Die Wichtigkeit der in Rede stehenden 
Gebiete ist von unsern Mitbewerbern in Afrika 
längst erkannt worden und alle Mittel werden 
angewandt, festen Fuss daselbst zu fassen, 
Deutschland handelspolitisch auszuschliessen. 
Vom Norden her ist England zum Viktoria- 
See vorgedrungen, hat ein eigenes Protektorat 
über das wichtigste dort bestehende Reich, 
nämlich Uganda errichtet und geht mit allen 
Mitteln seiner hervorragenden Energie und 
seiner kaufmännischen Weitsichtigkeit daran, 
seine Stellung hier als eine unerschütterliche 
zu befestigen. Von Süden her dringt dasselbe 
England nicht nur handelspolitisch über den 
Nyassa vor, sondern auch durch eine organi- 


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Voller, Nutzbarmachung der natürlichen Wasserkräfte. 


371 


sierte Besiedlung. Die englischen Nyassa- 
Länder enthalten heute bereits mit Europäern 
besiedelte Ortschaften, Dörfer und Städte und 
mit jeder erdenklichen Energie wird dahin 
gestrebt, die Provenienzen aus Zentralafrika, 
insbesondere aus dem deutschen Teil in das ' 
englische Gebiet hineinzuziehen, um sich einen 
Weg zur Koste auf dem Wasserwege des 
Nyassa-Sees, des Schire* und Sambesi-Flusses 
zu öffnen. Von Westen her ist der Kongo¬ 
staat bis an den Nyassa-See vorgedrungen 
und versucht seinerseits den Absatz nach unsem 
Gebieten zu erweitern, die Provenienzen aus 
denselben für den Kongostaat nutzbar zu 
machen. Von drei Seiten eingekeilt, erscheint 
die Notwendigkeit dringend, unsererseits die 
vorgeschobenen Posten zu besetzen und die 
Vorteile für uns zu sichern, die wir von vorn¬ 
herein durch den ausschliesslich nach der 
deutschen Ostküste zu sich bewegenden Verkehr 
gehabt haben; die aber durch die Thätigkeit 
unserer Wettbewerber unseren Händen zu 
entgleiten beginnen. Beide vorher genannte 
wettbewerbende Faktoren, der Kongostaat und 
die Engländer, versuchen in richtiger Erkennt¬ 
nis der Sachlage sich bis zu einem gewissen 
Grade und so fern sie den Handel nicht ohne 
weiteres selbst in die Hände bekommen 
können, sich der Araber zu bedienen. 

Auch wir werden vor der Hand ohne 
diesen Faktor nicht auszukommen vermögen 
und es scheint ganz falsch, das Arabertum 
als einen Schaden ftir die deutsche Kolonie zu 
betrachten. Unsere bisherigen Erfolge haben 
gezeigt, dass der Araber mit der deutschen 
Oberherrschaft zufrieden ist, dass er sich willig 
in den deutschen Dienst stellt, dass er, aller¬ 
dings dem Zwange gehorchend, einen Teil 
seiner früheren, die Sklaverei betreffenden 
Ansprüche und die damit verbundene Miss¬ 
wirtschaft aufgiebt. Ebenso falsch aber wäre 
es, dem Araber im Innern die Haussklaverei 
zu verbieten und im gegenwärtigen Augenblick 
mit einem Schlage die Sklaverei-Verhältnisse 
aufheben zu wollen. Wir haben es hier mit 
uralt eingewurzelten Vorurteilen zu thun, welche 
nicht so sehr in dem Araber selbt, als viel¬ 
mehr in dem Neger wurzeln. Eine Jahrzehnte 
lange kulturelle Erziehung wird auch hierin 
wahrscheinlich Wandlung schaffen. Aber von 
grösserer Wichtigkeit noch ist das handels¬ 
politische Vorgehen unsererseits. Der Wert 
des Sklaven im Innern ganz Afrikas besteht 
nicht in seiner Arbeitsfähigkeit, denn that- 
sächlich arbeiten die Haussklaven nur zum 
geringsten Teil und nur das allernotwendigste. 
Sie repräsentieren vielmehr ftlr ihren Besitzer 
lediglich einen umsetzbaren Wert, die in ganz 
Zentralafrika, allein allgemein gangbare Münze. 

• Gemünztes Geld gilt nur an der Küste und 


in einem schmalen dahinter liegenden Streifen. 
Andere Tauschartikel wie Baumwollstoffe, Mes¬ 
sing-, Kupfer- und Eisendraht, Perlen jeder 
Farbe, Form und Grösse, beherrschen zum 
Teil alle, zum grösseren Teil einzelne be¬ 
stimmte Landstriche: Nur ein allgemein gang¬ 
barer Tauschartikel ist vorhanden, das ist der 
Sklave. 

Es liegt auf der Hand, dass nur durch die 
Einleitung kaufmännischer Beziehungen in das 
Tiefinnere Afrikas, durch die Entwickelung des 
Handelsverkehrs, durch die Einführung des 
Geldes der Sklaverei als solcher beizukommen 
ist. Der Erfolg liegt dabei nicht in weiter 
Feme, denn die europäischen, in Afrika be¬ 
teiligten Nationen dringen von allen Seiten 
gleichzeitg handelspolitisch vor und auf die 
Sklaverei ein. Wenn der Sklave als solcher 
entwertet ist, hört die Sklaverei von selbst auf. 

(Schluss folgt.) 


Die Nutzbarmachung der natürlichenWasser- 
kräfte und die elektrische Kraftübertragung. 

Von Professor Dr. Vollbr. 

Die Grundlage unserer Kultur liegt in 
der Nutzbarmachung und in der Beherrsch¬ 
ung der Naturkräfte. Wer zuerst irgend eine 
in der Natur vorhandene Kraft sich nutzbar 
machte, wer etwa den wilden Stier oder das 
störrische Ross zähmte, oder wer sein Boot 
treiben Hess vom Winde, der hat der Mensch¬ 
heit und ihrer späteren Entwicklung ganz 
ausserordentlich viel genützt. Die tierische 
Kraft, d. h. die Kraft der Tiere, konnte stets 
unmittelbar verwendet werden, und vermag 
auch jetzt noch unmittelbar benutzt zu wer¬ 
den, bis in das vorige Jahrhundert hat es 
aber gedauert, bevor der Mensch es gelernt 
hat, die Kraft der Natur umzuwandeln und 
durch Gewinnung einer anderen Form für 
dieselbe sie auch in veränderter Gestalt sich 
nutzbar zu machen. Durch die Dampf¬ 
maschine ist Wärme in mechanische Kraft 
umgeändert worden, und als James Watt 
vor nunmehr etwa anderthalb Jahrhunderten 
gezeigt hatte, dass die in der Kohle aufge¬ 
speicherte Wärme durch die Dampfmaschine 
in mechanische Arbeit umgewandelt zu wer¬ 
den vermochte, ist die Menschheit in ihrer 
Entwicklung; erheblich weiter gekommen, da 
sie gelernt hat, die in der Natur schlum¬ 
mernden Kräfte zu neuem Leben zu rufen, 
auszugestalten und anzuwenden. Was die 
heutige Kultur produziert an Gütern des 
Lebens; basiert in hervorragendem Masse 
auf jenem Hilfsmittel der mechanischen Kraft 
des Dampfes. Jede mechanische Pferdekraft 
aber, welche die Arbeit der Dampfmaschine 


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372 


Voller, Nutzbarmachung der natürlichen Wasserkräfte. 


uns leistet, erfordert einen Verbrauch an 
Wärme. Für die folgenden Betrachtungen 
wird es daher nützlich sein, einmal ins Auge 
zu fassen, woher jene Wärme kommt, welche 
die Dampfmaschine verbraucht. Diese Wärme 
ist nichts anderes als die in der Steinkohle 
aufgespeicherte Sonnenkraft. Daher ist denn 
auch die Steinkohle die materielle Grundlage 
unserer Kultur. Wenn alle auf der Erde vor¬ 
handenen Kohlen erst einmal verbraucht sein 
werden, ohne dass ein anderes Wärmemittel 
uns gegeben wäre, würden wir in grosse 
Verlegenheit geraten und unsere bis dahin 
gewonnene Kultur müsste einen gewaltigen 
Schritt rückwärts machen. Wir brauchen 
diese Befürchtung aber nicht zu hegen, da 
vielfacher Ersatz für die allmählich aufzu¬ 
zehrende Kohle vorhanden ist. 

Betrachten wir nun zunächst einmal die 
Menge der Wärme, die wir alljährlich zur 
Krafterzeugung verbrauchen, wie auch die 
Menge an Kraft, die wir aus der verbrauch¬ 
ten Wärme erzeugen. Die Gesamtproduktion 
an Kohle auf der ganzen Erde, welche Pro¬ 
duktion sich übrigens in den letzten Jahren 
bedeutend gehoben hat, beträgt etwa 500 
Millionen Tonnen zu 1000 kg im Jahre. 
Was leistet uns nun dieser gewaltige Vor¬ 
rat, den wir alljährlich der Erde entnehmen ? 
Die Statistik hat sich bemüht, genaue Daten 
Ober die gewonnene Arbeitsleistung festzu¬ 
stellen. Derartige Ermittelungen sind natur- 
gemäss sehr schwierig und in ihren Resul¬ 
taten auch recht auseinandergehend. Wenn 
man aber ins Auge fasst, was man, theore¬ 
tisch betrachtet, mit jener Kohlenproduktion 
wohl zu erzielen vermöchte, dann kommt 
man zu ziemlich übereinstimmenden Resul¬ 
taten. Der Techniker ist zufrieden, wenn er 
mit I kg Kohle per Stunde im Durchschnitt 
an Arbeitsleistung eine Pferdekraft erzielt, 
allerdings ist das Resultat gelegentlich unter 
günstigen Verhältnissen ein besseres, im Durch¬ 
schnitt aber darf man kein anderes annehmen. 
Wenn man daher das erwähnte Resultat 
zu Grunde legt und dann berechnet, wieviel 
Arbeitseinheiten die jährliche Kohlenproduk¬ 
tion unter Berücksichtigung der zu Heiz- und 
Gaserzeugungszwecken abgehenden Mengen 
zu liefern vermag, so wird das gewonnene 
Resultat etwa auf 30 Millionen Pferdekräfte 
im Jahre auskommen. Das ist eine enorme 
Zahl und wenn man betrachtet, dass dadurch 
auf dem Erdenrund alljährlich eine gewaltige 
Leistung geschaffen wird, dann wird man 
Respekt gewinnen vor solcher Leistung. Und 
doch ist die aus der Kohle abgeleitete Pro¬ 
duktion von Arbeitskraft nur ein verschwin¬ 
dend geringer Teil von Leistung im Hinblick 
auf diejenige Wärme, welche die Sonne 


unserem Erdenkörper alljährlich zusendet. Die 
Steinkohle aber ist nichts anderes, als aufge¬ 
speicherte Sonnenwärme, sie ist das Produkt 
der Umwandlung organischen Lebens, ent¬ 
standen durch allmähliche Umwandlung or¬ 
ganischer Gebilde und Wesen niederer 
Ordnung. Die Zeit, in welcher die Umwandlung 
von Pflanze in Kohle stattfand, berechnet sich 
nach Hunderttausenden, vielleicht nach Milli¬ 
onen Jahren. Als diese Umwandlung sich 
vollzog, war sie eine völlig allmähliche, wie 
noch in unserer Zeit die Umwandlung von 
Pflanzenresten und Pflanzenteilen in Torf und 
in Braunkohle sich allmählich vollzieht. Die 
Umgestaltung vollzieht sich durch die Bedek- 
kung organischer Substanzen mit Wasser, sie 
vermag aber nur durchgeführt zu werden, 
wenn die Sonne die Masse bescheint und 
erwärmt. Alle Pflanzen sammeln Kohlenstoff 
auf unter der Einwirkung der Sonnenstrahlen, 
indem sie aus der Atmosphäre Kohlensäure 
ziehen und dieselbe in der Form von Holz 
niederschlagen. So sind im Holze der Bäume 
etwa 50 ®/o Kohlenstoff enthalten, der aus¬ 
schliesslich herrührt aus der Aufnahme der in 
der atmosphärischen Luft enthaltenen Kohlen¬ 
säure. Nun kennen wir aber jenes allgemeine 
Gesetz der Natur, nach welchem dort, wo 
irgend eine Umwandlung sich vollzieht, die 
ein neues Gebilde zur Folge hat, durch Rück¬ 
bildung auch die Urkraft wieder gewonnen zu 
werden vermag. 

Nahe liegt es nun, zu fragen: wie veThält 
sich jener Betrag an Wärme, den wir der 
Kohle durch die in derselben bewirkte Auf¬ 
speicherung der Sonnenwärme entnehmen, zu 
jener Sonnenstrahlung, welche der genannte 
Himmelskörper von Tag zu Tag unserer Erde 
zuwendet? zu derartigen Ermittelungen sind 
wir völlig im Stande, und es haben solche 
Ermittelungen uns gelehrt, dass die Wärme¬ 
menge, welche die Sonne unmittelbar uns zu¬ 
sendet, im Laufe des Jahres etwa das Millionen¬ 
fache derjenigen Wärme beträgt, die wir durch 
Verbrennung der gesamten aufgespeicherten 
Kohlenmenge gewinnen. Wir zehren somit 
gegenwärtig von den Brosamen, welche übrig 
geblieben sind von jenem reichen Tische, den 
die Sonne vor Millionen von Jahren uns be¬ 
reitet hat. Im Hinblick auf diesen Umstand 
entsteht dann die Frage: Können wir nicht 
die Kraft der Sonne auch unmittelbar und 
neben der Kohlenverbrennung verwenden ? 
Gewiss sind wir dazu im stände! Die me¬ 
chanische Umwandlung der Kohle in Wärme 
ist eine überaus ungünstige, da von der Wärme, 
die in unserem Kesselfeuer erzeugt wird, durch¬ 
schnittlich nur etwa 5 ®/o, in ganz besonders 
günstig liegenden Fällen etwa 9—ro®/o in 
Arbeit umgewandelt werden. Es ist aber dies 


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Voller, Nutzbarmachung der natörlichen Wasserkräfte. 


373 


geringe Resultat eine Folge der Unvollkom¬ 
menheit unserer Einrichtungen, welche zu 
überwinden wir zur Zeit ausser Stande sind. 
Schon seit langer Zeit sind das Wehen des 
Windes, das Fliessen des Wassers zur Her¬ 
stellung von Bewegung benutzt worden, die 
Ausnutzung dieser Kräfte ermöglicht sich aber 
nur an wenigen besonders günstig gelegenen 
Orten. Fragen wir aber, wie gross könnte 
die Gesamtleistung der Wasserkräfte der 
ganzen Erde bei rationeller Ausnutzung wohl 
sein, so kommen wir zu wesentlich bedeuten¬ 
deren Resultaten, als wir sie gegenwärtig zu 
verzeichnen haben. Wir brauchen dabei gar 
nicht einmal an die gewaltige Kraft zu denken, 
die etwa in den grossen Wasserfällen der 
Erde, wie im Niagarafalle, sich uns bietet, 
obwohl wir wissen, dass auch diese Kräfte 
nicht annähernd ausgenützt werden. Wenn 
wir aber trotzdem einmal den Niagarafall ins 
Auge fassen wollen, so lehrt uns die Wissen¬ 
schaft, dass ein Meterkilogramm Wasser, das 
einen Meter tief fällt, etwa eine Pferdekraft 
erzeugt, und dass uns somit das gesamte Ge- 
fölle des Niagarafalles lo—15 Millionen Pferde¬ 
kräfte zu liefern vermag, d. h. nahezu die 
Hälfte der gesamten Pferdekräfte, welche wir 
durch Kohlenverbrennung im Jahre zu er¬ 
zeugen vermögen. Nun können wir aber nicht 
alle Kraft des Falles ausnutzen, schon nicht 
aus mechanischen Gründen. Auch in unseren 
Flüssen und Strömen liegt eine gewaltige 
Quelle der Krafterzeugung und zwar in den 
dahinströmenden Wassermengen. Jedes Kilo¬ 
gramm Wasser ist ursprünglich durch die 
Sonnenwärme in der Form von Wasserdampf 
emporgehoben worden, in der Höhe wurde 
es verdichtet zu Tropfen und dann wieder in 
der Form von Regen, Schnee, Hagel oder 
Reif niedergeschlagen, um auf der Erde Bäche 
und Ströme zu bilden oder zu speisen. Die 
bei jener Hebung verwendete Kraft ist also 
wieder Sonnenwärme gewesen, und zwar jene 
Wärme, die noch jetzt unserem Erdenkörper 
von der Sonne zugeführt wird. Was wird 
nun aber aus der Kraft des fallenden Wassers, 
das nicht zur Kraftleistung herangezogen und 
nutzbar gemacht wird? Es erzeugt wieder 
Wärme, denn jeder Körper, der im Fallen 
Widerstand findet und aufgehalten wird, er¬ 
zeugt Wärme. Fällt ein Körper um 425 
Meter, so erzeugt er eine Wärmeeinheit, dass 
heisst, es würde ein solcher Fall ausreichen, 
um I kg Wasser um i Grad Celsius in der 
Temperatur zu erhöhen. 

Nun könnten wir die Frage stellen, warum 
ist die gewaltige Kraft, welch das strömende 
Wasser zu leisten vermag, nicht schon früher 
vielmehr ausgenutzt worden? A,ls Antwort 
diene darauf folgendes. Di^ Lage der strö¬ 


menden Gewässer ist zumeist eine solche, dass 
die Ausnutzung ihrer Kraft vielfach eine recht 
unbequeme war, daher mussten denn auch zu¬ 
nächst Mittel geschaffen werden, um die etwa 
gewonnene Kraft zu sammeln und event. an 
andere Orte zu übertragen. Das Dazwischen¬ 
treten der Elektrizität hat sich in dieser 
Hinsicht als von unberechenbarem Nutzen 
erwiesen. Die im Wasser vorhandene ge¬ 
waltige Kraft lag unbenutzt da, so lange man 
nicht im Stande war, die Wasserkraft auch an 
anderer Stelle als an ihrem ursprünglichem Platze 
zu benutzen, d. h. an anderer Stelle, als wo 
sie unmittelbar erzeugt wird. Nachdem unsere 
Dynamomaschinen uns gelehrt haben, die 
Elektrizität umzuwandeln in elektrische Kraft, 
die vermittelst feiner Drähte auf ungemessene 
Entfernungen fortgeleitet zu werden vermag, 
um an ihrem endlichen Bestimmungsorte end¬ 
lich wieder in mechanische Arbeit umgewan¬ 
delt zu werden, ist uns die Möglichkeit ge¬ 
geben, die in der Natur verborgen liegenden 
Kräfte ausgiebig auszunutzen. Es war daher 
ein erhebender Moment, als im Jahre 1891 
auf der elektrischen Ausstellung in Frankfurt 
a. M. die im oberen Neckar bei Lauffen vor¬ 
handenen Stromschnellen praktisch dazu be¬ 
nutzt werden konnten, elektrischen Strom zu 
erzeugen, der auf 175 km Entfernung durch 
Drahtleitung nach Frankfurt übermittelt und 
dort zur Inbetriebsetzung aller möglichen Kraft¬ 
maschinen verwendet wurde. Dieses Ereignis 
lieferte den unmittelbaren Beweis, dass man 
gegenwärtig im Stande ist, die gewaltigen 
Kräfte, welche in den Wasserläufen vorhan¬ 
den sind, der Menschheit nutzbar zu machen. 
Jenen in Frankfurt gezeigten Anfängen sind 
seither weitere Ausnützungen der Naturkräfte 
in der geschilderten Weise gefolgt. Auch 
dem Nigarafalle können bereits 50,000 Pferde¬ 
kräfte entnommen und in elektrische Energie 
umgewandelt werden. Neuerdings hat die 
Allgemeine Elektrizitätsgcsellschaft in Gemein¬ 
schaft mit einigen anderen Unternehmern 
Schaffhausen und Basel in der Nähe der 
badischen Grenze und zwar in Rheinfelden 
ein Elektrizitätswerk erbaut, das bestimmt ist, 
die Kraft des oberen Rheinlaufes auszunutzen 
und in den Dienst der Menschheit zu stellen, 
indem es die gewonnene Kraft an zahlreiche 
kleinere Ortschaften durch Stromleitung ab- 
giebt. 

So lange die Entwickelung der Kultur aus¬ 
schliesslich an die Gewinnung der Kohle ge¬ 
knüpft war, blieb der Ursprung der mechan¬ 
ischen Kraft auf gewisse Distrikte beschränkt, 
nämlich auf solche Distrikte, die reich an 
Kohle waren. Wasserkraft giebt es aber über¬ 
all, und zumal die kohlenarmen Gegenden 
sind mit Wasserkräften gesegnet. Die Gebirgs- 


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374 


Voller, Nutzbarmachung der natürlichen Wasserkräfte. 


gegendcn Deutschlands, der Schweiz und 
Skandinaviens erscheinen dadurch mit einem 
Schlage befähigt, durch Ausnutzung ihrer 
Gewässer elektrische Kraft zu erzeugen. 
Welche Wandlung das mit sich bringen wird 
im Konzert der Kulturnationen, lässt sich 
noch gar nicht ermessen. 

Aber noch eine andere Seite der Sache 
drängt sich unserer Betrachtung auf. Es ent¬ 
steht nämlich die Frage, giebt es neben jenen 
Zentralquellen irdischen Lebens und Werdens 
nicht noch andere Kräfte, die zur Erzeugung 
von Arbeitsleistung Verwendung finden kön¬ 
nen? Wir wissen, dass in zweimal vierund¬ 
zwanzig Stunden eine Flutwelle um die Erde 
herumläuft, welche in regelmässiger Weise 
mit einem ebenso tiefen Wasserthale ab¬ 
wechselt. Der Grund dieser regelmässigen 
Bewegung ist allerdings noch nicht so sehr 
lange bekannt. Gegenwärtig wissen wir aber, 
seitdem Isaak Newton das Gesetz von der 
Schwerkraft gefunden hat, dass die Bewegung 
unserer Weltkörper Folge der Anziehung ist, 
welche sie untereinander ausüben. Wir wissen 
seitdem auch, dass die Gezeiten eine Folge 
sind von der Anziehungskraft, die Sonne und 
Mond auf unsere Erde ausüben. Die erwähnte 
Flutwelle folgt in der That der Stellung des 
Mondes zur Erde, und indem er in 24 Stun¬ 
den 50 Minuten unsere Erde umkreist, folgt 
eine Flutwelle der Erde ihm nicht nur auf 
der ihm zugekehrten, sondern auch auf der 
ihm abgekehrten Seite des von uns bewohn¬ 
ten Himmelskörpers. Die Kraft derjenigen 
Arbeit nun aber, welche Sonne und Mond 
durch ihre Anziehungskraft auf unserer Erde 
verrichten, ist genau zu berechnen; wir 
brauchen zu solchem Zwecke nur die Wasser¬ 
menge festzustellen, welche täglich durch 
Ebbe und Flut gehoben wird und wieder 
sinkt. Diese erzeugte Kraft würde allein bei 
der Nordsee 60 Millionen Pferdekräfte aus¬ 
machen, somit also weit bedeutender sein als 
diejenige Kraft, welche wir alljährlich durch 
Verbrennung von Kohle gewinnen. Aller¬ 
dings können wir nur einen kleinen Theil 
jener Kraft verwenden, weil wir diese Kraft 
nicht auf dem Ozeane selbst, sondern nur an 
seinen Küsten auszunützen vermögen. That- 
sächlich hat man aber schon in Hamburg die 
Kraft des steigenden und fallenden Wassers 
und zwar an derjenigen Stelle ausgenutzt, an 
weicher die Alster der Elbe zuströmt. Es 
bedurfte zu diesem Zwecke nur der Anleg¬ 
ung einer entsprechenden KanalfOhrung, um 
vorhandene Turbinen von beiden Seiten in 
Bewegung setzen zu lassen. Von irgend 
welcher Bedeutung ist aber seither die Aus¬ 
nutzung solcher Kraft nicht gewesen und es 
steht dem auch entgegen, dass die Fluthöhe | 


eine durchaus verschiedene und schwankende 
ist, wie auch die Intensität von Flut und 
Ebbe durch Witterungseinflüsse, zumal durch 
Wind, stark beeinträchtigt zu werden ver¬ 
mag. Von dem Momente aber, wo die elek¬ 
trische Kraft in die Ausnutzung mit einbe¬ 
zogen zu werden vermochte, konnte man 
schärfer an die Verwendung der in Wasser¬ 
gefällen ruhenden Kraft herangehen. Wollte 
man nämlich die Kraft von Ebbe und Flut 
dem Gewerbe und der Industrie dienstbar 
machen, so blieb zu bedenken, dass die Ge¬ 
zeiten nicht zur selben Stunde an zwei auf¬ 
einanderfolgenden Tagen wiederkehren, und 
dass gemeiniglich zwischen Ebbe und Flut 
eine Periode der Paralysation liegt, die der 
Gewinnung einer konstanten Kraft im Wege 
steht. Sobald man aber durch die Elektrizität 
die Möglichkeit gewonnen hatte, die erzielte 
Kraft in Akkumulatoren aufzuspeichern und 
sie aus diesen auch abzugeben, wenn Ebbe 
und Flut nicht arbeiten, war die Basis ftir 
eine weitere Entwickelung vorhanden. Zu ver¬ 
wundern ist dabei nur, dass Flut und Ebbe 
nicht schon viel mehr als geschehen ftlr 
Krafterzeugung nutzbar gemacht worden sind. 
Dies erklärt sich jedoch vielleicht durch die 
Thatsache, dass die Technik geglaubt hat, 
sich vorerst mit der Lösung ihr wichtiger 
erscheinender Probleme befassen zu müssen. 

Der Stadt Hamburg nun ist es Vorbehal¬ 
ten geblieben, in der Ausnutzung von Elut 
und Ebbe als Krafterzeuger die Wege zu 
weisen, und ein hamburgischer Ingenieur, 
Herr Knobloch, hat Einrichtungen erdacht, 
vermittelst deren der abwechselnde Strom 
von Flut und Ebbe auf einen und denselben 
Apparat von beiden Seiten zu wirken ver¬ 
mag. Selbstverständlich hat Herr Knobloch 
seine Idee sich patentieren lassen, auch hat 
er Männer gefunden, die bereit sind, in 
finanzieller Hinsicht sein Projekt zu unter¬ 
stützen und zu fördern, so dass die von 
dem Erfinder geplante Anlage ihrer Ver¬ 
wirklichung entgegengeht. Soviel möge nur 
gesagt sein, dass es sich darum handelt, in 
den Ebenen des unteren Elbstroms flache 
Teiche herzustellen, die mit dem Flusse in 
direkter Verbindung stehen und von ihm bei 
Flut mit Wasser gefüllt, bei Ebbe wieder 
nahezu entleert werden. Die in diesen be¬ 
wahrten gewaltigen Wassermassen dienen zur 
Erzeugung von elektrischer Energie, welche 
in Akkumulatoren angesammelt und je nach 
Bedarf durch Drahtleitung an den Konsum 
abgegeben wird. Da die Kraft zur Gewinn¬ 
ung der Elektrizität, wenn man von den ein¬ 
maligen Herstellungskosten der Anlage ab¬ 
sieht, gewissermassen kostenfrei ist, so kann 
die gewonnene Energie auch weit billiger 


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Das SchnellfeuergeschOtz System canet. 


375 


abgegeben werden, als seitens unserer jetzigen 
elektrischen Zentralen. Dadurch scheint auch 
die Rentabilität der gesamten Anlage gesichert. 
Die Ausführung der, betreffenden Arbeiten 
liegt zur Zeit in den Händen bewährter 
Techniker, an • ihr beteiligt sind u. a. die 
auch bei Rheinfelden interessierte Firma 
Escher, Wyss & Co. in Zürich. Es darf 
deshalb angenommen werden, dass in nicht 
zu ferner Zeit am Elbstrom unter Ausnutz¬ 
ung der Kraft von Ebbe und Flut ein Elek¬ 
trizitätswerk geschaffen wird, das geeignet 
ist, die gewonnene Energie wesentlich bil¬ 
liger abgeben zu können, als die gegenwär¬ 
tigen Zentralen mit ihren kostspieligen Ma¬ 
schinen dies vermögen. Dadurch w'ird aber 
dann auch Kreisen der Bezug elektrischer 
Kraft ermöglicht, die seither des Kostenpunk¬ 
tes halber von der Benutzung derselben noch 
ausgeschlossen waren. Es wird das ein wei¬ 
terer Triumph des Menschengeistes sein, die 
Beherrschung der Naturkräfte wird sich stei¬ 
gern, und die Kultur in ihrer Entwickelung 
des weiteren gefördert werden. 

„Elektrizität* 97, Nr 10. 


Das Schnellfeaergescbütz System Canet.') 

Von Hnuptmano X. 

Der bekannte artilleristische Direktor der Societö 
des Forges et Chantiers de la Mediterran^e, Canet, 
hat auf Grund jahrelanger eingehender Studier, und 
praktischer Schiessversuche — die natürlich gerade 
auf artilleristischem Gebiete mit den theoretischen 
Erwägungen Hand in Hand gehen müssen — ein 
Schnellfeuer- Feldgeschützmaterial aufgestellt, das 
vollste Beachtung verdient und entschieden auf der 
Höhe der Zeit steht. Indem wir diejenigen unserer 
Leser, die der Sache eingehendes Interesse zuwen¬ 
den, auf den vorzüglichen und von klaren Illustra¬ 
tionen begleiteten Aufsatz der französischen, sehr 
gediegenen artilleristischen Fachzeitung*) verweisen, 
wollen wir uns hier auf die kurze Erörterung der 
charakteristischen Eigentümlichkeiten des neuen 
Systems beschränken und auch nur andeutungsweise 
erwähnen, dass das aufgestellte System ganze Ge¬ 
schützgruppen (verschiedenen Kalibers ys, 70, 65 mm 
und „schweren“ bezw. „leichten" Materials) umfasst,» 
um so den verschiedenartigsten Anforderungen von 
Staaten entsprechen zu können, die ihren Feld¬ 
geschützbedarf bei der genannten Gesellschaft decken 
wollen. 


>) Infolge einiget an uns ergaDgenen Anfragen haben wir 
unseren artilleristischen Herrn Mitarbeiter zu nachstehenden 
Mitteilungen Ober das technisch sehr interessante Canet’sche 
GeschQtz veranlasst. Dieselben dflrften augenblicklich unseren 
werten Lesern um so mehr willkominen sein, als die begonnene 
Neubewafihung der deutschen Artillerie (vergl. den Artikel un* 
ter „Betrachtungen“) die Frage des SchnellfeuergeschUtzes wie¬ 
der in den Vordergrund des Interesses gerQckt hat. IrrtQm- 
liehen Auffassungen zu begegnen, sei hier ausdrOcklich darauf 
aufmerksam gemacht, dass das System Canet nicht etwa als das 
neue französische SchnellfeuergeschOtz anzusehen ist, das viel¬ 
mehr in seinen Details noch geheim ist; es handelt sich ledig¬ 
lich um eine Privatkonstruktion der eingangs genannten Firma 
zum Verkauf an fremde Staaten, wie ja auch Krupp selb¬ 
ständige Konstruktionen an das Ausland liefert. 

*) Revue d’artUlerie. „Matäriel de Campagne ä Tir rapide- 
SysUme Canet Mod. 1896,* NovemberbeR 1B96. 


Diese ganzen Gruppen tragen dasselbe gemein¬ 
schaftliche charakteristische Gepräge, und um dieses 
handelt es sich hier für uns lediguch. 

Wir hatten in unserer Studie „Schnellfeuerge¬ 
schütze“ *) auf S. 43 die Merkmale des Schnellfeuer¬ 
geschützes- Einheitspatrone, Fertigzünder, Schnell¬ 
feuerverschluss, Schnellfeuerlafette — festgelegt und 
wollen in derselben Reihenfolge auch die Eigen¬ 
schaften des Canetgeschützes betrachten, indem wir 
nur vorher allgemein vorausschicken, wie unsere 
Voraussage auf S. 45, dass ein neues Geschütz das 
jetzige 88 mm-Kaliber unterschreiten werde, durch 
Canet voll und ganz wahr gemacht wird, indem 
das grösste Kaliber seiner Geschützgruppen das 
75 mm-Kaliber ist. 

Was zunächst die Einheitspatrone anbelangt, so 
hat Canet deren Vorzüge mit denen des bisherigen 
Systems, nach welchem Geschoss und Kartusche 
getrennt sind, zu vereinigen verstanden. Er trans¬ 
portiert beide nämlich getrennt und vermeidet der- 

g estalt die Nachteile der unverhältnismässig langen 
inheitspatronen, die schwer zu verpacken und zu 
entnehmen sind und beim Transport leicht Schaden 
leiden, konstruiert sie aber so, dass sie mit einem 
Griff seitens des am Munitionswagen stehenden 
Kanoniers nach erfolgtem Entnehmen vereinigt wer¬ 
den können, so dass nun der Kanonier, der das 
Geschoss von ihm empfän^ und es zum Geschütz 
vorträgt, es nur mit einer Einheitspatrone zu thun 
hat. Als Munition führt Canet sog. Einheit^eschosse, 
Schrapnels, die den jetzt gebräuchlichen Geschossen 
gegenüber nichts besonderes bieten, wenn sie auch 
im technischen Detail viel Interessantes besitzen. 
Der Sprengladung ist ein Stoff beigegeben, der bei der 
Verbrennung im Moment des Krepierens des Schrap¬ 
nels ungemein starken Rauch entwickelt, um das 
Geschoss auf weite Entfernungen beobachtungsfähig 
zu machen (—4500 m) und der beim Auftrenen auf 
brennbares Material dieses in Brand setzen soll. 
Audi dies ist nichts neues. Ausser diesen Schrap-' 
nels führt Canet noch eine stählerne Sprenggranate 
mit starker brisanter Ladung zum Beschiessen von 
sehr widerstandsfähigen Zielen. 

Der Schrapnelzünder ist, wie alle dergleichen 
modernen Zünder, ein DoppelzOnder, d. h. er ge¬ 
stattet das Geschoss auf jeder beliebigen Entfern¬ 
ung nach Belieben in der Luft oder erst beim Auf¬ 
schlag auf den Erdboden zum Krepieren zu bringen, 
gehört aber speziell zur Klasse der Fertigzünder, 
ohne welche ein SchnellfeuergeschOtz ni^t wohl 
denkbar ist. Diese Eigenschaft des Fertigzünders 
wird noch besonders gehoben durch die Canet’sche 
Konstruktion eines eigenartigen, besonders schnell 
und sicher wirkenden Instrumentes zum Stellen 
des Zünders auf diejenige Entfernung, auf die er 
wirken soll. Der SprenggranatzOnder ist der Na¬ 
tur und Bestimmung der Canet’schen Sprenggranate 
entsprechend ein einfacher Aufschla^ünder, d. h. 
er entzündet sich sobald das Geschoss auf dem 
Ziel auftrifft. Er besitzt eine sogen, verlangsamte 
Zündvorrichtung d. h. er brennt so langsam ab, 
dass das Geschoss erst noch ein Stück in das Ziel 
hineindringt, ehe es explodiert, so dass nunmehr 
die brisante Sprengladung im Innern des Zieles 
erst recht und voll zur Geltung kommt 

Da die Canet’schen Schrapnels ihre Sprengteile 
sehr geschlossen nach vom senden (Kegelwinkel 
18-19“) Sprenggranaten nur Aufschlag¬ 

zünder besitzen, so fehlt dem Canet’schen S^tem 
die Möglichkeit vollständig, Ziele dicht hinter Deck¬ 
ungen zu treffen, wie die deutschen mit Brennzün¬ 
der verfeuerten Sprenggranaten sie uns gewähren! 
Bei dem Jetzigen Stand der Feldbefestigung ist 


I) „Umschau*, Heft 3, Seite 43 u. ff. 




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376 


Tetzner, Sprachliche Fragen. 


dies entschieden als eine Lücke im System zu be* 
zeichnen. 

Wenn nun Geschoss und Zünderkonstruktion 
dem jetzigen Stande der artilleristischen Wissen¬ 
schaft lediglich entsprechen und nichts besonders 
neues bieten, so möchten wir dafür die Konstruk¬ 
tion des Schnellfeuerverschlusses als eine geniale 
bezeichnen, sofern es überhaupt möglich ist, über 
dergleichen ein Urteil zu fällen, ohne es praktisch 
beim Schiessen in Thätigkeit gesehen zu haben. 
Der Verschluss ist in drei verschiedenen Typen 
ausgearbeket, um verschiedenen Anforderungen 
eines etwa bestellenden Staates entsprechen zu 
können. Alle diese 3 Typen, von denen die ers¬ 
ten beiden auf dem bekannten Schraubenverschluss 
aufgebaut sind, bestehen aus so ausserordentlich 
wenig Teilen, und sind so leicht auseinandernehm¬ 
bar und in ihren einzelnen Teilen ersetzbar, dass 
sie uns — und zwar namentlich der dritte Typ 
- als das beste auf diesem Gebiete erscheinen 
und die Voraussage rechtfertigen dürften, dass sie 
sich auch in der Praxis bewähren werden. Wir 
müssen es uns leider aus Mangel an Platz versagen, 
den hochinteressanten Verschluss näher zu beschrei¬ 
ben, da es dazu der Beigabe zahlreicher Zeich¬ 
nungen bedürfen würde. Eis sei nur erwähnt, dass 
der dritte, vollkommen originale Typ, der sogen. 
„Verschluss mit konzentrischen Schraubengewin¬ 
den“, der aus nur 5 Teilen besteht ( 1 ), durch eine 
einzige Drehbewegung des Hebels um 90» geöffnet 
und umgekehrt wieder geschlossen wird. Dabei 
vollzieht sich gleichzeitig das Spannen des Schlag¬ 
bolzens und das Auswerfen der abgefeuerten Pa¬ 
trone. Ferner ist die Möglichkeit gegeben, den 
Schlagbolzen allein wieder ohne Oefmen des Ver¬ 
schlusses spannen zu können, wenn ein Versager 
vorgekommen sein sollte. 

Nächst diesem geistvollen und ganz orimnalen 
Schnellfeuerverschluss Typ 3 (Typ i und Typ 2 
sind zwar auch als vorzügliche I^onstruktioneh und 
grosse Fortschritte auf diesem Gebiete zu bezeich¬ 
nen, knüpfen aber immerhin an Bekanntes an) bil¬ 
det das zweite und hauptsächlichste Charakteristi¬ 
kum des Canet’schen Systems die brillant konstru¬ 
ierte Schnellfeuerlafette. Da sie eine so besondere 
Eigentümlichkeit des Systems ist, möchten wir doch 
versuchen, njit wenigen Worten ihr Prinzip zu er¬ 
läutern. 

Jeder der Leser hat schon ein Geschütz gesehen, 
und weiss jedenfalls, was man unter Lafettenwänden 
versteht.') Nun denke man sich anstatt der La- 
(ettcnwärtde ein LafettenroÄrsystem, d. h. zwei in 
einander teleskopartig verschiebbare Rohre; wir 
wollen sie bezeicnnen als das hintere, welches auf 
dem Boden aufruht und das vordere, welches auf 
der Achse befestigt ist und sich auf das hintere 
auf2mschieben vermag. Auf dem vorderen befin¬ 
det sich die Oberlafette, in der das Rohr liegt 
Diese Teilung in Ober- und Unterlafette ermöglioit 
das schnelle Nehmen der Seitenrichtung bis zum 
Betrage von 4'’ nach rechts und nach links, ohne 
deswegen den Lafettenschwanz bewegen zu brau¬ 
chen, (ein Charakteristikum der Schnellfeuerlafette 
im allgemeinen).*) Denkt man sich nun weiter, 
dass das hintere Rohr da, wo es auf dem Boden 
aufliegt, einen grossen Sporn trägt der sich nach 
den ersten Schüssen tief in den Boden einrammt 
und das hintere Rohr unverrückbar feststellt, und 
endlich, dass in den beiden Rohren eine hydrau- 


1) Lafette ist das eigentliehe SchiesstccrQst und besteht aus 
2 Rädern mit Achse, von welcher a parallele oder konvergie¬ 
rende Gussstahlbicchwändc. die Lafettenwändc, aiisgehcu, die 
mit dem sogen. I.afcttcnschwaaz auf dem Boden aufruhen und 
auf denen etwa oberhalb der Achse das Kohr eingelegt ist. 

Siehe Schnellfeuergeschfltac S. 44 oben. 


lische Bremse angeordnet ist so wird auch ver¬ 
ständlich werden, was für Vorgänge sich beim Ab¬ 
feuern abspielen: 

Der sich entwickelnde starke Rückstoss (der ge¬ 
wöhnliche Lafetten bis zu 10 m zuröcklaufen lässt) 
w’irkt auf das Rohr, durch dieses auf die Ober¬ 
lafette und durch diese auf Achse, Räder und vor¬ 
deres Rohr. Dieses ganze schwere System arbei¬ 
tet nun rückwärts, läuft zurück und schiebt das 
vordere Rohr auf das durch den Sporn festge¬ 
stellte hintere Rohr auf, bis die hydraulische Bremse 
den Stillstand der Bewegung bewirkt; dann wirkt 
diese aufs höchste angespannte Bremse wieder ent¬ 
gegen und schiebt das ganze System wieder genau 
ai^ den alten Plate vor. Letzteres ist eben das 
Wichtigel Denn der Richtkanonier braucht nun¬ 
mehr fast gar keine Zeit, um die Richtung ftlr den 
nächsten Schuss zu nehmen, da das Gesch^Qtz auto¬ 
matisch fast ganz genau die vorher gegebene Richt¬ 
ung wieder eingenommen hat. 

Die erzielte Feuergeschwindigkeit ist dement¬ 
sprechend auch sehr gross und feläuft sich auf 10 
Schuss pro Minute. 

Sollte übrigens in den beiden Rohren oder der 
hydraulischen Bremse irgend ein Unfall eintreten, 
der das Funktionieren hindert, so kann man durch 
eine einfache Vorrichtung das vordere und hintere 
Rohr mit einander fest verbinden, so dass die 
Möglichkeit des Ineinandergleitens aufhöct, zieht 
eine ausserdem vorhandene Fahrbremse an, und 
hat nun eine gewöhnliche Lafette vor sich, mit der 
man ruhig weiterschiessen kann. 

Die Canet’sche Konstniktion macht nach Vor¬ 
stehendem einen sehr leistungsfähigen Eindruck! 
Was sie in den Händen einer Truppe, unter allen 
Widerwärtigkeiten des Truppeiischiessplatzes, des 
Manövers und des Krieges leistet, ist natürlich eine 
offene Frage. Es ist ja eine bekannte Thatsache, 
dass unter solchen Umständen dann häufig Kon¬ 
struktionen ganz oder fast ganz versagen, me auf 
den Schiessplätzen der Etablissements hervor¬ 
ragend waren. 


Sprachliche Fragen. 

Von Dr. F. Tetzner, Leipzig. 

IO. Namen, 

Anknüpfend an die Frage „Wir Deutsche oder 
wir Deutschen?“ sei noch daraufhingewiesen, dass 
Bismarck neuerdings seinen Ausspruch in der wört¬ 
lichen Fassung „Wir Deutsche fürchten Gott u. s. w.“ 
bestätigt hat. Der starken Form ist jedenfaUs der 
Vorzug zu geben, wne ich dies auch damals that. 
Die schwache Form hat sich indessen bei den Ver¬ 
bindungen der persönlichen Fürwörter und der 
Eigenschaftswörter in gewissen Fällen neben der 
starken Form das Bürgerrecht bei unseren Klassikern 
erworben. Diese Thatsache bleibt bestehen. Ohne 
Nachteil können beide Verbindungen in gewissen 
Fällen richtig sein, so im Plural. In den sonst 
starken Singularformen ist im Dativ die schwache 
gebräuchlicher geworden (mir deutschen Manne, 
mir armen Frau, mir unglücklichen Kinde, neben 
mir deutschem Manne, mir unglücklicher Frau, mir 
armem Kinde). Hat ja der Genitiv Singularis 
Maskulini und Neutrius auch beide Formen in den Ver¬ 
bindungen : s c h ö n e n Mannes und schönes Mannes. 
Als Erklärungsversuch, wie „wir Deutschen" hoffähig 
werden konnte, hat man Analogiebildung vorzu¬ 
schlagen für richtig befunden, und zwar nach Volks- 


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Betrachtungen und kleine Mitteilungen. 


377 


namen wie: wir Franzosen, Rassen, Dänen, Böhmen. 
Das ist zurOckzuweisen, weil ebensoviel Volksnamen 
stark sind: wir Österreicher, Tiroler, Elsässer, 
Silinge, Hasünge. Noch aus einem Hauptgründe, 
weil in der Form einförmige Hauptwörter nicht mit 
doppelformigen substantivierten Eigenschaftswörtern 
auf eine Stufe gestellt werden dürfen. Es ist viel¬ 
mehr tm Sprachleben ein immer stärker werdendes 
Drängen von der starken zur schwachen Beugung 
nach&uweisen, hervorgerufen durch die Überzahl 
schwacher Formen (— t im Verb, — « im Haupt- 
und Eigenschaftswort), begünstigt durch das aus¬ 
gleichende Zeitungsdeutsch, vor dem viele unrichtige 
schwache Formen längst den Schein des Fehler¬ 
haften eingebOsst haben. 

Man sagt schon in der Anrede bisweilen: 
deutschen Männer, lieben Frauen. Ausserdem heisst 
es: die Deutschen und die deutschen Männer mit 
Recht, und diese und andere zahlreiche n-Formen 
haben allmählich verdrängt, was zu verdrängen ging. 

Ein Unterschied möchte noch berücksichtigt 
werden. In den Sätzen: „Deutsche haben die halbe 
Welt durchforscht“ und „Die Deutschen haben die 
halbe Welt durchforscht“, wird „Deutsche" als die 
(starke) Mehrzahl eines ausgeprägten Individuums 
empfunden, „die Deutschen“ aber als Sammelbegriff, 
der abgeblasst den Einzelnen verschwinden lässt. 
Grammatikalisch ist nun weder eines noch das 
andere in der Frage „Wir Deutsche oder wir 
Deutschen?“ in die Wagschale zu werfen. Das 
Bismarcksche Wort aber erhält in seiner authen¬ 
tischen Fassung einen ausgeprägten Sinn. „Wir 
Deutsche", das sind eine Menge Leute, deren jeder 
individuell am mächtigsten allein und in der Gesamt¬ 
heit totzdem eine zielbewusste Macht ist. „Wir 
Deutschen“ wären nur einer Menge Gleicher, die 
einem Willen gehorchen. — Es sei mir gestattet, 
bei dieser Gelegenheit auf den Artikel „Deutsch“ 
in meinem Wörterbuch hinzuweisen. 

Die Namen haben immer ein eigenes Kapitel in 
der Grammatik gebildet, weil sie nicht gern mit den 
anderen Substantiven marschieren, sondern eigene 
Gesetze beanspruchen. Heut sagt man meist die 
Bayern, Nibelungen, Greutungen, im Mittelalter ge¬ 
brauchte man die starke Form. Hingegen haben 
viele Namen starke Form ers tangenommen, so 
Kriemilt, Ute, Dietlint, Etzel, Gere, Gibich, Hagen, 
Helche, Siglint 

Noch mehr als die Form hat aber der Gebrauch 
und die Deutung der Namen zu Wechsel und zu 
Fehde Anlass gegeben. Was jetzt noch, nachdem 
Jakob Grimm und seine Schüler gewirkt haben, 
an Begriffsdeutung deutscher Rufnamen geleistet 
wird, ist unglaublich. In einem der letzten Hefte 
einer pädagogischen Zeitschrift ist eine Blütenlese 
von Namen mit den spassigsten Deutungen. Emma, 
(die dem Irmin geweihte, die Grosse), ist immer 
noch als die Emsige; Rosamunde (Rossschützerin), 
die mit dem roten Munde u. dergl. 

Der neue „Idfrid“ (der durch Kampf Friede 
schaßt), als der Glänzend-Schöne fällt auf eine 
andere Rechnung. 

Die Mehrzahl der deutschen Namen ist heutiges 
T^es in ihren Stämmen sehr wohl zu deuten, und 
diese Namendeutung ist för Schule und Haus ebenso 
belehrend, wie unterhaltend, wenn der Erklärer 


fachmännisch gebildet ist. Ihr hat sich aber ein 
hässlicher Auswuchs beigesellt. Nach dem Er¬ 
blühen der germanischen Wissenschaft und int 
folge der segensreichen Thätigkeit der Sprach¬ 
vereine, warf man sich mit mehr Eifer auf das 
Gebiet der Namenerklärung und gab dankenswerte 
deutsche Nanienbücher heraus, so Prof. Erbe, Dr. 
Kapff u. A., ganz abgesehen von dem grund¬ 
legenden Werk Förstemanns. Daneben erschien 
lange Zeit kein Werk, das sich wieder in den Dienst 
der Allgemeinheit stellte, und alle im Leben vor¬ 
kommenden Rufnamen in den Kreis der Erklärung 
zog. Einzelne Männer hatten ganz und gar den 
freien Blick daför verloren, dass es ausser dem 
Rufnamen Deutscher auch solche anderer Abstam¬ 
mung in unser Sprache gab und heutzutage immer 
noch Leute Emil und Paul heissen. Man konnte ein 
„Namenbuch“ nicht von einem „deutschen Namen¬ 
buch“ unterscheiden und suchte durch Weglassung 
jene Namen einfach aus der Welt zu schaffen. Was 
die Namengebung anbelangt, so sollte es allerdings 
Pflicht eines Deutschen sein, die fremden Rufnamen 
auszumerzen. Unsere deutschen Rufnamen sind so 
wohlklingend und bedeutungsvoll, dass kein Be¬ 
dürfnis nach fremden vorliegen kann. Die meisten 
deutschen Namen sind ursprünglich zweiteilig, Aus¬ 
nahmen sind Karl, Emst, Falk, Weigand, Franz, 
Hulda, Elsa u. A. Die zweiteiligen Rudolf (Ruhm- 
Wolf), Berthilde (Glane-Kämpferin) bilden wieder 
eine Anzahl Koseformen, die selbständig geworden 
sind, Rudolf z. B. Rudo, Rudi, Wolf, Uffo, Dolfi, 
Dolfo, Rolf, Rolfi, Roffi, Ruffi, Roflo, Ruffii u. s. w. 
Aus Berthilde können entstehen: Bertha, Hilda, 
Hidda, Hedda, Heddi, Berthi u. s. w. Bei der 
zweiten Silbe in RudolftRudwolf ist weniger an das 
Tier selbst, ab an den zu denken, dem es geweiht 
war, an Wotan. Bertha aber heisst die Leuchtende, 
die im lichten Gew'ande glänzende und war vielleicht 
ein Beiname der Göttin Frigga oder Freia, die 
sprachlich leider immer wieder mit der altnordischen 
Freya (Althochdeutsch Frouwa) verwechselt wird. 


Betrachtungen und kleine Mitteilungen. 

Plan einer kritischen Ausgabe der Papst-Ur¬ 
kunden bis Innocenz IIL Zwei gewaltige Mächte 
sind es, die das politische Leben des Mittelalters be¬ 
herrschen: das Kaisertum und das Papsttum. Die 
Urkunden der ersten universalen Macht werden uns 
dank der Leitung der Monumenta Germaniae bald 
in einer mustergutigen Ausgabe vorliegen, während 
bbher für die Papsturkunden dieser Zeit nur wenig 
im Zusammenhänge gethan ist, und wir im wesent¬ 
lichen auf Regesten beschränkt sind. 

Um so freudiger ist der Beschluss zu begrüssen, 
den die Königl. Gesellschaft der Wissenschaften in 
Göttingen auf Anregung ihres Mitgliedes, des Pro¬ 
fessors Dr. P. Kehr, gefasst hat, eine kritische 
Ausgabe der Papsturkunden bis Innocenz UI. [1198 
bb 1216] herzustellen. Dieser Endtermin ist ge¬ 
wählt worden, weil die Macht der Kurie mit jenem 
KirchenfÜrsten ihren Höhepunkt erreicht und weil 
mit seiner Regierung, die zugleich eine völlige Neu¬ 
ordnung der päpsthehen Kanzlei sowie des päpst¬ 
lichen Urkundenwesens bedeutet, die erhaltenen 
Regbter der Papsturkunden beginnen, die seit Er- 


Diyiuzed by v^ooQle 



378 


Betrachtungen und kleine Mitteilungen. 


Öffnung der vatikanischen Archive von allen Nationen 
wetteifernd ausgebeutet werden. 

Nicht alle Urkunden im diplomatischen Sinne 
können in jene Sammlung aufgenommen werden; 
sie soll nur „diejenigen Schriftstücke der römischen 
Kanzlei umfassen, die in irgend einer Weise in die 
rechtlichen Verhältnisse desjenigen, für den sie aus¬ 
gestellt wurden, eingreifen oder einzugreifen be¬ 
stimmt waren. Es sind zugleich diejenigen, die 
weniger den Theologen, um so mehr aber den 
Historiker und Juristen angehen; es sind nicht die 
Briefe und Dekrete des die Gläubigen belehrenden 
und die Kanones interpretierenden Oberhauptes 
der Kirche, sondern die Urkunden des die Kirche 
und die mittelalterliche Welt regierenden Papst¬ 
tums." Bei jenen „die kritische Grundlage zu schaf¬ 
fen, ist eine durchaus selbständige Aufgabe, die, 
so wichtig sie auch für die ältere Geschichte der 
Kirche ist, ganz andere Anforderungen an den He¬ 
rausgeber und Bearbeiter stellt, wie die Aufgabe, 
der unsere Anstrengungen gelten". Nur so weit 
will er auf sie zurückgehen, als sie „thatsächlich 
eine Veränderung in den Rechtsverhältnissen der 
beiden Kirchen" herbeiführen. Die moralische Au¬ 
torität der römischen Bischöfe ältester Zeit findet 
keine Berücksichtigung. Ebenso sind auch die äl¬ 
teren Registerserien ausgeschlossen worden, wenn 
sie nicht Verfügungen enthalten, die der diploma¬ 
tischen Definition des Begriffes Urkunde entsprechen. 

Die Hauptschwierigkeit der Aufgabe liegt nicht 
so sehr in der Fülle der Urkimden — Kehr rech¬ 
net auf aoooo — als vielmehr in der Mangelhaftig¬ 
keit des-ältesten Materials. Nur wenige OriginaTe 
der ältesten Zeit _sind erhalten, der Herausgeber 
sieht sich auf die Überlieferungen angewiesen, und 
diese werden von Fälschungen beherrscht. ^ gilt 
erst die Normen für die päpstliche Diplomatik der 
ältesten Zeit herauszufinden. Eine FtOle von Pro¬ 
blemen harren der Lösung. Erst w'enn wir diese 
urkundlichen. Zeugnisse des Papsttums in ihrer gan¬ 
zen Fülle vor uns sehen, werden wir die Geschichte 
des Papsttums selbst in ihrer universalhistorischen 
Bedeutung erfassen können. Politik, Kirche, Kir¬ 
chenrecht, Verfassung und Verwaltung nicht nur 
Deutschlands, sondern aller Mächte des christlichen 
Occidents im Mittelalter haben von hier aus einen 
ihrer wesentlichsten Impulse empfangen. 

Dr« MOsebcck. 

• • 

• 

Die Einführung des neuen deutschen 
Feld-Schnellfeuergeschützes. 

Die Tageszeitungen bringen soeben die Kunde, 
dass verschiedene deutsche Feld-Artillerie-Regi- 
menter das neue Feld-Schnellfeuergeschütz erhalten 
haben. Es ist dies wiederum ein glänzendes Zeug¬ 
nis für die Umsicht unserer Heeresverwaltung, die 
es verstanden hat, in der Stille — ohne dass trotz 
der grossen Zahl der Wissenden irgend genauere 
Nachrichten in die Öffentlichkeit drangen — ihre 
Vorbereitungen so zu treffen, dass der grosse 
Schlag überraschend fallen konnte und das deutsche 
Heer mit einem Male weit über seine Rivalen ge¬ 
hoben wurde. 

Es ist dies nicht zu unterschätzen! Denn wenn 
ich in meiner Betrachtung „Schnellfeuergeschütze"*) 
am Schluss aussprach, dass, wrenn Frankreich mit 
der Einführung eines Feld-SchnellfeuergeschOtzes 
vorgehe, dies die unbedingte und sofortige Nach¬ 
folge der anderen Grossstaaten im Interesse der 
Selbsterhaltung fordere, so ist diese Forderung 
durch das Vorgehen Deutschlands nun den anderen 
Staaten, insbesondere unserem alten Gegner Frank- 

Umschau Nr. 3, Seite 4a u. £fl 


reich auferlegt und für uns die Gefahr beseitigt, 
von anderen überflügelt zu werden. Wenn also 
unsrerseits die Frage der neuen Bewaffnung auf 
Grund systematisch durchgeführter und völlig ab¬ 
geschlossener Versuche erledigt werden konnte, so 
zwingt das schneidige und entschlossene Vorgehen 
der deutschen Heeresverwaltung alle anderen Staa¬ 
ten zum schnellen und teilweise vorzeitigen Ab¬ 
schluss ihrer Versuche, so dass auch dadurch ein 
gewisser Vorteil uns gesichert ist. Ich glaube in 
der oben genannten Betrachtung zur Genüge dar- 
gethan zu haben, wie enorm eine modern bewaft- 
nete Artillerie einer mit Geschützen bisheriger Art 
versehenen Artillerie Überlegen ist, so dass ich 
hier nicht nochmals darauf einzugehen brauche, und 
es vielmehr nur des Hinweises bedarf, dass auch 
den anderen Staaten die schleunige Nachfolge nun¬ 
mehr eben unbedingt geboten ist. 

Es ist nicht möglich^ genaue Zahlenangaben und 
Beschreibungen des neuen deutschen Materials zu 
bringen, da die Heeresverwaltung aus begreiflichen 
Gründen all’ dergleichen noch geheim hält und 
eben nur den Exerzier- und Schiessgebrauch an die 
Mannschaften instruieren lässt. Es bedarf dessen 
aber auch für die Zwecke unserer Zeitschrift wohl 
weniger, da die technischen Details ausserhalb 
ihres Rahmens liegen; vielmehr dürfte es genügen, 
darauf hinzu weisen, dass das neue Geschütz in 
seinen Konstruktionsgrundzügen den Forderungen 
des vereinfachten Ladens und Richtens, des aufge¬ 
hobenen Rücklaufs, des verkleinerten Kalibers und 
einer modernen Geschosskonstruktion voll ent¬ 
bricht, wie ich sie in der Abhandlung über Äe 
Schnellfeuergeschütze präzisiert hatte. 

Man darf mit grösster Spannung der nächsten 
Zeit entgegen sehen, die uns zunächst über die 
Massnahmen der anderen Grossstaaten — insbeson¬ 
dere Frankreichs — Klarheit schaffen wird, welche 
aber ganz besonders in die noch dunklen Fi^agen 
der Organisation und der Verwendungsweise der 
neubewaffneten Artillerie, sowie der taktischen 
Gegenmassregeln der anderen Waffen scharfe 
Schlaglichter werfen muss und auf diesen Gebieten 
Umwälzungen von ^össter Bedeutung im Gefolge 
haben dürfte, die in ihrer Folgenschwere und 
Tragweite nicht hinter denen zurOckstehen werden, 
welche durch die des rauchlosen Pulvers bedingt 
wurden. Hauptmann X. 

• • 

« 

Nicbi • Doku - Sitsugio - Kokoku ist der Titel 
eines Japanisch-deutschen Industrie-Anzeigers, den 
die Firma Max Noesslerin Bremen in japanischer 
Sprache herausgiebt. Der Zweck dieses höchst 
zeitgemässen Unternehmens ist, den japanischen 
Verbrauchern europäischer Erzeugnisse ein Bild von 
der Leistungsfähigkeit der deutschen Industrie auf 
den verschiedenen Gebieten zu geben und dadurch 
die Ausfuhr nach Japan zu heben. Vierteljährlich 
erscheint ein hübsch ausgestattetes Heft, welches 
ausschliesslich Anzeigen enthält und an geeignete 
Adressen versandt wird. Der Satz und die Druck¬ 
legung des japanisch-deutschen Industrie-Anzeigers, 
wie auch des entsprechenden Chinesischen Anzeigers, 
db die Firma Noessler jetzt auch noch unter dem 
Titel Te-kwn schang-wu ischan p‘hai herausgiebt, 
erfolgt in der Reichsdruckerei in Berlin, die als 
erste Druckerei in Deutschland japanische und 
chinesische Werke herstellt und ein für diesen 
Zweck auf dem orientalischen Seminar ausgebildetes 
Setzerpersonal besitzt. Welche Schwierigkeiten der 
chinesische und japanische Satz bieten, ist wohl 
ohne weiteres klar, wenn man bedenkt, dass die 
chinesische Schrift eine einsilbige Wortschrift ist, 
in der jedes Zeichen einen Begriff darstellt 


Dii;ilized by v^ooQle 


W iütirtthüilj 


üWbL^. 


Betrachtungen und Kleine Mitteilungen. 


Wenn auch von den 50,000 vorhandenen ver¬ 
schiedenen Zeichen viele veraltet sind und nur der 
Vollständigkeit halber in den Wörterbüchern weiter* 
g^efbhrt werden, so sind doch z. B. zum Satz der 
Bibel in chinesischer Schrift etwa 4500 verschiedene 
Zeichen nötig, welche von einem chinesischen Setzer 
gekannt und gelesen werden müssen. 

Die japanische Schrift ist aus der chinesischen 
entstanden. Im 3. Jahrhundert n. Chr. traten die 
Japaner mit den Chinesen in Verbindung. Chine- 
si^e Litteratur drang in Japan ein und mit ihr die 
chinesische Schrift. Da diese Schrift auf die mehr¬ 
silbige Japanische Sprache nicht überall anwendbar 
war, so wurde die Schaffung einer eigenen Schrift 
nötig, und man verw'endet Jetzt im Japanischen 
ausser einem grossen Teil der chinesischen Zeichen 
eine Silbenschrift (Hiragana und Katakana), welche 
im Allgemeinen zur Wiedergabe von Partikeln, so¬ 
wie von Endungen der Zeit- und Eigenschaftswörter 
gebraucht wird. Die Hiragana ist aus der chine¬ 
sischen Cursivschrift, die Katakana aus der chine¬ 
sischen Quadratschrift entstanden. Hiragana und 
Katakana enthalten Je 72 Silben, also ebenso viele 
Zeichen; die erstere umfasst ausserdem eine grosse 
Anzahl Varianten. Die Anwendung dieser Schrift¬ 
arten entspricht ungefähr derjenigen der deutschen 
und lateinischen Schrift in unserer Sprache, d. h. 
bei wissenschaftlichen Arbeiten und Drucksachen 
wird meist Katalcana angewendet, bei allen anderen 
dagegen Hiragana. Im Japanischen lässt sich die 
Aussprache jedes chinesischen Zeichens in Hiragana 
und Katakana wiedergeben. Von dem Japanischen 
Setzer muss ausser der Kenntnis der Japanischen 
Schrift das Beherrschen von etwa 5000 der häufig¬ 
sten chinesischen Zeichen gefordert werden. 

Japanisch und Chinesisch wird von oben nach 
unten gelesen, die Zeilen reihen sich von rechts 
nach links aneinander. 

Es sind in der Reichsdruckerei etwa 10,000 ver¬ 
schiedene Zeichen vorhanden, trotzdem ergeben sich 



^ = ^ 31 !!» 


beim Setzen fast täglich neue nicht vorhandene 
Zeichen, welche dann in der Gravier-Abteilung der 
Reichsdruckerei geschnitten werden. 

Die vorstehende Abbildung ist eine auf die 
Hälfte verkleinerte Anzeige des Japanischen An¬ 
zeigers; die Verbindung der Japanischen Typen mit 
dem deutschen Firmenbild ist von höchst origineller 
Wirkung. 


Bezüglich der Entwickelung des menschlichen 
Spulwurmes herrscht in den Lehrbüchern noch 
eine grosse Unklarheit. Und doch ist, wie Brandes 
kürzlich hervorhob, längst durch mehrere Forscher 
(Grassi, Butz, Ebstein u. a.) nachgewiesen, dass 
Ascaris lumbricoides sich ohne Zwschenwirt ent¬ 
wickelt, dass die Übertragung des Wurmes auf den 
Menschen direkt durch die Eier geschieht. Infektions¬ 
versuche am Menschen selbst haben dies unwider¬ 
leglich dargethan. (Biolog. Zentralbl. XVI, p. 839.) 


Zum Herausgeber der Astronomischen Nach¬ 
richten, der wichtigsten Zeitschrift der astrono¬ 
mischen Wissenschaft, ist seitens des preussischen 
Kultusministeriums Professor Dr. H. Kreutz 
ernannt worden, der die Redaktion schon seit dem 
vor mehr als Jahresfrist erfolgten Ableben des Geh. 
Reg.-Rat A. Krueger vertretungsweise geführt. 
Gleichzeitig ist die Redaktion der Astr. Nachr. von 
der Direktion der Kieler Sternwarte getrennt worden. 
Letztere Direktion ist schon vor einiger Zeit an 
Prof. Dr. P. Harzer übergegangen. a. 


Aufruf. 

Der Dichter Detlev v. Liliencron begeht 
nächstens seinen 54. Geburtstag, ohne dass es 
ihm bis Jetzt gelungen igt, sich durch seine 
Schriften ein ihrer Bedeutung angemessenes, sorgen¬ 
freies Dasein zu verschaffen. Die Unterzeichneten 
Künstler und Kunstfreunde, deren Blick sich auf 
das Lichtvolle dieser Erscheinung richtet, halten es 
für eine Ehrenpflicht Deutschlands, einem Dichter, 
der w'ie kaum ein anderer deutsche Lebenslust und 
Thatkraft in seinen Werken verkörpert hat, ein ver¬ 
bittertes Alter zu ersparen. Es ergehPliiermit der Auf¬ 
ruf, allgemein nach bestem Vermögen dazu beizu¬ 
steuern, dass ihm (in Form einer Leibrente oder sonst- 
w'ie) seine stete wirtschaftliche Sorge abgenommen 
und sein ferneres Schaffen erleichtert werden kann. 
Zur Entgegennahme von Beiträgen ist die Geschäfts¬ 
stelle des mitunterzeichneten Herrn Konsuls Auer¬ 
bach (Berlin W. Taubenstrasse 20) bereit; die Ein¬ 
zahlungen wolle man mit der Bemerkung „für die 
Liliencron-Stiftung“ versehen. Nach Schluss der 
Sammlung, spätestens am i. Oktober d. J., wird 
an alle Beitraggeber als Quittung eine alphabetische 
Namen-Liste (auf Wunsch nur mit Nennung der 
Anfangsbuchstaben) nebst beigedruckter Angabe 
der einzelnen Beträge versandt, zugleich auch über 
die Verwendungsart der ganzen Summe berichtet 
W'erden. L. Auerbach. Hermann Bahr. Wilhelm 
Bode. E.Frhr.v.Bodenhausen. A.Böcklin. R.Dehmel. 
Marie v.Ebner-Eschenbach. Th.Fontane. E.M.Geyger. 
Klaus Groth. Gerhart Hauptmann. K. v. d. Heydt. 
G. Hirth. H. Graf v. Kessler. M. Klinger. 
A. Lichtwark. Max Liebcrniann. Rud. Maison. 
A. A. Überländer. Wilh. Raabe. Emanuel Reicher. 
W. v. Scidlitz. Richard Strauss. Hans Thoma. 
F. V. Uhde. 


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300 


Sprechsaal. 


Sprechsaal. 

Herrn L. in R. Über die chemischen Bestand¬ 
teile der in Deutschland wachsenden Pflanzen mit 
Einschluss der Nutzpflanzen finden Sie genaue An¬ 
gaben in dem vortrefflichen Werke Husemann, 
„Die Pflanzenstoffe in chemischer, physiologischer, 
pharmakologischer und toxikolopscher Hinsicht“. 
Berlin (Verlag J. Springer), I. Teil 1882, II. Teil 1884. 

Herrn A. in R. Die Mitwirkung von Laien bei 
bestimmten astronomischen BeobaAtungen, welche 
sich entweder mit blossem Auge oder mit einfachen 
Hülfsmitteln ausfhhren lassen, ist den Astronomen 
meistens sehr wünschenswert Es kann Ihnen in 
dieser Beziehung nur empfohlen werden, Mitglied 
der „Vereinigung von Freunden der Astronomie“ 
zu werden. Dies ist eine Gesellschaft, welche ihren 
Mitgliedern die ihren Erfahrungen, ihren Holfsmit- 
teln und ihren etwaigen besonderen Interessen an¬ 
gepassten Beobachtungsgebiete zuweist Eine dies¬ 
bezügliche Meldung würde an Herrn Geh. Rat 
Förster, Direktor der Kgl. Sternwarte zu Berlin 
zu richten sein. — Um Ihnen aber auch bezüglich 
Ihrer Anfrage betr. zweckmässiger Handbücher zur 
selbständigen Einführung in die Astronomie in der 
von Ihnen angedeuteten Weise zu antworten, sol¬ 
len hier die in neuerer Zeit erschienenen Werke 
dieser Art angeführt werden. — Vor allem würde 
da zu empfehlen sein als ein Buch, welches eine 
vollendete Darstellung mit Genauigkeit und ganz 
allgemeiner Verständlichkeit verbindet, die „Popu¬ 
läre Astronomie" von S. Newcomb, in zweiter Auf¬ 
lage übersetzt und auf den gegenwärtigen Stand 
der Wissenschaft gebracht von Geh. Rat H.C. Vogel, 
Direkt, d. Astrophysik. Observatoriums zu Potsdam. 
Dieses Buch bietet so viel, dass selbst der Fach¬ 
mann es gerne als Nachchlagebuch benutzt; und 
überdies ist es so anregend geschrieben, dass Nie¬ 
mand es ohne Gewinn aus der Hand legen wird. 
Weiterhin wär^ wenn auch etwas umfangreicher 
das von Prof. E. Weiss neu bearbeitete allbekannte 
Werk von Littrow, die Wunder des Himmels, hier 
zu nennen. Eis ist mehr im erzählenden Stile ge¬ 
schrieben und mit vielen Abbildungen ausgestattet. 
Ein dem, strengeren Standpunkt der Pädagogie an¬ 
gepasstes Werk, welches in seiner Art hervorragend 
angelegt ist, ist die Populäre Himmelskunde von 
Diesterweg, neu bearbeitet von Direktor Schwalbe 
und Dr. M. W. Mayer, Direktor der Urania zu 
Berlin. Für ein planmässiges Erlernen der astro¬ 
nomischen Kenntnisse ist es besonders gut einge¬ 
richtet. — Eine grosse Anzahl anregender Aufsätze 
aus der Zeit des Aufblühens der neueren Astro¬ 
nomie enthalten die von H. C. Schuhmacher für die 
Jahre 1836—44 herausgegebenen Astron. Jahrbücher. 
Die einzelnen Aufsätze rühren meist von den Meis¬ 
tern ihrer Wissenschaft wie Bessel, Gauss, Olbers 
u. s. w. her. Auf antiquarischem Wege sind 
die Hefte leicht zu erhalten für etwa 10—12 Mk. 
— Für einfache Beobachtungen, wie sie mit ge¬ 
wöhnlichen winkelmessenden Instrumenten ausge¬ 
führt werden können und wie sie namentlich zur 
Bestimmung der Geogr. Coordinaten bestimmter 
Erdorte also z. B. des Beobachtimgsortes dienen, 
möchte ich die Geogr. Ortsbestimmungen von Prof. 
W. Wislicenus besonders empfehlen, sowie auch die 
in einem der neueren Jahrgänge von „Aus dem 
Archiv der Deutschen Seewarte“ enthaltenen Ein¬ 
zelaufsätze aus diesem Gebiete. — Für Beobach¬ 
tungen mit blossem Auge oder mit einem kleinen 
Fernrohre ; eignet sich z. B. die regelmässige Be¬ 
trachtung der Sonne bezüglich der auf ihr sicht¬ 
baren Flecken; wenn diese Beobachtungen auch 
anderwärts mit grossen Hülfsmitteln gemacht wer¬ 


den. so sind dodi auch zusammenhängende länjgere 
Reihen von möglichst verschiedenen Orten, die ja 
nicht alle gleichmässige Witterungsverhältnisse 
haben, von Wert. Beobachtungen des Mondes, die 
einigen Wert haben sollen, bedürfen schon stärke¬ 
rer Instrumente. Wohl aber sind regelmässige Be¬ 
obachtungen von Sternbedeckungen durch den Mond 
wertvoll, sobald es möglich ist z. B. durch Ver¬ 
mittelung eines Telegraphenamtes auf Grund der 
täglichen Uhrsignale eine genaue Zeitangabe (bis 
airf Bruchteile der Sekunde) zu beschaffen. Auch 
die Eintritte und Austritte der Jupitermonde in und 
aus dem Chatten des Planeten sind von Interesse, 
wenn längere Reihen geliefert werden können und 
die Qualität des benutzten Fernrohres angegebeh 
wird. Die genäherten Vorausberechnungen dieser 
Phänomene sowohl wie die übrigen bei astronom. 
Beobachtungen nötigen Daten; Orte der Ge¬ 
stirne, Stemzeit im mittleren Mittag, Zeitglei¬ 
chung etc. etc. enthält in völlig ausreichender 
Weise das „Nautische Jahrbuch*^, welches vom 
Reichsamt des Innern herausgegeben wird. — Von 
besonderem Interesse aber sind die Beobacht¬ 
ungen der veränderlichen Sterne, von denen eine 
Anzahl in den verschiedenen Phasen ihrer Hellig¬ 
keit mit blossem Auge oder mit einem guten 
Opemglase verfolgt werden kann. Anleitung zu 
diesen Beobachtungen findet sich in den Abhand¬ 
lungen von j. Plassmannin Warendorf, welcher 
Herr auch in der oben genannten „Vereinig^getc.“, 
speziell dieses Gebiet vertritt. — Auch Beobacht¬ 
ungen des zu den Zeiten der Äquinoctien in unseren 
Breiten besonders bemerkenswerten Erscheinung des 
Zodiacallichies sind fast nur mit blossem Auge aus¬ 
führbar und von grosser Bedeutung. Es gehört 
dazu nur das Erfordernis eines freien abgelegenen 
Beobachtungsplatzes, damit der Beobachter mög¬ 
lichst ungestört durch künstliche Beleuchtung ist 
Da wir über die Natur dieses Phänomens noch 
gänzlich im Unklaren sind, ist jeder auf objektiver 
Beobachtung beruhende Beitrag von Wiert. — 
Zum Schluss möchte ich noch diejenigen Werkfe 
namhaft machen, welche eine allgemeine Orientier¬ 
ung am Himmel, wie sie zu den vorstehend ange¬ 
deuteten Beobachtungen meist erforderlich ist, ermög¬ 
lichen. Dahin gehört vor allem die „Uranometna 
nova“ von Argelander, ein Sternatlas, welcher alle 
Sterne bis zur 6. Grösse herab enthält; der Stern¬ 
atlas V. Heis und ein zur schnellen Orientierung 
dienender Atlas, welcher nur die Sterne bis zur 
4. Grösse enthält, von Dr. E. Grossmann. Ausser¬ 
dem ist aber auch der kleine Himmelsglobus von 
Rohrbach in Gotha sehr zu empfehlen, der etwa 
den zuletzt erwähnten Karten entspricht. — Die 
Astronom. Bilder v. Valentiner leisten manche An¬ 
regung, ebenso scheint der Atlas der Himmelskunde, 
welcher gegenwärtig unter der Redaktion von 
Schweiger ■ Lerchenfeld unter Mitwirkung berOlmi- 
ter Faaimäner bei Hartleben in Wien erscheint, 
sowohl bezüglich der Darstellung der Himmelskör¬ 
per, namenmch des Mondes als auch in Hinsicht 
der Beschreibung der instrumentalen Ausrüstung 
der Observatorien Hervorragendes zu leisten, a. 


No. 99 der Umscbaa wird enthalten; 

Neubaur, Die deutschen Kolonien. I. Ostafrika (Schluss). — 
— Francs, Das tierische Chlorophyll. — Mflsebeck, Frie^ich 
der Grosse. — Bruinier, Ein Wort aber Grammatik. 


G. Horatmann’a Druckerei. Frankfurt a. M. 


X 


Dii;ilized by v^ooQle 



DIE UMSCHAU 

ÜBERSICHT ÜBER DIE FORTSCHRITTE UND BEWEGUNGEN AUF 
DEM GESAMTGEBIET DER WISSENSCHAFT, TECHNIK, 
LITTERATUR UND KUNST 

heraucgegebcD von 

DR. J. H. BECHHOLD 


Wöchentlich eine Nummer. 

Zu beziehen durch 
eile Buchhandlungen und 
Po&tanstalten. 

Poatzeitungspreisliste No. 7331 a. 

Verlag von: 

H. Bechhold Verlag, Fraakfurt a. M. 


Neue Krame 1991. 


Preis vierteljährlich 
M. 3.^. 

Jahres*AI>onnement 
Preis M. 10.-. 

Im Ausland nach Court. 
Verantwortlicher Redakteur: 

Otto Adolf Wolters, Frankfurt a. BL 


22. I. Jahrg. 


Nachdruck aus dem luhaÜ der Zeitcchrif! ohne ErlatdmU 
der Redaktion verboten. 


1897. 29. Mai. 


Friedrich der Grosse und der Ursprung des 
siebenjährigen Krieges. 

Von Dr. Ernst MOseheck. 

Wohl Ober keine der historischen Per¬ 
sönlichkeiten, die den Lauf der Weltge¬ 
schichte mit ihren Ideen und ihrem Handeln 
in neue Bahnen gelenkt haben, wird in den- 
letzten Jahren ein so erbitterter Streit geführt 
wie Ober Friedrich den Grossen. Den Ge¬ 
genstand der Diskussion bildet die fOr die 
Auffassung der ganzen Persönlichkeit so wich¬ 
tige Frage, ob und inwieweit Friedrich der 
geistige Urheber des siebenjährigen Krieges 
gewesen sei. 

' Seit den Untersuchungen von v. Arneth, 
L. v. Ranke und Beer im Anfang der 
siebziger Jahre galt als feststehende That- 
sache, dass die Verhandlungen des Kaiser¬ 
hofes 1756 in ein solches Stadium gekom¬ 
men seien, das fOr Preussen unmittelbar eine 
Gefahr in sich schloss; dass Friedrich der 
Grosse dieser mit seinem Einbruch in Sach¬ 
sen züvorzukommen suchte, kurz dass der 
eigentliche Motor des Krieges Graf Kaunitz 
gewesen sei. 

Da trat vor einigen Jahren Max Leh¬ 
mann mit einer Arbeit hervor, die Friedrich 
den Grossen als den geistigen Urheber des 
Kampfes zu stempeln versuchte.’) Seine Lage 
sei 1756 nicht so gefährdet gewesen und 
von ihm auch nicht so gefährdet angesehen 
worden; vielmehr war sie nach seiner An¬ 
sicht dazu angethan, einen längst gehegten 
Eroberungsplan auszuführen, Sachsen zu er¬ 
obern und seinem Staate einzuverleiben, und 
dieses durch Böhmen zu entschädigen. Zwar 
habe auch Österreich eine Offensive geplant, 
und so seien 2 Offensiven auf einander ge- 
stossen, allein nach Lehmann's Ansicht war 


‘) Friedrich der Grosse und der Ursprung des 
siebenjährigen Krieges. Leipzig 1894. 140 Seiten. 
Umschau 1897. 


die österreichische noch vollkommen hypo¬ 
thetisch, während die preussische ganz sicher 
war. 

Drei Beweise sind es, auf die er seine 
Ansicht zu stützen sucht: i) Friedrichs An¬ 
sicht von Angriffs- und Verteidigungskriegen 
überhaupt und seine Äusserungen und Mass¬ 
nahmen bis zum Jahre und im Jahre 1756; 
2) Militärische und politische Lage seiner 
Gegner in diesem Jahre; 3) Vorangang der 
preussischen Rüstungen vor den öster¬ 
reichischen. 

Die grossartigste Kundgebung friederici- 
anischen Geistes ist unstreitig das politische 
Testament vom Jahre 1752; in ihm wird das 
Projekt einer Broberung Sachsens, Westpreus- 
sens und Schwedisch-Pommerns als notwen¬ 
diger Ergänzungen des preussischen Staates 
behandelt. Friedrich hat zeitlebens die Ab¬ 
sicht verfolgt, jener Gebiete sich zu bemäch¬ 
tigen. Dies war auch 1756 sein Ziel. Da¬ 
rum eröffnete er wiederum den Kampf gegen 
Österreich. Mit diesen Offensivplanen stim¬ 
men seine allgemeinen Ansichten Uber An¬ 
griffs- und Verteidigungskriege überein. Nie¬ 
mals, so bemerkt er in den Pens^es et r^gles 
g^n^rales pour la guerre, fängt ein vernünf¬ 
tiger Mann einen Krieg an, in dem er ge¬ 
nötigt ist, von Anfang an defensiv zu han¬ 
deln; denn jeder Krieg, der nicht zu Erobe¬ 
rungen führt, schwächt den Sieger und ent¬ 
nervt den Staat; daher darf man es nicht zu 
Feindseligkeiten kommen lassen, bevor man 
nicht gute Aussichten hat, Eroberungen zu 
machen. 

Und wie stand es mit dieser Aussicht für 
Preussen 1756? Friedrich sah seine Lage 
als durchaus günstig an; er ist ruhig und 
guter Dinge; seinen Bruder August Wilhelm, 
der Besorgnisse über den Ausbruch des Krie¬ 
ges geäussert hatte, weist er darauf hin, ob 
er es denn nicht für ein Vergnügen halle, 
Sachsen zu demütigen oder besser gesagt zu 

33 




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382 MOsebeck, Friedrich der Grosse und 


vernichten, d. h. nach Lehmann es dem preus- 
sischen Staate einzuverleiben ? 

Diesen Anschauungen über seine politische 
Lage sollen auch seine Vorbereitungen ent* 
sprechen haben: er wartete nur bis zu dem 
Zeitpunkte mit dem Angriff, wo er selbst mit 
seinen Rüstungen fertig war und wo ihm die 
Äusserungen und Handlungen seiner Gegner 
einen speziosen Vorwand gegeben hätten. 
Dieser Zeitpunkt ist nach Lehmann eben im 
Jahre 1756 eingetreten. Seine Finanzen stan¬ 
den so gut, dass er den im politischen Tes¬ 
tament geforderten Bedarf für 4 Feldzüge, 20 
Millionen Thaler, fast beisammen hatte; Waf¬ 
fen zur Vermehrung des Heeres, Getreide 
und Mehl zu dessen Unterhaltung lagen an¬ 
gesammelt im Zeughaus und in den Maga¬ 
zinen; die kostspieligen, zur Sicherung von 
Schlesien unternommenen Festungsbauten 
waren 1756 beinahe vollendet; das Heer 
hatte er fast auf die im politischen Testament 
verlangte Höhe von 180000 Mann gebracht. 
— Alle Vorbereitungen zu einem erfolgreichen 
Offensivkrieg sah er 1756 erfüllt; es fehlte 
nur ein spezioser Vorwand. Und dieser wurde 
ihm von Russland gegeben durch seine Trup¬ 
penbewegungen nach der preussischen Grenze 
zu. Nun begann vom 17. Juni an auch Fried¬ 
rich zu rüsten, aber diese Rüstungen richte¬ 
ten sich nicht so sehr gegen Russland, als 
vielmehr gegen seinen Hauptgegner Öster¬ 
reich. Die schlesischen Festungen wurden 
Air eine Verteidigung in Stand gesetzt, die 
Magazine für Privatleute geschlossen und in 
Schlesien noch komplettiert; in der Gegend 
von Schweidnitz, Frankenstein und Neisse 
Fourage für 40 Sch^vadronen und 27 Batail¬ 
lone zusammengezogen; Pferde wurden an¬ 
gekauft, die Beurlaubten in ihre Regimenter 
eingezogen, Material für die Landmiliz, Be¬ 
spannung für die Artillerie und das Proviant¬ 
fuhrwerk herbeigeschaA; die mobilen bran- 
denburgischen und pommerschen Regimenter 
setzten sich in Bewegung, um den Beobachter 
zu täuschen und verwirrt zu machen; kurz, 
alles wies auf einen Ausbruch des Krieges 
seitens Preussens hin. Und doch noch ein 
monatelanges Zögern. Warum? Er wollte 
bei seinem doch itnmerhin gewagten Vorha¬ 
ben den Gegner möglichst tief in's Unrecht 
setzen, daher das Frage- und Antwortspiel 
mit dem Wiener Hofe im August, worüber 
kostbare Wochen vergingen. „Das heisse 
Verlangen, Sachsen zu erhalten, lähmte seine 
Offensive gegen Österreich und hinderte, 
dass in seinem Geiste so kühne strategische 
Pläne, wie er sie früher oder später gehegt 
hat, Wurzel schlugen.“ 

Friedrich musste in seinen Anschauungen 
über den zu beginnenden Offensivkrieg noch 


der Ursprung des siebenjähr. Krieges. 


bestäi'kt werden durch die politische und mi¬ 
litärische Lage seiner Gegner. Österreich 
war finanziell und militärisch arg erschöpA; 
alle von Maria Theresia angestrengten Re¬ 
formen hatten den Übeln, an denen dieser 
Staat schon seit langem krankte, der finanzi¬ 
ellen Verschuldung und dem schlechten Zu¬ 
stande seiner militärischen Organisation noch 
nicht abhelfen können. Allein war die Kai¬ 
serin nicht imstande, einem so kriegsgewal¬ 
tigen Gegner wie Preussen Widerstand zu 
leisten; sie musste nach Bundesgenossen 
suchen, wenn sie noch einmal das Kriegs¬ 
glück gegen Friedrich versuchen wollte. Von 
allen Preussen feindlich gesinnten Mächten 
war zuerst die Kaiserin Elisabeth von Russ¬ 
land zu einem Bündnis bereit. Schon 1746 
kam es zwischen beiden Mächten zu einem 
DefensivbOndnis, und im März 1756 konnte 
Esterhazy, der österreichische Gesandte in 
Petersburg, seiner Herrin melden, dass Elisa¬ 
beth bereit sei, 80000 Mann in’s Feld zu 
stellen und die Waffen nicht eher niederzu¬ 
legen, als bis sie Ostpreussen, Maria Theresia 
Schlesien urul Glatz erobert habe. In Russ¬ 
land begann man eifrig zu rüsten; da lief 
plötzlich am 22. Mai der Befehl an den öster¬ 
reichischen Gesandten ein, die Rüstungen zu 
hihtertreiben. Die von russischer Seite be¬ 
antragten Artikel eines Offensivbündnisses 
wurden unbeantwortet gelassen. Und der 
Grund zu dieser plötzlichen Schwenkung? 
Kaunitz war nach Lehmann der Meinung, 
dass das Bündnis mit Russland allein noch 
nicht zu dem Kriege gegen Preussen genüge; 
auch setzte er kdn rechtes Vertrauen auf die 
Ausdauer und Haltung dieses Staates. Nicht 
eher wollte er den Wettkampf wagen, als 
bis er für England, das ja durch die West- 
minsterkonvention sich für Preussen erklärt 
hatte, eine dritte Macht gewonnen hätte: 
Frankreich. Verhandlungen waren in Paris be¬ 
reits angeknÜpA, aber zu einem Offensiv¬ 
bündnis gegen Preussen verspürte man keine 
Neigung. Diese Haltung Frankreichs übte 
eine Rückwirkung aus auf das Verhältnis 
Österreichs zu Russland und bewirkte obige 
Ablehnung der russischen Anträge. Elisa¬ 
beth zeigte sich den Wünschen Österreichs 
willig und zog ihre Truppen wieder in das 
Innere zurück. 

So die politische und militärische Lage. 
Da begann am 17. Juni Preussen seine Rüst¬ 
ungen, und bereits am Ende des Monats war 
die HälAe der Armee kriegsbereit. In Öster¬ 
reich dagegen dachte man noch nicht an 
ernsthafte Vorbereitungen zu einem Kriege. 
Erst am 6. Juli trat die Rüstungskommission 
zusammen, „in Wien wollte tnan nur Sicher¬ 
stellung gegen eine preussische Invasion.** Lang- 


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Müsebeck, Friedrich der Grosse und der Ursprung des siebenjähr. Krieges. 383 


sam rückten 76920 Mann, an die am 16. Juli 
Marschbefehle ergangen waren, der schle¬ 
sischen Grenze zu, und erst seit dem 20. Aug,, 
als Friedrich jene Anfragen an den Wiener 
Hof stellen Hess, die einer Kriegserklärung 
gleichkamen, wurden die Rüstungen eifriger 
betrieben. Es war bereits Mitte September, 
als die letzten österreichischen Regimenter 
in ihren böhmischen Lagern ankamen. Hätte 
Friedrich sofort nach Beendigung seiner Rüst¬ 
ungen das feindliche Heer angegriffen, so 
würde er es in einem völlig unfertigen Zu¬ 
stande getroffen haben. Der lange Aufent¬ 
halt in Sachsen hat die österreichische Armee 
gerettet. 

Durch diesen Friedensbruch des preus- 
sischen Königs ist erst das offensive Bünd¬ 
nis gegen ihn zustande gekommen; erst da¬ 
durch wurde Frankreich seinen Feinden völ¬ 
lig in die Arme getrieben. Er ist das trei¬ 
bende Element', mögen auch Maria Theresia 
und ihr Staatskanzler den Gedanken an eine 
Demütigung Preussens nie aufgegeben haben, 
der eigentliche, geistige Urheber des sieben¬ 
jährigen Krieges ist Friedrich der Grosse 
gewesen. 

Völlige Zustimmung fand Lehmann^s glän¬ 
zende Darstellung unter den namhaften His¬ 
torikern nur bei H. Delbrück in einer 
Reihe von Aufsätzen in den „preussischen 
Jahrbl^chern“, der jenen Beweisen d^ Göb 
tinger Historikers, die er als feststehend und 
auf unwiderleglichen Thatsachen beruhend 
annahm, noch einen vierten hinzufügte: den 
psychologischen, der auf Laien anfangs im¬ 
mer einen bestechenden Eindruck machen 
wird. Preussen bedurfte notwendig eines 
geographischen Zusammenhanges zwischen 
den Provinzen Preussen, Brandenburg und 
Schlesien; er konnte nur hergestellt werden 
durch eine Besetzung von Westpreussen und 
Sachsen. Friedrich hat die IVotwendigkeit 
dieser Eroberungen sicher erkannt. „Hat ihm 
der Wille gefehlt, so schliesst Delbrück, die 
preussische Politik unter den wechselnden 
internationalen Kombinationen auf diesen 
Punkt mit der kühnen Entschlossenheit des 
Eroberers hinzuführen, so ist in seinem We¬ 
sen eine Lücke, die nur mit Plattheiten aus¬ 
gefüllt werden kann"! Erst nachdem er diese 
psychologische Forderung erhoben hat, geht 
er auf eine Prüfung der thatsächlichen Ver¬ 
hältnisse ein, schlägt also gerade den umge¬ 
kehrten Weg ein, den die historische Forsch¬ 
ung zu gehen hat. Dabei findet er, dass 1756 
die Lage in der That so günstig gewesen 
ist, dass Friedrich hoffen konnte, sein Ziel 
zu erreichen. Auf dieser Basis wird es für 
ihn zu einer psychologischen Notwendigkeit, 
dass Friedrich diesen Weg eingeschlagen hat. 


II. 

Im übrigen brachten die Historiker diesem 
Resultat, das einst der ultramontane Preus- 
senhasser Onno Klopp in seinem Übereifer 
schon gefunden hatte, von vornherein gros¬ 
ses Misstrauen entgegen. Eine Reihe von 
Untersuchungen entstand, aber nur wenige 
schlugen die gleichen Bahnen ein wie Leh¬ 
mann-Delbrück. Koser, Wiegand, Ul¬ 
mann, Berner, Heigel, Mareks u. a. wi¬ 
derlegten einzelne Punkte dieser Darstellung. 
Eine systematische Widerlegung erfuhr sie 
erst von dem Forscher, der in jener Schrift 
in so gehässiger Weise angegriffen war: A. 
Naudö in seinen Beiträgen zur Entstehungs¬ 
geschichte des siebenjährigen Krieges. Hat¬ 
ten jene Forscher sich darauf beschränkt, aus 
den gedruckten Quellen, vor allem der po¬ 
litischen Korrespondenz Friedrichs des Gros¬ 
sen, der neuen Auffassung entgegenzutreten, 
i so betrat dieser einen ganz neuen Weg: er 
! folgte seinen Gegnern nach und schlug sie 
mit denselben Waffen, die sie gegen ihn 
anzuwenden versuchten. Die politische Kor¬ 
respondenz war von Lehmann in seiner Be¬ 
weisführung gänzlich bei Seite gelassen wor¬ 
den : pr wies sie als verdächtig und irrefüh¬ 
rend zurück und konstruierte sich eine neue 
„echt^“ Quelle, auf der er sein Bauwerk auf- 
, richtete^. Als solche „echte“ Quellen be¬ 
trachtete er nur das politische Testament vom 
Jahre 1752 und die österreichischen Akten. 
Ihnen wandte sich Naudä in seinen Bei¬ 
trägen zu und zeigte, wie Lehmann diese von 
ihm selbst als echte und unverdächtige Quellen 
bezeichneten Aktenstücke von einem ganz ein¬ 
seitigen Standpunkte aufgejasst hat. 

Die Grundanschauung des politischen Tes¬ 
tamentes ist nach Lehmann eine gegen Öster¬ 
reich feindliche; er konnte zu dieser Auf¬ 
fassung nur kommen, indem er sich auf den 
Abschnitt berief, den der König selbst als 
„Röveries politiques" bezeichnete, während 
hingegen der Teil, den dieser mit den Wor¬ 
ten charakterisiert: „Voici pour le solide et 
pour le fond de conduite, qu’il convient de 
tenir dans cet Etat“ wenig beobachtet wird. 
Dieses eigentliche Programm des Königs ist 
durchaus friedliebend. Erst wenn eine voll¬ 
ständige Umgestaltung der politischen Lage 
Europa’s eingetreten ist, wird es Zeit für 
Preussen sein zu handeln, obwohl es selbst 
dann noch nicht nötig ist, dass es als erstes 
auf dem Kampfplatz erscheint. Also: Preus¬ 
sen soll in Zukunft nicht das zum Kriege 
treibende Element sein, sondern das abwar- 

*) Sonderausgabe aus den Forschungen zur 
brandenbui^ischen und preussischen Geschichte. 
(VIII. 2 u. IX.) ; Leipzig 1896. 

22* 


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384 Müsebeck, Friedrich der Grosse und der Ursprung des siebenjähr. Krieges. 


tende, alle Eventualitäten wohl erwägende. 
Die Mitteilungen Lehmann’s aus dem leider 
noch nicht veröffentlichten Testament erge¬ 
ben sich sämtlich als unzuverlässig und un¬ 
genau. 

Nicht anders steht es mit den österreich¬ 
ischen Akten. Zwei Thatsachen sind es, zu 
denen Lehmann auf Grund derselben gelangt: 

1) Die Österreicher ftlhlen sich erst durch 
die Rüstungen Friedrichs im Juni beunruhigt 
und ergreifen deshalb Defensivmassregeln; 

2) Kaunitz war im Sommer 1756 in grosser 
Besorgnis wegen des Abfalls der Russen; 
auch in Frankreich sollen die Verhältnisse 
noch sehr unsicher gewesen sein. Also: 
Militärisch und politisch war Österreich durch¬ 
aus noch nicht in der Lage, um einen Offen¬ 
sivkrieg gegen Preussen zu beginnen. 

In der That war die Sachlage ganz an¬ 
ders: Schon seit April betrieb Österreich im 
Geheimen seine offensiven Rüstungen; aber 
sie konnten in diesem Jahre noch nicht fer¬ 
tiggestellt werden; und dies ist der Grund, 
weshalb Kaunitz Esterhazy jene Note zukom¬ 
men Hess. Die Rüstungen wurden eifrigst 
fortgesetzt und seit Anfang Juni, seit der Ein¬ 
setzung der Rüstungskommission, ganz offen 
betrieben. JCaunitz konnte ganz ruhig den 
Angriff auf das nächste Jahr verschieben, weil 
er auf Russland ganz sicher vertraute und weil 
Frankreich bereits für das neue politische 
System gewonnen war, es handelte sich nur 
noch um eine grössere oder geringere Be¬ 
teiligung an dem Kampfe, ohne dass dessen 
Ausführung selbst dadurch irgendwie beein¬ 
trächtigt wurde. 

Ebenso sind die Beweise hinfällig, die 
Lehmann aus dem Verhalten Friedrichs für 
eine preussische Offensive anzuführen ver¬ 
sucht. Von den Bedingungen, die der König 
in dem politischen Testament als zu einem 
Offensivkriege unbedingt nötig hingestellt 
hatte, ist noch keine einzige erfüllt. In den 
Massnahmen für das Heer lässt sich ein so 
weitgehender Plan nicht im geringsten ver¬ 
folgen. Im Gegenteil: die Massnahmen, die 
Friedrich ergreift, deuten alle daraufhin, dass 
er Frieden halten will. Von einer Kriegsbe¬ 
reitschaft und Mobilmachung des preussischen 
Heeres ist keine Rede. Kann es ihm da je¬ 
mand verargen, wenn er in den Tagen vom 
19. —28. Juni, als die Kriegswolken sich immer 
mehr zusammenballten, und er sich von Russ¬ 
land bedroht glaubte, seinerseits für seine 
Staaten eine Reihe von Sicherheitsmassregeln 
traf? Als solche, nicht als offensive Pläne 
gegen Österreich haben wir jene Anordnungen 
aufzufassen, die Friedrich im Juni /7/d 
gegen Russland in erster Linie, dann auch 
gegen Österreich auszuführen befahl. 


Und mit diesem thatsächlichen Verhalten 
stimmen auch seine Aussprüche in der poli¬ 
tischen Korrespondenz auf das beste überein. 
Frieden will er halten, so lange es sich mit 
der Ehre seines Staates verträgt. Er freut 
sich, dass Sachsen nicht, wie Lehmann es 
auslegt, vernichtet oder gar Preussen einver¬ 
leibt werden soll, sondern dass er es durch 
die Westminsterkonvention zu einer politischen 
Null herabgedrückt hat, indem er es der 
finanziellen Unterstützung Englands beraubte. 
Die Politik Friedrichs 1756 ist nur eine Fort¬ 
setzung der friedlichen Bemühungen, die er 
seit einem Jahrzehnt eingeschlagen hat und 
denen er durch das Bündnis mit England 
festere Bahnen zu geben hoffte. Gerade hier 
hatte er sich verrechnet. Diese Konvention 
wurde der Anlass zu der völligen Umwand¬ 
lung der politischen Konstellation Europa’s, 
ganz wider seine Absicht. Die Macht der 
Verhältnisse erwies sich stärker als sein Wille. 
Der Stein war ins Rollen gekommen, er 
konnte ihn nicht mehr aufhalten. Erst als 
alle seine Bemühungen, den Frieden zu er¬ 
halten, gescheitert waren, beschloss er wenig¬ 
stens seinem Gegner zuvorzukommen, ehe die¬ 
ser seine Rüstungen vollendet hatte und nun 
mit seinem politischen und militärischen Über¬ 
gewicht über ihn herfallen konnte. — 

Ein grosses Gelingen des Menschen und 
sein Übermut sind meistens unzertrennliche 
Nachbarn. Ein grosser Wurf war Friedrich 
dem Grossen in den beiden ersten schle¬ 
sischen Kriegen gelungen; mit jugendlichem 
Mute hatte er die gute Gelegenheit ergriffen, 
die Mittel, welche seine Vorfahren ihm hin¬ 
terlassen,- benutzt und seinen Staat aus der 
Reihe der Kleinstaaten herausgehoben. Frei¬ 
lich zu den Grossmächten durfte Preussen 
sich noch nicht zählen. Dazu fehlte ihm 
nicht sowohl die Grösse als die Geschlossen¬ 
heit seiner Grenzen und die starke Macht 
der Überlieferung. Friedrich hat dies wohl 
erkannt und Zeit seines Lebens danach ge¬ 
strebt, dem abzuhelfen. Nicht das ist die 
Frage, ob er überhaupt jemals nach 1745 
mit Angriffsgedanken sich getragen, sondern 
ob er sie 1756 verfolgt hat. Vermessenheit 
und übermütiges Beginnen wäre es gewesen, 
hätte er damals an ein offensives Vorgehen 
gedacht. Schon längst hatte sein Jugendeifer 
einem ruhigen, besonnenen Handeln Platz 
gemacht. Und 1756 handelte er nur zu be¬ 
sonnen! Der alle Eventualitäten eines Frie¬ 
dens bedenkende Staatsmann vergass es zur 
rechten Zeit zum Schwerte zu greifen und 
entschlossen vorzugehen; ganz anders hätten 
sich die ersten Feldzüge des kommenden 
Krieges gestaltet! Von einem dämonischen, 
einem faustischen Friedrich, der eine Welt 


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Neubaur, Die deutschen Kolonien. 


385 


in Trümmer schlagen und zu gleicher Zeit 
Sachsen, Westpreussen und Schwedisch-Pom» 
mern erobern will, ist keine Rede. Eine ab¬ 
solute Notwendigkeit der Abwehr hat ihm 
das Schwert in die Hand gedrückt. Wun¬ 
derbare Ironie der Weltgeschichte! Jene 
Mächte, die Preussen vernichten wollten, bo¬ 
ten in demselben Augenblicke dem grössten 
Herrscher dieses Staates in seiner friedfer¬ 
tigsten Haltung wider seinen Willen die Ge¬ 
legenheit dazu, sich über jene beiden Be¬ 
dingungen, deren eine Grossmacht sonst be¬ 
darf, hinwegzusetzen, sich die erste Stellung 
im europäischen Staatenkonzerte zu erringen 
und den Deutschen zu zeigen, welche ur¬ 
wüchsige Heldenkraft in diesen verachteten 
Marken ihres Vaterlandes wohnte. 


Die deutschen Kolonien. 

Von Dr. Neusaur. 

I. Deulschostafrxka. 

(Schluss.) 

Um die im Vorstehenden erläuterten Ziele 
zu erreichen, gilt es vor allen Dingen bessere 
Verkehrsverbindungen in das Innere zu schaf¬ 
fen. Der gesamte bisherige Handel Inner¬ 
afrikas bewegt sich auf den Köpfen der Neger. 
In Lasten von je 60 Pfund geht der gesamte 
Import von der Küste nach dem Innern und 
der Export vom Innern nach der Küste zu¬ 
rück.. Die früheren Sklaventräger sind durch 
freie Träger ersetzt, die meist aus den Stäm¬ 
men der Wanyamwesi und Wassukuma, zum 
geringeren Teil aus den Manyema sich re¬ 
krutieren, aber auch aus allen möglichen an¬ 
deren Stämmen. Mit dieser Art des Handels¬ 
verkehrs sind die grössten Schwierigkeiten 
verbunden. Zunächst dauert der Transport 
enorm lange. Eine Karawane braucht bis zum 
Tanganika-See etwa vier Monate, bis zum 
Victoria 3 Monate, bis zum Nyassa 2 — 2*/* 
Monate. Wenn eine Karawane rentieren soll, 
muss sie aus mindestens einigen hundert 
Köpfen bestehen, wächst aber in vielen Fällen 
auf 5 — 6000 ~ 7000 Köpfe. Es wächst gleich¬ 
zeitig die Schwierigkeit der einheitlichen Leit¬ 
ung und Aufsicht. Je grösser die Karawane, 
desto häufiger die Übergriffe der Träger, die 
Diebstähle und Plünderungen in den durch¬ 
zogenen Gebieten, und daraus wieder ergeben 
sich Unzufriedenheit der Bevölkerung in den 
durchzogenen Landstrichen und Auswandern 
derselben von den Karawanenstrassen fort. 
Die Karawanenstrassen sind i * 1 » — 2 Fuss breite 
Wege, welche sich ohne Rücksicht auf die 
Abkürzung der Entfernung lediglich nach den 
Wasserplätzen und nach der Möglichkeit der 


Verpflegung richten. Alle paar Jahre kommt 
eine Verlegung der ganzen Karawanenstrasse 
vor, denn diese muss ja notwendigerweise 
den ausweichenden Dorfschaften nachfolgen. 
Also alles in allem unhaltbare Verhältnisse, 
die gerade nur so lange gingen, als der 
Handelsverkehr kein allgemeiner war, son¬ 
dern nur von dem Bedürfnis des einzelnen 
arabischen oder indischen Kaufmanns abhing. 
Die Erschliessung Innerafrikas durch Ver¬ 
kehrswege nach europäischem Muster, seien 
es gebahnte Strassen, zugänglich für Lasttiere 
und Fuhrwerk, oder seien es Eisenbahnen, 
ist heute eine unabweisbare Notwendigkeit. 
Die letzteren werden natürlich unausbleiblich 
dort angelegt werden müssen, wo entweder 
der Wettbewerber bereits mit einem solchen 
Verkehrsweg vorgegangen ist und uns zur 
Behauptung unserer dominierenden Stellung 
zu derselben Massnahme zwingt oder aber 
dort, wo Europäer, das heisst Deutsche, in 
Mengen angesiedelt werden können und durch 
ihre blosse Anwesenheit einen Bahnverkehr 
rentabel machen. 



Die drei Punkte, iim die es sich rück¬ 
sichtlich der Anlegung von Verkehrswegen 
in der Gegenwart handelt, sind der Viktoria- 
See, der Tanganika und der Nyassa. Zu den 
Verkehrswegen selbst muss ein Dampferver¬ 
kehr auf den genannten Seen hinzugefügt 
werden, um die um die Seen herumliegenden 
Gebiete in engen Zusammenhang mit unseren 
eigenen Stationen zu bringen. Um welche 
Grössenverhältnisse es sich dabei handelt, 
mag nur durch einige flüchtige Ziffern be¬ 
wiesen werden: Der Viktoria-See ist 85,000 
qkm gross, also sogross wie Bayern und Würt- 


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386 


Neubaur, Die deutschen Koi.oNfEN. 


temberg zusammengenommen, der Tanganika- 
See ist 70 deutsche Meilen lang (etwa so 
weit wie Frankfurt a. M. von Breslau), der 
Nyassa 60 deutsche Meilen. Die Schnellig¬ 
keit des Verkehrs steigert denselben, steigert 
die kulturelle Thätigkeit und bringt alle die 
Vorteile mit sich, die wir ja in den alten 
Erdteilen bereits kennen. 

Was die Besiedelungsfähigkeit Dcutschost- 
afrikas anlangt, so kommen dafür zwei Ge¬ 
bietsteile in Frage. Der eine derselben sind 
die Nyassa-Hochländer, auf denen Hundert¬ 
tausende von deutschen Bauern angesiedelt 
werden können und in der Lage sein wer¬ 
den, ohne Schädigung ihrer Gesundheit ihr 
Dasein zu führen. Der andere Punkt sind die 
Abdachungen des Kilimandjaro, jenes mehr 
als 19,000 Fuss hohen Gebirgsstockes, wel¬ 
cher in einer Entfernung von nur 14 Tage¬ 
märschen von der Küste sich an der Grenze 
gegen das englische Gebiet erhebt. Die Zahl 
der Ansiedler wird hier bedeutend kleiner 
sein müssen, wie im Nyassa-Hochland, aber 
ebenso wie dort kommt ein Moment im höch¬ 
sten Grade zur Geltung, nämlich die Not¬ 
wendigkeit, durch eine geschlossene deutsche 
Ansiedelung ein Bollwerk gegen das Vor¬ 
dringen des englischen Wettbewerbes und 
gleichzeitig ein Kulturmoment zu schaffen, 
welches für die ganze Zukunft unserer Ko¬ 
lonie von entscheidender Bedeutung werden 
muss. 

Es erübrigt, die Ein- und Ausfuhr-Artikel 
namhaft zu machen, welche bereits in der 
Gegenwart in Deutschostafrika Eingang haben, 
bezw. als Hauptlandesprodukte zur Ausfuhr 
gelangen. Die Stapelartikel für die Einfuhr 
sind baumwollene Gewebe, Eisendraht, Mes¬ 
singdraht, Kupferdraht, Perlen, Regenschirme, 
eiserne Geräthe, Waffen, Munition (die letz¬ 
teren nur mit Erlaubnis des Gouvernements), 
landwirtschaftliche Geräte u. s. w. Die Aus¬ 
fuhr umfasst Elfenbein, Kautschuck, Erdnüsse, 
Kopal, Häute, Hörner, Kokosnüsse und Er¬ 
zeugnisse des Negerackerbaues. 

Von mindestens ebenso wesentlicher Be¬ 
deutung, ja höher anzuschlagen, als die Aus¬ 
dehnung der bestehenden kaufmännischen Be¬ 
ziehungen ist die Entwickelung Deutschost¬ 
afrikas als Produktionsland für Kolonialpro¬ 
dukte und Rohstoffe, deren wir in Deutsch¬ 
land bedürfen und die wir gegenwärtig vom 
Ausland beziehen müssen. Auch in letzterer 
Hinsicht haben sich die früher negativen An¬ 
schauungen auf Grund vorhandener Erfahr¬ 
ungen geändert. Wir wissen heutzutage, dass 
wir in Deutschostafrika ein für die Plantagen¬ 
kultur überaus geeignetes Land von hoher 
Fruchtbarkeit und von ausserordentlicher Er¬ 
tragsfähigkeit besitzen, welches ftlr den Plan¬ 


tagenbau wichtigster Produkte die besten Aus¬ 
sichten verspricht. 

Die Hauptproduktionen, um welche es 
sich dabei handelt, sind i) die Erträge der 
Kokospalme. Die Kokospalme kommt an der 
ganzen ostafrikanischen Küste und zwar tiefer 
ins Innere hinein als sonst irgendwo auf der 
Erde vor. Sachgemäss angelegte Plantagen 
seitens der Araber, seitens der Missionen und 
auch der Küstenbevölkerung sind bereits 
früher in Ausnutzung gewesen. In der Gegen¬ 
wart haben die europäischen Kräfte sich auf 
Grund vielfach ergangener Anregungen an 
die weitere Ausnutzung bzw. Neuanpflanzung 
von Kokospalmen herangemacht, so dass der 
gegenwärtige Bestand auf mehrere Millionen 
Palmen zu veranschlagen ist. 2) Kaffee. Es 
hat sich herausgestellt, dass der in Ostafrika 
Überall einheimische Kaffee bei rationeller 
Kultur ein Produkt liefert, welches allen über¬ 
haupt in den Handel kommenden Kaffeesorten 
überlegen ist. Die ersten Versuche mit dem 
rationellen Anbau sind seitens der katholischen 
Missionen gemacht und sehr bald von deut¬ 
scher Seite aufgegriflfen worden. Die Preis¬ 
bewertung des ostafrikanischen Plantagen¬ 
kaffees auf dem Hamburger Markt ist durch¬ 
weg eine sehr hohe gewesen. Die Kaffee¬ 
pflanzungen sind in fortwährender Ausdehn¬ 
ung begriffen und die Aussichten für den 
Kaflfeebau ausserordentlich vielversprechend. 
3) Zucker. Das Zuckerrohr ist ebenfalls ^chon 
von aTtef'shef seitens der Eingeborenen und 
besonders seitens der Araber rationell kul¬ 
tiviert worden. Die Pangani - Ebene ist von 
Zuckerrohrpflanzungen ausgefüllt. Der Absatz 
(vorläufig nach Indien) eröffnet die besten 
Aussichten. Der Export von Zucker im Jahre 
1895 3us Ostafrika wurde auf 2'*» Millionen 
Pfund geschätzt. Auch dieses Produktes hat 
der deutsche Unternehmungsgeist sich bereits 
bemächtigt. 4) Vanille. Die ersten Versuche 
mit Vanille in Deutschostafrika sind seitens 
der Missionen in Bagamoyo im Kleinen an¬ 
gestellt und von Erfolg gekrönt worden. 
Gegenwärtig sind mehrere deutsche Pflanz¬ 
ungen für Vanille eingerichtet. 5) Kakao. Der 
Anbau von Kakao befindet sich noch im Ver¬ 
suchsstadium. Augenblicklich ist derselbe in 
Angriflf genommen auf drei später zu erwäh¬ 
nenden Plantagen. 6) Tabak. Die Tabaks¬ 
pflanze ist in Ostafrika überall einheimisch 
und sehr verbreitet. Die Ausfuhr von Ein¬ 
geborenen-Tabak übersteigt im Jahre 1894 
den Wert von 250,000 Mark. Seitens deut¬ 
scher Unternehmer sind bedeutende Erfolge 
mit Tabak bisher noch nicht erzielt worden, 
doch scheint es, nach den neuesten Erfahr¬ 
ungen, dass die Ländereien um die Rufidji- 
Mündung herum ein wertvollesPflanzungsgebiet 


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Neubaur, Die deutschen Kolonien. 


387 


ftir Tabak abgeben werden. 7) Baumwolle. 
Auch die Baumwollenstaude ist in Ostafrika 
einheimisch. Die grösseren Kulturen von 
Baumwolle befinden sich um den Viktoria- 
See herum, insbesondere in Uganda und wer¬ 
den dort gegenwärtig von den Engländern 
aufgegriffen. In Deutschostafrika haben wir 
bisher nur eine Baumwollenplantage gehabt. 
Dieselbe hat jedoch ihren Betrieb einge¬ 
schränkt, ohne dass dafür ein ausreichender 
Grund ersichtlich ist. 

Die hier aufgeftShrten Kolonialprodukte 
sind insgesamt Stapelartikel des Weltmarkts. 
Die deutsche Einfuhr an Kaffee beträgt jähr¬ 
lich 240 Millionen Mark, an Baumwolle 230 
Millionen, an Tabak etwa 200 Millionen. 
Diese Hinweise mögen genügen, um den 
ausserordentlichen Wert des rationellen An¬ 
baues dieser Kulturpflanzen in unseren Schutz¬ 
gebieten zu beleuchten. 

Vorläufig sind flSr Plantagenbau in Deutsch¬ 
ostafrika in Angriff genommen die Landschaft 
Usambara, die nördlichste unserer Küsten¬ 
landschaften. In Usambara handelt es sich im 
wesentlichen um das Handei-Gebiet undWest- 
Usambara. Die betreffenden Landstrecken 
liegen in einer Meereshöhe, welche für den 
Plantagenbau als die geeignetste angesehen 
werden muss und bieten in ihren Boden-, 
Vegetations- und Bewässerungsverhältnissen 
anscheinend vorläufig die günstigsten Aus¬ 
sichten. Dazu kommt der Umstand, dass die 
Usambara-Eisenbahn bereits jetzt in einer 
Strecke von 45 Kilometern, nämlich von Tanga 
bis Muhesa befahren wird und ihre weitere 
Ausdehnung bis Korogwe (75 km von der 
Küste) in naher Aussicht steht. Wahrschein¬ 
lich wird die Bahn bis zu dem Kilimandjaro 
oder über denselben hinaus bis an den Vik- 
toria-Nyanza weitergeführt werden. Weitere 
überaus günstige Plantagengebiete liegen in 
Usagara, ferner in den Ngurubergen und im 
Süden unseres Schutzgebietes bei Lindi, so¬ 
wie im Rufidji-Delta u. s. w. Man darf nicht 
vergessen, dass wir uns vorläufig noch im 
Anfangsstadium befinden und dass die Ab¬ 
neigung des deutschen Kapitals zur Beteilig¬ 
ung an solchen Unternehmungen erst hat 
überwunden werden müssen. 

Gegenwärtig allerdings liegen die Ver¬ 
hältnisse so, dass die in der Gründung be¬ 
griffenen Pflanzungen schnell zu Stande ge¬ 
kommen und meist überzeichnet worden sind. 

Die Erfolge, welche die Plantagenthätig- 
keit in Deutschostafrika bis jetzt aufzuweisen 
hat, sind mehr als nennenswert, sie sind von 
hoher prinzipieller Bedeutung. Wenn man 
bedenkt, dass erst seit etwa fünf Jahren der 
Plantagenbetrieb ungestört hat ausgeübt wer¬ 
den können, so dürfen wir mit den bisher 


erzielten Erfolgen zufrieden sein. Im Jahre 
1896 bestanden in Deutschostafrika 27 grössere 
Pflanzungen.’) 

Über die Plantagen im Bezirk Tanga ist 
Folgendes erwähnenswert: 

Im Berichtsjahre 1895 ’st die erste 
grössere Kaffeeernte von der Pflanzung der 
deutsch-ostafrikanischen Gesellschaft in Ham¬ 
burg auf den Markt gebracht worden und 
hat einen sehr hohen Preis erzielt. Für die 
neue Ernte hegt man die besten Hoffnungen. 
Gute Vanille lieferte die Pflanzung der Tanga- 
Plantagen-Gesellschaft. 

Die meisten Plantagen pflanzen in der 
Hauptsache nur Kaffee, je nach der Höhen¬ 
lage arabischen oder Liberiakaffee. Die Kaf¬ 
feekrankheit (Hemilei vastatrix) hat einen be¬ 
drohlichen Umfang glücklicherweise bisher 
nicht angenommen. Man hofft vielmehr, die¬ 
selbe durch rationelle Kultur einschränken zu 
können; die Verordnung, welche zur Ver¬ 
hütung der Einschleppung der Hemilei Des¬ 
infektion der von anderen Ländern einge¬ 
führten Kaffeesaat vorschrieb, wurde aufge¬ 
hoben, da diese Desinfektion der Keimfähig¬ 
keit des Kaffees erheblichen Abbruch that, 
hingegen ihren Zweck nicht erreichte, da die 
Hemilei vastatrix bereits Verbreitung gefun- 

‘) I. Bezirk Tanga, a) an der Küste: i) Pflanz¬ 
ung der Deutsch-Ostafrikanischen Gesellschaft bei 
Jassin an der englischen Grenze, 2) Pflanzung der¬ 
selben Gesellschaft bei Moa, 3) zwischen die^n 
beiden Pflanzungen wird gegenwärtig eine dritte 
angelegt, so dass schliesslich alle drei Pflanzungen 
zu einem grossen Komplex vereinigt sein werden, 
4) Pflanzung von Herrn Schiunke bei Potini, 5) 
Pflanzung der Tanga-Plantagengesellschaft östlich 
von Tanga, 6) Pflanzung derselben Gesellschaft 
westlich von Tanga, 7) Pflanzung derselben Gesell¬ 
schaft am Mkulumuzi, i Stunde westlich von 
Tanga, 8) Pflanzung der Westdeutschen Handels¬ 
und Plantagengesellschaft bei Kiumoni; b) inBondei: 
9) Pflanzung derselben Gesellschaft bei Magrotto 
auf dem Miingaberge, 10) Pflanzung des Herrn 
Mismahl am oberen Kihuhui, n) Pflanzung der 
Westdeutschen Handels- und Plantagen - Gesell¬ 
schaft zwischen dem Sigi- und Mkulumuzi 
(Plantage Schöller); c) in Ost-Usambara (Handei): 
Pflanzungen „Union“ der Deutsch-Ostafrikanischen 
Gesellschaft, bestehend aus: 12) der Pflanzung De- 
rema, 13) der Pflanzung Nguelo, 14) dem Vorwerk 
von Nguelo, früher „Union“ genannt, 15) der Pflanz¬ 
ung Herue und 16) der Pflanzung Lunguza. Ferner 
17) das Sigi-Pflanzungsuntemehmen, 18) Pflanzung 
der Usambara • Kaffeebaugesellschaft in Bula, 1^ 
Pflanzung der rheinischen Handei • Plantagengesell- 
Schaft, 20) Prinz Albrecht-Plantagen Kwa Mkoro, 
21) Pflanzung des Herrn Mismahl bei Ngua. d) in 
West-Usambara: 22) die Pflanzung Sakarre; II. Im 
übrigen Schutzgebiete: 23) die Plantage 
Lewa und Buschirihof der Dcutsch-Ostafrikanischen 
Plantagengesellschaft im Bezirke Pangani, 24) die 
Plantage der Deutsch-Ostafrikanischen Gesellschaft 
Kikogwe im Bezirke Pangani, 25) dieVanillenplantage 
Kitupeni im Bezirke Bagamayo (Hansing & Co.), 

26) die Plantage des Herrn Perrot bei Lindi und 

27) die Plantage des Herrn v. Quast bei Mikindani. 


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388 


Neubaur, Die deutschen Kolonien. 


den hat und, wie man wissenschaftlicherseits 
annimmt, entweder in Ostafrika heimisch ist 
oder durch einen sehr ähnlichen Pilz, der in 
gleicher Weise wirkt, vertreten wird. 

Die Pflanzungen der deutsch-ostafrikani¬ 
schen Gesellschaft bei Moa und Jassin kultivie¬ 
ren nur Kokosnüsse. Es sollen bis zu einer 
Million Bäume ausgepflanzt werden, damit 
dermaleinst diese Pflanzung die Grundlage 
zur Anlage einer Fabrik z\u- grösseren Ver¬ 
wertung der Kokosnüsse in Ostafrika bilden 
kann. * 

Im Bezirke der Station Moschi hat im 
Berichtsjahre die Kilimandjaro-Straussenzucht- 
Gesellschaft ihre Thätigkeit begonnen. Sie 
ist eine Gesellschaft mit beschränkter Haft¬ 
pflicht und will in 5 Jahren 400000 M. auf 
Straussen- und Zebrazucht verwenden. Neben¬ 
her sollen wissenschaftliche und zoologische 
Forschungen aller Art angestellt werden. 

Im Bezirk Pangani hat das Zuckersyndi¬ 
kat seine Thätigkeit noch nicht begonnen, 
was in anbetracht der günstigen Aussichten 
nur bedauert werden kann. Zweifellos wür¬ 
den unternehmende, mit tüchtigen Hülfskräf- 
ten arbeitende Kapitalisten, die sich in die¬ 
sem Distrikte der Zuckerrohrkultur mit Eifer 
annehmen, bei rationeller Bearbeitung und 
Betrieb ein glänzendes Resultat erzielen. 

Die Plantagen der deutsch-ostafrikanischen 
Plantagengesellschaft Lewa (Magila und Ko- 
koli) und Buschirihof arbeiten mit guten' Er¬ 
folgen. Wie aus der Statistik der Plantagen- 
Direkiion hervorgeht, wurde im vorigen Jahre 
die Tabaksernte von 1894 verladen, erzielte 
jedoch, in Amsterdam verkauft, keinen ge¬ 
nügenden Preis, um die Tabakkultur nach 
Sumatraweise weiter betreiben zu können. 
Wenn auch diese Ernte, was Verkaufspreis 
anbelangte, einen um ca. 100 Prozent höhe¬ 
ren Erlös als 1893 erreichte, so wurden die 
Betriebskosten doch lange nicht gedeckt. Im 
Jahre 1895 wurden von 30 Tabakfeldern, ca. 
70 Morgen, zusammen 50 028 Pfund geern¬ 
tet. Dieser Tabak dürfte in einigen Wochen 
zur Verladung kommen und wird hoffentlich 
einen besseren Preis wie die bisherigen Ern¬ 
ten erzielen. Als Hauptkultur wird dagegen 
jetzt die Kaffeekultur vorgenommen und sind 
bis jetzt ca. 350 000 Bäume ausgepflahzt. 
Ferner wurden als Nebenkultur ca. 10000 
Stück Kapockbäume ausgepflanzt. Der Liberia- 
Kaffee gedeiht vorzüglich und dürfte Mitte 
1898, vielleicht schon Ende dieses Jahres die 
erste Ernte zu erwarten sein. Ferner sind 
Hunderte von Saatbeeten angelegt, auf wel¬ 
chen sich alle möglichen Nutz- und Zier¬ 
pflanzen, Nutzhölzer und Schattenbäume und 
speziell Kautschukpflänzchen befinden. Ausser 
Kaffee wird sich Lewa speziell auf Anpflanz¬ 


ung von Kautschukbäumen legen. Als Schat¬ 
tenbaum wird fortan auf Lewa „Dadap" an¬ 
gepflanzt werden. Als Windschutzbäume sind 
die Johorebäume, welche ausserdem ausge¬ 
zeichnetes Bauholz liefern, ausgepflanzt wor¬ 
den. An ostasiatischen Arbeitern befinden 
sich auf Lewa ca. 90 Chinesen und Javaner, 
an Negern 400 bis 500, wovon ca. 150 Mo¬ 
natsarbeiter, der Rest freie Taglöhner aus 
dem Bondei - Gebiet sind. An Arbeitern 
herrscht kein Mangel mehr, und es werden 
während der Pflanzzeit bis zu 600 Menschen 
beschäftigt. Auf Buschirihof sind ca. 16000 
Kaffeebäume und Ca. 3000 Kokosnusspalmen 
ausgepflanzt. Die Pflanzung wird fortan un¬ 
ter Aufsicht eines Aufsehers von 15 — 20 Mo¬ 
natsarbeitern in Stand gehalten. Der Boden 
scheint für Kaffeekultur doch nicht recht ge¬ 
eignet zu sein und daher sollen in Zukunft 
nur Kokosnüsse hier kultiviert werden. 

Auf Xikogwe, Plantage der deutsch-ost¬ 
afrikanischen Gesellschaft, ist die Baumwoll- 
kultur, die zuerst als einzige Kultur ange¬ 
fangen wurde, fast ganz aufgegeben. Nur 
300 Morgen sind noch damit bepflanzt, im 
nächsten Jahre werden auch diese andere 
Kultur erhalten. Es wurden im letzten Jahre 
nur HO Ballen Baumwolle, pro Ballen 150 
bis 180 Pfund enthaltend, nach Zanzibar ver¬ 
kauft, wo dieselbe allerdings besser wie in 
Rotterdam bezahlt wurde. Vorläufig ist auf 
den früheren Baumwollfeldern jetzt Mtama 
(Negerhirse) gebaut. Im vorigen Jahr wur¬ 
den 1300 Zentner Mtama geerntet, in diesem 
Jahre stellen sich die Ernteerwartungen, da 
500 Morgen mit Mtama bepflanzt worden 
sind, auf 2500 — 3000 Zentner. Ein Zentner 
wird nur mit 3 Rupien bezahlt, so dass sich 
der Anbau im Europäerbetrieb nicht rentiert. 
Jetzt wird ein Versuch mit Faserpflanzen ge¬ 
macht werden und zwar ist zu diesem Zweck 
Sisalhanf gewählt worden. Ein Versuch mit 
100 Pflanzen ist äusserst günstig ausgefallen. 
Es bedarf diese Pflanze nur wenig Pflege 
und Feuchtigkeit. Ausserdem sind in Ki- 
kogwe 12000 Kaffeepflanzen ausgesetzt wor¬ 
den, die bis jetzt gut gediehen sind. Auf 
der Nebenplantage Mwera sind in diesem 
Jahre 25000 Kaffeepflanzen ausgesetzt und 
es wird beabsichtigt, die Zahl in diesem Jahre 
auf 100000 Stück zu erhöhen. Auf Kikogwe 
und Mwera zusammen sind ca. 300 Arbeiter 
beschäftigt, welche sich aus den Stämmen der 
Waniamwesi, Wassukuma und Wassuaheli re¬ 
krutieren. Der Monatslohn der Männer be¬ 
trägt IO, der der Weiber 6 Rupien.^) Fer¬ 
ner ist noch eine Plantage unter dem Namen 
„Friedrich Hoffmann-Pflanzung" im Entstehen 

•) I Silber-Rupie = M. 1,925. 


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France, Das „tierische Chlorophyll". 


389 


begriffen, die in dem Landstrich südlich des 
Pangani (Rufu) zwischen den Orten Makin- 
gumbi und Pongwe angelegt werden und aus¬ 
schliesslich der Liberia-Kaffeekultur dienen 
soll. 

Im Bezirk Bagamoyo betreiben die katho¬ 
lische Mission, sowie auf ihrer Pflanzung Ki- 
topeni die Firma Hansing & Co. die Vanille¬ 
kultur gegen das Vorjahr im grösseren Mass- 
stabe und besonders Kitopeni erweitert seine 
Anlagen fortlaufend derart, dass in einigen 
Jahren grosse lohnende Ernten zu erwarten 
sind und sich dann das in dem Unterneh¬ 
men angelegte Kapital wohl verzinsen wird. 

Im Bezirke Lindi ist auf dem Südufer des 
Hafens die im vorigen Jahre in Angriff ge- 
/lommene Plantage des Herrn Perrot aus 
Wiesbaden angelegt, welche einen Flächen¬ 
inhalt von rund 1534 Hektar hat. Auf der¬ 
selben befinden sich ein Wofinhaus, Küchen¬ 
haus, Stall, Laden ftlr die Bedürfnisse der 
Arbeiter und verschiedene kleinere Arbeiter¬ 
hütten. Hauptsächlich wird Liberia- und Bour¬ 
bon-Kaffee gepflanzt, daneben wird Kokos¬ 
palmen-, Vanillen- und Kolakultur getrieben. 
Allem Anschein nach hat der Kaffee aber 
die meiste Aussicht auf Erfolg. 

Im Bezirke Mikindani beabsichtigt Herr 
von Quast, der im Laufe der Jahre Baum¬ 
wolle, Sesam, Kokosnüsse und Zuckerrohr 
kultiviert hat, nunmehr hauptsächlich Kaffee 
^14,,. »feauen,,, Seine;, ..Kaffeepflänzlinge,...unter 
Mangobäumen gezogen, sollen die Höhe von 
20 — 30 cm erreicht haben, aber bisher nicht 
verpflanzt sein. Das Sigi-Unternehmen und 
die Pflanzung Sakarre sind für Kaffee be¬ 
stimmt. In der letzteren Pflanzung stehen 
bereits 30,000 Bäume im Felde und 300,000 
Bäume in den Saatbeeten, von denen 200,000 
noch im Mai ds. Js. zur Auspflanzung ge¬ 
langen sollen. 

Es erübrigt, einen kurzen Blick auf die 
Verwaltung Deutschostafrikas zu werfen. Nach¬ 
dem durch die Thätigkeit des Reichskorami^ 
sars V. Wissmann im Jahre 1889 und 1890 
der arabische Aufstand niedergeworfen war, 
ist Deutschostafrika zur Kronkolonie gemacht 
worden und hat in ihren Verwaltungsprin¬ 
zipien mehrere Wandlungen durchgemacht. 
Das Gouvernement Soden beschäftigte sich 
vorwiegend mit der Einrichtung der Verwalt¬ 
ung. Das Gouvernement v. Scheele hat 
seine Aufgabe darin erblickt, unruhige Stämme 
im Innern zu unterdrücken und das Verhält¬ 
nis der Militärgewalt zur Zivilgewalt zu re¬ 
geln. Das Gouvernement v. Wissmann hat 
dann unter Weiterflihrung und Beendigung 
der unter dem Gouvernement v. Scheele be¬ 
gonnenen Pazifizierung der Stämme im Innern, 
insbesondere der Wahehe (worin der Name 


Wissmann von ausschlaggebender Bedeutung 
geworden ist) sein Hauptaugenmerk der Be¬ 
förderung der Kulturarbeit und der Regelung 
prinzipiell wichtiger Fragen zugewandt. So 
ist unter Gouverneur v. Wissmann die Land¬ 
frage wenigstens in ihrem ersten Stadium 
geregelt worden, man hat der drohenden 
Landspekulation einen Riegel vorgeschoben, 
die überaus dringende Frage der Vermes¬ 
sung soweit angeregt, dass dieselbe gegen¬ 
wärtig ihrer ungestörten Weiterführung ent¬ 
gegensehen kann, und vor allen Dingen ist 
die Plantagenthätigkeit mit allen Mitteln be¬ 
fördert worden. Eine grosse Reihe von Ver¬ 
suchsplantagen sind von Seiten des Gouver¬ 
nements eingerichtet worden und gaben für 
den Pflanzer draussen die nötige Erfahrung 
und Grundlage ab. 

Das Gouvernement des Oberst Liebert 
bietet alle Aussichten dafür, dass auf der 
einmal beschnittenen Bahn weitergegangen 
wird. Das Gouvernement erblickt seine Auf¬ 
gabe darin, die kulturelle Thätigkeit nach 
jeder Richtung zu heben, den Handelsver¬ 
kehr unter den in dieser Arbeit oben 
gekennzeichneten Gesichtspunkten zu heben, 
Verkehrswege zu schaffen und der Plantagen¬ 
thätigkeit die grösstmöglichsten Erleichter¬ 
ungen zu gewähren. 

Wir dürfen hoffen, dass, zumal Störungen 
der friedlichen Thätigkeit menschlichem Er¬ 
messen nach nicht zu erwarten sind, unsere 
deutsch-ostafrikanische Kolonie, falls die, gros¬ 
sen hier mehrfach betonten Gesichtspunkte 
nicht aus den Augen verloren werden, sich 
zu einem überaus wertvollen, dem deutschen 
Volkswohle dienenden Gebietsteil des deut¬ 
schen Reiches auswächst. 


Das „tierische Chlorophyll“. 

Von Professor R. Fkance. 

Seitdem jener Zweig der wissenschaftlichen 
Naturforschung, welcher, nach Haeckel’s Vor¬ 
gang jetzt allgemein zXs'Oekologie der Orga¬ 
nismen bezeichnet wird, mächtig emporblühte, 
eröffnete sich uns das Verständnis für eine 
ganze Reihe höchst interessanter Lebens¬ 
erscheinungen der Pflanzen und Tiere, welche 
früher ganz ungeahnte Beziehungen einerseits 
zwischen einzelnen Tiergruppen, andererseits 
zwischen Tieren und Pflanzen aufdecken. Man 
bezeichnet diese Erscheinung als Symbiose, 
worunter das Zusammenleben zweier ver¬ 
schiedener Wesen verstanden wird, welche 
sich gegenseitig nützlich erweisen und so im 
gemeinschaftlichen Haushalte besser leben. 


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390 


France, Das „tierische Chlorophyll“. 


Die Erscheinung der Symbiose ruft gegen¬ 
wärtig immer mehr die Aufmerksamkeit der 
Forscher wach, da es sich herausstellt, dass 
diese weitverbreitete Eigentümlichkeit von 
überraschender Wichtigkeit ist. Das Zusam¬ 
menleben von Tieren, wie z. B. von Krebsen 
und Schwämmen oder anderen Meerestieren 
ist längst bekannt; daran schloss sich die Ent¬ 
deckung, dass zahlreiche Tiere in symbiotischem 
Verhältnisse mit Ameisen stehen, welch’ letztere 
andererseits wieder Symbionten von tro¬ 
pischen Pflanzen sind, welchen sie Schutz 
angedeihen lassen. Auch die Botanik kennt 
diese Erscheinung und liefert noch viel 
drastischere Beispiele. Ein solches sind na¬ 
mentlich die Flechten, welche schon längst 
als Bündnisse von Algen und Pilzen erkannt 
worden sind. Mit einem Worte, in der Sym¬ 
biose liegt ein ganzer Komplex verwickelter 
Erscheinungen vor, dessen Studium das in¬ 
tensivste Interesse verdient, da gar manches 
darauf hinweist, dass auf diesem Gebiete noch 
geradezu verblüffende Ergebnisse aufgeschlos¬ 
sen werden können. 

Macht sich doch schon wiederholt die 
Auffassung geltend, dass auch die Zelle in¬ 
sofern keine Einheit bedeute, als auch sie 
eine Gruppe zusammenlebender primärer Be¬ 
standteile darzustellen scheint. Speziell die 
Chlorophyllkörper werden nun schon von 
mancher Seite als nicht zur primären Einheit 
gehörige Zellbestandteile b.etrachtet, welche 
mit dem Protoplasma der Zellen, in welchem 
sie eingebettet sind, in symbiotischem Ver¬ 
hältnisse zu stehen scheinen; andererseits 
dagegen machen sich auch Bestrebungen 
geltend, welche den Zellkern als Symbionten 
des Plasmakörpers betrachtet wissen wollen. 

Doch dies ist Zukunftsmusik; jedenfalls 
aber eröffnen sich da überraschende, hoch¬ 
bedeutsame Perspektiven! 

Den soeben berührten Fragen sehr nahe¬ 
tretend, ist jene Art der Symbiose, bei 
welcher im Körper ein- oder mehrzelliger 
Wassertiere (ausnahmsweise auch Landtiere) 
einzellige Pflanzen leben, welche ihrem Ge¬ 
nossen durch die Produkte ihrer Assimilations- 
thätigkeit nützlich sind, während sie dafür als 
Gegenleistung bei ihm Schutz finden. 

So lautet die Formel, welche die Anhänger 
der Lehre, die darin eine symbiotische Er¬ 
scheinung sieht, dafür aufgestellt haben. 

Als Beispiele für diese eigentümliche Art 
der Symbiose dienen zahlreiche einzellige 
Tiere (die Frotuzoen), aber auch SüsswasseV' 
schivämtne, Strudelwürmer und der allgemein 
bekannte grüne Armpolyp der Pflanzenreichen 
stehenden Gewässer. 

Ein etwas tiefergehendes Eindringen in 
diese Frage ist nicht nur aus dem Grunde 


von Interesse, da hinter diesem Thema die 
Perspektive einer totalen Revolution der Zellen¬ 
lehre steht, sondern es liegt hier zugleich 
ein interessantes Beispiel dafür vor, dass auch 
in der Wissenschaft viele Köche die Suppe 
versalzen können und dass durch zahlreiche 
Untersuchungen sich manchmal das Gewirr 
eines unverstandenen Thatsachengeflechtes 
nicht löst, sondern nur noch verworrener wird. 

Nach der älteren Auffassung beruhte die 
grüne Färbung all’ der oben erwähnten Tiere 
einfach auf dem Vorhandensein eines grünen 
Pigments, dessen chemische Natur alsbald 
erkannt wurde, indem man wiederholt fest¬ 
stellte, dass es Chlorophyll, der grüne Farb- 
stoflf der Pflanzen sei. Eine zeitlang beruhigte 
man sich bei dem Gedanken, dass es chloro¬ 
phyllhaltige Tiere gebe. Aber noch am Ende 
der siebziger Jahre bemächtigte man sich von 
neuem dieser Frage, eine Reihe von Forschern 
wandte ihr intensives Interesse zu und Schritt 
flir Schritt gewann eine neue Auffassung 
Terrain, als deren Hauptverfechter G. Entz 
und K. Brandt gelten. 

Man erkannte, dass die im Körper von 
vielen Infusorien sichtbaren grünen Körner 
lebhafte Assimilationsthätigkeit entwickeln, 
denn immer an den oberflächlichsten Teilen 
des Tierkörpers gelagert, scheiden sie im 
Sonnenlicht Sauerstoff" aus und bilden auch 
Stärkekörnchen. Diese Untersuchungen er¬ 
gaben jedoch gleichzeitig, dass diese Körner 
nach dem Tode ihrer Wirte selbständig weiter¬ 
leben können und ebenso sich auch vermehren. 

Das tierische Chlorophyll entpuppte sich 
als eine in den Körper von Wassertieren 
eingewanderte einzellige Pflanze, eine Alge, 
welche von Brandt als neue Gattung be¬ 
zeichnet und Zoochlorella benannt wurde. 

Diese Zoochlorella stellt den denkbar 
einfachsten Typus einer Pflanze dar, ein win¬ 
ziges, grünes Kügelchen, in dem sich einige 
Körnchen Stärke ablagern. 

Soweit schien die Frage befriedigend ge¬ 
löst und dem entsprechend trat auch nach 
der ei*sten Hälfte der 8oer Jahre ein Stillstand 
der Forschung ein. 

Erst in den letzten Jahren tritt von neuem 
das Thema der Algensymbiose in den Vorder¬ 
grund und diese neueste Phase bedeutet so 
ziemlich eine allgemeine Verwirrung der Frage 
und erweckt erst recht das dringende Bedürfnis 
nach einer allgemein zufriedenstellenden end¬ 
gültigen Lösung derselben. 

Aus dieser neuesten Litteratur sehen wir, 
dass die Botaniker, die diesem Thema näher¬ 
traten, ausnahmslos für die Selbständigkeit 
und Algennatur der Zoochlorellen eintreten, 
allen voran der Franzose P. A. Dangeard 
der in den „Comptes Rendus“ speziell über 


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BuuiMEK, Ein Wort über Grammatik. 


391 


„das Chlorophyll in den Tieren“ schreibt und 
lebhaft Partei für die Algennatur der fraglichen 
Körperchen nimmt. 

In einer anderen Arbeit {Ophrydium ver- 
sattle und seine Zoochlorellen) in seiner Zeit¬ 
schrift „Le Botaniste“ sagt er direkt, die 
Zoochlorellen sind echte Algen, welche sym¬ 
biotisch im gemeinsamen Haushalte mit den 
Infusorien leben. Sie bieten ihren Wirten 
reichlich Sauerstoff’, in knappen Zeiten werden 
sie auch wohl von ihm verdaut und zahlen 
auch in solcher Weise ihren Mietzins, gewisser- 
massen in Naturalien. Ihr Wirt dagegen 
gewährt ihnen Schutz und durch die von ihm 
ausgeschiedenen Substanzen auch reichliche 
Nahrung. 

Auch der Schüler Pasteur’s Felix Le 
Dantec (Recherches sur la symbiose des 
algues et de Protozoaires) schliesst sich 
Dangeard an, ebenso derbeigische Botaniker 
M. W. Beyerinck in seiner Arbeit Über 
Kulturversuche mit Zoochlorcllen. 

Die Zoologen, welche sich mit den Zoo- 
Chlorellen befassten hegen dagegen noch immer 
resp. wieder Zweifel an der Pflanzennatur der 
fraglichen Gebilde, allen voran der Russe 
A. Famintzin, der zwar in einer seiner 
Abhandlungen, wie schon ihr Titel: „Beitrag 
zur Symbiose von Aigen und Tieren" an¬ 
deutet, ebenfalls die Chlorellen als Pflanzen 
anerkennt, andererseits aber im Biologischen 
Z^tr^lblatt (Nochmals die Zqochlqreflen) diese 
Frage noch nicht für aufgeklärt hält. 

Diese vielleicht etwas ermüdende Zusam¬ 
menstellung der jüngsten wichtigeren Litteratur 
bietet in mehr als einer Beziehung interessante 
Anknüpfungspunkte. 

Da wäre vor allem, dass die schon vor 
anderthalb Decennien constatierte Thatsache, 
dass es keine chlorophyllhaltigen Pflanzentiere 
giebt, einfach ignoriert wird, denn wenn dies 
nicht der Fall wäre, müssten wir die Arbeiten 
Dangeard’s und Famintzin’s für über¬ 
flüssig halten. Dies führt uns zu dem Schluss, 
dass, durch das den älteren Untersuchungen 
entgegengebrachte Misstrauen, insbesondere 
auch durch die Zweifel Famintzin’s, in 
uns auch verdoppelte Skepsis bezüglich der 
neuesten Bestrebungen erwachen muss und 
dass die Frage anstatt vorwärtszukommen 
retograde Entwickelung nahm. Um alle 
Zweifel zu beseitigen, ist jetzt erst recht eine 
möglichst ausgedehnte erneuerte Untersuchung 
notwendig, welche [dies können wir aber nur 
als Privatmeinung äussem] sicherlich unan¬ 
fechtbare Beweise der Algennatur der frag¬ 
lichen Gebilde bringen wird. 

Aber auch in anderen Beziehungen herrscht 
Unklarheit. Wir können dies in folgender 
Frage formulieren: Wenn es thatsächlich 


Algen sind, die mit den Wassertieren im ge¬ 
meinsamen Haushalte leben, welcher Gruppe 
gehören denn dieselben an? welche Algen 
sind die Symbionten jener Wasserbewohner? 

Und dies führt uns auf den gegenwärtig 
interessantesten Punkt des ganzen Problems 
und zu jenem grossen Fragezeichen mit dem 
die Litteratyr der Algensymbiose schliesst. 

Wenn wir in Kürze das Historikum der 
Sache überblicken, so sehen wir, dass Brandt, 
der Bahnbrecher die grünen Inwohner der 
Wassertierchen Zoochlorella benannte und für 
eine bis dahin unbekannte Gattung der Algen 
hielt. Auf den Irrwegen der Sj'stematik wurde 
nun eine andere Gattung: Chlorella daraus. 
Dem gegenüber giebt Dangeard sein Se¬ 
paratvotum ab, indem er sagt: „wenn es sich 
hier nicht direkt um eine schon längst bekannte 
Alge (Palmella) handelt, so sind die „grünen 
Körner“ diesem Pflänzchen zum mindesten 
sehr nahestehend. 

Und als sei es nicht genug an Verwirrung, 
steht air dem noch eine ältere Beobachtung 
gegenüber, welche mit voller Positivität be¬ 
hauptet, die fraglichen grünen Körner seien 
gar nicht immer ein und dieselbe Alge, son¬ 
dern nur die gemeinsame Entwicklungsform 
einer ganzen Reihe von niederen Wesen. 
G. Entz vertritt diese Ansicht in dem Bio¬ 
logischen Zentralblatt vom Jahre 1882 und 
führt dort eingehend aus, dass er direkt unter 
dqpi Mikroskope die verschiedensten einzelligen 
Algen in Infusorien einwandern sah, welche 
sich dort lebhaft vermehrten und alsbald in 
eine gemeinsame Ruheform übergingen, und 
so die bekannten grünen Körper bildeten. 

Soweit die vorhandenen Angaben. Wie 
aus ihnen ersichtlich, handelt es sich hier um 
Dinge, welche bei nur einigermassen ein¬ 
gehenderer Betrachtung gar viel des Uner¬ 
klärten und Rätselhaften an sich haben. Diese 
Frage verdient aber schon auch in Folge der 
eingangs erwähnten weittragenden Ausblicke, 
welche ihr Studium eröffnen kann, das Interesse 
weiterer Kreise als nur der Fachgelehrten. 

Möge sich die Forschung alsbald von 
neuem eines Gegenstandes annehmen, der so 
viele interessante Fäden des Zusammenhanges 
mit den fundamentalsten Fragen der modernen 
Zellenlehre aufweist. 


Ein Wort über Grammatik. 

Von Dr. J. W. Bruinibr. 

Uralt, und für alle Ewigkeit festgewurzelt 
in der Anschauung ist die Vorstellung, dass 
der Mensch ein Doppelwesen sei: Körper und 
Geist. Von ihr will ich ausgehen, und mich 
nicht in den ewigen Kampf der Meinungen 


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392 


Bruinier, Ein Wort über Grammatik. 


darüber stürzen, ob diese Anschauung be¬ 
gründet ist oder nicht. 

Der Geist bedarf der Unterstützung des 
Körpers, wenn er auch nur die geringste 
seiner Regungen nach aussen hin kenntlich 
machen, oder, wie wir treffend sagen, ä'ussern 
will. Will mein Geist einem anderen Geiste 
etwas mitteilen, so muss ich mich des zwei¬ 
fachen Mittels meines eigenen Körpers und 
dessen, in dem jener andere Geist lebt, be¬ 
dienen ; ein umständlicher Weg, den die un¬ 
ermessliche Geschwindigkeit nicht kürzer 
macht, mit der die Körperteile dem Winke 
des Geistes gehorchen — aber doch der einzig 
mögliche: denn die besonders in unserer Zeit 
lebhaft betriebenen Versuche, eine unmittelbare 
Einwirkung von Geist auf Geist für wahr¬ 
scheinlich zu erklären — ich erinnere an den 
Spriritismus — müssen scheitern. Sollten sie 
mehr sein als Selbstbetrug, so entbehren doch 
auch bei ihnen die Geistesäusserungen der 
körperlichen Umwege nicht, sondern diese 
sind nur für unsern menschlichen, also gar 
sehr beschränkten Sinn noch nicht als solche 
erkennbar. 

Als Äusserungsmittel bieten sich mannig¬ 
fache Körperbewegungen dar: die Geberde, 
die Berührung, das Augenspiel, die zusammen¬ 
gesetzte That. Das wichtigste von allen ist 
die Sprache: die Mitteilung der Geistes¬ 
regungen durch die körperlichen Mittel der 
Sprechwerkzeuge beim einen, des Gehörs beim 
andern Beteiligten. Zur Sprache im weiteren 
Sinne .gehört beides, Sprechwerkzeuge und 
Gehör. Denn ein geistig gesunder Mensch 
spricht nur, wenn er einem Hörer etwas sagen 
will; ist er allein, so spricht er ohne Umwege 
mit seiner eigenen Seele; er denkt. 

An der Sprache ist körperlichen Ursprunges 
der gesprochene Laut und der gehörte Ton. 
Alles andere entspringt dem Geiste. Will 
man eine fremde Sprache erlernen, so muss 
man erstens die Sprechwerkzeuge und die 
Art, wie das fremde Volk sie benutzt, kennen, 
zweitens muss man sein Ohr an .die fremden 
Töne gewöhnen, drittens muss man wissen, 
wie der Geist des Fremden die Gedanken, 
die man selbst hegt, zu sprachlichen Mittei¬ 
lungen ausprägt. Das erste und zweite ist 
Gegenstand der Lautlehre, das dritte der Lehre 
vom Sprachgeiste oder der im weitesten 

Sinne. In mehr Teile, als in diese beiden, 
dürfte eine nach Vernunftsgründen angeordnete 
Sprachlehre nicht zerlegt werden. Die Laut¬ 
lehre umfasst alles, was körperlich, die Synta.x 
alles was geistig an der Sprache ist. 

Die Lautlehre zunächst umfasst die Lehre 
von den Sprcchwerkzeugen und die vom Gehör. 
Der Laie beurteilt die Laute naturgemäss vom 
Gehör aus und gerät dadurch oft in Irrtum. 


Er sagt z. B., das englische th laute s ähnlich 
und unter hundert Malen spricht er infolge¬ 
dessen auch neunzig Mal ein s mit der Zungen¬ 
spitze zwischen den Zähnen. Das th hört sich 
aber nur ä- ähnlich an; es ist es in der That 
nicht mehr als t oder d oder n, d. h. als einer 
der anderen Zahnlaute. Die akustische') Wir¬ 
kung eines fremden Lautes nämlich ist manch¬ 
mal vollständig verschieden von seiner uns 
geläufigen Aussprache. So haben z. B. die 
Kymren in Wales und auch norwegische Mund¬ 
arten ein tonloses /, geschrieben //, das wie ein 
mit nach oben gebogener Zunge gesprochenes 
sch klingt; an ein / erinnert der gehörte Ton 
fast gar nicht. Der gesprochene Laut ist aber ein 
richtiges/, das nurtonlos, d. h. ohne Mitwirkung 
des Kehlkopfes, gesprochen wird. Wer nun 
fremde Sprachen sprechen lernen will, der 
darf sich nur um die Art und Weise, wie 
die Laute hervorgebracht werden, kümmern, 
und darf nicht an die ihm bekannte akustische 
Wirkung denken: diese ergiebt sich, wenn die 
Sprechwerkzeuge richtig benutzt werden, von 
selbst. 

Der Praktiker wird die Art und Weise 
der Verwendung der Sprechwerkzeuge in den 
Vordergrund seiner Studien rücken. Dem Ge¬ 
lehrten aber ist ihr Bau die Hauptsache. 
Man darf nicht denken, dieser wäre bei allen 
Menschen, oder wenigstens doch bei allen 
Angehörigen einer undderselbenSprachegleich. 
Wie die Farbe des Haares und die der Haut, 
wie die Grössenverhältnisse Ider Körper ver¬ 
schieden sind, so sind es auch die einzelnen 
Sprechwerkzeuge und ihre Lage zu einander. 
Ein Mensch mit dünnen Lippen wird die 
Laute b p f m anders aussprechen, als einer 
mit aufgeworfenem dicklippigem Munde. Die 
Stellung der Zähne, die wie der Augenschein 
lehrt, so sehr verschieden sein kann, wird 
die Zahnlaute d t s n verschieden beeinflussen. 
Die Zunge, die für die Sprachbildung so 
ausserordentlich wichtig ist, steht kaum bei 
zwei Personen in genau demselben Grössen- 
und Lagenverhältnis zu den benachbarten 
'Feilen des Mundes. Diese Verschiedenheiten 
in den Sprechwerkzeugen, körperliche Merk¬ 
male, also durch die Geburt allein vererblich, 
sind Rassenkennzeichen, bessere und tiefer¬ 
scheidende als die äusserlich sichtbaren, wie 
die Färbung von Auge, Haar und Haut. Auch 
sie belehren uns, dass nur ein blinder Eiferer 
ein modernes Kulturvolk für ein reines Rasse¬ 
volk halten kann. Schon von den Germanen 
des Tacitus war höchstens ein Sechstel von 
rein germanischem Blute; die übrigen fünf 
Sechstel, die Sklaven, waren die Nachkommen 
unterjochter Volksstämme von wer weiss wie 


*) vom griech. akouein „hören". 


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Bruinier, Ein Wort über Grammatik. 


393 


vielfach gemischtem Ursprünge. Das Sechstel 
reiner Germanen allein verfügte über ein 
gewisses Gleichmass derSprechwerkseuge; von 
den andern hatte vielleicht durch ein Spiel des 
Zufalls dieser oder jener ebendieselbe Zungen¬ 
form, ebendieselbe Stellung der Kiefer wie der 
echte Germane, die meisten aber gewiss eine 
andere. Wollten diese Leute, wozu sie ja 
durch den Zwang der Umstände genötigt 
waren, germanisch sprechen, so waren sie 
auf die Nachahmung der akustischen Wirk¬ 
ungen angewiesen. Wie oft mag ihnen dies 
nicht gelungen sein! Ein sprechendes Bei¬ 
spiel: unsere Israeliten sprechen seit unvor¬ 
denklichen Zeiten deutsch. Aber man erkennt 
viele beim ersten Mundaufthun als solche: sie 
können, eben weil sie Sprechwerkzeuge be¬ 
sitzen, die wesentlich von den germanischen 
verschieden sind, ein z, sch, s z. B. nicht richtig 
aussprechen, ihnen gelingt z. B. die bei t, p, k 
nötige augenblickliche Lösung des „Ver¬ 
schlusses“ nicht, weshalb sie bei der Aus¬ 
sprache dieser Laute länger verweilen als 
wir, u. s. w. Die nicht rassereinen Germanen 
werden in vielen Fällen zu sogenannten Laut¬ 
ersetzungen gegriffen haben, d. h. sie sprachen 
den germanischen Laut so aus, wie einen 
ihnen geläufigen ähnlichen. Diese unrichtige 
Aussprache wirkt nun aber wieder auf die 
der rassereinen Germanen zurück, wie von 
jeher schlechtes Beispiel gute Sitten ver¬ 
darb. Die Kinder der reinen Germanen, die 
mit denen der Sklaven und Fremden auf¬ 
wuchsen, sind die eifrigsten Vermittler der 
Gegensätze gewesen. So entstand jenes bunte, 
fast unlösbare Gewirr von Mundarten. Der 
reine Zufall, meist ein solcher politischer 
Art, erhebt dann eine dieser Mundarten zur 
Herrscherin über die anderen, sie wird zum 
Träger der „Normalsprache“, die der Aus¬ 
länder als „gute deutsche Aussprache“ kennen 
lernen soll. Man thut dann oft so, als ob 
die anderen Mundarten unrichtig sprächen: 
natürlich die grösste Ungerechtigkeit, denn 
diese anderen sind nur deshalb nicht lehr¬ 
buchfähig, weil ihnen das Glück der Politik 
nicht hold war. So lernt der Ausländer jetzt, 
dass man im Deutschen alle anlautenden 5 
mit Stimmton „weich" aussprechen müsse und 
ärgert sich, wenn er immer wieder nach sei¬ 
nen heimatlichen Gewohnheiten ssön und 
ssögleich statt sön und sögleich spricht. Er 
hält das stimmlose s für einen Fehler, weil sein 
Lehrbuch es verwirft. Aber sollte das wirk¬ 
lich falsch sein, was von den fünfundsechszig 
Millionen Deutschredender mindestens fünf¬ 
undvierzig Millionen thun, nämlich alle, die 
nicht auf niedersächsischem Boden ihr Deutsch 
erlernten? Hätten die Umstände etwa das 
Königreich Hannover zur herrschenden Macht 


in Deutschland erhoben, so wären die Aus¬ 
länder gezwungen, s-tein, s-lock ftlr die rich¬ 
tige Aussprache zu halten, und wäre die 
Einigung Deutschlands von Württemberg aus¬ 
gegangen, so würden sie vielleicht jedes, 
auch das in- und auslautende st als seht aus¬ 
sprechen müssen. 

Die richtige Aussprache hat kein Stamm 
gepachtet, jeder hat ein Stückchen vom ech¬ 
ten Ringe, jeder aber tausend vom unechten. 
Wo, wie im Englischen und Französischen, 
eine Mundart unbestritten seit Jahrhunderten 
den Vorzug geniesst, die Vertreterin nach 
aussen zu sein, da wird das Durchschnitts¬ 
bild dieser Aussprache die Richtschnur für 
die praktischen Lehrbücher abgeben; der Mann 
der Wissenschaft aber kann sich damit nicht 
begnügen. Vor dem Gerichte der Wissen¬ 
schaft sind alle gleich. Für sie giebt es keine 
richtige und keine falsche Aussprache. Sie 
hat die unendlich verschiedenen Aussprachen, 
d. h. die Sprediwerkzeuge, nach Gesichts¬ 
punkten zu ordnen, das etwa Gemeinsame und 
Trennende hervorzuheben, historisch zu unter¬ 
suchen und damit aufzusteigen, bis es gelingt, 
einen fremden Bestandteil nach dem andern 
abzulösen von dem allen gemeinsamen rei¬ 
nen Ursprung. Eine Arbeit, deren Bewältigung 
unmöglich erscheint und die, wie alle Auf¬ 
gaben historischer Wissenschaft, im gewissen 
Sinne auch immerdar unlösbar sein wird. 
Aber keine undankbare Arbeit. Die Lautlehre 
steht augenblicklich im Vordergründe der 
Sprachwissenschaft. Erst seitdem man sie als 
Z,t7«/lehre erkannt hat, und nicht mehr als 
„Lehre von den Buchstaben" ansieht, giebt 
es eine wissenschaftliche Grammatik. Noch 
lastet das Buchstabenjoch schwer auf ihr. Es 
gelingt selten dahinter zu kommen, welche 
Laute die Buchstaben in verflossenen Sprach- 
zeiten darstellten. Aber weil wir wissen, dass 
die Buchstaben wenig, die Laute alles ent¬ 
scheiden, sind wir jetzt auf dem richtigen 
wissenschaftlichen Standpunkt angelangt, den 
man in Kürze in den Satz fassen kann: suche 
das Sein im Schein, und halte den Schein 
nicht für das Sein. 

Der zweite Teil der Lautlehre, die Lehre 
vom Auffassen der geäusserten Gedanken- 
raitteilung durch das Ohr, tritt für die Wissen¬ 
schaft fast ganz zurück, für sie kommt er nur 
in Frage bei der Erforschung des Anpassungs¬ 
vermögens der fremden Sprechwerkzeuge an 
die von den Rassereinen richtig gesprochenen 
Laute. Die Praxis hat aber diese Lehre vom 
Hören entschieden stärker zu betonen, als 
das bisher geschehen ist. Ohne Selbsterfahrung 
wird man allerdings eine fremde Sprache 
niemals hören lernen können. Den meisten 
Menschen fällt das Hören schwerer als das 


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394 


Bruinier, Ein Wort über Grammatik. 


Sprechen. Wer auch z. B. das Englische vor¬ 
züglich aussprechen kann, der wird in Eng¬ 
land anfangs kein Sterbens^vörtchen verstehen 
können. Da heisst es: Übung macht den 
Meister. 

Den wichtigsten Teil der Grammatik stellt 
natürlich die Syntax in ihrem weitesten Sinne 
dar. Die Laute und Töne sind nur die Stüt¬ 
zen der Gedanken und wären ohne sie nichts. 

Der Geist, den wir in der Syntax im 
weitesten Sinne zum Ausdruck bringen, ist 
nur zum allerkleinsten Teile unser eigener: 
das meiste an ihm ist uns und mit uns allen 
unsern Volksgenossen, anererbt und angelernt. 
Bei der Wiedererzeugung unendlich vieler 
Bestandteile unserer Sprache ist von uns 
Nachgeborenen eine andere als rein mecha¬ 
nische Geistesarbeit gar nicht mehr zu leis¬ 
ten. Keiner, der nicht wissenschaftliche Gram¬ 
matik getrieben, ahnt, dass Faust mit fünj 
verwandt ist, dass Forelle „der kleine, ge¬ 
sprenkelte Fisch“ und Elster „der scheue, 
schillerfarbige Vogel" heisst. Wenn wir die 
Gabel, aber der Löffel, das Messer; der Fink, 
aber die Amsel; der Rhein, aber die Maas sagen, 
so nehmen tvir diese Verschiedenheit des 
Geschlechtes als etwas Selbstverständliches 
hin, unsere Vorfahren aber, die diese Ver¬ 
schiedenheit zuerst zum Ausdruck brachten, 
die haben doch sicher gewusst, warum. Wir 
sagen ich esse das Brot, es fällt uns nicht 
ein esse das Brot ich, oder ich Brot das 
esse, oder ich das Brot esse zu stellen. Wir 
ordnen die Wörter aus Gewohnheit so, un¬ 
sere ältesten Vorfahren thaten es, weil ihr 
Geist ihnen diese Stellung als die einzig 
mögliche vorschrieb. 

In jeder Zeit wächst nun dem ererbten 
Sprachgute, an dessen Erschaffung der Geist 
der Väter thätig gewesen war, neuer Besitz 
zu, den die neue Zeit für ihre neuen Begriffe 
geschaffen. In jeder Zeit wird auch das von den 
Vätern Ererbte neu erworben, damit man es be¬ 
sitze. Äusserlich bleibt das Erbgut ein fest¬ 
stehendes Lautgefüge; im Grossen und Gan¬ 
zen ist es genau dasselbe, was es vor unge¬ 
zählten Jahrtausenden war und hat nur die 
Veränderungen erlitten, die mit der allmäh¬ 
lichen Verwandlung der körperlichen Sprach- 
vermittler eintreten mussten. Aber das, zu 
dessen Bezeichnung einst dieses Erbgut ge¬ 
schaffen worden war, die Begriffe, die uns 
umgebende und die in uns lebende Welt; das 
ändert sich ungeheuer mit dem Fortschrei¬ 
ten der Kultur. Wir, die wir von lauter 
Kultur umgeben die Abhängigkeit von der 
Natur längst abgeschüttelt, wir modernen 
Menschen haben eine ganz andere Welt in 
uns und ausser uns als unsere rohen Ahnen, 
die fast nur Natur, fast gar keine Kultur um 


sich sahen. Aber wir Kulturmenschen müs¬ 
sen noch eben denselben Sprachstoff zum 
Ausdrucke unserer Vorstellungen verwenden, 
den jene Naturmenschen in dem grauen un¬ 
durchdringlichen Nebel einer kulturlosen Ur¬ 
zeit jenseits aller Geschichte geschaffen haben. 
Wir schleppen das mit uns, aber auch alles 
was später hinzugefügt oder im Sinne dieser 
späteren Zeiten, die für uns auch schon wie¬ 
der längst unmassgebend geworden sind, an 
dem Erbgute geändert wurde. So bildet jede mo¬ 
derne Sprache einen Zauberspiegel für jede Kul¬ 
turstufe, für jede Zeit, die das Volk hinter sich 
hat. Von unendlichem Reiz ist die Betrachtung 
der Sprache in diesem Sinne als Spiegel der Zei¬ 
ten; sie lügt nicht, sie fälscht nicht in be¬ 
stimmter Absicht, sie erzählt dem, der auf 
sie zu lauschen versteht, Mären von wun¬ 
derbarer Tiefe und von ewiger Frische. Wer 
die Philologie eine trockene Wissenschaft 
schilt, der setze sich an den geheimnisvoll 
murmelnden Quell der Etymologie (Wortlehre); 
er müsste kein Herz im Busen tragen, wenn 
es ihn nicht ergriffe. So lässt das Heimweh 
die zartesten Weisen unserer Seele erklingen, 
so erfüllt uns zur Sommersonnenwende der 
von der Dorflinde aus der Ferne herschal¬ 
lende Gesang mit jenem sehnsüchtigen Leid¬ 
gefühl, das in Wahrheit unseres Lebens 
Kürze beste Würze ist. Etymologie! Ichver- 
stehe darunter nicht jene mathematische Rech¬ 
nerei, wie "Sie von unserem gegenwärtigöh 
Philologengeschlecht*) so eifrig betrieben wird, 
das allzusehr von den körperlichen Reizen 
der Lautgesetze ergriffen, des Geistes fast 
ganz vergisst, der die Wörter erstehen Hess. 
Die Sprache ist ein Erzeugnis des Geistes. 
Gut! So suche man den Geist vor allem zu 
fassen, den Geist, in dem die Zeiten sich 
bespiegeln. 

Die Etymologie ist der erste und grund¬ 
legende Teil der Syntax im weiteren Sinne. 
Ihre Aufgabe ist die Aufhellung des Wort¬ 
schatzes der Sprache nach Form und Geist. 
Das ist natürlich nur durch historische Be¬ 
trachtung möglich. Alle Versuche, Et3Tno- 
logie zu treiben ohne einen Einblick in die 
Sprachentwickelung zu haben, kennzeichnen 
sich als elende Stümperei. Dass solche Ver¬ 
suche so oft gemacht werden und auch ver¬ 
öffentlicht werden können, ist bezeichnend so¬ 
wohl für das Bedürfnis, das im Publikum 
nach Belehrung über sprachliche Fragen be¬ 
steht, wie für die erschreckende Unkenntnis 
aller, die nicht Fachleute sind. Auf der Worl- 


*) Unter den Ausnahmen hebe ich Friedrich 
Kluge in Freiburg i. B. als den bedeutendsten 
Etymologen unserer Zeit hervor, dessen „Etymol. 
Wörterbuch der deutschen Sprache" ein Jeder 
lesen müsste, der auf Bildung Anspruch erhebt. 


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Bruinier, Ein Wort über Grammatik. 


395 


weide jagt es sich so gut! Und keiner frägt 
nach der Jagdkarte. Denn die Fachleute sind 
aus alter Gewohnheit ausserordentlich vor¬ 
nehm zurückhaltend. Und doch ist zu unserer 
Zeit, wo die deutsche Muse ihr Haupt wie¬ 
der stolz erhebt, wo sie vielleicht wieder 
einem hohen Throne zuschreitet, die allge¬ 
meinere Verbreitung richtiger etymologischer 
Erkenntnis nötiger, als es vielleicht scheinen 
möchte. Goethe und Schiller waren innig 
vertraut mit ihrer heimischen Mundart, ihre 
Sprache konnte sich so Nahrung saugen aus 
einem frisch sprudelnden Naturquell. Anders 
unsere modernen Dichter und Schriftsteller. 
Sie sind weit mehr als die Klassiker durch 
eine fester geregelte bestehende Schriftsprache 
und an sie gebunden. Ihr Volkstum wur¬ 
zelt im Boden des gebildeten Normaldeutschen, 
das noch gar nicht volkstümlich ist, weil es 
eben bisher njrgends vom Volke gesprochen 
wird. Wollen sie volkstümlich werden, so 
werden sie ungewollt pöbelhaft. Sie können 
kaum anders, weil der Gang unserer sozialen 
Entwickelung die Bestandteile der Nation, 
die ihr früher die volkstümliche Färbung 
gaben, mehr und mehr ausmerzt oder doch 
ihrem früheren Denken entfremdet,' der Bür¬ 
ger und Bauer von ehedem wird zusehends 
schneller Fabrikant und Grossgrundbesitzer auf 
der einen, Arbeiter und Knecht auf der anderen 
Seite. Die Mundart wird mehr und mehr ver¬ 
pönt, weil ihr Gebrauch „Unbildung“ verrät. 
Überall ist sie in schneller Zersetzung zu 
Gunsten des gebildeten Normalhochdeutschen 
und der abscheulichen Pöbelsprache der Gress¬ 
städte begriffen. Mit dieser Pöbelsprache, beson¬ 
ders mit der Berlins liebelt unsere moderne Dich¬ 
tungais sei sie eine naive Dorfschöne, sie, die we¬ 
der naiv, noch schön, noch vom Dorfe, sondern 
hässlich, frech und aus demScheunenviertelist. 
Nach den Rieselfeldern, aber nicht nach grü¬ 
ner Haide duftet diese Berliner Pflanze. Nichts 
volkstümliches ist an ihr, sondern nur ge¬ 
meines. So vergleicht auch Keiner die Weise 
des schönen Liedes von dem Schaffner, der 
etwas gethan haben soll, mit der vom Rosen¬ 
garten, wo die Liebste im grünen Klee, im 
weissen Schnee auf den Schatz wartet. 

Ich bin kein Pessimist. Ich sehe in eine 
schöne Zukunft. Die Mundarten sind nicht 
zu retten. Aber ein neues und besseres 
Volkstum wird erstehen. Unsere Sprache 
stirbt nicht, denn sie ist, wie das Volk, das 
sie spricht, das es im dreissigjährigen Kriege 
und 2ni Beginn unseres Jahrhunderts erwie¬ 
sen hat, unsterblich. Immer mehr wird der 
Segen von oben kommen. Einst wird das 
deutsche Volk in seiner weit überwiegenden 
Mehrzahl aus gebildeten Menschen bestehen, 
es wird wieder eine, eine ^/efc/rgestimmte,^/(r?/'c/r- 


denkende und an denselben Idealen sich er¬ 
freuende Masse bilden, wie einst, wo D i e- 
trichs und Siegfrieds Lob in Palast und 
Hütte erklang und Füi^t und Bauer gleich- 
mässig ergötzte. Aber es werden höhere 
Ideale sein, die uns dann erquicken. Ja, der 
Strom des deutschen Lebens, der einst 
in seiner Jugend im engen Bette brausend 
dahinschoss, einheitlich und stark, der jetzt 
in der Niederung sich in so viele Arme ge¬ 
teilt hat, die scheinbar nichts mehr von sich 
und ihrem gemeinsamen Ursprünge wissen 
wollen, er wird einst wieder zusammenrinnen 
in ein einheitliches gewaltiges Bette: 

Kommt ihr alle! — 

Und nun schwillt er 
Herrlicher; ein ganz Geschlechte 
Trägt den Fürsten hoch empor. 

Aber bis dorthin ist noch weit. Und auch 
unser Geschlecht hat seine Rechte und seine 
Pflichten. Unsere moderne Dichtung wird 
bald einsehen müssen, dass der beste Wein 
nicht mundet, wenn man ihn in irdenem Ge- 
fässe schenkt, dass die königlichsten Kinder 
ihres Geistes nichts vorstellen, wenn sie im 
Bettlergewande daher kommen. Sorgt ftlr 
die Form, ihr Dichter, dann seid ihr es erst! 
Ihr könnt es aber nicht thun, wenn ihr eure 
Sprache nicht kennt, die reichste der Welt, 
die tiefste, die herrlichste von allen. Die 
Etymologie ist die Wünschelrute, mit der ihr 
die Brunnen der.^rache, erschliesst. 

Nur als Anhang zur Etymologie, für Prak¬ 
tiker allerdings von ungemeiner Wichtigkeit, 
ist die Formenlehre anzusehen. Ihre Erforsch¬ 
ung stellt der Wissenschaft verhältnismässig 
die geringsten Schwierigkeiten. 

Etymologie {Wortlehre') und Formenlehre 
unterrichten uns über den Sprachschatz eines 
Volkes. 

Denken wir uns nun eine grosse Privat¬ 
bibliothek. Da stehen die nicht gebrauchten 
Bücher, nach vernünftigen Gesichtspunkten 
geordnet, mit Aufschriften versehen, an ihrer 
bestimmten Stelle in den Fächern. Will der 
Leser ein Buch einsehen, so holt er es her¬ 
vor und es tritt nun in, den Mittelpunkt der 
ganzen Büchersammlung. 

Eine solche Bibliothek ist die Welt. Die 
Bücher sind die Begriffe. Die Aufschriften 
sind die Wörter. Der Leser ist der Mensch. 
Wie die Bücher in ihren Fächern, so bleiben 
die Begriffe in ihrer Indifferenzlage, d. h., 
sie sind für uns gleichgiltig, sie bestehen für 
uns nicht, bis wir an sie denken. Dann 
werden sie hervorgezogen und treten in'den 
Mittelpunkt unserer Gedankenwelt. Einen 
Gedankeninhalt bietet ein Begriff und das 
Wort dafür in seiner Indifferenzlage niemals. 
Denn sobald wir an ihn denken, ist er für 


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396 


Betrachtungen und kleine Mitteilungen. 


uns nicht mehr indifferent. Die Sprache soll 
nun Gedanken vermitteln. Mit der blossen 
Angabe eines in der IndifFerenzlage verhar¬ 
renden Dinges kann ihr also niemals gedient 
sein. Sie verlangt den Ausdruck dafür, dass 
der Begriff nicht mehr indifferent ist: die¬ 
sen Ausdruck enthält die Aussage vom Be¬ 
griffe. Wir gebrauchen in der Sprache im¬ 
mer nur Begriffe, von denen etwas ausgesagt 
ist, niemals blosse Wörter. Als Aussage kann 
alles Mögliche dienen, was nur geeignet ist, 
einen Begriff aus seiner Indifferenzlage heraus- 
zuzerren: also z. B. nicht nur eine der zahl¬ 
reichen Eigenschaften des Begriffes, oder eine 
seiner Thätigkeiten, oder einer der Einflüsse, 
die er erleiden kann, sondern auch schon 
eine von der gewöhnlichen abweichenden 
Aussprache. 

Die Lehre von der Verwendung des Sprach¬ 
schatzes zum Ausdruck von Gedanken 
bildet den Inhalt der Syntax im engeren 
Sinne. Es ist die Lehre vom Sprachgefühl. 
Kein anderes Gesetz schreibt uns die Regeln 
vor, nach denen wir Gedanken äussern 
können, als das Sprachgefühl, das unbewusst 
in der Brust jedes vernünftigen Sprachgenos- 
sen schlummert. Darum muss, wer eine 
fremde Sprache wirklich gebrauchen lernen 
will, das Sprachgefühl, das die Angehörigen 
dieser Sprache besitzen, zu erwerben versuchen. 
Vollständig beherrschen wird der Fremde 
das Gefühl für eine andere Sprache erst dann, 
wenn er es dazu gebracht hat, es ohne wei¬ 
teres Nachdenken zu verwenden. Das ist, so¬ 
lange er nicht Jahre lang im fremden Lande 
gelebt hat, nicht möglich. Völlig beherrschen 
kann auch der grösste Geist nur eine einzige 
Sprache. Ist das eine fremde, so muss er 
die Muttersprache aufgeben. So bilden sich 
beim amerikanischen Deutschen die Angli- 
cismen, beim Holländer, der in Deutschland 
lebt, die Germanismen heraus. Wohl aber 
ist es möglich, das Gefühl für eine fremde 
Sprache sich soweit zu eigen zu machen, dass 
man versteht, es durch mehr oder weniger 
schnelles eigenes Nachdenken richtig anzu¬ 
wenden. Das ist das bewusste Sprachgefühl 
im Gegensätze zum unbewussten des Einge¬ 
borenen. 

Da auch das Sprachgefühl in der Ver¬ 
gangenheit wurzelt, muss der, der Einsicht 
in die Gründe gewinnen will, die uns beim 
Sprechen bieten, historisch Vorgehen. 

Das Sprachgefühl ist Gemeingut aller Ge¬ 
nossen einer und derselben Sprache. Der Ein¬ 
zelne erhebt sich über die Masse durch sei¬ 
nen persönlichen Stil. Die Stilistik zu er¬ 
forschen ist nicht mehr Aufgabe des 
Grammatikers, der sich dem ganzen Volke 
und seinem Denken zuwendet, sondern des 


Litteraturhistorikers, dessen Forschung be¬ 
stimmten Personen geweiht ist. Erspriess- 
liches kann aber nur der Litteraturforscher 
leisten, dem die Grammatik kein Buch mit 
sieben Siegeln ist. Denn selbst der grösste Dich¬ 
ter ist in erster Linie das Kind seines Vol¬ 
kes. Ja er ist nur gross, wenn er der Hei-. 
mat giebt, was die Heimat ihm gegeben hat. 

• 


Betrachtungen und kleine Mitteilungen. 

Lebensdauer und Alkoholgenuss. Beim Durch- 
blättem einer interessanten kleinen Schrift’) des 
Bonner Physiologen E. Pflüger kamen mir wie¬ 
der einige Ausführungen vor Augen, welche in un¬ 
serer Zeit der vielfach ängstlich übertriebenen Al¬ 
koholabstinenz eine allgemeinere Aufmerksamkeit 
beanspruchen dürften. 

P f 1 ü g e r führt uns hier u. a. eine grosse Reihe 
von Menschen vor, welche nach sicher beglaubigten 
Angaben das Alter von hundert Jahren, zum Teil 
recht weit, überschritten haben. Die höchste glaub¬ 
würdig festgestellte Altersgrenze befindet sidi bei 
185 Jahren; von Leuten, die Ober 150 Jahre alt 
wurden, finden wir im Ganzen 4 angeführt, Alters¬ 
stufen von 120 und mehr werden ausserdem noch 
8 erwähnt; unterhalb dieser Grenze nimmt die Zahl 
der Überhundertjälirigen beträchtlich zu. Im allge¬ 
meinen mag unter 2 Millionen Menschen etwa Einer 
das zweite Zentennium antreten. 

Auffallend ist, dass wir unter den 12 Meuschen, 
welche das 120. Lebensjahr überschritten, 5 Per¬ 
sonen finden, von denen besonders bemerkt wird, 
dass sie durchaus nicht immer M,uster von Massig¬ 
keit im Alkoholgenuss gewesen seien. 

Johanna Obst, eine schlesische Leinenweberin, 
welche 155 Jalire alt Wurde, trank täglich — von 
welchem "Alter an, ist nicht angegeben — 2 Glas 
Branntwein. Ein Lothringer Chirurg Namens Poli- 
timan, der sich seit seinem 25. Jahre allabendlich 
betrank, erreichte ein Alter von 140 Jahren. George 
Kirton aus Yorkshire, der mit 125 Jahren starb, 
soll „kein Beispiel von Massigkeit im Trinken" ge¬ 
wesen sein. Von dem 122 Jahre alt gewordenen 
Annibal Camoux aus Nizza wird berichtet, dass er 
„viel Wein trank“. Eine hübsche Grabsclu'ift giebt 
uns Kunde von der Trinkkraft des 120jährigen iri¬ 
schen Landwirtes Brawn: 

„Unter diesem Stein liegt Brawn, welcher nur 
durch die Kraft starken Bieres 120 Jahre zu leben 
vermochte. Er war immer betrunken und in die¬ 
sem Zustande so schrecklich, dass sogar der Tod 
sich vor ihm fürchtete. Als er eines Tages gegen 
seine Gewohnheit sich ruhig verhielt, nahm sich der 
Tod ein Herz, griff ihn an und triumphierte über 
diesen Trunkenbold ohne Gleichen.“ 

Gewiss werden wir mit Pflüger anzunehmen 
haben, dass die genannten Personen e'n noch höhe¬ 
res Alter erreicht haben würden, wenn sie nicht 
soviel getrunken hätten. So haben denn auch sta¬ 
tistische Untersuchungen des englischen Gelehrten 
Neisson, die anderweitig bestätigt worden 
sind, ergeben, dass der gewohnheitsmässige Säufer 
sich seine Lebensdauer im Durchschnitt etwa um 
ein Viertel verkürzt. Wenn danach die Giftwirk¬ 
ung des Alkohols in häufigen grösseren Dosen, was 
Ja auch aus anderen Thatsachen genügend hervor- 


') K. Pflüger, ,Übcr die Kunst der Verlängerung des 
menschlichen Lebeos“, Bonn 1890. 


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Betrachtungen und kleine Mitteilungen. 


397 


geht, nicht gering angeschlagen werden darf, so 
sprechen., aber doch die Erfahrungen an den aufge¬ 
zählten Überhundertjährigen dafür, dass ein mas¬ 
siger, mitunter sogar das Mass überschreitender 
Alkoholgenuss kräftige Naturen dennoch zu hohen 
Jahren gelangen lassen kann. Dazu hält es Pflüger 
sogar nicht für „unmöglich, dass Wein und Bier, 
weil sie eine gewisse Narkose erzeugen, die mit 
einer Verlangsamung der Lebensprozesse verbun¬ 
den ist, bei massigem Genuss keineswegs schädlich 
sind.“ Vielleicht Könnte nämlich eine solche ge¬ 
ringe Verlangsamung der Lebensprozesse kleine 
Schädigungen des Alkohols insofern aufwiegen, als 
mancherlei dafür spricht, dass ein — freilich nicht 
über die Norm hinaus — iangsamerer Verlauf der 
Lebensprozesse in den lebendigen Teilen des Or¬ 
ganismus bei der gleichen Organismenart im allge¬ 
meinen eine längere Lebensdauer gewährt, ln ähn¬ 
lichem Sinne teilt auch Pflüger mit, dass er auf 
Porträts von Hundertjährigen durchaus Energie und 
Lebhaftigkeit der Züge vermisst habe. „Das meist 
gerundete, etwas feiste Gesicht hat einen milden 
und zufriedenen seelischen Ausdruck. Eine feurige 
Seele, die an dem Mark des Lebens zehrt, scheint 
in ihnen nicht zu wohnen." 

Einige andere Angaben, die sich auf diese Cber- 
himdertjährigen beziehen, mögen hier auch noch 
kurz wiedergegeben werden. 

Während die Statistik dieser Hochbetagten also 
einen massigen Alkoholgenuss als zulässig darstellt, 
scheint dieselbe Ober das Rauchen ein weniger 
günstiges Urteil fällen zu wollen. Es wird nämlich 
nur von einem „Raucher“ gemeldet, dass er 104 
ahre alt geworden sei. Auch andere Schädlich- 
eiten, welche im Leben der Menschen sonst eine 
Rolle zu spielen, pflegen, finden wir in den Berich¬ 
ten über jene Überhundertjährigen nicht erwähnt. 
Ob dies in allen Fällen ein indirekter Beweis für 
die Grösse dieser Schädlichkeiten ist, möchte schwer 
zu entscheiden sein-.. 

Oder dürfte man der Ehe einen günstigen Ein¬ 
fluss auf die Verlängerung des Lebens zuprechen, 
weil die Oberhundertjährigen in der Regel verhei¬ 
ratet waren? Waren sie Wittwer geworden, so 
schlossen sie nämlich bald wieder neue Ehen und 
zwar, wie Pflüger sagt, sicher oft nicht nur pro 
forma. So hatte ein laojähriger sich noch wieder 
mit einer Wittwe verheiratet, von welcher die Aus¬ 
sage vorliegt, „dass sie ihm sein Alter nie ange¬ 
merkt habe.“ ' Dr. p. jeksew. 


Fort mit dem Nebel! In amerikanischen Zeit¬ 
schriften wurde letzthin wieder die Frage erörtert, 
ob es nicht möglich sei, des Nebels, der gerade im 
verflossenen Winter in der Nähe der Küste und 
in den Küstenstädten den Verkehr ausserordent¬ 
lich gehindert und so manche Opfer gefordert habe, 
irgendwie Herr zu werden. NatürHch kann es sich 
nicht darum handeln, den Nebel Ober einer Stadt, 
einem Meeresarm u. s. w'. gänzlich beseitigen zu 
wollen, aber wenn wir bedenken, dass man z. B. 
durch Ausbreiten von Öl die aufgeregten Meeres¬ 
wogen auf einige Entfernung von einem Schiff zu 
glätten und diesem damit eine freie Bahn zu ver¬ 
schaffen vermag, so brauchen wir auch vor einem 
Angriff auf den Nebel nicht ohne weiteres zurück¬ 
zuschrecken. Schon in der angedeuteten Beschränk¬ 
ung wäre Ja das Gelingen des Versuches von 
ausserordentlichem Werte; und dass der Versuch 
nicht aussichtslos ist, lehren uns die Mittel, 'durch 
welche wir einen Raum von dem in der Luft ent¬ 
haltenen festen Staube befreien können. Der Nebel, 
der aus einer ungeheuren Anzahl winzig kleiner 
Wassertröpfchen besteht, verhält sich in vieler Be¬ 


ziehung nicht anders als fester Staub; und eines 
der angedeuteten Mittel, nämlich das Ausströmen 
hochgespannter Elektrizität aus Spitzen, bewirkt in 
der ’That, wie Lodge schon vor zehn Jahren ge¬ 
zeigt, dass die in der Umgebung der Spitzen in 
der Luft enthaltenen Partikeln, mögen sie nun aus 
festem Staub oder aus NebcltröpCchcn bestehen, 
sich zu grösseren Massen vereinigen und darum 
rasch zu Boden sinken, Wie man sieht, ist diese 
Art der Nebelbeseitigiing nichts anderes als eine 
künstliche Regenerzeugung. Lodge. meinte damals, 
es könne nicht schwer sein, sämtliche Schifte mit 
geeigneten und auf eine hinreichende Entfernung 
wirksamen Apparaten auszurOsten. Indessen ist 
seine Anregung dam.als ohne Erfolg geblieben und 
auch Jetzt scheinen die Amerikaner, vielleicht we¬ 
gen eines ungerechtfertigten Hinweises auf die be¬ 
kannten Misserfolge der Regenmacher, den Ver¬ 
such nicht wagen zu wollen. b. d. 


Zum Instinkt der Bienen. Zur Entscheidung 
der Frage, ob die Kunst, Waben zu bauen, ein den 
Bienen angeborener Instinkt ist, oder ob die Jungen 
Bienen in dieser Kunst von den älteren unterrichtet 
werden, brachte Kogevnikov in einen leeren 
Bienenstock vier Rahmen, welche gedeckelte, nahe 
vor dem Auskriechen stehende Brut, wenige noch 
ungedeckelte Larven, sow.e zwei gedeckelte und 
eine ungedeckelte Wciselzelie enthielten. Am an¬ 
dern Tage schlüpften die ersten Bienchen aus; vier 
Tage später hatten sie die offene Weiselzelle ge¬ 
deckelt. Nach weiteren 24 Stunden war eine Kö¬ 
nigin ausgekrochen, ln den folgenden Tagen zer¬ 
störten die Bienen die beiden anderen Weiselzellen, 
verfuhren also ohne Belehrung genau so, wie Bie¬ 
nen gewöhnlich in diesem Falle handeln. Noch 
einige Tage später, als fast alle Brut ausgekrochen 
war, begannen die Bienen einen leeren, neuhinzu- 
gesetzten Rahmen ganz kunstgerecht zu bebauen 
und bewiesen gleich durch ihre ersten Versuche, 
dass sie schon auf der Höhe ihrer Baukunst stan¬ 
den. Dasselbe Resultat hatten ähnliche Versuche 
Butkewitschs. Aus allem ergibt sich der Schluss, 
dass die Fähigkeit, Wabenbauten auszuführen, den 
Bienen angeboren ist. — Noch eine andere That- 
Sache aus dem Leben der Bienen lässt sich als 
Beispiel angeborenen Instinktes betrachten. Be¬ 
kanntlich stürzen zwei frisch ausgeschlüpfte Mutter¬ 
bienen sofort aufeinander los und kämpfen, bis eine 
getötet ist. Schneiden w’ir nun zwei Weiselzellen 
aus dem Stock und lassen die Tiere bei uns im 
Zimmer auskriechen, so beginnen sie auch hier das 
tötliche Duell. Da dieser Drang unter den verän¬ 
derten Verhältnissen ganz sinnlos erscheint, so 
weist auch er auf einen vererbten Instinkt hin. 

(Biolog. Zentralbl. XVI, Nr. 18.) Ric. 


Der Suram-Timael. Ein wichtiger Teil der 
transkaukasischen Eisenbahn ist der Suram-Tunnel, 
welcher bei Neu-Zipa beginnt und den Bergstock 
1120 m über dem Spiegel des Schwarzen Meeres ' 
durchdringt. Sein Bau wurde 1886 begonnen, 1890 
vollendet. Die Länge des Tunnels beträgt 3963 m 
und benötigt der Zug etwa 9 Minuten zur Durch¬ 
fahrt. Bei der Bohrung wurde die -Brand’sehe 
Bohrmaschine angewendet und wurden die Arbei¬ 
ten von der Ost- und Westseite aus gleichzeitig in 
Angriff genommen. Der Durchschlag erfolgte am 
12. Oktober 1888. Für die Sprengungen wurde 
Nobel’sches Dynamit verw'endet. Der Bohrbetrieb 
geschah in der Weise, dass innerhalb 24 Stunden 
je drei Arbeiterschichten für die Dauer von Je 8 




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398 


HtlKACHrL'.NGEN UND KlEIXE MnTEILUNGEN. 


Stunden in Thiltigkeit traten. Auf diese Weise konn¬ 
ten innerlialb 2.^ Stunden durchsciuiittlich ^,4 ni 
vorgetneben werden, während man angenoniinen 
hatte, täglicli bk'S 4 rn fürdern zu können. Die 
ersten 150 ni von der Westseite aus liegen in einer 
Curve, der übrige Teil ist geradlinig. Die Zimme¬ 
rung des Tunnels geschah auf englische Art und 
forderte der Durchbruch einen Kostenaufwand von 
IO Millionen Mark. Die Firma Hrand cV Brandau 
m liamburg hatte die Arbeit im Innern, sowie den 
Materialtransport vom 1 unnelciiigange weg zu be¬ 
sorgen In Bezug auf die Arbeitsfortschritte wurde 
beim Suram-Iunnel ein grösserer täglicher Durcli- 
schnitt wie bei den Tunnelarbeiten am Brenner 
und Gotthard erreiclit. Durch die Vollendung die¬ 
ses Tunnels, der im landschaftlich schönsten Teile 
des Kaukasus gelegen ist, wurde die nächste Ver¬ 
bindung zwischen Russland und Mittcln^.i^-' 

Allg. <ist- Lhem, 11. Techii,-Zig. 


/vquarciiiarDe, setzt eine Auflösung von doppel- 
chromsaurem Kali zu und bestreicht hiermit rauhes 
Zeichenpapier. Nach dem Trocknen belichtet man- 
die bchicht im Kopicrrahrnen unter einem Negativ 
Da.s Papier auf dem kein Bild zu erkennen ist' 
v\ird in cm kaltes oder angewärmtes Wasser gelegt- 
dadurch entwickelt sich das Bild. Eventuell hilft 
man noch durch Reiben mit einem Pinsel oder 
ähnliche mechanische Mittel nach. Man kann die 
verschiedensten Farben nehmen (Aquarell, Teig- 
Icmpcra, Pastellfarben und viele andere) und wählt 
diese je nach dem Motiv. - Durcli den Zusatz von 
doppelchromsaurem Kali wird das Gummi arabicum 
beim Belichten im Wasser unlöslich. An den be- 
hchteten Steilen wird also beim v\uswaschen die 
Farbe e.stgehaltcn, während an den anderen Stellen 
das helle Papier zum Vorschein kommt. Statt des 
Gunimiarabicum empfiehlt J. Raphaels den 
Fischleim. ^ 


Neue photographische Positivverfahren. Eim 
Anzahl Mitglieder des Wiener Gameraklub'l habei 
ein Verfahren zur Herstellung von Photographier 
nach Negativ])lattcn au.sgearheitet, das sehr einfacl 
ist, sehr uiaknsch K'irkstuuf Bilder giebt, im Gegen- 
Satz zu den etwas langweiligen, unkünstlenschen. 
flachen Abdrücken, die man sonst gewöhnlich her 
stel t. hine wenn auch schwache Vorstellung gicbl 
nach.stchcndes Portrait.^ Das Verfaliren erfor^dert 
allerdings etwas Maltechnik und, die HaupNachc 
Ges'-hmack. 



rarpimgenvon Ssalzen durch Kathodenstrah- 
len. Vor einigen Jahren hat Goldstein die 
1 hat?ache entdeckt, dass gewisse Salze wie Chlor- 
natnuni, Chlorlithium, Bromkalium, Jodkalium unter 
der hinwirkung von Kathudenstrahlen in cliarak- 
tcristischer \\ eise gefärbt werden. I )ie Farben der 
Salze sind nicht beständig, zum 'Feil ändern sie sich 
nach einiger Zeit, zum -J-cil verschwinden sie voll¬ 
ständig. r)ie L rsachen die.ser VaThtniinJernni' lie¬ 
gen, wie Goldstein jetzt nachweist, in einer aus¬ 
serordentlichen LiciUempfindlichkeit der erzeugten 
farbigen Verbmdungen. Beurteilt man die Lmht- 
einpfmdhchkeit eines Stoffes nach der Zeit, inner¬ 
halb deren er eine sichtbare kräftige Änderung 
direkt unter dem Einfluss des Lichts ohne nach- 
lolgcndes Entwickhmgsverfahren erleidet, so müs¬ 
sen die durch Kathodenstrahlen gefärbten Salze zu 
den hchtcinpfiiidlichsten gezählt werden, die man 
bisher kennen gelernt hat. L’nter phntngrai)hischen 
Glasbildein konnten auf einer geebnet ausgebreite¬ 
ten Salzschicht gut erkennbare Abbildungen crhal- 
ten werden (Man muss ein positives Bild benutzen. 
Weif die belichteten Stellen heller werden.) 

iWifdciiiaiiiis Annalen. ' pj. 


F olgende Prophezcihung, die von dem Kollegium 
dei haynschen Arzte im Jalire 1835 gemacht wurde, 
behndet sich in den Archiven der Nürnberg-Fürther 
psenbaltn. Als e.s vorgeschlagen wurde, diese 
Lime zu bauen, kamen die Arzte des Landes zu¬ 
sammen und erhoben einen förmlichen Protest da¬ 
gegen. „Ortsveräiidcriing, vermittelst irgend einer 
Art von Dampfmaschine'', erklärten .sie, „sollte im 
Interessf der öfientlicheii Gesundheit verbf)ten sein 
Uic raschen Bewegungen können nicht verfehlen 
üei den 1 assagicren die geistige rnnihe „deliriuin 
Uinosiim" genannt, horvorzunifen. „Selbst zuge- 
geben". hiess cs in dem IVote.st, „dass Reisende 
sich freiwillig die.ser (jefahr aiissetzcn, muss der 
Staat wenigstens die Zuschauer beschützen; denn 
der Anlilirk < iner Lokomotive, die in voller Schnel- 
igkeit <Iahinra~t, genügt, diese schreckliche Krank- 
lieit zu erzeugen. Es ist datier unumgänglich nötig 
dass eine Schranke, wenigstens 6 Fuss'h,>ch. auf 
beiden Seiten der Balui errichtet werde.“ nb 


Die Au-tVihnmg'} ge-chiclil iin Ihiiizip folg,>,uler- 
mar^.sen: .Man mi:-clii Guniini arabicum mit einer 

'I l'iv IloiuM iTot. Dr. Kuh.,, u A 

fKr -Ainat, iSg-, X„. 


No. 33 iler Umschau wird piithalt»-ii; 

Ih,- Kii;, ii9<!,:iltPii J.;r M..tci ip. - (IrWtewitz 
Ult (..iitoikuu-i, l’ulvtrriui-hei, llit Kübtiitiielasse 

und .hrt \ crwc-lunn. |■„^Gchrme ini Aitillcritwcsen 1Ö96. 


G. Horalmami's flruckerei, Fr.inkfurt a. M, 


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DIE UMSCHAU 

ÜBERSICHT ÜBER DIE FORTSCHRITTE UND BEWEGUNGEN AUF 
DEM GESAMTGEBIET DER WISSENSCHAFT, TECHNIK, 
LITTERATUR UND KUNST 

herausg:egebeo von 

DR. J. H. BECHHOLD 


Wöchentlich eine Nummer. 

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PosUeitungspreisliste No. 7331a. 

Verlag von: 

H. B«chhold Verlag, Frankfurt a. M. 


Neue Krame 19/31. 


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Preis M. la-. 

Im Ausland nach Coura 
Verantwortlicher Redakteur; 

Otto Adolf Wolters, Frankfurt a. U. 


JSß 23. 1. Jahrg. 


Naehdruck aus eUm Inhalt tUr Ztitaehrifi ohiu ErlatdmU 
<Ur Rtdaktion vtrboUn. 


1897. 5. Juni. 


Die Eigenschaften der Materie. 

Von Professor F. Auerbach. 

Bei dem Interesse, welches weitere Kreise 
den Fortschritten der Wissenschaft, insbe¬ 
sondere der Naturwissenschaft, entgegenbrin¬ 
gen, spielt der Reiz des Geheimnisvollen eine 
bedeutende Rolle. Je geheihinisvoller die Er¬ 
scheinungen sind, je geheimnisvollere Kräfte 
dabei ihr Spiel zu treiben scheinen, desto 
grösseres Aufsehen pflegt es zu erregen, 
wenn der Schleier, sei es auch nur mit einem 
Zipfelchen, gelüftet wird. So kommt-es denn, 
dass schon seit längerer Zeit aus dem grossen 
Gebiete der Physik fast auSschliessKch solche 
Entdeckungen in die grosse Öffentlichkeit 
hineingelangen, bei welchen es sich um Er¬ 
scheinungen oder Wirkungen der Elektrizität 
handelt, dieses unbekannten Etwas, von dem 
man schon so mannigfaltige und so glänzende 
Kundgebungen erhaltei^ hat, von dem selbst 
man aber eigentlich noch kaum etwas weiss. 
Es wäre aber ein Irrtum zu glauben, dass 
die Physik auf anderen Gebieten nicht eben¬ 
falls eifrigst bearbeitet würde, z. B. auf dem 
Gebiete der Erscheinungen, welche die Ma¬ 
terie, der wägbare und greifbare Stoff, dar¬ 
bietet; und es wäre ein weiterer Irrtum zu 
sagen: diese Fortschritte könnten kein erheb¬ 
liches Interesse in Anspruch nehmen, da man 
ja über die Materie schon längst alles Wesent¬ 
liche wisse. Im Gegenteil, es Hegt keine 
Übertreibung darin, wenn wir sagen, dass 
wir von der Materie nicht eben mehr wissen, 
als von der Elektrizität, dass wir auch sie 
nur durch ihre mannigfaltigen Wirkungen, 
durch ihre Veränderungen und Gestaltungen 
kennen, dass wir aber von ihr selbst nichts 
anderes wissen, als dass wir sie eben Materie 
nennen, grade wie wir die Elektrizität Elek¬ 
trizität nennen. Schon der Name besagt, dass 
ein Gegenstand ein Etwas ist, was sich z. B. 
dem Drucke, den wir auf ihn ausüben, ent- 

Unaduu 1897. 


gegenstellt, und aus diesem Widerstande 
schliessen wir auf seine Existenz, grade wie 
wir aus der Ablenkung einer Galvanometer¬ 
nadel auf die Existenz eines elektrischen 
Stromes schliessen. Die Materie ist also weiter 
nichts, als der Inbegriff der Erscheinungen, 
welche auftreten, wenn wir irgend w'elche Er¬ 
scheinungen einleiten, Druck wirken lassen, 
Beanspruchungen ausOben. Warum gerade 
bestimmte und nicht andere Erscheinungen 
auftreten, wissen wir nicht; und wenn es etwas 
höchst rätselhaftes ist, dass die Kathoden¬ 
strahlen vom Magneten abgelenkt werden, 
die Röntgenstrahlen aber nicht, so ist es ge¬ 
nau so geheimnisvoll, dass ein Stück Glas 
bei einer gewissen Beanspruchung springt, 
ein Stück Blei aber nicht. Ünd auch hinsicht¬ 
lich der Mannigfaltigkeit giebt die Materie 
der Elektrizität kaum etwas nach; denn so 
viele Arten von Beanspruchung, von Ein¬ 
griffen es giebt, so viele Eigentümlichkeiten 
weist die Materie auf, und wir können erst 
dann sagen, dass wir die Materie, wenn auch 
nur in ihren Erscheinungsweisen, erforscht 
haben, wenn wir alle ihre Eigenschaften klar 
erkannt und in ein geordnetes System ge¬ 
bracht haben. 

Dass dies nicht so leicht gewesen ist und 
noch ist, ergiebt sich wohl am besten daraus, 
dass noch bis vor einem Menschenalter und 
selbst bis in die gegenwärtige Zeit hinein, 
die verschiedensten Begriffe, Nomenclaturen 
und Gesetze durcheinander gingen und be¬ 
sonders die Autoren verschiedener Gedanken¬ 
richtungen, Techniker, Physiker, Mineralogen, 
schon deshalb einander nicht in die Hände 
arbeiten konnten, weil sie, wenn sie dasselbe 
sagten, verschiedenes meinten, und wenn sie 
verschiedenes sagten, nicht selten dasselbe 
meinten, und nur in dem einen Punkte zusammen¬ 
trafen, dass sie oft, wenn sie etwas sagten, 
überhaupt nichts bestimmtes damit meinten, 
so dass bei näherer Analyse die vermeint- 

33 


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400 


Auerbach, Die Eigenschaften der Materje. 


liehen Errungenschaften ihre Bedeutung ver¬ 
loren. Die folgende Darstellung des Gegen¬ 
standes dürfte darum wohl auch für weitere 
Kreise Interesse haben. 

Die erste Eigenschaft der Materie ist der 
Widerstand, den sie leistet, wenn sie als 
starres Ganze bewegt werden soll, wenn also 
ein Körper, ohne dass sich in der Beziehung 
seiner Teile zu einander etwas ändert, seinen 
Ort im Raum ändert. Dieser Widerstand ge¬ 
gen Bewegung, der sich also in der Beweg¬ 
ungsgeschwindigkeit unter bestimmten Um¬ 
ständen äussert, heisst die Masse des Körpers; 
sie ist, wie die Erfahrung lehrt, für verschie¬ 
dene Körper sehr verschieden gross, und 
zwar variiert sie erstens mit der Grösse des 
Körpers, andererseits mit der Qualität der 
Materie, aus der er besteht. Insoweit sie von 
der Qualität der Materie bedingt ist, insoweit 
also gleich grosse Körper verschiedener Ma¬ 
terie verschiedene Masse haben, spricht man 
von der Dichte der verschiedenen Stoffe. Um 
die Masse zu messen, müsste man Beobacht¬ 
ungen oder Experimente über die Geschwin¬ 
digkeit de$ betreffenden Körpers anstellen; 
man thut dies aber der Schwierigkeit dieser 
Versuche halber im Allgemeinen nicht, son¬ 
dern bestimmt sie indirekt aus dem Gewicht 
des Körpers, mit dem sie, wenigstens an 
einem bestimmten Orte der Erde, praktisch 
übereinstimmt. Es ist aber zu beachten, dass 
Masse und Gewicht prinzipiell ganz verschie¬ 
dene Begriffe sind, das letztere ein Druck, 
den wir uns als Folge einer ganz bestimmten 
Kraft, der Schwerkraft, denken, erstere ein 
ganz allgemeines Charakteristikum für die 
Bewegungsverhältnisse des Körpers. Um zwei 
Kugeln von gleicher Grösse, die eine aus 
Holz, die andere aus Blei, mit gleicher Ge¬ 
schwindigkeit fortzustossen, muss man bei der 
letzteren eine viel grössere Muskelkraft in 
Thätigkeit setzen, man sagt (nicht sehr pas¬ 
send) die Bleikugel habe eine grössere Ka¬ 
pazität lur die bewegende Kraft, und diese 
Kapazität heisst eben ihre Masse. Insoweit 
ist der Begriff der Masse ein sehr einfacher. 
Es mag aber nicht verschwiegen werden, 
dass er nebenher noch in einer ganz andern 
Bedeutung gebraucht wird und dass durch 
diese doppelte Bedeutung grosse Verwirrung 
entstanden ist. Während er nämlich nach der 
obigen Definition von passivem Charakter ist, 
das passive Verhalten der Materie charak¬ 
terisiert, wird er anderwärts auch in aktivem 
Sinne benutzt, als ein Mass der Kraft, die 
man sich von einem Körper ausgehend denkt; 
z. B. als Mass der von den verschiedenen 
Himmelskörpernausgehenden Anziehungskraft. 
Die Masse des Jupiter z. B. bestimmt man 
nicht wie die der Kegelkugel aus der Ge¬ 


schwindigkeit, mit der er sich bewegt, son¬ 
dern aus der Bewegung, die er bei andern 
Körpern (z. B. seinen Monden oder der Erde 
oder den kleinen Planeten) hervorbringt, also 
durch sein aktives Verhalten. Dadurch wer¬ 
den die Verhältnisse sehr verwickelt, und es 
wird unmöglich, sie widerspruchsfrei darzu¬ 
stellen. Es müssten z. B. nach ihrem freien 
Fall auf der Erdoberfläche zu urteilen, alle 
Körper gleiche Masse haben, da sie gleich 
schnell fallen, sie haben aber, wie man findet, 
wenn man sie als Kegelkugeln benutzt, ver¬ 
schiedene Masse u. s. w. Indessen soll hier 
auf diese Frage nicht näher eingegangen 
werden. Es genügt der Hinweis darauf, dass 
selbst in Fragen, die scheinbar so einfach sind, 
noch heute eine prinzipielle Klarheit nicht 
zu Stande gekommen ist. 

Den Bewegungen, bei welchen ein Körper 
als solcher unverändert bleibt, stehen die¬ 
jenigen gegenüber, bei denen seine Teile 
ihre Lage gegen einander, der Körper also 
Gestalt und Volumen ändert. Solche Ver¬ 
änderungen werden erzeugt, indem man Kräfte 
wirken lässt, welche auf die verschiedenen 
Teile des Körpers in verschiedenem Masse 
(und eventuell in verschiedener Richtung) 
wirken. Auch hier tritt ein für den Körper 
charakteristischer Widerstand auf, und dieser 
Widerstand gegen Gestalt- und Grössenänder¬ 
ung heisst seine EU^tizität und wird gemessen 
durch den Modul. Je nach der Art der Be¬ 
anspruchung ist auch der Widerstand ein 
anderer, Elastizität ist also kein einzelner Be¬ 
griff, sondern eine ganze Kategorie. Es giebt 
Zugelastizität, Biegungselastizität, Drillungs¬ 
elastizität, Scherungselastizität, Stosselastizität 
u. s. w. Es giebt aber unter diesen vielen 
Moduln zwei, welche eine prinzipiell beson¬ 
ders einfache Bedeutung haben, nämlich den 
Widerstand gegen eine reine Volumenänder¬ 
ung ohne Gestaltänderung (wobei also der 
Körper sich selbst ähnlich bleibt) und der 
Widerstand gegen eine reine Gestaltänderung 
ohne Volumenänderung. Man kann ersteren 
als Volumenmodul, diesen als Gestaltmodul, 
oder auch ersteren als Kompressions- (resp. 
Dilatations-) Modul, diesen als Deformations¬ 
modul bezeichnen. Da sich alle Veränderun¬ 
gen der Körper aus Volumen- und Gestalt¬ 
änderungen zusammensetzen lassen, so kann 
man alle Moduln auf die beiden letztgenann¬ 
ten zurOckführen und durch sie ausdrücken. 
Es ist dies aber natürlich nicht erforderlich, 
es können auch irgend zwei andere, unter 
Umständen sogar praktischere Grössen ange¬ 
geben werden, um das Verhalten des Körpers 
zu charakterisieren. Wie sich z. B. ein Stahl¬ 
draht gegen Längszug verhält, kann durch 
I Angabe seines Volumen- und Gestaltmoduls 


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Auerbach, Die Eigenschaften der Materie. 


401 


charakterisiert werden, es ist aber praktischer 
und anschaulicher, statt dessen seinen Zug* 
modul und das Verhältnis der bei der Längs¬ 
dehnung zugleich auftretenden Querkontrak¬ 
tion anzugeben; das letztere Verhältnis nennt 
man die Elastizitätszahl des Stoffes. Jeder 
Stoff hat einen bestimmten Zugmodul und 
eine bestimmte Elastizitätszahl, und diese bei¬ 
den ZahFen variieren von einem Stoffe zum 
andern, und selbst für verschiedene Varietäten 
desselben Stoffes sind sie oft recht verschie¬ 
den. Für verschiedene Glassorten z.B. variiert 
der Modul zwischen 4500 und 8500 Kilo pro 
qmm, die Elastizitätszahl zwischen 0,17 und 
0,30. Übrigens ist bisher stillschweigend an¬ 
genommen worden, dass es sich um Körper 
handelt, welche sich nach allen Richtungen 
gleich verhalten, um sogenannte isotrope 
Körper; ein heterotroper Körper, z. B. ein 
Krystall oder ein Holz hat für jede Richtung 
einen andern Modul und für jede Querricht¬ 
ung eine andere Elastizitätszahl, so dass sich 
hier die Zahl der zur Charakteristik des Ma¬ 
terials anzugebenden Konstanten wesentlich 
erhöht. 

Die Elastizität ist aber nicht die einzige 
Eigenschaft, welche zur Geltung kommt, wenn 
ein Körper auf Volumen- und Gestaltänder¬ 
ung beansprucht wird. Wenigstens nicht, wenn 
diese Beanspruchung grösser und grösser 
wird. Es tritt dann nämliCh ein Moment ein, 
wo nach Aufhören der Beanspruchung nicht 
mehr, wie bisher, eine vollständige, sondern 
nur eine partielle Rückkehr in den alten Zu¬ 
stand erfolgt, also ein von dem alten Zustande 
verschiedener, neuer natürlicher Zustand sich 
herstellt. Die Grösse der beanspruchenden 
Kraft, bei welcher dies eintritt, heisst die 
Elastizitätsgrenze, die Grenze der elastischen 
Vollkommenheit, oder kurz die elastische Voll¬ 
kommenheit. Sie wird, wie die Elastizität, 
durch einen Modul, Grenzmodul, gemessen. 
Man könnte sie aber noch anders messen, 
und das würde in vielen Fällen einen viel 
tieferen Einblick in das Verhalten der Materie 
gewähren. Der Grenzbeanspruchung, also der, 
welche, wenn sie aufhört, einen Rest von 
Veränderung in dem Körper zurücklässt, ent¬ 
spricht, während sie wirksam ist, eine gewisse, 
und zwar kräftige Veränderung des Körpers, 
eben die, von welcher nachher ein Teil zu¬ 
rückbleibt. Diese während der Wirksamkeit 
der Grenzkraft vorhandene Deformation könnte 
man auch als Mass der elastischen Vollkom¬ 
menheit einführen, es würde das diejenige 
Veränderung sein, welche ein Körper unter 
Wirkung einer Kraft nicht mehr erfahren darf, 
ohne sich eben dauernd zu verändern, oder, 
was offenbar dasselbe ist, diejenige Verän¬ 
derung, die er eben noch aushalten kann. 


ohne sich dauernd zu verändern. Man kann 
diese Grenze die Grenzveränderung nennen, 
es kann eine Volumen- oder Gestaltänderung, 
eine Dehnung, eine Biegung u. s. w. sein. 

An diese Begriffe nun lässt sich eine 
Frage knüpfen, die dem Leser sich vermut¬ 
lich schon aufgedrängt hat. Es sind hier drei 
Begriffe aufgestellt worden: Elastizitätsmodul, 
Grenzmodul und Grenzveränderung. Im ge¬ 
wöhnlichen Leben spricht man auch von 
elastischen und nicht elastischen, von mehr 
oder weniger elastischen Körpern. Was meint 
man damit? Den Elastizitätsmodul? Diesen 
ganz gewiss nicht. Man nennt z.B. das Kaut¬ 
schuk sehr elastisch, und dieses übt einen 
sehr geringen Widerstand gegen Dehnung 
aus, es lässt sich sehr leicht dehnen. Man 
meint eher das grade Gegenteil, man nennt 
einen Körper elastisch, wenn sein Modul sehr 
klein ist. Aber man verbindet damit doch, 
mehr oder weniger unbewusst, noch etwas 
anderes. Wenn man das Kautschuk elastisch 
nennt, so will man damit ausdrOcken, dass 
es nach Aufhören der, Kraft wieder in den 
ursprünglichen Zustand zurückkehrt. Hat es 
also einen grossen Grenzmodul? Auch diesen 
hat es nicht; denn es genügen ziemlich kleine 
Kräfte, um es dauernd zu verändern. Aber 
es hat eine sehr grosse. Grenzveränderung, 
es lässt sich, was eben schon durch Wirkung 
einer kleinen Kraft geschieht, sehr stark 
dehnen, um nachher doch noch in den ur¬ 
sprünglichen Zustand zurückzukehren. Diese 
starke Grenzveränderung hat man im Auge, 
wenn man im gewöhnlichen Leben einen 
Körper elastisch nennt. Doch dies nur bei¬ 
läufig. 

Sind wir nun mit dem Verhalten der 
Körper gegenüberEingriffen, welche ihre Teile 
gegen einander verschieben, fertig ? Ja und nein. 
Ja, denn wir haben ausgedrückt, wie sich die 
Körper während der Beanspruchung und wie 
sie sich nachher verhalten. Nein, denn wir 
haben den Fall noch nicht behandelt, -dass 
während der Beanspruchung eine Katastrophe 
eintritt, dass die Erscheinung aufhört, ste¬ 
tigen Charakters zu sein, wie wir bisher 
stillschweigend angenommen haben. Die Ka¬ 
tastrophe, die bei einer Ober ein gewisses 
Mass hinausgehenden Beanspruchung eintritt, 
besteht darin, dass der Zusammenhang der 
den Körper bildenden Teile an irgend einer 
Stelle aufgehoben wird. Der Körper zer¬ 
springt, zerbricht, zerreisst u. s. w. Diese 
Katastrophe, d. h. Brucherscheinung, braucht 
deshalb nicht etwa unregelmässig zu sein, sic 
ist es allerdings in den meisten Fällen, man 
kann aber durch exakte Anordnung des Ver¬ 
suchs es dahin bringen, dass das Zerspringen, 
Zerreissen u. s. w. mit mathemathischer Regel- 

23 * 




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402 


Auerbach, Die Eigenschaften der Materie. 


mässigkeit erfolgt, dass z. B. ein genau kreis¬ 
förmiger Sprung oder eine genau ebene Bruch¬ 
fläche entsteht u. s. w. Die Beanspruchung, 
bei welcher die Katastrophe erfolgt, heisst 
die Festigkeit des Körpers, sie wird wie die 
Elastizitätsmodul und die Elastizitätsgrenze 
(Vollkommenheitsmodul) in Gewichten pro 
Flächeneinheit angegeben und heisst darum 
auch Festigkeitsmodul. Man kann sie aber 
auch, ebenso wie die Grenze, anders messen, 
nämlich durch diejenige Veränderung, welche 
der Trennung der Teile unmittelbar vorauf¬ 
gegangen ist; man sieht sogar ein, dass diese 
Grösse weit bezeichnender ist, denn dieTeile 
des Körpers werden eben gewisse Deforma¬ 
tionen ertragen können, grössere nicht; in¬ 
dessen ist nun einmal der Modul auch als 
Mass der Festigkeit eingefOhrt. Natürlich giebt 
es wiederum nicht einen einzigen Modul, 
sondern je nach der Beanspruchung sehr ver¬ 
schiedene : die Zugfestigkeit, Biegungsfestig¬ 
keit, Druckfestigkeit, Scherungsfestigkeit, Stoss- 
festigkeit u. s. w. Es giebt Stoffe, die eine 
grosse Zug-, aber eine kleine Druckfestigkeit 
haben u. s. w. 

Unter diesen vielen Arten von Festigkeit 
giebt es nun eine, die bisher eine sehr ver¬ 
einsamte Rolle in dem System der für einen 
Stoff charakteristischen Grössen gespielt hat 
und auch einen besonderen Namen trägt: die 
Härte. Dass die Härte eine besondere Art 
von Festigkeit ist, hat man wohl prinzipiell 
niemals bezweifelt, aber man hat es trotzdem 
nie gewagt, oder doch nicht vermocht, sie in 
die verschiedenen Festigkeitsarten einzuord¬ 
nen. Was für eine Beanspruchung ist es, in 
Bezug auf welche man die Festigkeit eines 
Körpers seine Härte nennt? Gewöhnlich wird 
dis Härte eines Körpers untersucht, indem 
man ihn mit verschiedenen Spitzen, deren 
Härte man kennt, zu ritzen versucht und 
sieht, von welchen dieser Spitzen er wirklich 
geritzt wird. Man gelangt auf diese Weise 
dazu, alle Körper in eine Skala, die soge¬ 
nannte Härteskala einzuordnen, welche mit 
Talk (Härte i) beginnt und mit Diamant 
(Härte lo) endet. Damit ist offenbar nicht 
gesagt, dass der Diamant zehnmal so hart 
ist wie Talk, sondern eben nur, dass er härter 
ist, als die neun anderen Stoffe. Die zehn 
Zahlen haben lediglich die Bedeutung von 
Nummern. Das ist nun so ziemlich das nied¬ 
rigste Niveau, das unsere Erkenntnis in einem 
Gebiete einnehmen kann, wenn wir uns mit 
Nummern begnügen, statt wirklich vergleich¬ 
bare Grössen anzugeben. Das hat man auch 
eingesehen und versucht, wirklich Härten zu 
messen. Aber von Erfolg sind diese Versuche 
nicht gewesen und konnten es nicht sein, 
weil der Vorgang des Ritzens ein viel zu 


komplizierter und unregelmässiger ist; er ist 
geeignet, um rasch und gut sichtbar die Härte- 
Rangordnung zu erkennen, aber er ist zu 
Messungen, und nun gar zu wissenschaft¬ 
lichen Messungen nicht brauchbar. Was thut 
man denn eigentlich, wenn man mit einer 
Nadel eine Oberfläche ritzt? Man drückt 
auf sie und bewegt dabei den drücken¬ 
den Körper zugleich vorwärts. Und was ist 
der Erfolg? Man trennt auf der Trace, über 
die man hinfährt, einige Teile des Körpers 
vom Zusammenhänge mit dem übrigen los, 
man beansprucht also den Körper auf Festig¬ 
keit, aber in einer so unregelmässigen Weise, 
wie wenn man ein Stück Zucker mit der Hand 
zerbricht; so gut wie man auf letztere Weise 
nicht die Festigkeit des Zuckers bestimmen 
kann, so wenig kann man auf erstere Weise 
die Härte eines Stoffes ermitteln. Man muss 
vielmehr alles, was an der Methode ver¬ 
wickelt, oder unklar, oder überflüssig ist, fort¬ 
lassen, resp. durch klare Faktoren ersetzen. 
Überflüssig ist die Bewegung der Spitze, 
man braucht nur einfach mit ihr auf die 
Fläche zu drücken. Diesen Druck muss man 
ganz exakt und normal ausüben. Und um 
dem Mineral nicht gleich so zu sagen in das 
Fleich zu schneiden, d. h. gleich ein ganzes 
Loch hineinzudrucken, muss man die viel zu 
scharfen Spitzen durch etwas sanfteres er¬ 
setzen: durch einen Körper mit einem Ende, 
das einen Teil einer Kugelfläche bildet! Je 
kleiner diese Kugel ist, desto mehr nähert 
sich ein solches Körperende einer Spitze; es 
ist eben nur keine scharfe, sondern eine 
sanfte Spitze. Mit andern Worten: man muss 
in einem'geeigneten Apparate mit einer „Linse“ 
gegen eine ebene „Platte" drücken. Es tritt 
dann, wenn man den Druck steigert, ein Mo¬ 
ment ein, wo sich um die Druckstelle herum 
ein feiner Sprung bildet, bei Glas kreisför¬ 
mig (wie mit dem Zirkel geschlagen), bei 
Krystallen eckig, immer aber ganz exakt in 
der Form "und sehr zart in der Intensität. 
Diese exakte Methode der Härtemessung ist 
in den letzten Jahren durchgeführt worden 
und erlaubt nun, für die Härte, die man ein¬ 
fach „EindringungsfestigkeiF nennen kann, 
Zahlen anzugeben, welche wirklich Zahlen 
sind und Drucke pro Flächeneinheit bedeuten. 
Es hat sich auf diese Weise z. B. gezeigt, 
dass der Saphir, der in der Nummernskala 
die Nummer 9 hat, nicht 9 mal so hart ist, 
wie Talk, sondern ungefähr 200 mal so hart. 

Um den Gang der Betrachtung nicht zu 
unterbrechen, ist soeben eine kleine Notlüge 
gemacht worden. Es war von einem Sprung 
die Rede, welcher eintritt, wenn die Bean¬ 
spruchung grösser und grösser wird. Es ist, 
wenigstens bei manchen Körpern, möglich, 


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Pulvermacher, Die Rübenmelasse und ihre Verwertung. 


403 


diese Katastrophe zu vermeiden. Wenn man 
nämlich bei ihnen ganz behutsam den “Druck 
steigert, so kann man ihn immer weiter stei¬ 
gern, ohne dass ein Sprung eintritt. Der 
Körper passt sich vielmehr den neuen Ver¬ 
hältnissen nach und nach an, er verändert 
dauernd seine Gestalt. Wenn man z. B. 
Versuche mit der Linse und der Platte am 
Steinsalz anstellt, so findet man nach dem 
Herausnehmen der Platte aus dem Druck¬ 
apparat auf ihrer Oberfläche keinen Sprung, 
wohl aber eine kreisförmig begrenzte Mulde, 
ein wirkliches Loch, aber ein Loch, das nicht 
durch Materialverlust, sondern durch Kom¬ 
pression entstanden ist. Körper, die sich so 
verhalten, nennt man plastisch oder ge¬ 
schmeidig, und im Gegensatz dazu diejenigen, 
welche springen, spröde: Steinsalz ist plas¬ 
tisch, Glas ist spröde. Da haben wir nun 
eine neue Eigenschaft der Materie, und zwar 
schon die fünfte. Und auch hier ist es wie¬ 
der eine ganze Kategorie von Eigenschaften, 
denn es giebt Zugplastizität, Druckplastizität, 
Eindringungsplastizität u. s. w. Es kann ein 
und derselbe Stoflf gegen Zug spröde und 
doch gegen Eindringung plastisch sein. Das 
Merkwürdige bei dieser Eigenschaft der 
Stoffe, wodurch sie sich von den anderen 
Eigenschaften unterscheiden, ist der schein¬ 
bar ganz krasse Gegensatz zwischen zwei 
Extremen. Es giebt Körper, die sehr elas¬ 
tisch,-elastisch, ziemlich elastisch, wenig elas¬ 
tisch, sehr wenig, gar nicht elastisch sind. 
Es giebt aber allem Anschein nach nur Kör¬ 
per, die für eine bestimmte Art der Bean¬ 
spruchung, z. B. Druck, durchaus spröde sind, 
und solche, die durchaus plastisch sind. Es 
lässt sich das sehr leicht exakt ausdrücken: 
Erstere, z. B. Glas, erreichen ihre Festig¬ 
keitsgrenze schon in demselben Augenblicke, 
in dem sie die Elastizitätsgrenze erreichen: 
sie können sich überhaupt nicht dauernd ver¬ 
ändern, sie müssen gleich brechen; letztere 
umgekehrt erreichen ihre Festigkeitsgrenze, 
vorsichtig behandelt, nie, sie bleiben immer 
stetig. So schroff ist nun dieser Gegensatz, 
wie sich bei näherer Betrachtung zeigt, frei¬ 
lich nicht, es kommt z. B. ganz auf die Tem¬ 
peratur an (bei hohen Temperaturen ist auch 
Glas plastisch) und, was bisher nicht ge¬ 
nügend beachtet, hier aber schon wiederholt 
betont worden ist, auf die Vorsicht, mit der 
man die Beanspruchung steigert. Je mehr 
man sich mit solchen Versuchen beschäftigt, 
desto mehr neigt man zu der Ansicht, dass es 
vielleicht im Prinzip Oberhaupt keine absolut 
spröden Körper giebt, dass die Plastizität viel¬ 
mehr wie alle anderen Eigenschaften der Materie 
eine graduelle ist, die bei manchen Körpern 
stark, bei anderen nur schwach ausgebildet ist. 


• Hiermit sind diejenigen Eigenschaften des 
Stoffes, welche ihn allgemein physikalisch 
charakterisieren, nach dem heutigen Stande 
der Kenntnisse erschöpft: Masse, Elastizität, 
elastische Vollkommenheit, Festigkeit und 
Plastizität. Bedenkt man aber, dass jede die¬ 
ser Eigenschaften eine ganze Kategorie sol¬ 
cher dargestellt, verschieden für verschiedene 
Arten der Beanspruchung, dass sie ausser¬ 
dem für Krystalle und organische Stoffe in 
verschiedenen Richtungen verschieden sind, 
erwägt man endlich, dass zu diesen allge¬ 
meinen Eigenschaften noch besondere kom¬ 
men, wie Zähigkeit und Capillarität, ferner elek¬ 
trische, magnetische, optische, chemische 
u. s. w., so wird man begreifen, dass die 
Wissenschaft der Materie, trotz ihres relativ 
hohen Alters, noch viel zu thun hat, ehe 
sie, auch nur als Phänomenologie, als gesetz- 
mässige Darstellung der Gesamtheit der Er¬ 
scheinungen betrachtet, den Anspruch auf 
Vollständigkeit erheben kann. 


Die Rübenmelasse und ihre Verwertung. 

VoQ Dr. G. Pulvermacher. 

Ihre grössten Triumphe hat die Chemie 
da zu verzeichnen, wo es ihr gelang, anschei¬ 
nend wertlose Stoffe der Industrie dienstbar 
zu machen. Wer denkt, wenn er im licht¬ 
durchfluteten Ballsaale unsere Schönen in 
Seidentoiletten aller Farbnuancen dahin schwe¬ 
ben sieht, an den schwarzen, übelriechenden 
Steinkohlenteer, aus dem durch die bahnbre¬ 
chenden, jahrelange Mühen erfordernden Ar¬ 
beiten unseres unvergesslichen A. W. von 
Hofmann eine Farbenpracht hervorgezau¬ 
bert wurde, die ihresgleichen sucht? Und 
wenn wir beobachten, wie in der traulichen 
Dämmerstunde des five o’clock tea zarte Fin¬ 
ger das marmorglänzende Zuckerwürfelchen 
in den duftenden Trank hinabgleiten lassen, 
dann richten sich unsere Gedanken ebenso 
wenig auf die Melasse, den grünlich braunen, 
dickflüssigen Syrup von widerwärtigem Ge¬ 
schmack, der uns dieses im Haushalte unent¬ 
behrliche Nahrungsmittel liefert. Dies ist 
auch im allgemeinen garnicht erforderlich; 
denn wer weiss, ob wir an allen den die 
Sinne erfreuenden fertigen, in geschmackvol¬ 
ler Umgebung vorliegenden Produkten der 
menschlichen Arbeit den vollen Genuss haben 
würden, wenn wir über jede einzelne Phase 
der Herstellung genau unterrichtet wären. 

Gleichwohl erscheint es nicht ohne Inte¬ 
resse zu verfolgen, wie das AJ^fallprodukt 
eines der wichtigsten und ausgedehntesten 
Industriezweige, der Rübenzuckerfabrikation, 


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404 


PüLVERMACHER, DiE RObENMELASSE UND IHRE VERWERTUNG. 


welches jetzt in Deutschland allein in einer 
Menge von etwa lo Millionen Zentnern jähr¬ 
lich erzeugt wird, von neuem der Industrie, 
der Landwirtschaft und endlich auch dem 
Steuerfiskus nutzbar gemacht wird. 

Wie entsteht Melasse und was ist sie? — 

Der w'eisse Zucker, der uns in der be¬ 
kannten Hut- oder Würfelform oder auch in 
gemahlenem Zustande aus den Schaufenstern 
unserer Kaufleute entgegenstrahlt, löst sich sehr 
leicht in Wasser auf, und wenn man eine 
solche klare Lösung eindampft, scheidet er 
sich wieder in schönen weissen Krystallen 
aus, die um so grösser sind, je langsamer man 
das Eindampfen bewerkstelligt. Durch die 
Gegenwart anderer, ebenfalls in Wasser lös¬ 
licher Stoffe wird die vollständige Krystalli- 
sation des Zuckers stark beeinträchtigt, be¬ 
sonders wenn diese Stoffe selbst nicht kry- 
stallisationsföhig sind, und es scheidet sich 
beim Konzentrieren einer solchen Zuckerlös¬ 
ung um so weniger Zucker aus, je mehr 
„Nichtzucker*^ darin enthalten ist. Bei der 
Verarbeitung des Rübensaftes auf Zucker 
gehen die zahlreichen in der Rübe vorhan¬ 
denen Stoffe, deren Natur und Eigenschaften 
uns zum Teil noch fremd sind, in die Ab¬ 
läufe der verschiedenen KrystalHsationen 
über und häufen sich schliesslich in dem 
letzten Synip der Rübenzuckerfabriken der¬ 
artig an, dass eine Krystallisation des Zuckers 
überhaupt nicht mehr eintritt. Dies ist die 
Melasse, welche noch 50 pCt. durchaus un¬ 
veränderten Zucker von gleicher Krystalli- 
sationsfähigkeit und von gleichen Eigenschaf¬ 
ten des im ursprünglichen Saft vorhandenen 
enthält, der nur durch die ihn begleitenden 
fremden Stoffe unfähig ist, in seiner ursprüng¬ 
lichen Form wieder aufzutreten. Ausser den 
50 pCt. Zucker haben wir in der Melasse 
20 pCt. Wasser und 30 pCt. Nichtzucker; 
letzterer besteht aus 10 pCt. Mineralsalzen, 
welche die Rübe beim Wachstum dem Boden 
entnommen hat, und 20 pCt. organischer Sub¬ 
stanzen von zum Teil sehr komplizierter Zu¬ 
sammensetzung. Da sind Farbstoffe, ferner 
Säuren der verschiedensten Art, stickstoffhal¬ 
tige Substanzen und Zersetzungsprodukte des 
^ Eiweisses. 

Als Nahrungs- oder Genussmittel für den 
Menschen ist die Melasse, diese schwarze, 
fadenziehende Flüssigkeit von höchst wider¬ 
wärtigem Geruch und Geschmack nicht zu 
verwenden. Bis zur Einführung der Ent¬ 
zuckerungsverfahren fand die Melasse ihre 
Verwendung in der Spiritnsfabrikation. Zu 
dem Ende wird die mit Wasser verdünnte 
und angewärmte Melasse mittels Hefe ver- 
gohren. Der Zucker erleidet hierdurch eine 
Spaltung in Alkohol und Kohlensäure. Un¬ 


terwirft man dann die Flüssigkeit der Destil¬ 
lation, so gehen Alkohol und Wasser über, 
die nicht flüchtigen Bestandteile bleiben in 
konzentrierter Gestalt zurück. Man nennt 
die Destillation einer alkoholhaltigen Flüs¬ 
sigkeit das Brennen, das Destillat, einen 
ca. 4oprozentigen Alkohol, Branntwein. Durch 
Rektifikation des Branntweines entsteht der 
alkoholreichere Weingeist oder Spiritus. Der 
nach vollendeter Destillation verbleibende 
salzreiche Rückstand, die Schlempe, kann 
direkt als Düngemittel verwendet oder durch 
Trocknen und Glühen in Schlempekohle, das 
Rohmaterial für Potaschegewinnung, überge¬ 
führt werden. 

Die Melassebrennerei ist nun durch die 
im deutschen Reiche zugunsten der Kartof¬ 
felspiritusindustrie erfolgte Steuererhöhung 
vom Jahre 1895 so gut wie unmöglich ge¬ 
macht worden. Gleichzeitig ist der Export 
nach Frankreich, welches bisher die grössten 
Mengen deutscher Melasse auf Spiritus ver¬ 
arbeitete, durch erhöhten Eingangszoll äus- 
serst begrenzt. Durch die gesetzlichen Mass¬ 
nahmen hat die Melasse naturgemäss eine 
bedeutende Entwertung erlitten. Die Furcht 
der Regierung, dass die Kartoffelspiritusbrcn- 
nereien durch Überproduktion der Melasse¬ 
brennereien geschädigt werden, erscheint 
durchaus nicht begründet, da die Melassc- 
brennerei innerhalb der letzten 8 Jahre nur 
annähernd pCt. der gesamten Spirituser¬ 
zeugung erreichte. Ausserdem hätte man be¬ 
rücksichtigen müssen, dass der Melassespiri¬ 
tus in Notjahren einen Ersatz ftlr den Aus¬ 
fall an Getreide- und Kartoffelspiritus bietet 
und dass der Dungwert der Schlempe ein 
sehr grosser ist. Diese Erwägungen sind 
jedoch nicht angestellt worden, und so bleibt 
die Thatsache bestehen, dass die Melasse¬ 
brenner ihren Betrieb nicht mehr aufrecht 
halten können und dass eine für die Land¬ 
wirtschaft wichtige Industrie ihrer gänzlichen 
Vernichtung verfallen ist. 

Ihre ausgedehnteste und rationellste Ver¬ 
wertung findet die Melasse durch EnU 
Zuckerung. Mannigfach sind die Methoden, 
welche ftlr diesen Zweck ausgearbeitet und 
im Grossbetriebe angewendet wurden, aber 
nur einem Verfahren war es beschieden, sich 
bis in die neueste Zeit, wo durch die un¬ 
günstigen Verhältnisse auf dem Zuckermarkte 
auch die Melasseentzuckerung mit grossen 
Schwierigkeiten zu kämpfen hat, siegreich zu 
behaupten. Es ist dies das Strontianverfah- 
ren, welches sich nicht nur durch die Ele¬ 
ganz seiner Technik auszeichnet und ermög¬ 
licht, den Zuckergehalt der Melasse nahezu 
verlustlos auszuscheiden, sondern auch Säfte 
liefert, aus denen unmittelbar Raffineriepro- 


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Pulvermacher, Die Rübenmelasse und ihre Verwertung. 


405 


dukte dargestellt werden können. Das Prin¬ 
zip besteht darin, den Zucker in Gestalt ei¬ 
ner unlöslichen Strontianverbindung aus der 
Melasse abzuscheiden und dann auk dieser 
Verbindung rein zu erhalten. Schon im Jahre 
1849 nahmen Dubrunfaut und Leplay 
für Frankreich ein Patent auf Erzeugung eines 
schwer löslichen Strontianzuckers; sie kamen 
jedoch nicht zur praktischen Ausführung in¬ 
folge der schwierigen Beschaffung des Stron- 
tianits, dessen hauptsächlicher, nicht sehr er¬ 
giebiger Fundort das schottische Gebirgsdorf 
Strontian war, nach dem das Mineral seinen 
Namen erhalten hgt. Erst als man im An¬ 
fang der siebenziger Jahre in Westfalen 
Strontianit in grösseren Ablagerungen ent¬ 
deckte, wurde in Deutschland die Ausbildung 
eines technisch brauchbaren Verfahrens zur 
Zuckergewinnung aus Melasse angebahnt 
und in zwei Fabriken mit Erfolg verwendet. 
Unabhängig von diesen unter Geheimhaltung 
des Verfahrens arbeitenden Fabriken fand 
Professor C. Scheibler sein ihm 1880 pa¬ 
tentiertes „Verfahren zur Darstellung von 
Strontianzucker aus Melassen und Syrupen.“ 

Es ist ein langer Weg, den der in der 
unappetitlichen Melasse schlummernde Zucker 
zu durchlaufen hat, ehe er uns in schneeiger 
Weisse die untrügliche Kunde seines Daseins 
giebt. 

Zuerst fliesst die Melasse in eine konzen¬ 
trierte heisse Strontianlösung, welche durch 
Brennen und nachheriges Löschen und Aus¬ 
laugen des natürlich vorkommenden wie des 
im Betriebe entfallenden kohlensauren Stron¬ 
tiums bereitet wird. Die Menge dieser Lö¬ 
sung ist in demjenigen Verhältnis zu der 
Melasse gewählt, dass auf ein Molekül Zucker 
derselben drei Moleküle Strontian kommen. 
In kurzer Frist scheidet sich der Zucker als 
Bistrontiumsaccharat ab, die Flüssigkeit ent¬ 
hält die Nichtzuckerstoffe der Melasse nebst 
dem überschüssig zugesetzten dritten Mole¬ 
kül Strontian. Mittels grosser unter Luft¬ 
leere arbeitender Absaugefilter, Nutschen ge¬ 
nannt, wird der Strontianzucker von der 
Lauge getrennt und mit einer loprozentigen 
reinen Strontianlauge gedeckt. Aus den hier¬ 
bei entstehenden strontianhaltenden Laugen 
wird durch Erkalten und nachheriges Saturie¬ 
ren mit Kohlensäure der Strontiangehalt als 
Strontianhydrat (braunes Sah) resp. kohlen¬ 
saurer Strontian (brauner Schlamm) zurück¬ 
gewonnen, welche beide wiederum in den 
Betrieb eingeführt werden, während die stron- 
tianfreie Niohtzuckerlauge, die Schlempelauge, 
durch Eindampfen und Brennen auf Schlempe¬ 
kohle verarbeitet wird. 

Das reine Saccharat wird von den Nut¬ 
schen abgehoben und in flachen eisernen , 


Kasten, mit kaltem Wasser übergossen, 
ca. 36 Stunden in einem Kühlhause, dessen 
Temperatur unter 10 ^ C. gehalten wird, sich 
selbst Oberlassen. Hierdurch tritt eine Zer¬ 
setzung des Saccharats in Strontianhydrat- 
krystalle und strontianhaltige Zuckerlösung 
ein. Der Kasteninhalt wird dann auf einem 
Behälter mit Siebboden ausgeschlagen, zer¬ 
quetscht und mit kaltem Wasser abgespült, 
die Krystalle werden in der Centrifuge trocken 
geschleudert (Schleudersalz) und wieder zur 
Scheidung des Zuckers aus der Melasse be¬ 
nutzt, die strontianhaltige Zuckerlösung nach 
zweimaligem Saturieren mit Kohlensäure und 
darauffolgende Filtration vom Strontian befreit, 
welcher als kohlensaurer Strontian (weisser 
Schlamm) wieder in den Betrieb eingeftlhrt 
wird, indem manweissen und braunen Schlamm 
gemengt unter Zusatz von Sägemehl zu Zie¬ 
geln formt, trocknet und brennt, die Glühmasse 
löscht und auslaugt. 

Die strontianfreie Zuckerlösung ist ein 
Dünnsaft mit einem Gehalt von ca. 15 pCt. 
Zucker, welcher nur noch geringe Mengen 
organischer und anorganischer Nichtzucker¬ 
stoffe enthält. Er wird in grossen Verdampf¬ 
apparaten unter Luftleere konzentriert, der so 
entstehende, 50 pCt. Zucker enthaltende Dick- 
sa/t über Knochenkohle filtriert und im 
Vacuum zur Füllmasse verkocht. Durch Ab¬ 
schleudern des Syrups in Zentrifugen, Decken 
mit Dampf oder Wasser und Trockenschleu¬ 
dern erhält man endlich den reinen weissen 
Zucker; die Syrupe werden auf minderwertige 
Produkte verarbeitet. 

Der Strontianzucker gestattet infolge seiner 
Brüchigkeit nicht die Herstellung von Broden. 
Er wird daher in Gestalt von Würfeln und 
Mehl aller Art in den Handel gebracht. 

Von der Gesamtproduktion Deutschlands 
an Melasse, die oben bereits mit 10 Millionen 
Zentnern verzeichnet war, wird jetzt reichlich 
die Hälfte nach dem Strontianverfahren 
entzückert. 

Das neue Zuckersteuergesetz plante an¬ 
fangs eine Extrabesteuerung der Malasseent¬ 
zuckerungsanstalten. Bei den gegenwärtig 
äusserst niedrigen Zuckerpreisen wäre dann 
der Weiterbetrieb derselben wohl in Frage 
gestellt worden. Eine solche Bestimmung 
wäre auch garnicht gerechtfertigt, da die Menge 
des aus der Melasse gewonnenen Zuckers nur 
ca. 6 pCt. der gesamten Produktion Deutsch¬ 
lands beträgt und eher von einer Einschränk¬ 
ung der Rübenproduktion Vorteil zu erwarten 
wäre. Man hat eine Besserung der wirtschaft¬ 
lichen Lage durch eine andere Verwertungsart 
der Melasse angestrebt, durch die Verfütterung 
derselben. Hierdurch soll der Nährwert des 
Zuckers dem Vieh zu Gute kommen, anderer- 




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4o6 


Pulvermacher, Die Röbenmelasse und ihre Verwertung. 


seits bleiben die Dungstoffe, welche dem Boden 
durch Rübenbau entzogen werden, der Land¬ 
wirtschaft erhalten. Die Frage ist jedoch 
noch unentschieden, ob die Melasse wirklich 
ein wertvolles Futtermittel bildet; ausserdem 
sind die kleinen Landwirte Neuerungen schwer 
zugänglich und haben sich von der Verfütterung 
ausgeschlossen, welche bis jetzt fast nur von 
Zuckerfabriken mit eigener Rübenwirtschaft 
ausgeführt wird. Daher wird es wohl einer 
langen Zeit bedürfen, ehe diese Verwertungs¬ 
art der Melasse sich in grösserem Massstabe 
einbürgert. 

Anfangs wurde die Melasse in natura oder 
mit Wasser verdünnt, verfüttert. Aber bald 
machten sich bei dieser Art und Weise Nach¬ 
teile geltend; insofern das Hantieren mit einer 
Flüssigkeit an und für sich mit Verlusten ver¬ 
knüpft ist, vor allem aber beim Überschreiten 
gewisser Quantitäten die schädlichen Wir¬ 
kungen der in der Melasse vorhandenen Kali¬ 
salze sich bemerkbar machten, und zwar durch 
starke laxierende Eigenschaften. Man suchte 
daher der Melasse für den vorliegenden Zweck 
eine handelsfähige Form zu geben, und ferner¬ 
hin durch die Wahl der Beimengungen der 
laxierenden Wirkung entgegen zu treten. Die 
in Anwendung gebrachten Kraftfuttermittel wie 
Palmkemkuchenmehl, Kokosnussmehl, Weizen¬ 
kleie, sowie Melasseschnitzel u. a., von denen 
man die Melasse aufsaugen Hess, beseitigten 
zwar zum Teil diese Übelstände, erwiesen sich 
aber infolge des hohen Preises als nicht rentabel. 

Das konservierende Vermögen der Melasse 
gegenüber Blut, veranlasste weiterhin die 
Einführung einer entsprechenden Futter¬ 
mischung; man setzte dem Blut 25pCt. Me¬ 
lasse hinzu und Hess diese Mischung von 
einem der im Handel befindlichen Futterstoffe 
aufsaugen. Das Produkt wurde dann geknetet, 
getrocknet und in Form von Kuchen oder 
grobem Pulver verwendet. Jedoch darf hier¬ 
bei nicht ausser Acht gelassen werden, dass 
das Blut kranker Tiere grosses Unheil stiften 
kann. 

Die meisten Vorzüge scheint eine Futter¬ 
mischung in sich zu vereinigen, deren Zu¬ 
sammensetzung auf den ersten Blick hin 
Befremdung erregt, nämlich das Melassetorf¬ 
futter. Der Torf, der bisher nur als Brenn¬ 
oder Streumittel benutzt wurde, hat zwar 
geringen Nährwert, absorbiert aber bedeutende 
Mengen von Melasse, mit der er ein billiges, 
handliches und haltbares Futter liefert. Die 
in dem Torf vorhandenen Humussäuren kom¬ 
pensieren die abführenden Salze der Melasse, 
die Torffasern üben auf die Darmthätigkeit 
eine vorteilhafte Wirkung aus. Mit dieser 
Futtermischung sollen die besten Erfahrungen 
gemacht worden sein; die Tiere gewinnen 


ein besseres Aussehen, ihre Fresslust erhöht 
sich, der Milchertrag steigt. 

Wenngleich die MelassenverfÜtterung mehr 
und mehr an Boden zu gewinnen' scheint, so 
wird in den beteiligten Kreisen vor der Ab¬ 
gabe an hochtragende Tiere und Jungvieh 
gewarnt und im allgemeinen geraten, zunächst 
mit kleinen Portionen zu beginnen und diese 
ganz allmählich zu steigern. Es sei schliess¬ 
lich darauf hingewiesen, dass die Futter¬ 
gemische in Räumen mit massiven Umfas¬ 
sungswänden und Steinfussboden aufbewahrt 
werden müssen, da dieselben sich leicht von 
selbst erhitzen. 

In neuester Zeit hat sich ein grösseres 
Absatzgebiet für Melasse durch die Darstel¬ 
lung von Presshefe aus derselben eröffnet. 
Die Mängel der nach früher üblichen Me¬ 
thoden erhaltenen Melassepresshefe, gekenn¬ 
zeichnet durch dunkle Farbe, schleche Halt¬ 
barkeit und unangenehmen Geruch, sind durch 
zwei neuere patentierte Verfahren beseitigt 
worden, so dass die Melassehefe der Getreide¬ 
hefe nicht nachsteht, aber wegen des billigen 
Materials für den Fabrikanten nicht so hoch 
zu stehen kommt. Nach dem einen Verfahren 
wird die Melasse unter Anwendung des so¬ 
genannten Lüftungsverfahrens vorher einer 
Milchsäuregährung unterworfen und dann erst 
Presshefe erzeugt, während auf die Gewinnung 
des gleichzeitige sich bildenden Spiritus ver¬ 
zichtet wird, weil dieser nur in geringer Menge 
und in einer untergeordneten Qualität erzielt 
wird. Drei grosse Fabriken in Stettin ver¬ 
werten augenblicklich mittels dieser Methode 
eine bedeutende Menge von Melasse. 

Nach einem zweiten Verfahren wird die 
mit helssem Wasser verdünnte Melasse nach 
Kochen mit einer Säure, wodurch die Gährung 
störende Momente urid vorhandene Keime 
beseitigt werden, zur Erzielung einer klaren 
Würze mit indifferenten Stoffen, wie Häcksel, 
Getreidehülsen etc. versetzt nnd nach dem 
Filtrieren mit Hefe angestellt. Der Hefe¬ 
schlamm welcher noch alle unangenehmen 
Eigenschaften der Melassehefe zeigt, kommt 
noch vor Beendigung des Hefewachstums in 
eine schwachprozentige klare Zuckerlösung. 
In dieser reifen die Hefezellen völlig aus und 
ausserdem werden die Farbe und Geruch be¬ 
dingenden , von der Melasse herrührenden 
Stoffe aus den Hefezellen entfernt. Das 
resultierende Produkt ist weiss, gleichmässig 
und fest und beim Backen von derselben 
Wirkung wie Getreidehefe. 

Die vergohrene Flüssigkeit kann nach 
Ansicht des Erfinders auf Spiritus oder Essig 
verarbeitet oder zu Düngzwecken verwendet 
werden. 

Hiermit wären die wichtigsten Verwertungs- • 


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Grottewitz, Die heutige Garte.nkunst. 


407 


methoden für Melasse erschöpft. Es werden 
allerdings noch geringe Mengen derselben 
zu verschiedenen technischen Zwecken ge¬ 
braucht, zur Vergasung, zur Herstellung von 
Laevulose als Zucker für Diabetiker, und wie 
ein Californischer Chemiker in Vorschlag ge¬ 
bracht hat, als — Strassenpßaster, indem 
eine Mischung von Melasse und Sand durch 
Austrocknen und unter Einwirkung der Son¬ 
nenstrahlen, eine steinharte Masse ergeben 
soll, indessen haben nur die ausführlicher 
besprochenen Verwertungsarten allgemeine 
Anwendung gefunden, und nach allem dürfte 
es die Entzuckerung dpr Melasse sein, welche 
unter zweckmässigster Ausnutzung sämtlicher 
in derselben vorhändenen Bestandteile gleich¬ 
zeitig der Industrie, der Landwirtschaft und 
dem Staate zum Vorteil arbeitet. 


Die heutige Gartenkunst. 

Voo CuRT Grottewitz. 

Der rtervös hastende Zug, der durch das 
Leben unserer Zeit geht, ist eigentlich der 
Feind jedes künstlerischen Genusses, der 
doch der Ruhe und stillen Beschaulichkeit 
so dringend bedarf. Es ist aber immer ein 
Unterschied zwischen dem gewissermassen 
offiziellen Charakter einer. Zeit und der Thä- 
tigkeit, die im Verborgenen schafft. Wir 
hören immerfort von neuen Ehtdeckungen, 
neuen Unternehmungen, neuen Ideen, wir 
sehen in der Grossstadt die Menschen jagen 
und hasten nach Geld, Arbeit, Vergnügen, 
aber wir bedenken gewöhnlich nicht, dass 
zur Ausführung einer grossen That, irgend¬ 
welchen bedeutenden Werkes oft jahrelanges 
stilles geduldiges Arbeiten nötig war. Wir 
machen uns gewöhnlich nicht klar, dass neben 
diesen hastenden umherflirrenden Menschen 
es genug stille Gelehrte, einsame Künstler, 
gedankenvolle Erfinder und Reformer giebt, 
von denen niemand etwas weiss, bis sie ihre 
grossen Werke, an denen sie Jahrzehnte ge¬ 
arbeitet, zur Vollendung gebracht haben! Das 
stille Arbeiten und beschauliche Gemessen 
wird eben naturgemäss vor dem lauten Lärm 
des Marktes in den Hintergrund treten, aber 
es ist darum um nichts weniger vorhanden. 
Auf der andern Seite hat aber auch der Gross¬ 
stadtmensch seine stillen einsamen Stunden, 
wo er nicht hastet und jagt, wo er sich ein 
einfaches ruhiges Leben wünscht. Dann sehnt 
er sich wohl gar aus der Überkultur hinaus 
nach Natur. Der Wohlhabende kauft sich 
in einer reizvoll gelegenen Gegend ein Stück 
Land, um sich dort eine elegante Villa zu 
bauen und einen- zierlichen Park anzulegen. 


und der sehnlichste Wunsch des schlichten 
Mittelbürgers ist es, soviel zu ersparen, bis 
er draussen in einem Vorort sich ein kleines 
Haus mit einem Garten erstehen kann. Der 
Garten erscheint hier als Brücke zu einem 
stillen Leben, und in der That ist er, als ein 
Gebiet, in dem die vegetative Natur ihr stil¬ 
les Walten vollbringt, das sicherste Heilmit¬ 
tel, die aufgeregten Sinne zu beruhigen und 
die vom wirren Hasten zerstreuten Geistes¬ 
regungen zu sammeln und zu ordnen. 

Der Garten ist mehr denn irgend ein an¬ 
deres Besitztum, das der Kulturmensch sein 
eigen nennt, ein Stück Natur, aber auch er 
ist doch angelegt, und wird unterhalten von 
Menschen und trägt darum ebenso den Stempel 
seines Schöpfers wie irgend ein anderes 
Werk. Es ist darum nicht zu verwundern, 
dass auch im Garten mehr oder minder der 
Charakter der Zeit sich offenbart. Mag jener 
immerhin eine Stätte der Ruhe und Erholung, 
des stillen Genusses sein, so trägt doch der 
Mensch seinen Geschmack, seine Stilrichtung 
direkt oder indirekt in seinen Garten hinein. 
Und dieser hat wirklich einen Stil, es giebt 
einen ausgeprägten Gartenstil heutzutage, 
ganz im Gegensatz zu so vielen anderen 
Werken der gegenwärtigen menschlichen 
Thätigkeit, die nur zu oft an Zersplitterung, 
Zerfahrenheit, Gedankenlosigkeit leidet. 

. Die Gartenkunst hat verschiedene Berühr¬ 
ungspunkte mit der Landschaftsmalerei. Sie 
gehört zwar nicht eigentlich zu den Künsten, 
aber sie ist doch auch mehr als ein-Kunst¬ 
handwerk. Die Gartenkunst hat keine prak¬ 
tischen Absichten — wenigstens nicht mehr 
als z. B. die Baukunst —, sie will durch be¬ 
stimmte Gruppierung von Landschaftsbildern 
ästhetische Genüsse erzeugen. Wie diese 
Landschaftsbilder zusammengestellt werden, 
das ist eben Sache des Stils, danach unter¬ 
scheiden wir den französischen, den eng¬ 
lischen, den holländischen Gartenstil. Auch 
unsere Zeit hat ihren Stil. Man kann viel¬ 
leicht nicht sagen, dass dieser gerade einen 
Grundzug der Zeit träfe, oder dass er den 
Intentionen entspräche, die ernste Jünger die¬ 
ser Kunst hegen. Aber es ist der herrschende 
Stil, der jetzt gegebene, an den wir uns hal¬ 
ten wollen ohne Rücksicht auf Neuerungsbe¬ 
strebungen, die auch hier nicht fehlen. 

Die heutige Gartenkunst ist hervorge¬ 
gangen aus dem englischen Gartenstil, der 
bekanntlich gegenüber dem steifen franzö¬ 
sischen Geschmack, der Natur volle Freiheit 
zu lassen strebte. Hatte jener den Bäumen, 
Sträuchern, Wegen, der ganzen Landschaft 
alle Individualität genommen, indem er sie 
gerade, rechtwinkelig, gleichförmig Zuschnitt, 
so Hess der englische Gartenstil jeden Baum, 


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4o8 


Grottewitz, Die heutige Gartenkunst. 


jeden Strauch so wachsen, wie er wachsen 
wollte, er ordnete die Pflanzengruppen eben¬ 
so unregelmässig und Hess auch die Wege 
natürlicher verlaufen. Der heutige Garten¬ 
stil ist nun zwar ein Kind des englischen, 
und doch neigt er in seinen Tendenzen merk¬ 
würdigerweise zu französischem Zwang. Un¬ 
ser Gartenstil ist nämlich durch und durch 
der Ausfluss gesellschaftlicher Etiquette, ähn¬ 
lich wie der französische es war. Der Gar¬ 
ten des Reichen soll ein Prunkstück sein, 
ebenso wie seine Villa, seine Salons. Der 
kleine Mittelbürger, der heutzutage selbst 
keinen eigenen Geschmack hat, ahmt jenem 
nach, soweit sein Garten nicht praktischen 
Zwecken dient, ebenso wie ihm auch sonst 
die Sitten der vornehmen Gesellschaft als 
Vorbild dienen. Es herrscht heutzutage keine 
Naturschwärmerei wie zu Zeiten Rousseaus 
und Goethes, eine Liebe zu ihr, ein Auf¬ 
gehen in ihr, das eben den französischen 
Stil verdrängte und den natürlichen, sagen 
wir den damals natürlicheren englischen Stil 
schuf. Der heutige Villagarten, sei er nun 
wirklich Garten zu einer Villa oder Anlage 
in einer Stadt, um einen Bahnhof, ein Eta¬ 
blissement ist nicht Selbstzweck mehr, er ist 
ein Stück Putz, eine beliebte oder unentbehr¬ 
liche Dekoration für irgend welchen Wohn- 
platz oder Aufenthaltsort. 

Unsere Zeit würde es ja wohl nicht ver¬ 
tragen, wenn man alle Bäume in der Weise 
zu senkrechten Wänden verschnitte, wie die 
französische Gartenkunst es that. Dazu hat 
sie schliesslich denn doch einen zu geschärf¬ 
ten Blick für die wunderbare Mannigfaltig¬ 
keit der Formen, des Wuchses, des ganzen 
Aussehens der Bäume. Auch der naturwis¬ 
senschaftlich Ungebildete — und das sind 
fast alle Gebildeten — weiss oder ahnt etwas 
von dem Unterschiede im Aussehen einer 
Eiche, einer Kastanie und einer Akazie, und 
ein Etwas empört sich in ihm bei dem Ge¬ 
danken, alle drei gleichmässig zu verschnei¬ 
den, dass sie dastehen wie die vierkantigen 
Hölzer aus einem Baukasten. Also ganz so 
grob wird man sich jetzt gegen die Natur 
nicht vergehen, zumal der Abscheu vor die¬ 
ser steifen Naturverstümmelung in allen 
Büchern zu lesen ist. Aber die heutige Gar¬ 
tenkunst lässt trotzdem der Natur keineswegs 
freien Lauf, ja man muss sagen, sie stutzt 
und schneidet sie durchaus zu ihren Deko¬ 
rationszwecken zu. 

Ein grosser Teil, häufig der grösste Teil 
eines jeden modernen Gartens besteht aus 
Rasenflächen. Dieselben bilden gewisser- 
massen den Hintergrund, von dem sich die 
Figuren wirkungsvoll abheben. Der Rasen 
mit seinem lichten Grün und seiner elegan¬ 


ten Gleichmässigkeit soll einen Überblick 
über die Gesamtheit der Gartengrundstücke 
gewähren, er soll besondere Prachtstücke von 
den übrigen Pflanzengruppen trennen, und er 
soll eine Menge Durchblicke durch einzelne 
Baum- und Strauchpartien gewähren und da¬ 
mit den Garten mannigfaltiger, reicher und 
grösser erscheinen lassen als er ist. Insofern 
spielt also der Rasen eine sehr wertvolle 
Rolle. Nun sehe man sich aber den Rasen 
selbst an. In der Natur wird man einen sol¬ 
chen nirgends finden. Er besteht nämlich 
aus nichts anderem als einer Unmasse ganz 
gleichförmiger, mit der Mähmaschine kurz¬ 
geschnittener Grashälmchen. Ein Grashalm 
gleicht genau dem andern,' zwar sind es mög¬ 
licherweise gegen vier verschiedene Grasar¬ 
ten, die zur Aussaat für den Rasen verwen¬ 
det wurden, aber selbst diese Verschieden¬ 
heit der Graspflanzen ist nicht bemerkbar, 
da ja alle bis auf etwa zehn Centimeter Höhe 
niedergeschnitten worden sind. In der Na¬ 
tur würden diese Gräser eventuell die Höhe 
von einem halben Meter erreichen, sie wür¬ 
den im Sommer ein von einander höchst 
verschiedenes Aussehen infolge ihrer Blüten¬ 
stände haben, deren reizende Formen ja zum 
Teil, in toter getrockneter Ware, von den 
Makartbouquets her bekannt sind. In der Na¬ 
tur aber sind auf einer Waldwiese, auf einer 
Gebirgsmatte, in einem Flussthale die ver¬ 
schiedenartigsten (jräser und Halbgräser vor¬ 
handen, und überdies mit einer bunten un¬ 
endlich mannigfaltigen, mit jeder Woche sich 
ändernden Fülle von Blumen durchwirkt. So 
sieht der natürliche Rasen aus und was ist 
der Zierrasen ? Sicher ist er alles andere 
als Natur. Ja, man muss sagen, er ist fran¬ 
zösisch durch und durch, er ist eine Zurecht- 
schnitzung der Natur,, wie sie Lenötre im 
Versailler Park nicht anders vorgenommen 
hat. Denken wir uns einen Wald, der aus 
nur vier Baumarten besteht. Schlägt jemand 
diesen Bäumen die Krone und den oberen 
Stammteil bis auf etwa zwei Meter Höhe ab, 
so hat man ein deutliches Abbild von der 
Art und Weise der Pflanzenbehandlung, die 
den modernen Zierrasen geschaffen. Vielleicht 
wird einmal ein solcher Wald, der nur aus 
Baumstümpfen bestünde, Mode, im Prinzip 
wäre er wenigstens nichts Neues mehr. Je¬ 
denfalls zeugt der Zierrasen von allem andern, 
nur nicht vom Sinne der Naturschönheit. 
Und das muss man bei Beurteilung der heu¬ 
tigen Gartenkunst berücksichtigen. Ihr ober¬ 
stes Prinzip ist keineswegs, die Eigenheiten 
der Natur im Spiegel der Schönheit aufzu¬ 
fangen, sondern gewisse Schönheitsformen 
der eleganten Welt vermittelst der Natur aus¬ 
zudrücken. Der geschorene Rasen macht 


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Grottewitz, Die heutige Gartenkunst. 


einen äusserst eleganten, sauberen, geschnie¬ 
gelten, wohlerzogenen Eindruck wie ein neuer 
Frack. Beim Ball ist der Frack das Mittel, 
die „Eleganz“ zum Ausdruck zu bringen, im 
Garten ist es der Zierrasen. 

Was wollte Ludwig XIV. mit dem Ver¬ 
sailler Park? Man denke sich dies unermess¬ 
liche Schloss, gegen welches das Berliner 
ein Kinderspielzeug ist, ohne die berühmten 
Gartenanlagen! Also zunächst war der Park 
notwendige Staffage zum Schloss. Andere 
suchen sich eine schöne Gegend aus und 
bauen dahin ein Schloss. So mächtig aber, 
so riesenhaft war der Wille des Königs, dass 
er, nachdem er das gigantische Schloss ge¬ 
schaffen, auch die schöne Gegend dazu schuf. 
So ist der grosse Versailler Park auch zu¬ 
gleich als Landschaft beabsichtigt. Allein es 
ist eine Landschaft, wie sie nicht der Natur 
abgelauscht, und aus der Natur heraus ge¬ 
formt ist, sondern eine Landschaft, wie sie 
sich vor dem Hof sehen lassen kann. Am 
Hofe der Fürsten sind meistens uniformierte 
Kleider vorgeschrieben, - uniforme Haltung, 
uniforme Manieren. So ist es auch mit dem 
Versailler Park. Sämtliche Bäume stehen in 
uniformem Habitus da, alle Individualität ist 
von ihnen gewichen, die Kastanie ist ebenso 
geradwinkelig verschnitten wie die Eiche, die 
Wege sind gerade oder bilden regelmässige 
Figuren, der gewaltige künstlic^ie Wasserarm, 
lang wie ein Fluss und breit wie ein See, ist 
zu einem kreuzförmigen Kanal geworden, 
schnurgerade wie ein Lineal. Diese Steif¬ 
heit, Geradlinigkeit, Uniformierung tritt über¬ 
all auf, wo die Vornehmheit, Eleganz, Wohl¬ 
erzogenheit der feinen Welt herrscht. Will 
man also ein Stück Natur haben, ist man in 
der Lage, es selbst zu schaffen, so wird es 
in die Schleifmühle dieser gesellschaftlichen 
Tugenden gesteckt, um dann als echtes Sa¬ 
lonstück wieder zum Vorschein zu kommen. 

So ist es mit dem Versailler Park, so ist 
es auch mit dem heutigen Garten. Ausser 
dem Zierrasen ist es besonders die Form 
und Bepflanzung der Blumenbeete, die direkt 
von gesellschaftlicher Etiquette diktiert sind. 
Da kommen überall regelmässige Figuren, 
Kreise, Ovale, symmetrische Arabesken aller 
Art vor. Sodann aber sind die Blumen auf 
den Beeten selbst wieder sehr künstlich und 
regelmässig arrangiert, sie stehen immer da 
in Positur wie in einer Quadrille ä la cour. 
Die Gesellschaft verlangt eine fertige Toi¬ 
lette. So dürfen sich denn die Blumen nicht 
etwa im Garten selbst entwickeln. Nein, sie 
werden in besonderen Warmhäusern oder 
versteckten Warmbeeten angezogen und dann, 
wenn sie anfangen zu blühen, werden sie 
ausgepflanzt. Sind sie dann im Abblühen, 


409 


so werden sie entfernt und frische blühende 
Blumen an ihre Stelle gesetzt. Ob es da 
nicht junge Mädchen giebt, die der Meinung 
sind, die Blumen kommen gleich blühend zur 
Welt? Die Entwickelung der Blumen, das 
Hervorschiessen immer neuer Arten zu einer 
bestimmten Jahreszeit, um andere zu ver¬ 
drängen, das ganze so interessante Spiel der 
Natur kann den Besitzer und Villeninhaber 
nicht interessieren, es entspricht nicht den 
gesellschaftlichen Anforderungen, da man 
immerfort blühende gut gruppierte Blumen 
verlangt. 

Der Zierrasen ist nicht das einzige Bei¬ 
spiel des Pflanzenverschneidens. Auch andere 
Pflanzen als Gräser werden im modernen 
Garten mit der Scheere behandelt. Es sind 
dies diejenigen, die zur Bildung eines soge¬ 
nannten Teppichbeetes dienen. Hier sollen ver¬ 
mittelst der verschiedenen Farben der Pflanzen 
mosaikartig zusammengesetzte Muster erzeugt 
werden, ähnlich wie auf einem Teppich oder 
einem Fliesenfussboden. Jede Pflanze bildet 
dabei sozusagen einen Mosaikstein. Wie diese 
sehr gleichförmig behauen, so muss jede 
Pflanze sehr gleichmässig geschnitten werden, 
damit sie nicht Über den ihr angewiesenen 
Punkt des Bildes hinausgreife und dieses da¬ 
durch zerstöre. Sie darf nicht nur nicht nach 
den Seiten, sie darf auch nicht hoch wachsen, 
sie wird also vorn, hinten, rechts, links und 
oben beschnitten. Alle Pflanzen vertragen eine 
solche Prozedur nicht, es giebt also besondere 
Teppichpflanzen. Es sind meistens Blattpflan¬ 
zen, deren Blätter durch gärtixerische Zucht 
von dem normalen Grün abweichen und ein 
Gelb, Silbergrau, Dunkelrot angenommen ha¬ 
ben. Einige von ihnen würden auch blühen, 
wie z. B. Pyrethrum, ihr Blütenansatz wird 
aber beizeiten weggeschnitten. Die Pflanzen, 
diese individuell so verschiedenen, in Wuchs, 
Haltung, Entwicklung, Blatt- und Bltitenform 
sen sind hier blosse 
, bestimmt, als Mosaik¬ 
steine ein Dekorationsmuster zu bilden. Aber 
die Sache sieht elegant aus. 

Es kann beiläufig darauf hingewiesen wer¬ 
den, dass der Stil Ludwig XfV. die Pflanzen 
wenigstens hoch wachsen Hess, das heisst, 
sie wurden ja oben auch horizontal geschnit¬ 
ten, aber der Schnitt wurde doch jedes Jahr 
höher geführt. Heutzutage wird alles nieder¬ 
gehalten, der Rasen darf nicht über 10 cm 
hoch werden, auch die Teppichbeetpflanzun¬ 
gen sind umso begehrter, je niedriger sie 
gehalten werden können. 

Die Blattpflanzen für Teppichbeete erhal¬ 
ten in der Mehrzahl durch gärtnerische Zücht¬ 
ung eine vom natürlichen Grün abweichende 
Färbung. Nichts kennzeichnet vielleicht mehr 


so \^erschiedenen We 
Farbenträger geworden 




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410 


Grottewitz, Die heutige Gartenkunst, 


die heutige Gartenkunst, als die künstliche 
Züchtung. Kurzgeschorenen Rasen, Teppich- 
beetpflanzen können wir uns noch eher auch 
für die Gesellschaft einer früheren Zeit pas¬ 
send denken. Die künstliche Züchtung aber 
ist wie die Theorie von der natürlichen Zucht¬ 
wahl ein Kind unserer Zeit. Zwar haben 
schon in früheren Jahrhunderten die Gärtner 
sich damit beschäftigt, neue Sorten von Tul¬ 
pen, Hyazinthen und einigen andern Blumen 
durch Kreuzung und Auslese interessanter 
Varietäten zu züchten, aber von der systemat¬ 
ischen Weise, wie jetzt dieZüchtung geschieht, 
hatte man damals keine Ahnung; damals 
wurde sie nebenbei betrieben, jetzt ist sie 
Charakterzug des Gartenhandwerks und des 
Gartenstils. Alle Gebiete, die in den Wirbel¬ 
wind der Konkurrenz und der vornehmen 
Gesellschaft geraten sind, sollen nicht sowohl 
Neues bringen als Neuheiten, Nouveautös. 
So ist es auch mit der Gartenkunst. Irgend 
Jemand züchtete eine Zwergform der gewöhn¬ 
lichen Aster, sofort verschwanden die hohen 
Astern' aus allen Villengärten und an ihre 
Stelle traten die Zwergformen. Jeder Kata¬ 
log einer Handelsgärtnerei oder Baumschule 
enthält eine Serie Neuheiten, die fast durch¬ 
weg gärtnerische Züchtungen sind. Die 
Freude und der Stolz der Gärtner ist nicht 
gering, wenn es ihnen gelungen ist, wieder 
eine einfache Blume gefüllt zu machen. An¬ 
geblich wird durch die Füllung der Effekt 
einer Blume erhöht, in Wahrheit wird ihr 
dadurch alle Individualität genommen. That- 
sächlich ist es auch kaum möglich, eine ge¬ 
füllte Aster, Zinnia, Bellis, Skabiose u, s. w. 
von einander zu unterscheiden. Das Auffäl¬ 
ligste der heutigen Züchtung sind aber vor 
allem die buntblättrigen Pflanzen. Da giebt 
es Eichen mit gelben Blättern, einen Feld¬ 
ahorn mit weissgescheckten Blättern, eine 
Birke mit purpurfarbiger, eine Traubenkirsche 
mit gelbmarmorierter Belaubung. Durch diese 
Buntheit des Blätterschmuckes erhält der heu: 
tige Villagarten etwas zierlich dekoriertes, 
wie ein mit Fahnen behängter Festsaal. Seine 
Salonfähigkeit wird erhöht, aber der Charakter 
ist hin. Weniger auffällig sind die Züchtun¬ 
gen, durch welche die ursprünglichen Blatt¬ 
formen der Pflanzen verändert werden. Es 
giebt eine Esche mit Blattern, wie sie der 
Weissdorn hat, eine andere mit der Belaub¬ 
ung der Weide, eine Sommereiche mit Farren- 
krautblättern, noch besser: eine Erle mit 
Eichenblättern und eine Eiche mit Erlen- 
blättern. Dergleichen Züchtungen giebt es 
eine Menge, alle fröhnen dem Sensationsbe¬ 
dürfnisse, dem die Zeit huldigt. 

Ebenso grosse Buntheit wie durch die 
Züchtungen wird durch den Import ausländ¬ 


ischer Pflanzen erzeugt. Der Verkehr, der 
heutzutage die Salons der Reichen mit Luxus- 
Artikeln aus allen Erdteilen überschüttet, hat 
auch auf dem Gebiete der Gartenkunst seinen 
unermesslichen Einfluss ausgeübt. Aus allen 
Ländern und Erdteilen sind Pflanzen zu uns 
gekommen und haben die einheimischen fast 
ganz verdrängt. Japanische, nordchinesische 
und nordamerikanische Bäume und Sträucher 
bilden die eigentlichen Hochgruppen unserer 
Villengärten, neben ihnen aber stehen die im 
Winter schutzbedürftigen Rhododendren und 
Azaleen der Pontusländer, die zarten Haide¬ 
krautgewächse vom Cap, die Cacteen aus 
Mexiko, ja die Palmen der Tropenländer. 
Wird der Naturkenner bei dieser Zusammen- 
würfelung von Ländern und Zonen an die 
Gruppierung von Pflanzen in einem Blumen¬ 
geschäft erinnert, so wirkt sie doch auf den 
Nichtkenner ~ und das sind die meisten — 
ganz kurzweilig, apart, vornehm, elegant. 
Und das ist ja der Eindruck, der hervorge¬ 
rufen werden soll. Die Zusammenstellung von 
Pflanzen aus den verschiedensten Ländern 
und Zonen, aus den verschiedensten Klimaten, 
Bodenarten und Höhenlagen würde man in 
jedem andern Falle stillos nennen, für den 
heutigen Stil des Villagartens ist sie charak¬ 
teristisch, sie passt zu ihm. Wo Eleganz die 
angestrebte Schönheitsform ist, da wird es 
nur richtig sein, die effektvollsten Bäume, 
Sträucher und Blumen aus allen Ländern zu- 
sammenzusuchen und daraus eine zierliche 
internationale Gesellschaft herzustellen. Dass 
dadurch die inneren Gesetze der Pflanzen¬ 
gruppierung auf den Kopf gestellt werden, 
dass dadurch keine echten, natürlichen Land¬ 
schaftsbilder hervorgebracht werden können, 
ist selbstverständlich. Eine sogar für Natur¬ 
unkundige missliche Nebenwirkung hat übri¬ 
gens diese Verwendung von zarteren aus¬ 
ländischen Pflanzen, sie müssen im Winter 
zugedeckt, mit Gestellen und Strohgeflecht 
umgeben werden, so dass dann ein solcher 
Villagarten aussieht, wie eine Sammlung von 
Mumien und Gräbern. 

Die Villagärten unserer Zeit sind meistens 
noch jung; Villen in Menge, besonders in 
der Nahe grosser Städte, wurden ja erst in 
den letzten Jahren gebaut, ihre Gärten sind 
also ebenfalls noch nicht lange angelegt. Die 
Bäume sind infolge dessen noch jung, von 
der Urwüchsigkeit eines alten Parkes oder 
eines Waldes haben sie nicht das geringste, 
sie sind zierlich, niedlich, — elegant. So trägt 
selbst das geringste Alter der Anlage dazu 
bei, einen Gartenstil zu schaffen, in dem die 
Natur dazu benutzt worden ist, Stimmungen, 
Gefühle der Eleganz hervorzurufen. Der Villa¬ 
stil unserer Zeit hat somit ein durchaus festes 


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Banner, Die neuen Methoden des Sprachunterrichts. 


411 


Gepräge. Ähnlich wie der französische nimmt 
er der Natur ihre Eigenart, aber es ist ihm 
vorzüglich gelungen, die Eleganz, welche der 
heutigen vornehmen Gesellschaft als Ideal 
vorschwebt, zum Ausdruck zu bringen. 


Die neuen Methoden des Sprachunterrichts. 

Von Dr. Max Banner, 

Neu sind die jetzt so üppig ins Kraut 
schiessenden Reformmethoden des Sprach* 
Unterrichts recht eigentlich nur im Vergleich 
mit der bisher herrschenden Lehrweise. Geht 
man um einige Jahrzehnte zurück, so begegnet 
man wiederholt Unterrichtsarten, die sich mit 
den jüngsthin ins Leben gerufenen zum min¬ 
desten in einigen Punkten berühren. Und 
doch dürfen diese mit gutem Recht schon 
um deswillen neu genannt werden, weil neu 
jedenfalls die zielbewusste Ausgestaltung, neu 
die allgemeine Teilnahme, sei es für oder 
jvider, neu endlich der ausgesprochene 
Gegensatz zu der bis dahin geltenden Lehr¬ 
weise ist. 

Die erbitterte, stets mit frischen Kräften 
wieder aufgenommene Bekämpfung eines Geg¬ 
ners zeugt immerhin für dessen Stärke und die 
Sicherheit seiner Position. Und in solcher 
Po'sition befindet sich die bisherige Unterrichts- 
weise thatsächlich, sie hat nicht wie die neuen 
Methoden ihre Lebensfähigkeit erst noch dar- 
zuthun, denn sie lebt schon sehr lange und 
fristete lange unangefochten ihr behagliches 
Dasein. Den neuen Methoden aber kommt 
dieser Zwang, sich täglich kraftvoll zu be- 
thätigen, wiederum zugute; er wirkt auf jeden 
einzelnen der Mitarbeiter belebend ein, da 
jeder weiss, dass unter der kleinen Zahl auch 
ihm ein, wenn auch noch so bescheidener, 
Teil der Verantwortung für das Gelingen des 
Ganzen zufällt. 

Das Misstrauen, mit dem zumal die älteren 
Meister auf dem Gebiete ■ des Schulwesens an 
die Reformmethoden herangehen, kann man 
wohl heute geradeso wie zu Horaz’ Zeiten 
mit den Worten begründen; 

Vel quia nil rectum, nisi quod placuit sibi, ducunt,*) 
Vel quia turpe putant parere minoribus, et quae 
Imberbi didicere, senes perdenda fateri. 

Vielfach aber herrscht auch die berechtigte 
Furcht vor Überstürzung und das namentlich 
bei den massgebenden Persönlichkeiten der 
Unterrichtsverwaltung. Diese giebt nur Schritt 

*) Entweder halten sie das nur für gut, was ihnen 
behagt hat, 

Oder es dünkt ihnen schimpflich, den Spuren 
Jüng’rer zu folgen. 

Und worum sie jung sich gemüht, im Alter zu 
schmähen. 


um Schritt dem Neuen Raum und verhütet 
auf solche Weise jedenfalls, dass man für 
einen vielleicht nicht ganz zuverlässigen Reich¬ 
tum ein kleines, aber gesichertes Vermögen 
aus den Händen lässt. 

Gesichert war der Besitz des im Sprach¬ 
unterricht Erreichten nach der älteren Methode 
ja wohl thatsächlich. Es war ein äusserst be¬ 
dächtiges Vorschreiten, bei dem ein etwaiges 
Abschweifen nach irgend einer Seite hin 
ängstlich vermieden wurde. Nichts Neues 
wurde in Angriff genommen, wenn nicht zu¬ 
vor das bereits Absolvierte festes Eigentum 
des Lernenden geworden war. Die Einzel¬ 
bestandteile des Wortschatzes wurden in alpha¬ 
betischer Reihenfolge oder, günstigen Falls, 
nach etymologischen Gesichtspunkten geordnet 
dargeboten, oder aber in einer Zusammen¬ 
stellung, wie sie ein zugehöriges, zumeist aus 
Einzelsätzen heterogenster Art, gebildetes 
Übungsstück ergab. Man lernte deklinieren 
und konjugieren. In zahllosen Formen und 
Sätzen, die ohne innere Beziehung zu ein¬ 
ander standen, deren einigendes Band eben 
nur der grammatische Zweck war, wurde die 
Flexion geübt. Das Übersetzen aus der Mutter¬ 
sprache in die fremde spielte eine hervor¬ 
ragende Rolle, weniger schon kam es auf ein 
gewandtes Überü'agen der Schriftsteller aus 
der erlernten Sprache in die eigene an, und 
von einem freien fjandhaben des fremden 
Idioms war nun vollends gar nicht die Rede. 
Der lateinische Aufsatz, zum mindesten der 
der letzten Jahrzehnte, in denen das Lateinische 
nicht mehr die Umgangssprache der Schüler 
unserer humanistischen Anstalten bildete, ist 
ebensowenig ein freies Komponieren gewesen, 
wie die französische oder englische Abhand¬ 
lung der Realgymnasiasten. Auf dem zur Zeit 
beliebten Wege hätte nur eine recht erkleck¬ 
liche Zahl von wöchentlichen Lehrstunden 
zum Ziele führen können, und die hatte das 
Lateinische nicht zur Verfügung, geschweige 
denn eine der modernen Sprachen. Hätte das 
Lateinische 15 — 20 Unterrichtsstunden in der 
Woche behalten, wäre das Französische mit, 
sagen wir, 12, das Englische mit 8 Stunden 
bedacht worden, wer weiss, ob man so bald 
auf neue Methoden des Sprachunterrichts ge¬ 
kommen wäre. Erst die Not macht erfinderisch. 
Und so hat gerade die neuerdings erfolgte 
weitere Einschränkung der fremdsprachlichen 
Lehrstunden an allen höheren Schulen die 
Unterrichtenden zu einer heilsamen Selbst¬ 
prüfung geführt. 

Bei dem Suchen nach neuen Wegen ka¬ 
men verschiedene Männer, ja Männer ver¬ 
schiedener Nationen fast gleichzeitig zu ganz 
ähnlichen Grundprinzipien für ihre Reform. 
Allenthalben ging man von dem ausgeklügelt 


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412 


Banner, Die neuen Methoden des Sprachunterrichts. 


künstlichen Wege, dem man bis dahin ge¬ 
folgt, ab, und überall auch suchte man die 
Pfade der natürlichen Spracherlernung auf, 
die das Kind beim Erlernen der Muttersprache 
beschreitet. Das Kind nimmt den kleinsten 
Ausschnitt der Sprache immer aus einem 
grösseren Zusammenhang auf, wie ihn der 
Verkehr mit Erwachsenen ihm entgegenbringt. 
Das Kind erlernt keinen Substantivbegriff, 
der nicht ein Sein, keinen Vokalbegriff, der 
nicht ein Handeln zur Unterlage hat. Nicht 
bewusstes Kombinieren, sondern mechanisches 
Wiederholen, unaufhörliches Wiederholen bis 
zur gedankenlosen Lippenübung herab lassen 
das Kind zur Herrschaft über die Sprache 
gelangen. Dieses imitative Element, das bei 
der Art und Weise der kindlichen Sprach¬ 
erlernung zur Geltung kommt, sollte nun auch 
bei dem schulmässigen Sprachbetrieb in den 
Vordergrund treten. Neben dem Intellekt 
sollte die Memoria zu ihrem Rechte kommen. 
Die „unbewusste Aneignung“ ist zu einem 
der Hauptschlagwörter der Reform geworden. 
An Stelle des synthetischen Verfahrens, bei 
dem man von den einzelnen Bestandteilen 
sich zum Ganzen durcharbeitet, trat das ana¬ 
lytische, das immer ein Ganzes giebt, um 
daraus und stets in lebendigem Zusammen¬ 
hang damit dieEinzelheiten erkennen zu lassen. 
Dadurch wiederum war es bedingt, dass man 
überall Inhalt zu bieten suchte, dass mit dem 
Wortunterricht der Sachunterricht sich ver¬ 
band, dass man nichts mehr ausschliesslich 
um der Form willen üben wollte. 

Es dürfte bei dem Laien fast Befremden 
erregen, dass die Lehrerwelt auch ohne di¬ 
rekten Zwang der Verhältnisse nicht schon 
früher auf diesen so naheliegenden natürlichen 
Weg der Spracherlernung gekommen sein 
sollte. Und thatsächlich ist man eben längst, 
wie bereits eingangs erwähnt, auf diese Spur 
geführt worden. Vor nahezu 300 Jahren 
schon Arnos Comenius, dann Ratich, im vo¬ 
rigen Jahrhundert im engen Zusammenhang 
mit der allgemeinen Aufklärung und dem Zu- 
rOckgehen auf die Natur, Rousseau, Basedow, 
Campe, Salzmann, im Anfang unseres Jahr¬ 
hunderts Jacotot, Hamilton, Ducotterd, J. und 
E. M. Lehmann, das ist die Reihe und keines¬ 
wegs die vollzählige Reihe der Vorläufer 
unserer heutigen Reformbewegung auf dem 
Gebiete des Sprachunterrichts. Nie zuvor aber 
hat man von so vielen Seiten zugleich die 
Sache in Angriff genommen, nie ist man so 
schroff gegen das stets nebenhergehende alt¬ 
überlieferte System vorgegangen. Darin liegt 
der Vorzug der heutigen Bewegung, darin 
auch ihre Schwäche. Dem Anhänger der alten 
Methode, der seinen Jüngern die Sprache ge¬ 
trennt nach Wortklassen giebt, in der ersten 


Lektion etwa ein paar Substantive verschie¬ 
denen Geschlechts, in der 2. Lektion mehrere 
einendige Adjektive, in der 3. solche mit 
zwei Endungen, dann etwa die Zahlwörter, 
dann das Pronomen personale u. s. f., ihm 
hält der Reformer gern das Bild von einem 
Anfänger im Geschäftsleben entgegen, der 
zur Unterbringung des ersten geringen Ver¬ 
dienstes sogleich einen riesigen Geldschrank 
mit einer Unzahl von Fächern für grössere 
und kleinere Münzsorten, für Gold, Silber 
und Papier und für mancherlei andere Scheid¬ 
ungen mehr in Anspruch nimmt. Doch so 
schön das Bild ist, so wenig zutreffend ist 
es in der Anwendung; denn man kann ent¬ 
gegnen : Nicht in der Lage eines Kaufmanns, 
der noch gar nichts sein Eigen nennt, be¬ 
findet sich das Kind in dem Alter, in dem 
es in der Regel an die erste fremde Sprache 
herangeführt wird, sondern viel eher doch in 
der Lage eines Mannes, der die grosse Menge 
inländischer Münze, die er bereits erworben, 
längst schon in Fächern untergebracht hat, 
und nun die fremden Geldsorten, die man 
ihm zuträgt, selbstverständlich schon der Be¬ 
quemlichkeit halber oder, weil ihm das Ord¬ 
nen seines Besitztums zur zweiten Natur ge¬ 
worden ist, ebenfalls in Jene Fächer hincin- 
befördert. 

Dieses Einordnen des sprachlichen Besitz¬ 
tums nun gerade in mehrere Fäeher, " dieses 
Einteilen der Worte in Klassen und Unter¬ 
klassen verurteilt die neue Richtung aufs 
schärfste. Aber daran eben muss die strenge 
Durchführung ihrer Grundprinzipien scheitern, 
dass die erste Unterrichtssprache, die Mutter¬ 
sprache, die das Kind sechs Jahre lang in 
dem natürlichen Wege aufgenommen, wäh¬ 
rend der drei folgenden Jahre schulmässig 
in jener theoretisch-grammatischen Weise ge¬ 
lehrt wird, die der Reformer als völlig ver¬ 
kehrt erachtet. Also das ist der erste Prell¬ 
stein für die Reformmethode, hier trifft sie 
nicht jungfräuliches, unberührtes Gebiet, hier 
sind Prädispositionen geschaffen, die ihre 
Einwirkung in hohem Masse erschweren. Eine 
der Vorbedingungen für den guten Erfolg 
der Reformmethode wäre der Beginn alles 
Schulunterrichts mit einer fremden Sprache. 
Doch auch in diesem Falle dürfte die strikte 
Durchführung noch in manchem Punkte schei¬ 
tern. Die Naivetät, die Ursprünglichkeit, mit 
der das zwei- und dreijährige Kind das neue 
Wort erfasst, ist dem sechsjährigen doch be¬ 
reits abhanden gekommen, und wenn man auf 
dieser frühen Stufe es auch absolut sollte 
verhindern können, dass der Schüler ein ihm 
entgegengebrachtes Satzganzes nach gram¬ 
matischen Kategorien auseinanderzerrt, man 
wird es nicht verhüten können, dass er das 




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Banner, Die neuen Methoden des Sprachunterrichts. 


413 


Fremdwort mit der muttersprachlichen Be¬ 
zeichnung zusammenhält. Was man dabei von 
unmittelbarer Aufnahme des fremden Termi¬ 
nus, was man gar vom Denken in der frem¬ 
den Sprache redet, das ist, gelinde gesagt, 
Fabelei, das gehört in das Gebiet der Utopien 
der Reform. Der Mensch denkt nur in einer 
Sprache: eine fremde Sprache kann, ausser¬ 
ordentliche Fälle ausgenommen, immer nur 
bis zu einem gewissen, ziemlich beschränkten 
Grade so sehr unser Eigentum werden, dass 
wir uns ihrer wie der Muttersprache bedie¬ 
nen. Der in solchem Masse angeeignete Reich¬ 
tum wird in der Regel in Alltagsredensarten 
bestehen, unter denen man sich Überhaupt 
nicht viel denkt, auch nicht bei Verwendung 
der eigenen Sprache. Also beseitigen lässt 
sich das Denken nicht, und der völlig unbe¬ 
wussten Aneignung wird immer ein Kombi¬ 
nieren, Vergleichen, ja vielleicht schon selbst 
Etymologisieren entgegenstehen oder — sollen 
wir am Ende lieber sagen — zu Hilfe kom- 
nxen. Dgnn in der That befindet sich die 
extreme Reform auf dem Irrwege, diejenigen 
Faktoren, die, sei es von Natur, sei es durch 
Gewöhnung, dem Gedächtnis bei Aufnahme 
des Neuen beispringen, gewaltsam zu unter¬ 
drücken und namentlich alle in der pädagog¬ 
ischen Praxis erprobten Hilfsmittel bewusst 
ausser acht zu lassen. So probat das Mittel 
sein .mag,..neue .Warte:.stets.|ln .einem leben¬ 
digen Zusammenhang mit anderen Worten 
kennen zu lernen und sich einzuprägen, so 
sehr wird doch zu gelegentlicher Wiederhol¬ 
ung eine Auseinanderlegung derselben in 
Vokabelreihen mit hinzugefügten verschieden¬ 
artigen Bedeutungen von Nutzen sein, schon 
um zu verhüten, dass nur die eine beim ersten 
Auftreten des Wortes zutreffende Bedeutung 
auf die Dauer festgelegt wird. Substantiv und 
Verbalflexion im Gewebe eines Satzes einzu¬ 
üben, hat gewiss seinen Wert für den Ge¬ 
brauch in zusammenhängender Rede, und 
doch wird die ganz mechanische Einübung 
d6r blossen Stammformen kaum völlig ent¬ 
behrt werden können. 

Der lebhafteste Streit zwischen Reformern 
und Antireformern herrscht aber über den 
Wert des Übersetzens, zumal desjenigen aus 
der Muttersprache in die fremde. Und auch 
auch da liegt der springende Punkt in der 
Frage, ob man für das Erlernen fremder 
Sprachen dem Verstände oder aber dem Ge¬ 
dächtnis den vordersten Platz anweisen will. 
Die ältere Lehrweise glaubt durch Vergleichen 
der zu erlernenden Sprache mit der schon 
bekannten den Schüler in den Geist der 
neuen Sprache einführen zu können, und da¬ 
zu giebt nichts besser Gelegenheit als das 
Übertragen von einer in die andere. Doch 


grade dieses Vergleichen oder — was im 
Grunde dasselbe ist — dieses Aufsuchen des 
Unterscheidenden in der eigenen und der 
fremden Sprache will der Reformer vermei¬ 
den. Er will ein möglichst unmittelbares Auf¬ 
nehmen des zu erlernenden Sprachstoffs; 
jedes Dazwischentreten der Muttersprache er¬ 
scheint ihm störend und hemmend, hemmend 
ja auch schon der Aussprache wegen, da die 
Artikulationsbasis der Muttersprache eine ganz 
andere ist, als die des Französischen oder 
Englischen. 

Untrennbar hängt damit freilich auch das 
anders gestaltete Sprachziel der Alten und 
der Jungen zusammen. In der alten Schule 
gilt die mustergiltige Übersetzung als wesent¬ 
lichste Frucht des Sprachunterrichts, in der 
neuen Schule die freie Bewegung in dem 
fremden Idiom. Das höhere Ziel hat sich 
ohne Frage die Reform gesteckt, ein Ziel, 
das vollkommen zu erreichen, der Schule nie, 
jahrelangem privatem Bemühen des Einzelnen 
nur bisweilen gelingt. Greifbarer ist das Re¬ 
sultat der Älteren, greifbar vor allem das 
Ziel, aus dem fremden Idiom in die Mutter¬ 
sprache eine mustergiltige Übertragung zu 
liefern; schwieriger, aber immerhin doch auch 
durch die Schule erreichbar ist das korrekte 
Übersetzen aus der Muttersprache in die 
fremde. Die Erzielung des freien Ausdrucks 
aber, wofern damit nicht ein blosses Gaukel¬ 
spiel getrieben werden soll, wird immer als 
die am schwersten zu bewältigende Aufgabe 
erscheinen, ganz gewiss aber nach der neuen 
Methode weit eher erfüllbar als nach der 
alten. 

Nachdem nun die preussische Regierung 
für ihren Verwaltungsbereich die Forderung 
praktischer Handhabung der fremden neue¬ 
ren Sprachen aufgestellt hat, haben die Re¬ 
former auf jeden Fall recht, hier sich Gehör 
zu verschaffen. Ganz anders aber liegt die 
Sache in den alten Sprachen. Hier ist die 
freie Handhabung durch das Beseitigen des 
lateinischen Aufsatzes auch in seiner letzten 
Spur unterdrückt worden. Es ist damit be¬ 
stimmter als jemals vorher dokumentiert, dass 
das Schwergewicht auf der rein grammatischen, 
reinsprachlich-logischen Schulung liegt, deren 
Zuverlässigkeit grade im Übersetzen, sei es 
aus der Muttersprache, sei es auch in die¬ 
selbe auf das untrüglichste erprobt werden 
kann. Im Ernst arbeitet kein Altphilologe 
eines preussischen Gymnasiums mit dem Be¬ 
wusstsein, dass das Gros seiner Schüler, die 
Juristen und Mediziner, die Naturforscher und 
Architekten, durch den Unterricht die An¬ 
regung empfangen sollen, im späteren Leben 
sich weiter in Cicero und Horaz, in Thuky- 
dides, Plato oder Sophokles hineinzulesen 


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414 


Betrachtungen und kleine Mitteilungen. 


oder gar einmal sich an Aeschylus und Aristo* 
phanes im Original heranzuwagen. Die ganze 
lateinische und griechische Ausbildung des 
Gymnasiums ist Selbstzweck, die Emporführ¬ 
ung des Schülers von dem behaglich breiten 
und flüssigen Stil des antiken Historikers 
durch knappere und dunklere Darstellungs¬ 
weisen bis hinauf zur blos andeutenden, an¬ 
spielungsreichen poetischen Diktion trägt ihren 
ausreichenden Bildungswert in sich. Ganz 
anders in den modernen Sprachen. Da ist 
selbst auf Realschulen, wo das Französische 
ja geradezu die Mission des Lateinunterrichts 
am Gymnasium übernimmt, doch diese Aus¬ 
bildung immer auch noch Mitte! zum Zweck, 
Mittel zu einer späteren Verwertung und Er¬ 
weiterung der erworbenen Kenntnisse in Lit- 
teratur und Leben. 

Wie auf so vielen anderen Gebieten, so 
liegt auch hier die Lösung der widerstreiten¬ 
den Ansichten in einem Kompromiss. Keine 
Methode ist so schlecht, dass nicht ein Körn¬ 
lein Wahres und Gutes darin zu finden wäre, 
und das ein halbes Jahrhundert lang von 
Tausenden und aber Tausenden Geübte kann 
nicht ganz unbrauchbar sein. Ein Abweisen 
allzu gekünstelter und ausgeklügelterMethoden 
auf der einen Seite, auf der andern Seite die 
sorgsame Vervollkommnung des von vielen 
Seiten Erprobten und die Zuhilfenahme des 
mancherlei Wertvollen aus älteren Lehrweisen, 
muss schliesslich zu dauernden Erfolgen füh¬ 
ren. Der greifbarste liegt wohl bis jetzt noch 
auf dem Gebiete der Aussprache, und hier 
hat die Reform sogar einer neuen Wissen¬ 
schaft das Leben gegeben, der Phonetik. Ob 
diese mit ihrem Zubehör, mit Lauttafel und 
Lautschrift, für das Gedeihen der modernen 
Bestrebungen von der Bedeutung ist, zu der 
die Extremreformer sie stempeln wollen, das 
ist gegenwärtig die Frage, derentwegen sich 
die Anhänger der neuen Methode in zwei 
Heerlager geteilt haben. 


Betrachtungen und kleine Mitteilungen. 


Es unterliegt keinem Zweifel, dass die jetzt im 
Reichs-Telegraphengebiet zur Erhebung gelangende 
Bauschsumme von 150 Mark für Überlassung jeder, 
innerhalb eines Umkreises von 5 Kilometer um die 
Vermittelungsanstalt liegenden Fernsprechstelle nicht 
einer gerechten TarifbUdung entspricht. Der Spe¬ 
diteur, der Kaufimann, welche ihren Femsprechan- 
schluss vielleicht täglich so oft benutzen, wie ein 
Privatmann im Monat; der Teilnehmer in einer 
grossen Stadt mit einem ausgedehnten Fernsprech¬ 
netze und der in einem kleinen Orte wohnende 
Teilnehmer, welcher sich nur des Verkehrs nach 
ausserhalb wegen hat anschliessen lassen, zahlen 
alle dieselbe Vergütung. 

Man ist heute darüber einig, dass zur Erzielung 
eines richtigen Ausgleichs zwischen Leistung und 
Gegenleistung der Tarif iür Überlassung und Be¬ 
nutzung eines Femsprechanschlusses aus zwei Sät¬ 
zen zu bilden ist, einmal aus einer Bauschsumrae 
für Verzinsung und Tilgung des von der Telegra¬ 
phenverwaltung zur Herstellung der Anschlusslei¬ 
tung und der Sprechstelle aufzuwendenden Anlage- 
ka^tals und sodann aus der Summe der Beträge 
für die jedesmalige Inanspruchnahme der Fem- 
sprech-Vermittelungsanstalt zur Ausführung der ein¬ 
zelnen Verbindungen. Die letztere Summe soll auf 
Grund automatisch wirkender Zähler festgestellt 
werden. Durch die Zähler können entweder die 
Zeiträume der Benützung des Fei^prechjws (vom 
Abheben des Fernhörers vom ‘ Haken bis zum 
Wiederanhängen) summiert, oder die ausgeführten 
Verbindungen ohne Rücksicht auf die Dauer ihres 
Bestehens gezählt werden. Da die Mühewaltung 
der Beamten in der Vermittelungsanstalt hauptsäch¬ 
lich durch die Zahl der Verbindungen und nicht 
durch die Länge der Zeit bedingt wird, während 
welcher die Verbindungen bestehen, haben die ei¬ 
gentlichen Gesprächszähler vor den Gesprächszeit¬ 
messern den Vorzug. 

Ebenso wie der Absender im Post- und Tele¬ 
graphenverkehr im Allgemeinen alle Gebühren zu 
tragen hat, werden auch die Gespräche von dem 
anrufenden Teilnehmer zu bezahlen sein. Es ist 
zwar von verschiedenen Seiten in Vorschlag ge¬ 
bracht, die Gebühr dem rufenden und dem ge¬ 
wünschten Teilnehmer je zur Hälfte zur Last zu 
schreiben, da auch der angerufene Teilnehmer ein 
Interesse an den Gesprächen habe. Diese Erwäg¬ 
ung ist aber für viele Fälle nicht zutreffend, denn 
zahlreiche Anfragen haben nur für den Fragenden 
Nutzen und werden oft sogar lästig empfunden. 
Bei Herstellung einer Femsprech-Verbindung darf 
also nur das Zählwerk des rufenden Teilnehmers 
in Wirksamkeit treten. 

Die bisher vorgeschlagenen automatischen Zäh¬ 
ler, welche entweder in Verbindung mit der Ein- 
und Ausschaltevorrichtung in der Teunehmersprech- 
stelle oder mit der Abfrageklinke in der Vermil- 


Gespr&chszähler in Stadt-Femsprech-Elnrlch- 
tungen. Die Reichspostverwaltung hat als Vorbe¬ 
dingung für die von vielen Seiten nachgesuchte 
Ermässigung der Fernsprechgebühren im Stadtver¬ 
kehr die Erfindung eines brauchbaren Gesprächs¬ 
zählers hingestellt. Diese Anregung hat die Auf¬ 
merksamkeit der Erfinder erneut auf den Gegen¬ 
stand hingelenkt. Viele Erfindungen müssen aber 
von vornherein verworfen werden, weil dieselben 
ohne Rücksicht auf die technischen 
Einrichtungen und den Betrieb in 
den Stadt-Femsprechanlagen aus¬ 
geführt sind. Um die Erfordernisse 
eines Gesprächszählers beurteilen 
zu können, ist zu prüfen, auf welchen 
Grundlagen ein nchtiger Femsprech- 
Gebührentarif zu fussen hat 


/•ig. /. 



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Betrachtungen und Kleine Mitteilungen. 


415 


telungsanstalt verbunden'’sind, werden immer be- 
thätigt, gleichviel ob die gewünschte Verbindung 
ausgeführt werden kann oder nicht. Wenn hierzu 
behauptet wird, dass jeder Anruf der Vermittelungs¬ 
anstalt Arbeit verursache und deshalb als gebüh¬ 
renpflichtig anzusehen sei. so muss doch berück¬ 
sichtigt werden, dass nach allgemeinem Geschäfts¬ 
gebrauch für Inanspruchnahme der Zeit und Mühe 
eines Unternehmers keine Entschädigung gezahlt 
wird, wetm das Geschäft nicht zu Stande kommt. 
Ein brauchbarer Gesprächszähler wird also erst 
dann in Thätigkeit treten dürfen, wenn beide Teil¬ 
nehmer sich im Gespräch erreicht haben, oder wenn 
die Verbindung getrennt wird. 



Die Firma Stock & Co. in Berlin hat sich 
kürzlich einen mechanisch wirkenden Gesprächs¬ 
zähler patentieren lassen, bei welchem der Ab- 
ft-agestöpsel — das ist der metallische Stöpsel der 
Verbindungsschnur auf dem Vermittelungsamt, wel¬ 
cher mit der Leitung des rufenden Teilnehmers in 
Verbindung gebracht wird — zwei besondere Ein¬ 
kerbungen hat, und die Zählung beim Trennen der 
Verbindung erfolgt. Kann die gewünschte Ver¬ 
bindung nicht hergestellt werden, so wird der 
Stöpsel nur bis in die erste Einkerbung l (i) zu¬ 
rückgezogen, wobei eine Zählung nicht stattfindet. 
Der Stöpsel muss stecken bleiben, bis der Teil¬ 
nehmer eine neue Verbindung verlangt. Dass die 
beabsichtigte Handhabung des Stöpsels bei lebhaf¬ 
tem Betriebe sicher durchfilhrbar sein wird, erscheint 
immerhin zweifelhaft. Es sind Irrtümer nicht aus¬ 
geschlossen, da der Zähler nicht lediglich automa¬ 
tisch arbeitet, sondern die Mitwirkung des Beamten 
in Frage kommt. 

Die Bemühungen der Erfinder, einen einfachen 
Apparat zu konstruieren, welcher automatisch nur 
Jedes wirklich zu Stande gekommene Gespräch 
zählt, werden daher noch fortzusetzen sein. 

Für Interessenten geben w’ir anbei 3 Schnitt- 
Zeichnungen des Stock'sehen Apparats und zwar 
Fig. I von der Seite, Fig. 2 von vorn, Fig. 3 von 
hinten. / ist der Abfragestöpsel, zieht man densel¬ 
ben heraus, so wird durch das Hebelwerk h t g 
das Sperrrad d um einen Zahn weiter gerückt. Hier¬ 
bei dreht sich auch das auf der gleichen Axe (a) 
sitzende Zahnrad e (Fig. 3) und dreht das auf der 
Axe b sitzende Zählrad / (Fig. 2) um eine Num¬ 
mer weiter. (Jedes Zählrad trägt die Ziffern 0—9). 
Ein Zahn des Rades e ist seitlich verlängert e i 
(Fig. 3). Dreht sich e einmal vollständig um die 
Axe, so rückt der Mitnehmer ei das Zahnrad m 
auf der Axe e um einen Zahn weiter. Zahnrad m 
Oberträgt diese Drehung auf Zählrad « (Fig. 2). 
Ist also Zählrad / von o über 9 wieder bis 0 vor¬ 
gerückt, so rückt n von o bis i, durch entsprechen¬ 
den Mechanismus rückt 9 (Fig. 2) um eins vor. 


wenn sich « einmal vollständig um seine Axe ge¬ 
dreht hat u. s. f. Vorstehender Apparat zählt bis 
zu 99c)99 Gespräche. m. 


Eine neue epochemachende Kraftmaschine, 
die für die weitere Entwicklung der Technik von 
unabsehbarer Bedeutung sein wird, ist nach dem 
Urteile berufener Fachleute*) der neue Wärme-Motor 
des Ingenieurs Rudolf Diesel in München, der 
kürzlich in der Maschinenfabrik Augsburg einem 
kleinen Kreise von Interessenten vorgeführt wurde. 

Die Bedeutung des neuen Motors liegt in dem 
hohen Nutzeffekt, der 26—27 ^ beträgt, d. h., in 
demselben werden 26—27 Prozent vopi Heizwerte 
des Brennmaterials nutzbar gemacht, während die 
vorzüglichsten Dampfmaschinen*) nur 9—lo"'» der 
Verbrennungswärme in Arbeit umsetzen und auch 
die anderen Wärmemotoren mit einem Maximum 
von ca. 18 Prozent noch weit Zurückbleiben. 

Wenn man nun bedenkt, dass auch der Gas- und 
Petroleum-Motor hinsichtlich der ökonomischen Ver¬ 
wertung des Brennmaterials fast keiner Verbesser- 
xmg mehr fähig sind, so wird man das Aufsehen 
begreifen, das die neue Konstruktion Diesel's in den 
Fachkreisen hervorgerufen. 

Auch derDiesel’sche Motor ist eine Verbrennungs¬ 
maschine, aber Entzündung und Verbrennung er¬ 
folgen hier unter ganz eigenartigen Umständen, die 
eben, in Übereinstimmung mft den Forderungen der 
Theorie, .eine viel bessere Ausnutzung des Brenn¬ 
materials ermöglichen. Das Brennmaterial, das der 
Maschine in ganz kleinen, genau regulierbaren 
Mengen während eines Teils des Kolbenhubes zu¬ 
geführt \vird, verbrennt nämlich von selbst dadurch, 
dass es im Arbeitscylinder in Berührung mit Luft 
kommt, welche vorher von der Maschine selbst auf 
mechanische Weise so stark komprimiert wurde, 
dass sie in glühenden Zustand versetzt ist, ehe über¬ 
haupt eine Verbrennung begonnen hat. Der Ver¬ 
brennungsprozess besteht hi» in keiner Explosion, 
sondern in einer allmählich erfolgenden Verbrennung, 
w’elche die Luft sanft ausdehnt und hierdur^ 
den Kolben antreibt; diese Verbrennung bleibt sich 
nicht selbst Oberlassen, sondern wird durch steuern¬ 
den Einfluss von aussen auf eine bestimmte, vor¬ 
teilhafte Weise geleitet, auf welche an dieser Stelle 
freilich nicht näher eingegangen werden kann Es 
mag nur noch bemerkt werden, dass die Verbren¬ 
nung eine vollkommene ist, was sich, abgesehen von 
der chemischen Untersuchung, schon aus der Un¬ 
sichtbarkeit und Geruchlosigkeit der die Maschine 
verlassenden Gase ergiebt. Als Brennmaterial kann 
hierbei sowohl flüssiges (Petroleum), als gasförmiges 
(Leuchtgas), als auch festes (fein pulverisierte Kohle) 
in Betracht kommen. Indessen ist die Maschine 
zunächst nur für Petroleum vollkommen durch¬ 
konstruiert; auch der geprüfte Versuchsmotor war 
für dieses Brennmaterial eingerichtet. Und was die 
Kohle betrifft, so wird es sich voraussichtlich vor¬ 
teilhafter gestalten, dieselbe vor dem Gebrauch erst 
zu vergasen, als aus ihr ein so feines und gleich¬ 
förmiges Pulver herzustellen, w'ie es für den in Rede 
stehenden Zweck nötig wäre. 

Besonders wichtig an der Erfindung Diesel’s ist 
auch, dass dieselbe nicht den Abschluss eines zur 
Vollkommenheit gediehenen Systems, sondern 
den Ausgangspunkt eines neuen bedeutet. Interes¬ 
sant ist auch, dass dieselbe nicht etw'a wüe manche 
andere Erfindung einem nahe liegenden, guten Ein¬ 
fall des Erfinders zu verdanken ist, der vielmehr 

>) Wir entnehmen die Daten dieser Mitteilung einem Bericht 
des Herrn Hofrat Prof Max Seil io g in der Allg. Ztg. 

'■*1 Vergl- Umschau No. ai. S. 37a. 




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4i6 


Betrachtungen und kleine Mitteilungen. 


von vornherein auf ein weitgestecktes ganz 
bestimmtes Ziel losging. Seine Theorie hat Diesel 
bereits vor 4 Jahren in der Schrift „Theorie und 
Konstruktion eines rationellen Wärmemotors zum 
Ersatz der Dampfmaschinen und der heute bekannten 
Verbrennungsmotoren" dargelegt. Die in derselben 
gestellte Aufgabe ist In dem von der Maschinen¬ 
fabrik Augsburg gebauten Versuchsmotor von 
20 Pferdekräften glänzend gelöst. Die genannte 
Fabrik hat das Verdienst, den genialen Erfinder in 
der Verwirklichung seines Gedankens dadurch unter¬ 
stützt zu haben, dass sie demselben eine mit 
allen modernen Hülfsmitteln der Technik ausge¬ 
stattete Versuchsstation zur Verfügung gestellt. 

• « 

• 

Die Fortpflanzungsgeschichte des Aales ist bis 
auf den heutigen Tag in Dunkel gehüllt. Während 
Siebold noch 1863 die Vermutung aussprach, dass 
die Vermehrung des Aales durch Partnenogenesis 
(jungfräuliche Fortpflanzung) stattfinde, wies erst 
1874 Syrski die Existenz männlicher Aale nach. 
Damit hörten aber unsere Kenntnisse auf, da sich 
die geschlechtsreifen Tiere zum Laichen ins Meer 
begeben. Vor kurzem veröffentlichte nun der Rö¬ 
mische Professor Grassi eine Abhandlung, in wel¬ 
cher er den Nachweis versucht, dass man in ge¬ 
wissen kleinen Fischen, den Leptocephaliden, das 
lugendstadium der Aale vor sich habe. Diese 
kleinen, nur wenige cm langen Fischchen sind glas¬ 
hell, besitzen ein vorwiegend knorpeliges, rippen¬ 
loses Skelett, eine kaum entwickelte Schwimmblase, 
weisses Blut (im Gegensätze zu allen Wirbeltieren 
mit Ausnahme des Amphioxus) und zeigen keine 
Spur von Geschlechtsorganen. Infolge dieser Merk¬ 
male, besonders des letztgenannten wegen hielt 
man sie schon seit längerer Zeit ftlr Larvenformen. 
Grassi glaubt nun in einer Reihe von Arten dieser 
merkwürdigen Fische die Larven verschiedener 
Muränen- und Meeraal-Arten gefunden zu haben 
und in der Art Leptocephalus brevirostris das Ju¬ 
gendstadium unseres gewöhnlichen Aales. Da diese 
Fischchen in einer Meeresdefe von über 500 Faden 
leben, so stösst ihr Fang auf grosse Schwierigkei¬ 
ten ; jedoch erhielt unser Forscner reiches Material 
aus dem Verdauungskanale eines Raubfisches, Or- 
thagoriscus, welcher in der Strasse von Messina 
durch die eigentümlichen Strömungsverhältnisse 
öfter an die Oberfläche geführt wird. Wenngleich 
es Grassi nicht gelang, die Entwickelung der ge¬ 
nannten Leptocephaliden zu Aalen direkt zu ver¬ 
folgen, so glaubt er doch schon genügend Material 
una Beobachtungen (Im Aquarium) gesammelt zu 
haben, um den Leptocephalus brevirostris als die 
Larvenform des Aales ansehen zu müssen. Auf 
den näheren Gang des Beweises können wir hier 
nicht eingehen. Doch möchten wir auf einige Be¬ 
denken hinweisen, welche noch zu beseitigen sind. 
Zunächst muss das Vorkommen von Leptocepha¬ 
lus brevirostris in unseren nordischen Meeren noch 
nachgewiesen werden. Zweitens giebt die That- 
sache zu denken, dass nach neueren Untersuchungen 
Imhoffs sich der Aal auch in dem nur 30 m tie¬ 
fen Caumasee Graubündens fortpflanzt, und nach 
Knauthe dasselbe in den Süsswasserseen Bran¬ 
denburgs der Fall ist. Dann müsste doch auch in 
diesen Binnenseen der Tiefseefisch Leptocephalus 
brevirostris Vorkommen!? 

(Proc, Ro}'. Soc. London. Vol. LX, p, a6o.) Rk. 

• • 

• 

Die photographische Beobachtung der Wol¬ 
ken. Neuerdings wendet die Meteorologie der 
photographischen Fixierung der Wolkenfbrmen ein 
erhöhtes Interesse zu. Bekanntlich gehen bei den 
gewöhnlichen Landschaftsaufnahmen die Wolken 


am Himmel meist verloren. Das rührt daher, dass 
die ^blaue Farbe des Himmels praktisch dieselbe 
chemische Wirkung auf die empfindliche Platte hat 
wie die weisse Farbe vieler Wolken und daher 
fehlt der Kontrast, der zur Erzeugung eines guten 
Bildes nötig ist. Bis giebt verschiedene Methoden, 
diesen Übelstand zu umgehen. Prof. Riggen¬ 
bach in Basel photographiert Wolken durch ein 
Nicol ’sches Prisma, indem er die Thatsache be¬ 
nutz^ dass das von Wolken reflektiert^ Licht viel 
weniger stark polarisiert ist, als das Licht des 
blauen Himmels, das letztere also durch das Nicol- 
’sche Prisma bedeutend mehr geschwächt wird. 
Statt des Prismas kann man auch einen schwarzen 
Spiegel oder noch einfacher die ruhige Oberfläche 
eines Sees benutzen. Eine ändere Methode besteht 
darin, die Wolken vom Gipfel eines hohen Berges 
aus zu photographieren. Hier erscheint der Him¬ 
mel viel dunkler als in der Ebene, wahrscheinlich 
wegen der Abwesenheit des von Staubteilchen zer¬ 
streuten Lichts. Eine Gelbscheibe vor dem Objek¬ 
tiv ist der einzige Schutz, den man z. B. in einer 
Höhe von 2500 m gebraucht, um ausgezeichnete 
Resultate zu bekommen. — ln der Ebene kann 
man auch durch geeignete Behandlung des Nega¬ 
tivs zu guten Wolkenbildem gelangen. Die meisten 
Wolkenformen sind im Internationalen Wolken- 
Altlas festgelegt, doch ist die Mitwirkung vieler 
Beobachter nötig, um unsere Kenntnis in dieser 
Beziehung zu vermehren. (Nature). Dr. Pr. 

• • 

• 

Die Ausnutzung der Nilkatarakte. Professor 
F o r b e s, der englische Elektriker, der Anfang Mai 
aus Wadi Haifa zurückgekehrt ist, hat sich über 
den Plan, die Wasserkraft der Nilkatarakte zur Er¬ 
zeugung von Elektrizität auszunutzen, überaus 
günstig ausgesprochen, er ist der Ansicht, dass auch 
die allgemeinen Bedingungen für ihren Gebrauch 
als Betriebskraft in Ägypten ungewöhnlich günstig 
liegen. Seiner Meinung nach würde die Wasser¬ 
kraft im Stande sein, das ganze Jahr hindurch die 
Eisenbahnen, die Baumwollmühlen, die Zucker¬ 
fabriken, die Bewässerunesmaschinen u. s. w. zu 
treiben, auch würde die Kraft über Entfernungen 
von einigen Hundert englischen Mellen zu über¬ 
tragen sein, ohne dass die Kosten der gelieferten 
Kraft die der Kohle erreichten. 

• • 

• 

Der Verein deutscher Chemiker mit etwa 1500 
Mitgliedern in 10 Bezirksvereinen hält seine dies¬ 
jährige Hauptversammlung vom 9. bis zum 13. Juni 
1897 (.Mittwoch bis Sonntag nach Pfingsten) in 
Hamburg ab. Auf der Tagesordnung stehen u. a. 
folgende Vorträge: Dr. C. Gottsche: Hamburgs Be¬ 
deutung als Einmhrhafen von Rohstoffen für die che¬ 
mische Industrie. Dr. Brick: Ergänzungen dazu. 
Prof. Dr. Voller: Uber Röntgenstrahlen in chemischer 
Beziehung. Prof. Dr. F. Fischer: Thermochemie in 
der chemischen Industrie. Prof. Dr. G. Lunge: Uber 
das Verhalten der verschiedenen Arten von Kiesel¬ 
säure zu kaustischen und kohlensauren Alkalien. 
Dr. W. Leibold: Chemische Prozesse in der Leucht¬ 
gasfabrikation. Prof. Dr. F. Fischer: Industrie-Ab¬ 
wässer und der internationale Kongress. Dr. Rich¬ 
ter: Theorie des Waschprozesses und Benzinbrände. 


No. 34 der Umsebaa wird enthalten: 

Halbfass, Unsere Kenntnisse von den europäischen Seen. 
— Jurisoh, Schädigungen gewerblicher Betriebe. — Kalt- 
Reuleaux, Der Goldbergbau in Transvaal. — Fwtechritte im 
Artilleriewesen. 


G. Horstmann'a Druckerei. Frankfurt a. M. 




Diiiilized by v^ooQle 



DIE UMSCHAU 

ÜBERSICHT ÜBER DIE FORTSCHRITTE UND BEWEGUNGEN AUF 
DEM GESAMTGEBIET DER WISSENSCHAFT, TECHNIK, 
LITTERATUR UND KUNST p„, 

herausgegeben von M. a.50. 

DR. J. H. BECHHOLD 


Wöchentlich eine Nummer. 

Zu beziehen durch 
alle Buchhandlungen und 
Postanstalteo. 

Postzeitungsprcisliste No. Taata. 

Verlag von : 

H. Becbhold Verlag, Frankfurt a. M. 


Neue Krame 19/ai. 


Jahres-Abonnement 
Preis M. la —. 

Im Ausland nach Court. 
Verantwortlicher Redakteur: 

Otto Adolf Wolters, Frankfurt a. M. 


24. I. Jahrg. 


Nachdruck au» dem Inhalt der Zeitachrijt ohne Erlaubni» 
der Redaktion verboten. 


1897. 12. Juni. 


Was wissen wir von der Gestalt der 
europäischen Seen ? 

Von Dr. Halbfass. 

Von den einzelnen Disziplinen der phy¬ 
sikalischen Geographie ist die Limnologie, 
auf deutsch die Seenkunde, wohl die jüngst 
angebaute, denn sie datiert erst aus den 70er 
Jahren dieses Jahrhunderts. Der kürzlich ver¬ 
storbene erste Prof, der Erdkunde a. d. Univ. 
Wien, Friedrich Simony, und der noch in 
rüstiger Schaffenskraft in Morges lebende F. 
A. Forel, weiland Professor an der Aka¬ 
demie zu Lausanne, sind ihre Schöpfer und 
Meister in Europa. Die Erforschung, der 
Binnenseen hat es mit einer grossen Zahl 
von Einzeluntersuchungen zu thun, welche 
zu einem organischen Ganzen zusammenzu¬ 
fassen die letzte Aufgabe des Limnologen 
bildet. Von Forel stammt der Satz, dass je¬ 
der See ein bestimmtes geographisches Indi¬ 
viduum ist, in sich abgeschlossener als die 
meisten Objekte geographischer Forschung. 
Es folgt aus diesem Satz natürlich noch nicht, 
dass jeder See monographisch bearbeitet wer¬ 
den müsse, da viele Seen einzeln so unbe¬ 
deutend und so wenig unter sich verschie¬ 
den sind, dass man sie nur gruppenweise 
zusammenfassen kann. Von drei grösseren 
Seen Europas sind bereits umfassende Mono¬ 
graphien erschienen, bezw. im Erscheinen 
begriffen, nämlich von dem Genfersee durch 
Forel selbst, von dessen Standardwerk „Le 
L^man" bereits 2 Bände erschienen sind, 
vom Bodensee, der durch den „Verein für 
die Geschichte des Bodensees“ unter der 
Mitwirkung einer Reihe von Fachgelehrten 
eine ausführliche Beschreibung erfahren hat 
und noch erfährt und endlich vom Plattensee 
in Ungarn, über den die ungarische geogra¬ 
phische Gesellschaft, deren Seele L. v. Loczy 
ist, ein umfassendes Werk erscheinen lässt. 

Es kann nicht meine Aufgabe sein, alle 

UmBcbau 1897. 


limnologischen Arbeiten, die im letzten Jahr¬ 
zehnt in den verschiedenen europäischen Län¬ 
dern erschienen sind, aufzuzahlen, es soll 
vielmehr an dieser Stelle nur ganz kurz 
Rechenschaft darüber abgelegt werden, wozu 
eine möglichst genaue Kenntnis von der Ge¬ 
stalt eines Seebeckens dient und gleichzeitig 
ein Überblick gegeben werden, wie weit un¬ 
sere Kenntnisse nach dieser Richtung bis 
jetzt reichen, wobei ich mich auf Europa be¬ 
schränke. Zunächst bedeutet jede genauere 
Auslotung eines Binnensees eine mehr oder 
weniger umfangreiche Erweiterung unserer- 
Kenntnis von der Erdoberfläche überhaupt, 
y/ie daher die topographische Aufnahme und 
richtige Wiedergabe der Bergformen und 
Berghöhen ohne Zweifel eine der wichtigsten 
und vornehmsten Aufgaben der Orographie 
(Gebirgsbeschreibung) bildet, so gehört die 
möglichst exakte und zuverlässige Auslotung 
der Seen zu den ersten Geschäften eines Lim¬ 
nologen. 

Des Weiteren kann die so fundamentale 
Frage nach der Entstehung eines Sees nur 
beantwortet werden, wenn zuvor die Gestalt 
des Seebeckens möglichst genau ermittelt ist. 
Die Tiefenuntersuchungen im Bodensee haben 
beispielsweise ergeben, dass dieser See durch¬ 
schnittlich sehr sanfte Böschungen besitzt, 
also unmöglich das Werk von Zerreissungen 
der Erdkruste sein kann, die Tiefenkarten 
des Boden- wie des Genfersees ergeben un¬ 
zweifelhaft die Existenz unterirdischer Rinn¬ 
sale, die in anderen Seen, z. B. im Lago 
Maggiore, im Vierwaldstädter See gänzlich 
fehlen; die durchschnittlich sehr geringe Tiefe 
des Plattensees charakterisiert ihn als Step¬ 
pensee, die sehr ungleichen Tiefen mancher 
Seen auf dem baltischen Höhenrücken, z. B. 
des Rheinschen Sees und des Plönersees 
lassen uns gemahnen teils an alte Flussbette, 
teils an eine unregelmässige Anhäufung von 
Moränenmalerial, durch dessen Aufstauung 

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Halbfass, Was wissen wir von der Gestalt der europäischen Seen? 


sie entstanden sein mögen, andererseits lässt 
die auffallende Unebenheit des Bodens des 
Arendsees i. d. Altmark im Gegensatz zu 
den schwachen Unebenheiten des umgeben¬ 
den Landes auf besondere Ursachen seiner 
Entstehung schliessen, die bei den meisten 
norddeutschen Seen glazialen^) Ursprungs 
nicht in Frage kommen können. Die über¬ 
raschend grosse Regelmässigkeit des Beckens 
der Maare in der Auvergne und in der Eifel, 
welche fast sämtlich einen ziemlich genau 
nach der Mitte zu verlaufenden Trichter dar¬ 
stellen, steht mit ihrem vulkanischen Ursprung 
im engsten Zusammenhang und bestätigt die 
aus anderen Gründen angenommene Hypo¬ 
these, dass sie die Öffnungen von Eruptions¬ 
schloten darstellen, welche gleich nach dem 
ersten Ausbruch zur Ruhe gekommen sind; 
die genauere Auslotung von Hochseen würde 
einen sicheren Rückschluss gestatten, ob sie 
der Aufdämmung einer ehemaligen Thalstiife 
ihre Entstehung zu verdanken haben, oder 
ob sie vorwiegend durch Glazialerosion*) ent¬ 
standen sind. Die angeführten Beispiele, die 
sich mit Leichtigkeit ins Ungerhessene ver¬ 
mehren lassen, mögen genügen, um die Wich¬ 
tigkeit einen genauen Kenntnis eines See¬ 
beckens für die Frage nach seiner geologischen 
Entstehung zu illustrieren. — Das thermische*) 
Verhalten der Seen, namentlich die Bildung 
einer sogenannten Sprungschicht, d. h. einer 
Tiefenzone, innerhalb deren die Temperatur 
des Wassers plötzlich bedeutenden Schwank¬ 
ungen unterliegt, welche namentlich auch für 
die Fischereiverhältnisse von nicht unerheb¬ 
licher Bedeutung ist und daher in letzter Zeit 
vielfach genauer studiert wurde, hängt zwar 
wesentlich von meteorologischen Faktoren, 
Wärme-Aus- und -Einstrahlung, Regen, Wind 
etc. ab, doch ist gleichzeitig von verschiedenen 
Beobachtern der Einfluss der Beckenformen 
überzeugend nachgewiesen, und weil mit den 
thermischen Eigenschaften eines Binnenge¬ 
wässers auch seine optischen (Wasserfärbung) 
und chemischen Qualitäten auf das engste Zu¬ 
sammenhängen, so erhellt die Bedeutung 
einer möglichst umfassenden morphologischen 
Kenntnis für alle Zustandserscheinungen eines 
Sees und seiner nächsten Umgebung ohne 
Weiteres. 

Betrachten wir uns den gegenwärtigen 
Stand unserer Kenntnisse von der Beckenform 
der europäischen Binnenseen, so müssen wir 
zu unserer Beschämung gestehen, dass wir 
auch heute noch, wo die Seenforschung im 
allgemeinen einen sehr lebhaften Aufschwung 
genommen hat, von der Bodengestalt der bei 
weitem meisten Seen noch recht wenig wis- 

') Von Gletschern iierrührend. 

*) Wasserwärme. 


sen und dass wir nur von einer verhältnis¬ 
mässig kleinen Zahl ausreichende Tiefenkar¬ 
ten besitzen. Die Ursachen liegen für den 
Eingeweihten auf der Hand, der Hydrograph 
hat nämlich bei seinen Aufnahmen mit Schwie¬ 
rigkeiten zu kämpfen, die der Topograph aui 
dem Lande nur in sehr exponierten Gebirgs¬ 
gegenden kennt; sie näher zu schildern soll 
der Gegenstand eines besonderen Aufsatzes 
sein. Dazu kommt, dass erst in allerneuester 
Zeit die Regierungen einzelner Staaten, allen 
voran die der Schweiz, von Österreich-Un¬ 
garn und Frankreich, begonnen haben, den 
limnologischen Untersuchungen, welche bis 
dahin lediglich von Privatleuten auf ihre 
eigenen Kosten unternommen waren, wirk¬ 
same Unterstützung geliehen und die Resul¬ 
tate langjähriger mühsamer Aufnahmen auf 
Staatskosten veröffentlicht haben. Es kann 
daher nicht Wunder nehmen, dass es um die 
Kenntnis der Seen in den oben erwähnten 
Ländern am besten bestellt ist, besser z. B. 
als in unserem deutsehen Vaterlande. Hier 
sind vor allem zu nennen: Arbeiten, 
wie die vom eidgenössischen topogra¬ 
phischen ; Bureau entworfenen Karten aller 
grösseren und mittleren Seen der Schweiz im 
Siegfriedatlas im Massstab 1:25000, der 
von Penck und Richter mit Unterstützung des 
K. u. K, Ministeriums für Kultus und Unter¬ 
richt herausgegebene Atlas der österreichischen 
Alpenseen, dessen bis jetzt erschienenen bei¬ 
den ersten Lieferungen die Seen des Salz¬ 
kammerguts, von Kärnten, Krain und den 
österr. Anteil des Gardasees im gleichen 
Massstab umfassen, endlich der von Delebecque 
unter Subvention des Ministeriums der öffent¬ 
lichen Arbeiten herausgegebene „Atlas des 
laes fran^ais", welcher in seinen bisherigen 
Lieferungen ausser dem Genfersee die grös¬ 
seren Seen in den französischen Alpen, im 
französischen Anteil des Jura und der Vo¬ 
gesen sowie die vulkanischen Seen der Au¬ 
vergne enthält, später aber auch noch die Hoch¬ 
seen der Pyrenäen umfassen soll. Diesen hat 
Deutschland zur Stunde keine ähnlichen an 
die Seite zu setzen, trotz vielfacher Einzel¬ 
arbeiten in den beiden Hauptseengebieten auf 
dem baltischen Höhenrücken von der russi¬ 
schen Grenze bis nach Ostholstein und am 
Nordfuss der Alpen. Von den Seen der 
deutschen Mittelgebirge existieren bis jetzt 
nur von denen der Eifel, des Riesengebirges 
und der Vogesen Tiefenkarten, vielfach fus- 
sen die Angaben, die man von den Tiefen 
deutscher Landseen in den geographischen 
Handbüchern findet, auf den völlig kritiklosen 
Zahlen eines Werkes über die Fischereiver¬ 
hältnisse des deutschen Reiches. 

In einer Reihe norddeutscher Seen haben 


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Halbfass, Was wissen wir von der Gestalt der europäischen Seen. 


419 


die Oberförstereien aus fiskalischen Gründen 
Peilungen veranlasst, aber die betr. Karten 
sind nur handschriftlich vorhanden und daher 
schwer zugänglich, sind auch zum Teil nicht 
exakt genug, um wissenschaftlichen An* 
Sprüchen völlig zu genügen. Von den gros¬ 
sen vielbesuchten oberitalienischen Seen hat 
das hydrographische Amt der königlichen 
Marine von dem Lago Maggiore und dem 
italienischen Teil des Gardasees Isobathen- 
karten in 1:50000 mit Isobathenim Ab¬ 
stand von je 50 m herausgegeben, von dem 
zum grössten Teil zur Schweiz gehörenden 
Luganersee besitzen wir sogar zwei Karten 
in 1:40000 und 1:50000, ebenso eine vor¬ 
treffliche vom Ortasee in 1:25000, dagegen 
harrt bis jetzt der Comersee noch einer ge¬ 
nügenden Kartierung und eine Tiefenkarte 
des schönen Iseosees in 1:75000 ist zwar 
aufgenommen, aber noch immer nicht publi¬ 
ziert worden. 

Ehe wir von den Alpen, dem Zentralge¬ 
birge scheiden, müssen wir noch seiner über,-, 
aus zahlreichen Hochseen — man schätzt ihre 
Zahl wohl auf über 5000 — gedenken. Ihre 
Auslotung begegnet ganz besonderen Schwie¬ 
rigkeiten, die abgesehen von den Witterungs- 
' und Verpflegungs- und Unterkunftsverhält¬ 
nissen der Seenforscher, hauptsächlich in dem 
Mangel geeigneter seetüchtiger Fahrzeuge 
liegen. Doch ist bereits seitens schwei¬ 
zerischer, österreichischer, französischer und 
italienischer Limnologen auch nach dieser 
Richtung hin bedeutendes geleistet, wenn auch 
noch viel mehr zu thun übrig bleibt. Von 
den Seen, resp, Hochseen der übrigen euro¬ 
päischen Hochgebirge ist nicht viel gutes zu 
melden d. h. sie sind bis jetzt noch sehr 
wenig bekannt, eine Ausnahme machen nur 
die Tatraseen, einige Seen in den Pyrenäen, 
die Seen in Zentralfrankreich, von denen so¬ 
gar schon unterirdische durch den bekannten 
Höhlenforscher Märtel untersucht sind, und 
ganz neuerdings die Hochseen im Rilodagh, 
dem hohen Grenzgebirge im Süden Bulgariens 
und Serbiens. 

Dagegen wissen wir von den Hochseen der 
Skandinavischen Halbinsel, des gebirgigen 
Ostens von Irland, von den zahlreichen Seen 
Islands, den Hochseen im Kantabrischen Ge¬ 
birge, in der Sierra de Gredos, in der Sierra 
de Nevada und im Quellgebiete des Guadiana 
auf der Pyrenäenhalbinsel, den Hochseen in 
Aetolien, im östlichen Arkadien, im Rhodopo- 


*) Isobathen nennt man die Linien gleicher Tiefe 
auf das mittlere Niveau des Sees bezogen, Iso- 
physen heissen sie, wenn sie auf das Meeresniveau 
bezogen sind, letzteres System ist von wissen¬ 
schaftlichem Standpunkt aus vorzuziehen und wird 
in neuester Zeit mehr und mehr angewandt. 


gebirge auf der sogen. Balkanhalbinsel, end¬ 
lich von den Seen im Kaukasus, falls wir 
dies gewaltige Hochgebirge noch zu Europa 
rechnen, bis jetzt so gut wie — nichts. Stei¬ 
gen wir vom Hochgebirge wieder hinab zum 
Mittelgebirge und in’s Flachland, so finden 
wir noch zahlreiche Seendistrikte, die ihrer 
näheren Aufklärung und vor allem ihrer to¬ 
pographischen Aufnahme bis jetzt vergeblich 
geharrt haben, dazu gehört z. B. Finland, 
das Land der 1000 Seen, das von allen Län¬ 
dern der Erde den rel. grössten Seenreich¬ 
tum aufzuweisen hat, denn seine Seen be¬ 
decken 12,86 pCt. des Flächenareals, ferner 
Russland, welches, ganz abgesehen von dem 
halbasiatischen Caspisee, die Riesen unter 
den europäischen Seen, den 18150 qkm gros¬ 
sen, aber nur 223 m tiefen Ladogasee, den 
etwas Ober halb so grossen, aber anderthalb 
mal so tiefen Onegasee, endlich den 3513 qkm 
grossen, doch, abgesehen von einzelnen Lö¬ 
chern, nur 17 m tiefen Peipussee besitzt, end¬ 
lich die Skandinavische Halbinsel, wo die 
Seen in Schweden 8.20 pCt., in Norwegen 
3.15 pCt. des Areals bedecken, aber trotz 
zahlreicher durch die Regierung veranlasster 
Lotungen und vieler Spezialarbeiten noch 
nicht in einem wissenschaftlichen Seenatlas 
dargestellt sind. 

Die Messungen der nordischen Limno¬ 
logen verfolgen vielfach mehr reinpraktische 
Zwecke, wie die Wasserstandsveränderungen 
und die Eisverhältnisse. Besser ist es um 
unsere Kenntnis von den Moränenseen im 
mittleren Russland (Gouv. Twer, Pskow, 
Smolensk), den zahlreichen kleinen Landseen 
im nordöstlichen Seeland, in Laaland und Jüt¬ 
land (Dänemark), den romantisch gelegenen 
zum Teil sehr tiefen Lochs in Nordschottland, 
und den grösseren Seen Irlands bestellt, wenn¬ 
gleich wir nur von wenigen unter ihnen ge¬ 
nauere Tiefenkarten besitzen. 

Im eigentlichen England hat der sogen. 
Seendistrikt im Nordwesten, nördlich von 
Liverpool, eine ausgezeichnete Bearbeitung 
durch H. R. Mill gefunden und neben den 
bereits veröffentlichten provisorischen Tiefen¬ 
karten in dem wunderlichen Massstab 1:316 8o(!) 
sollen im Bureau des Ordnance survey solche 
im grösseren Massstab nach demselben Sy¬ 
stem angefertigt werden, das bei dem Seen¬ 
atlas der österr. Alpenländer befolgt wurde. 
Die Pyrenäenhalbinsel besitzt ausser ihren 
Hochseen nur wenig mittelgrosse Seen im 
Grenzgebiet der Provinzen Asturien und 
Leon, darunter den vielgepriesenen ii km 
grossen, ca. 80 m tiefen Castanedasee, von 
dem wir aber in wissenschaftlicher Beziehung 
herzlich wenig wissen. 

Die Apenninenhalbinsel steht im Begriff 

24* 


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420 


Veränderungen und Fortschritte im Artilleriewesen im Jahre 1896. 


ihren grössten Landsee, den klassischen Lago 
di Trasimeno durch künstliche Austrocknung 
zu verlieren, mit der Untersuchung der eben¬ 
so klassischen Seen von Albano und Nemi 
und der im ehemaligen Latium gelegenen 
Lago di Bolsena und Lago di Bracciano,- 
welche vulkanischen Ursprungs sind, hat 
neben anderen Limnologen der unermüdliche 
O. Mari nein begonnen, dem wir auch un¬ 
sere Kenntnis von einer Reihe kleinerer 
Landseen in der Provinz Perugia und in 
Sizilien verdanken; in Süditalien liegen aus¬ 
serdem noch mehrere Seen, der Lago di Mon- 
ticchio bei Potenza und der Lago d’Averno 
bei Neapel, über deren angebliche unergOnd- 
liche Tiefe ungehindert Fabeln verbreitet wer¬ 
den. Auf der südosteuropäischen Halbinsel 
besitzt das Königreich Griechenland, nachdem 
der einst 240 qkm grosse Kopaissee in Böotien 
nunmehr völlig trocken gelegt ist, nur noch 
kleinere Seen in Epirus und Thessalien, von 
denen wenig bekannt ist, Rumänien, Serbien 
und Bulgarien entbehren gleichfalls grössere 
Seen und Montenegro besitzt nur in dem 
halb zu Albanien gehörigen Scutarisee einen 
grösseren Landsee, von dem Hassert eine 
Tiefenkarte entworfen hat. Dahingegen ist 
der noch unter türkischer Herrschaft stehende 
Teil der Halbinsel ziemlich seenreich und 
birgt in der umfangreichen Gruppe der Des- 
saretischen Seen auf der Grenze von Nord- 
und Südalbanien auf der einen, Macedonien 
auf der anderen Seite das grösste noch zu 
lösende limnologische Problem Europas. Wir 
wissen von diesem ausgedehnten Komplex 
von Seen, von denen der grösste an Umfang 
dem Genfersee nicht nachsteht, so gut wie 
nichts. Kein Wunder, liegt er doch so 
recht im Herzen des „dunkelsten Europa"; 
einer näheren Erforschung werden auf unab¬ 
sehbare Zeit die kriegerischen Verwickelungen, 
die in diesem Grenzland Jahr aus Jahr ein 
herrschen, die grössten Schwierigkeiten in 
den Weg stellen, die zu heben man bei 
der Ohnmacht der Pforte einstweilen wird 
verzichten müssen. Doch auch abgesehen 
von diesem dunklen Winkel, harren, wie die 
vorstehende Übersicht wohl gezeigt hat, in 
Europa auf seekundlichem Gebiet noch viele 
Probleme ihrer Lösung, steht dem Limnolo¬ 
gen noch ein reiches Feld praktischer Thä- 
tigkeit offen. 


Veränderungen u. Fortschritte im Artillerie- 
wesen im Jahre 1896. 

Von l{aiiptniunn X. • 

Für diesen Rückblick auf das Jahr 1896 
und das erste Vierteljahr des Jahres 1897 


wollen wir nach der Disposition verfahren, 
dass wir das Gebiet der Feldartillerie, das¬ 
jenige der Fussartillerie und das der rein 
technischen und ballistisch-wissenschaftlichen 
Fragen für sich getrennt behandeln. 

I. Feldartillerie. 

Es dürfte hinlänglich bekannt sein, dass 
z. Zt. unter den Feldartillerien der Gross¬ 
mächte eine annähernde Gleichmässigkeit 
herrscht; man bedient sich allenthalben ge¬ 
zogener Geschütze, d. h. Geschütze, deren 
innere Ausbohrung mit gewundenen Zügen 
versehen ist, die, wie beim Gewehr, dem 
Geschoss eine, die Stabilität der Achse wäh¬ 
rend des Fluges durch die Luft aufrecht er¬ 
haltende Rotation verleihen. Diese Geschütze 
haben fast durchweg dasselbe Kaliber (8 bis 
9 cm), werden mit rauchlosem Pulver geladen, 
und leisten ballistisch annähernd das gleiche, 
d. h. sie besitzen so ziemlich die gleiche An¬ 
fangsgeschwindigkeit, Endgeschwindigkeit, Ra¬ 
sanz der Flugbahn und Treffiähigkeit. Diese 
Gleichmässigkeit ist leicht erklärlich, wenn 
man bedenkt, dass beinahe alle Feldgeschütz¬ 
systeme der Grossstaaten in den siebziger 
Jahren entstanden; Deutschland, welches sein 
vorzügliches Material im Jahre 1873 kon¬ 
struierte, bot den anderen Staaten ein Muster, 
an welchem dieselben ihre Erfahrungen sam¬ 
melten und an welches sie sich vielfach 
anlehnten. Waren sie somit in dtr glücklichen 
Lage, an ihrem später konstruierten Material 
auf Grund dieser Erfahrungen noch diese 
oder jene Verbesserung anbringen zu können, 
so waren diese Vorzüge der später konstruierten 
Rohi e doch nur rein theoretische, und kamen 
praktisch überhaupt nicht zur Geltung, umso¬ 
mehr als Deutschland es vortreftlich verstand, 
sich in der Hauptsache — d. i. in Geschoss- 
und Zünderkonstruktion, Schiessregeln und 
taktischer Verwendung und Führung der 
Artillerie — auf der Höhe der Situation zu 
behaupten oder, richtiger gesagt, die Führung 
der Feldartillerien der Grossmächte in den 
Händen zu behalten. 

Der ganze Zustand, der hier herrscht, ist 
aber der des labilen Gleichgewichts; die ge¬ 
ringste Störung von irgend einer Seite — und 
es ist gestört! Alles muss alsdann fieberhaft 
arbeiten, um so schnell wie möglich dasselbe 
unsicher basierte Gleichgewicht wieder herzu¬ 
stellen. Ist man sich doch nur zu wohl 
bewusst, dass der Artillerie in den Kämpfen 
des Zukunftskrieges die Hauptrolle zufallen 
wird, und dass derjenige die Palme des Sieges 
erringen wird, der die besser bewaffnete und 
besser geführte Artillerie ins Feld führt. 

So konnte es auch nicht Wunder nehmen, 
dass das verflossene Berichtsjahr im Zeichen 


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Veränderungen und Fortschritte im Autillerif.wesen im Jahre 1896. 


421 


des Schnellfeuergeschützes stand. Wir haben 
an anderer Stelle auseinandergesetzt, welche 
ungeheure auschlaggebende Überlegenheit 
einer mit einem Schnellfcuergeschütz bewaff¬ 
neten Feldartillerie gegenüber einer solchen 
innewohnt, die mit einem der gegenwärtigen 
Feldgeschütze versehen ist. Sobald also die 
Entwicklung mehr und mehr auf ein Schnell¬ 
feuergeschütz hinzielte, musste auch jeder 
Staat darauf bedacht sein, alle Massregeln zu 
treffen, um jederzeit ein solches modernes 
Geschütz einftlhren zu können. 

Ebenso bestrebten sich die Privatetablisse¬ 
ments , derartige Konstruktionen fertig zu 
stellen, um sie ihren Abnehmern anbieten zu 
zu können, und so ergiebt sich denn eine 
grosse Anzahl von privaten Schnellfeuer¬ 
geschützkonstruktionen, bezw. von Angaben 
über die Schnellfeuerprojekte der einzelnen 
Staaten. Sie alle folgen den Gesichtspunkten, 
die wir s. Zt. *) aufstellten, gehen aber natur- 
gemäss in der Wahl ihrer Wege teilweise 
weit auseinander. 

Die technischen Einzelheiten des deutschen 
Schnellfeuergeschützes, das soeben bei Ab¬ 
schluss dieser Zeilen an einige Regimenter 
ausgegeben worden ist,*) sind noch in strenges 
Geheimnis gehüllt und werden es wohl auch 
noch längere Zeit bleiben; es ist aber als 
hervorragend zu bezeichnen, dass Deutschland 
seine in grösster Stille betriebenen Versuche 
so energisch gefördert hat, dass es im Stande 
war, allen Grossstaaten den Rang abzulaufen 
und wiederum, wie schon im Jahre 1873 als 
erster Militärstaat eine neue Epoche der Be¬ 
waffnung einzuleiten. 

Auch über Frankreichs Schnellfeuerprojekt 
verlautet noch nichts Sicheres; die Versuche 
sind im Berichtsjahre aber jedenfalls abge¬ 
schlossen oder wenigstens dem Abschluss nahe 
gebracht worden und der Eintritt in die Massen¬ 
fabrikation dürfte entweder gegenwärtig er¬ 
folgt sein, oder — durch Deutschlands 
schneidiges Vorgehen gedrängt — in aller¬ 
kürzester Zeit vor sich gehen. Die Press¬ 
gerüchte, die über das neue Geschütz ab und 
zu auftauchten, sind bis in das Jahr 1894 
zurück zu verfolgen, wo zuerst gemeldet wurde, 
dass ein 7,5 cm Kaliber mit einem Geschoss¬ 
gewicht von 6,5 kg und einer Anfangsge¬ 
schwindigkeit von 600 m ausgearbeitet werde. 
Diese Gerüchte schwankten dann hin und her, 
und es lässt sich jetzt — wenn man die zu¬ 
verlässigsten Angaben in Betracht zieht und 
zusammenfasst — ungefähr sagen, dass das 
Kaliber in der That ein 7,5 cm sein wird, so 
dass also gegenüber dem bisherigen schweren 
Feldgeschütz (90 mm) und auch sogar gegen- 

*) Heft 3, Seite 42 u. ff. 

*) Heft 21, Seite 378. 


über dem leichten (80 mm) eine wesentliche 
Kaliberverminderung vorliegt, was ganz und 
gar der jetzigen Tendenz der Entwicklung 
entspricht; Das Geschossgewicht dürfte eben 
falls 6,5 kg geblieben sein, wie es bereits vor 
3 Jahren gemeldet wurde. Es liegt also dem 
Geschossgewicht des 90 mm gegenüber eine 
Gewichtsverminderung von über 2 kg vor, 
während dem Geschossgewicht des 80 mm 
gegenüber aber sogar eine geringe Gewichts¬ 
zunahme zu verzeichnen ist, was auf eine 
grössere kalibermässige Länge, also bessere 
ballistische Leistungsfähigkeit des Geschosses 
und indirekt — stärkeren konstanten Drall, 
bezw. sich stark entwickelnden Progressivdrall 
— schliessen lässt. ') Das Rohr soll in einer 
Art Jacke liegen, in welcher es zurückgleitet, 
soweit eine hydropneumatische Bremse dies 
gestattet, welche es dann wieder auf den 
früheren Punkt vortreibt. Die Jacke ist in 
einer Oberlafette gelagert, die um ein in der 
Unterlafette befindliches Pirot drehbar, das 
Nehmen der Seitenrichtung in gewissen 
Grenzen gestattet. Die Unterlafette endlich 
wird durch Sporen oder Spaten, die sich in 
den Boden eingraben, gebremst. 

Hinsichtlich des Zwecks dieser Teilung 
in Ober- und Unterlafette, die wir s. Zt. als 
das gegenwärtig moderne Prinzip kennzeich¬ 
neten, beziehen W4r uns auf das in Heft 3, 
Seite 43 unten u. fif. Gesagte. 

Was die Grösse der Anfangsgeschwindig¬ 
keit anlangt, so verlautet bisher nichts Genaues; 
es ist aber anzunehmen, dass sie wohl nicht 
über 600 m normiert worden sein wird, da 
andernfalls die Anstrengungen der Lafette zu 
grosse werden und die Möglichkeit, dass von 
Schuss zu Schuss ein nur geringes Nachrichten 
genügt, immer mehr in Frage gestellt wird. 
Fraglich ist es ferner, ob Frankreich während 
des Transportes eine Einheitspatrone wählt, 


^) Ist die Neigung der Züge im Rohr zur Seelen¬ 
achse desselben allenthalben die gleiche, so spricht 
man von konstantem Drall. Derselbe wird also mit 
einem Male, d. h. gleich beim Eintritt in die Züge, 
dem Geschoss aufgezwungen, was bedeutende An¬ 
forderungen an die Festigkeit des Führungsmaterials 
stellt und die Anwendung allzmstarken Dralls ver 
bietet. Macht man aber die Neigung der Züge im 
Anfang gleich Null oder annähernd gleich Null, so 
kann man dann allmählich (und zwar immer im 
Verhältnis zu dem sich immer stärker entwickeln¬ 
den Pulverdruck) diese Neigung (oder den Drall) 
bis zu einer grossen Höhe ohne Schaden für die 
Sicherheit der Geschossführung steigern (Progressiv- 
drall, jetzt modern), so dass das Geschoss das Rohr 
mit einem sehr starken Enddrall, also sehr starker 
endgültiger Rotation verlässt. Lediglich diese letztere 
ermöglicht dann die Anwendung sehr hoher Ge¬ 
schwindigkeiten und kalibermässig sehr langer 
Geschosse, welche eine hohe Querschnittsbel.astung 

— d. ist und damit gute Über- 

G eiichos s q ucr sc h n t U ® 

Windung des Luftwiderstandes zur Folge haben. 


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422 


Veränderungen und Fortschritte im Artilleriewesen im Jahre 1896. 


was in der Praxis grosse Schwierigkeiten im 
Gefolge hat, oder ob es nur Geschoss und 
Kartusche mit einfachen Vorrichtungen ver¬ 
sieht, die es gestatten, beide getrennt zu 
transportieren, aber nach dem Entnehmen aus 
der Munitionsprotze mit einem einzigen Griff 
zu einem Ganzen zu vereinigen. Dies er¬ 
scheint uns das Ideal und erwähnten wir diese 
Lösung schon in unserer Besprechung des 
System Canet ^). 

Das Geschoss soll ein Bodenkammer- 
schrapnel *) sein mit ca. 300 Kugeln und das 
Gesamtgewicht ca. 1750 kg bei 40 Schuss in 
der Protze betragen. Bestätigung dieser Zahlen 
bleibt allerdings abzuwarten. 

Die französische Privatindustrie hat zwei 
bedeutsame Schnellfeuerprojekte entworfen. 
Das eine entstammt der Soci6t6 des Forges 
et Chantiers de la m^diterranee in Havre und 
ist von deren Direktor Canet konstruiert, so- 
dass es den Namen „System Canet“ trägt. 
Da gerade bezüglich dieses Geschützes ver¬ 
schiedene Anfragen aus unserem Leserkreise 
ergangen waren und dasselbe thatsächlich eine 
originelle hochinteressante Lösung des Schnell¬ 
feuergeschütz-Problems ist, so haben wir dem¬ 
selben einen besonderen Aufsatz*) gewidmet, 
auf den hinzuweisen, wir uns somit be¬ 
schränken können. 

Das andere Projekt rührt aus den Werken 
von St. Chamond her und ist von Darmancier 
konstruiert. Dieser führt als Schussbremse 
sozusagen einen neuen Teil ein, der aus zwei 
konzentrischen, ineinander verschiebbaren 
Röhren besteht, die inwendig eine hydraulische 
Bremse bergen. Dieser Theil ist an der La¬ 
fette unterhalb drehbar aufgehängt, wird vor 
dem Schiessen heruntcrgelassen und gräbt 
sich mittelst eines Spatens im Boden ein. 
Diese Schussbremse fängt also, wie leicht 
einzusehen, den Rückstoss elastisch auf und 
schiebt die Lafette schliesslich wieder auf den 
alten Platz vor. Auf dem Marsche wird diese 
Bremse hochgehängt, sie ist also nicht ein 
integrierender Teil des Lafettenkörpers selbst, 
wie dies beim System Canet der Fall war. 

Die Möglichkeit, nach dem automatischen 
Wiedervorlaufen der Lafette eine feine Seiten¬ 
richtung (nach rechts und links bis zu 3 ‘’j zu 
geben, ohne den Spaten ausgraben zu müssen, 
ist natürlich vorgesehen. Die ganze Ein¬ 
richtung erscheint uns jedenfalls lange nicht 
so glücklich, praktisch und originell, wie die 
der Canet'schen Konstruktion. 

Der Darmancier’sche Verschluss ist ein 
Schnellfeuer-Schraubenverschluss, das Kaliber 
7,5 cm, Geschossgewicht 6,5 kg. Es bestehen 

‘) Heft 21, Seite 375 u. ff. 

*) d. h. die Sprengladung ist in einem Raum am 
Boden des Geschosses untergebracht. 


ftlr dasselbe Kaliber zwei verschiedene Modelle: 
ein schweres und ein leichtes. Ersteres hat 
600 m Geschossgeschwindigkeit und führt bei 
1740 kg Gesamtgewicht 36 Schuss in der 
Protze mit, letzteres hat 520 m Geschossge¬ 
schwindigkeit und 1560 kg Gesamtgewicht 
bei ebenfalls 36 Schuss oder 1510 kg bei nur 
32 Schuss. In der Minute sollen 10 Schuss 
abgegeben werden können. — 

In Österreich und Italien ist man vorläufig 
in Versuchen begriffen, über deren Stadium 
des Fortschreitens jedoch noch nichts Genaues 
verlautet. Sehr zu bedauern ist es, dass die 
42 mm Schnellfeuer- und die 9 cm Feldmörser- 
Batterien, welche das abessynische Expeditions¬ 
korps mitfbhrte, nicht richtig in Aktion ge¬ 
treten sind, sondern in der unglücklichen 
Schlacht von Adua am i. März 1896 in 
Verlust gerieten. Es wäre vom Standpunkt 
des Artilleristen, wie des Taktikers, hoch¬ 
interessant und wertvoll gewesen, wenn mit 
diesen beiden Geschützgattungen, deren Wert 
mannigfach umstritten wird, praktische Er¬ 
fahrungen auf dem Schlachtfeld hätten ge¬ 
sammelt werden können. Wir wollen aber 
nicht unterlassen, darauf hinzuweisen, dass die 
42 mm Schnellfeuergeschütze keinesfalls als 
Rivalen unserer modernen Feldschnellfeuer- 
geschotze aufzufassen sind. Letztere haben 
stets ein Kaliber, bei dem das Einzelgeschoss 
selbst noch auf den grossen Kampfentfernungen 
(etwa 4—5000 m) beobachtungsfähig und wirk¬ 
sam sein muss, können also schwerlich unter 
70 mm heruntergehen, und sind eigentlich 
richtiger Schnell-Loif^geschütze zu nennen, da 
sie lediglich Vorrichtungen zum schnellen Laden 
und Richten besitzen, wenngleich sich die 
Bezeichnung Schnell/ew^-rgeschütze nun einmal 
eingebürgert hat. Dem gegenüber sind erstere 
mehr sog. Maschinengeschütze, die nur auf 
kleinere Entfernungen und hauptsächlich durch 
die enorme Anzahl ihrer Geschosse wirken, 
welche sic in kürzester Zeit auf einen Punkt 
werfen. — 

Sehr bemerkenswert ist das Verhalten 
Russlands in der Feldschnellfeuergeschützfrage. 
Man hat nämlich hier eine Art Mittelweg ein¬ 
geschlagen zwischen dem Stillstand auf dem 
jetzigen Standpunkte und der Annahme einer 
vollkommen neuen, auf den modernsten An¬ 
schauungen beruhenden Neubewaffnung, indem 
man an dem jetzigen Material eine Anzahl 
von Verbesserungen angebracht hat, bezw. 
anzubringen beabsichtigt, die es zwar nicht aut 
die Höhe eines modernen Feldschnellfeuer¬ 
materials zu heben vermögen, welche ihm aber 
doch immerhin eine solche Steigerung seiner 
Wertigkeit verleihen, dass die russische Feld¬ 
artillerie wenigstens der weiteren Entwicklung 
der Neubewaffnung noch mit leidlicher Ruhe 


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1 


Veränderungen und Fortschritte im Artilleriewesen im Jahre 1890. 423 


Zusehen .kann. Diese Verbesserungen greifen 
zwar über das Berichtsjahr 1896 hinaus in 
das Jahr 1895 hinüber, wir können sie aber 
hier nicht Obergehen, wenn in dem Bericht 
nicht eine empfindliche Lücke bleiben soll.') 

Die treibende Kraft, und grösstenteils so¬ 
gar der eigentliche Vater der konstruktiven 
Verbesserungen ist der General Engelhardt, 
Mitglied des Artillerie-Komitös, eine bekannte 
artilleristische Kapazität ersten Ranges. Wir 
verweisen näher sich Interessierende auf die 
Wiedergabe seines einschlägigen Vortrages 
vor den Petersburger Generalstabsoffizieren, 
die sich in der Revue d’artillerie Band 46, 
Seite 257 u. ff. findet. 

Engelhardt dokumentiert sich als ein 
Gegner der Verminderung des Kalibers, weil 
man dabei an Wirkung des Einzelgeschosses 
zu sehr einbüsse, und hält die Einheitskartusche 
für entbehrlich, wenn man nur genügende 
Vorkehrungen fQr schnelles, gleichzeitiges 
Laden und Richten treffe. Endlich ist er 
nicht für eine allzu starke Vermehrung der 
Geschossgeschwindigkeit (etwa ä la General 
Wille, der bekanntlich 800 m fordert!), da 
man dadurch zu enormen Materialanstreng¬ 
ungen gelangt, sondern er will eine Steigerung 
in mässigen Grenzen und eine Umkonstruktion 
des Schrapnels in dem Sinne, dass den Füll¬ 
kugeln im Augenblick des Krepierens des 
Schrapnels noch ein kräftiger Geschwindig¬ 
keitszuwachs’ zu Teil wird. 

Aus diesen Gesichtspunkten heraus sind 
nun folgende Verbesserungen am russischen 
leichten Feldgeschütz *) im Werden bezw. schon 
eingeführt: 

t) Einführung des rauchlosen Pulvers unter 
gleichzeitiger Steigerung der Geschwindigkeit, 
soweit es das Material zulässt. Gerade dies 
ist sehr bemerkenswert, da die anderen Gross- 
Staaten, als sie seinerzeit das rauchlose oder 
richtiger, rauchschwache Pulver einführten, 
die rauchschwachen Ladungen so bemassen, 
dass sie nur eben gerade dieselbe Geschwindig¬ 
keit erzielten, wie das alte rauchstarke Pulver, 
also nur von der Rauchlosigkeit des Pulvers 
Profit gezogen, anstatt auch dessen wertvolle 
ballistische Vorzüge — auf die ich hier 
nicht näher eingehen kann — auszunutzen I 

2) Steigerung der Geschwindigkeit der 

') Wir wollen gleich bei dieser Gelegenheit be¬ 
merken, dass nach demselben Grundsatz auch noch 
an manchen anderen Stellen verfahren werden musste, 
um diesen ersten Bericht möglichst abzurunden. 

*) Um dieses handelt es sich hier nur. Es ist 
dies ein 8,7 cm, während das russische schwere 
oder Batteriegeschötz ein 10,7 cm ist^ der seinem 
ganzen Wesen nach eigentlich gar nicht mehr zu 
dem allgemeinen Typ der europäischen Feld¬ 
geschütze gezählt werden kann, die alle nur ein 
Kaliber von 8—9 cm haben. 


Füllkugeln des Schrapnels dadurch, dass man 
dasselbe gewissermassen wie einen kleinen 
Mörser konstruiert, d. h. den Geschossmantel 
so stark macht, dass er im Moment des Kre¬ 
pierens des Geschosses ganz bleibt und somit 
nun die hinten gelagerte Sprengladung die 
Kugeln unter Erteilung eines etwa 100 m 
betragenden Geschwindigkeitszuwachses nach 
vorn herausschiesst. 

3) Ermöglichung eines gleichzeitigen Ladens 
und Richtens dadurch, dass die Visierlinie 
weit seitlich herausgerückt wird, sodass das 
Ladeloch zum Laden frei bleibt, während der 
Richtkanonier richtet. Zu dem Zweck ist 
um das Rohr vorwärts der Schildzapfen ein 
Band gelegt, das auf einem seitlichen Ansatz 
das Korn trägt, während ebenso der Aufsatz 
sich in einem an das Rohr seitlich ange¬ 
schraubten Ansatz befindet. Es scheint zwar 
vorläufig, als ob diese Umänderung nur an 
solchen leichten Feldgeschützen angebracht 
werden soll, die an Stelle des Rundkeilver¬ 
schlusses den Schraubenverschluss erhalten, 
der notabene dem französischen ganz ähnlich 
ist. Da der letztgenannte Verschluss jedoch 
nur im Falle des Unbrauchbarwerdens des 
ersteren an dessen Stelle tritt, und dieser Fall 
doch nur ein äusserst seltener ist, so muss 
doch angenommen werden, dass die Anbring¬ 
ung der veränderten Richtvorrichtung nach 
einem anderen Modus geschehen dürfte. 

4) Beschränkung des Rücklaufs durch An¬ 
bringung eines Spatens und einer Puffervor¬ 
richtung am Lafettenschwanz. 





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434 


Veränderungen und Fortschritte im Artilleriewesen im Jahre 1896. 


Die hierzu getroffene Einrichtung ist so 
originell, dass ich mit wenig Worten auf die¬ 
selbe eingehen will, mich dabei zum leich¬ 
teren Verständnis auf obenstehende Skizzen 
beziehend. 

Die Lafette liegt nicht, wie sonst üblich, 
blos mit dem Lafettenschwanz auf dem Boden 
auf, sondern die Unterlage wird, wie aus 
Fig. 2 (Lafettenschwanz von oben gesehen) 
ersichtlich, durch ein breites Stahlblech a ge¬ 
bildet, um so das Eindringen des Lafetten¬ 
schwanzes in den Boden zu verhindern, der 
Lafette selbst mehr Stabilität zu geben und 
das Eingreifen des Spatens b zu sichern. 
Dieser, der in Fig. 3 abgebildet ist, wird um 
eine durch die Lafettenwände gehende Achse 
c drehbar aufgehangen. Im Lafettenschwanz 
sitzen nun eine Anzahl Kautschukscheiben d d, 
welche die Pufferung bilden und durch welche 
hindurch eine Stange mit pilzförmigem Kopf 
f einer- und Haken g andererseits geht, auf 
welch’ letzteren mittelst Achse eine zweite 
Stange h greift, die durch einen Schlitz des 
Spatens läuft und in eine Mutter endigt, 
welche breiter als obengenannter Schlitz ist. 
Die Vorrichtung arbeitet nun in folgender 
Weise: 

Beim ersten Schuss gräbt sich der Spaten 
in den Boden ein und stellt sich, da die La¬ 
fette zurückläuft und dabei seine Auf hängeachse 
mitnimmt, allmählich etwa senkrecht ein; mjt 
der Lafette gehen natürlich auch die Pufferung 
und die beiden Stangen e und h zurück, bis 
die Mutter i an den Spaten anstösst, durch 
dessen Schlitz sie nicht hindurch kann. Durch 
den weiteren Rücklauf der Lafette werden nun 
die Kautschukscheiben zusammengedrtickt; sie 
speichern die Kraft des Rückstosses in sich 
auf und schieben die Lafette nach Beendigung 
der Rückwärtsbewegung automatisch wieder 
annähernd auf ihren alten Fleck vor. 

Bei den weiteren Schüssen, nachdem der 
Spaten sich nun tief eingegraben hat, tritt nur 
noch eine geringe Hebung der Lafette auf, 
die sich dabei um den Eingriffspunkt des 
Spatens dreht; die Räder fallen nachher fast 
immer wieder auf die vorher innegehabte 
Stelle zurück. 

Das Wiederherstellen der feinen Seiten¬ 
richtung erfordert somit nur ein geringes 
Mass der seitlichen Verschiebung und wird 
dadurch ermöglicht, dass dem Lafettenkörper 
mittelst einer Kurbel eine geringe Verschie¬ 
bung zur Achse erteilt werden kann. Der 
Richtkanonier nimmt also sowohl Seiten- wie 
Höhenrichtung. 

General Engelhardt will die Feuer¬ 
geschwindigkeit eines einzelnen Geschützes 
durch vorgedachte Vorrichtung auf 4’/, Schuss 
in der Minute gesteigert haben, was gegen¬ 


über der Feuergeschwindigkeit eines Feld¬ 
geschützes bisheriger Art, die auf höchstens 
3 Schuss anzunehmen ist, immerhin eine 
wesentliche Verbesserung genannt werden 
muss, wenn auch die Leistung eines modernen 
Feldschnellfeuergeschützes (etwa 8 Schuss) 
nicht annähernd erreicht wird. Die ganze 
Vorrichtung ist übrigens sehr wesentlich vom 
Boden abhängig und versagt eventuell bei 
felsigem oder hartgefrorenem Boden in ge¬ 
ringerem oder höherem Grade. 

5) Eine der gesteigerten Feuergeschwindig¬ 
keit entsprechende erhöhte Munitionsversor¬ 
gung, indem an Stelle der bisherigen Munitions¬ 
wagen zu je 80 Schuss drei zweispännige 
Munitionskarren zu je 40 Schuss treten, so 
dass die mitgeführte Munitionsmenge um die 
Hälfte gesteigert wird. 

Überblickt man die vorerwähnten Ab¬ 
änderungen und berücksichtigt man, dass 
General Engelhardt ein alter Praktiker ist, 
von dem erwartet werden darf, dass das, was 
er bringt, auch lebensfähig ist, so ist nicht zu 
leugnen, dass Russland mit wenig Mitteln sein 
Material nicht unwesentlich verbessert und 
leistungsfähiger macht. Aber ebenso klar ist 
es auch, dass es nur einen halben Schritt 
vorwärts macht und nur eine kurze Spanne 
Zeit gewinnt; denn die Einführung eines 
neuen modernen kleinkalibrigen Schnellfeuer¬ 
geschützes ist eine kategorische Forderung, 
die sich aus dem Entwicklungsgänge der 
artilleristischen Wissenschaft mit unbedingter 
Folgerichtigkeit ergiebt und der gegenüber 
ein Sträuben absolut nichts hilft, ebenso wie 
beispielsweise selbst die scharfsinnigsten Kon¬ 
struktionen unserer Gasbeleuchtungstechniker 
es lediglich vermocht haben, den Siegeszug 
des elektrischen Lichtes wohl etwas zu hem¬ 
men, ohne ihn doch aber auch ‘ nur einen 
Moment zum Stillstand bringen zu können. 

Nachdem wir dergestalt die Stellungnahme 
der Hauptmilitärstaaten des Kontinents zur 
Feldgeschützfrage im Jahre 1896 gekenn¬ 
zeichnet haben, wenden wir uns noch zu 
einigen kleineren Staaten, von denen auf die¬ 
sem Gebiete bemerkenswertes zu erwähnen ist. 

ln erster Linie ist der Schweiz zu ge¬ 
denken, woselbst seitens des Artillerieoberst¬ 
lieutenants und Instruktors erster Klasse 
Albert Pagan in amtlichem Aufträge die 
Grundzüge eines neuen Materials für Schwei¬ 
zerische Artillerie ausgearbeitet worden sind. 
Wann die Schweiz ein neues Material ein- 
ftihren wird, ist noch unbekannt; vermutlich 
steht dies noch in weitem Felde. Immerhin 
sind die „Grundzüge etc." — die den Zweck 
haben, den Artilleristen das nötige Material 
zur Klärung ihrer Ansichten, den Konstruk¬ 
teuren, welche der Schweiz Modelle vorzu- 


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Veränderungen und Fortschritte im Artilleriewesen im Jahre 1896. 


425 


führen gedenken, aber die Anhaltspunkte für 
ihre Konstruktionen zu geben — von hohem 
Interesse, da sie die Ansichten in den mass¬ 
gebenden schweizerischen Kreisen wieder¬ 
spiegeln und die schweizerische Artillerie 
allenthalben als eine sehr hochstehende an¬ 
erkannt und geschätzt wird, so dass diese 
Ansichten auch berechtigten Anspruch auf 
Beachtung haben. 

Die „Grundzüge“ zerfallen in zwei Teile, 
welche auch zeitlich getrennt erschienen sind, 
und deren erster das Feldartilleriematerial 
nach folgender Einteilung behandelt: 

I. ) Allgemeine Grundlagen, Entwicklung 
des gegenseitigen Verhältnisses der einzelnen 
Teile und Berechnung der einzelnen Faktoren; 

II. ) Konstruktionsangaben (betreff. Rohr, 
Munition, Lafette, Protze, Wagen) nebst An¬ 
hang über die Schusselemente des 75 mm 
Geschützes und Ober einige Lafetten. 

Der zweite unterzieht das Gebirgsartil¬ 
leriematerial einer eingehenden Erörterung 
nach derselben Einteilung, nur mit den Ab¬ 
änderungen, die durch den Ersatz der Zug¬ 
pferde durch Tragtiere, der Wagen also durch 
Traglasten, Kisten und Lastsättel bedingt 
werden. 

Ohne uns hier in die technischen Einzel¬ 
heiten dieser beiden Studien zu vertiefen, 
wollen wir nur kurz erwähnen, dass man auch 
in der Schweiz die Notwendigkeit der Kaliber¬ 
verkleinerung erkannt und statt des bisherigen 
8,4 cm Kalibers ein 7,5 cm Kaliber und zwar 
einheitlich für Feld- und Gebirgsartillerie — 
als das geeignete bezeichnet. Man geht da¬ 
bei von den Erwägungen aus, dass das 
Kaliber einerseits in seiner unteren Grenze 
durch die Forderung der sicheren Beobachtung 
auf mindestens 7 cm, andererseits in seiner 
oberen Grenze durch die Bedingung einer 
leichten und schnellen Bedienung auf höch¬ 
stens 8 cm, ja wenn man die Forderung einer 
wirksamen Rücklaufhemmung ohne Überan¬ 
strengung der Lafette und ohne allzu grosse Ver¬ 
schiebung der einmal erteilten Seitenrichtung 
berücksichtigt, sogar auf höchstens 7,5 cm be¬ 
stimmt werde, und kommt so auf das 7,5 cm 
Kaliber. Hinsichtlich der Lafetten, deren ge¬ 
gebene Zukunftsform man übereinstimmend mit 
den modernen Anschauungen in der in Ober- und 
Unterteil zerfallenden Lafette, erstere mit auto¬ 
matisch wirkender Schiessbremse, erblickt, 
äussert sich aber Pagan dahin, dass diese 
Lafetten sich noch gegenwärtig allzu sehr im 
Stadium des Versuches befänden und es vor¬ 
sichtiger sei, mit ihrer Einführung noch zu 
warten. Wenn dies nun wohl auch allerdings 
damals, als dieser erste Teil der Pagan’schen 
Schrift erschien, zutreffend sein mochte, so 
hat die inzwischen verflossene Zeit so vor- 


treflliche Schnellfeuerlafetten - Konstruktionen 
bekannt werden lassen und die Bewährtheit 
des Prinzips in ausgedehnten Schiessversuchen 
so unverkennbar gezeigt, dass schwerlich ein 
Staat jetzt noch hinsichtlich der Annahme 
einer solchen Lafette für ein neues Feld¬ 
geschütz ernstlich im Zweifel sein dürfte und 
auch die Schweiz nunmehr sicher für eine 
solche sich entscheiden wird, wenn sie ein 
neues Material einfOhrt. 

So sehr weiterhin den Ausführungen Pa- 
gan’s zuzustimmen ist, dass die Kaliberein¬ 
heit, und damit im Zusammenhang auch die 
Geschosseinheit, des Feldgeschützes mit dem 
GebirgsgeschUtz von wesentlichen Vorteilen 
begleitet sein würde, ^) so befremdlich er¬ 
scheint der Gedanke, dass Pagan das neue 
Feldgeschütz als ein Viergespann konstruiert 
sehen will. Empfindet schon stets jeder Feld¬ 
geschütz-Konstrukteur die Beschränkung auf 
das Peinlichste, die ihm durch die Rücksicht 
auf die unbedingt zu fordernde, verhältnis¬ 
mässig grosse Leichtigkeit und Beweglich¬ 
keit des öspännigen Geschützes auferlegt wird, 
so erstaunt man eigentlich, wenn hier ohn'? 
weiteres 2 Pferde pro Gespann gestrichen 
werden und damit die obengedachte Be¬ 
schränkung eine wesentliche Steigerung er¬ 
fährt. Auch der bekannte artilleristische 
Schriftsteller, General Wille, befindet sich in 
seinem Buche „Zur Feldgeschützfrage“, des¬ 
sen wir an anderer Stelle eingehender ge¬ 
denken wollen, in Meinungsverschiedenheit 
mit Pagan wegen des gew'ählten Viergespanns 
und bekämpft diesen freiwilligen Verzicht 
auf grösseres Gewicht und damit erreichbare 
grössere ballistische Leistung. — 

Ehe wir die Besprechung der „Grundzüge“ 
etc. schliessen, wollen wir nur noch erwäh¬ 
nen, dass die Gebirgslafette in 3 Lasten zer¬ 
legt werden soll, so dass also einschliesslich 
des zum Tragen des Rohres bestimmten 
Tragetieres, jedes Geschütz 4 Tragetiere er¬ 
fordert. Hierzu sollen noch 2 Kistenpferde 
treten, so dass die 4geschützige Gebirgsbat- 

Beide EntwurfsgeschOtze sollen ein 5,8 kg 
schweres Schrapnel verfeuern, und zwar das 7,5 cm 
Feldgeschütz mit 500 m, das 7,5 cm Gebirgsge- 
schütz mit 250 oder 300 m Anfangsgeschwindigkeit. 
Das zwischen beiden gleichkalibrigen Geschützen 
eine so grosse Verschiedenheit herrscht, liegt darin, 
dass ein Gebirgsgeschütz so leicht konstruiert sein 
muss, dass das Gewicht der kleinsten Teile, in 
welche die Lafette zum Transport zerlegt wird, 
ebenso wie das Gewicht des als unzerlegbar im 
Ganzen zu transportierenden Rohres die Leistungs¬ 
fähigkeit eines Tragtieres nicht übersteigt. Je leich¬ 
ter aber Rohr und Lafette gehalten werden müssen, 
um so weniger Anstrengung halten sie beim Schuss 
aus, um so weniger kann also das Geschütz leisten. 
Daher die Bedeutung der zerlegbaren Rohre, a.uf 
welche wir an anderer Stelle zurückkommen. 


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426 


Elfert, Die Geographie in den letzten Jahren. 


terie zu ihrem vordersten, zuerst aufs Schlacht¬ 
feld kommenden Teile — der sogen. „Ge- 
fechts“batterie — 24 Tiere erfordert. Schliess¬ 
lich ist dann noch hinzu zu rechnen die 
Munitionsstaffel mit 6 Kistenpferden pro Ge¬ 
schütz, also wieder mit 24 Tragetieren, end¬ 
lich die Batteriereserve mit ebenfalls 24 
Tragetieren. Eine Gebirgsbatterie zu 4 Ge¬ 
schützen soll also insgesamt 72 Tragetiere 
zählen; vom Moment, wo der Befehl zum 
Abpacken erfolgt, sollen bis zur Feuereröff¬ 
nung nicht mehr als 2 — 3 Minuten verstrei¬ 
chen ! — 

Ein anderer kleiner europäischer Militär¬ 
staat, der hier noch Erwähnung finden muss, 
ist Spanien, welches angesichts der schweren 
Bedrohung durch die cubanischen Insurgen¬ 
ten ohne weitere Prüfung (ein einziges Ver¬ 
suchs-Geschütz hatte erst 136 Schuss abge¬ 
geben) 36 Stück moderne Krupp’sche 7,5 cm 
Schnellfeuer-Gebirgskanonen L/ii ankaufte 
und nach Cuba sandte. Krupp hat also zu¬ 
erst ein modernes Schnellfeuergeschütz in 
die Praxis des Schlachtfeldes gesandt und 
man darf gespannt sein, wie es sich bewäh- 
len wird, bezw. bewährt hat. Gewisse Mo¬ 
difikationen gegenüber dem von uns geschil¬ 
derten Typ eines solchen modernen Ge¬ 
schützes werden natürlich dadurch bedingt, dass 
das den Spaniern gelieferte Geschütz als 
Gebirgsgeschütz zerlegbar konstruiert werden 
musste. Das Rohr bildet i, die Lafette 3 
Traglasten. 

Das Rohr besitzt den Krupp’schen Keil¬ 
verschluss, den wir ja auch an unserem jetzt 
noch in Gebrauch befindlichen Feldartillerie¬ 
material C/73 haben, jedoch mit der Neuer¬ 
ung, dass derselbe einen Perkussionsmecha¬ 
nismus für die Metall-Einheits-Patrone an 
Stelle unserer Schlagröhrzündung für die vom 
Geschoss getrennte in einem Stoffbeutel be¬ 
findliche Pulverkartusche besitzt. Die Lafette 
gestattet die Erteilung einer geringen Seiten¬ 
richtung, unabhängig vom Untergestell, fer¬ 
ner eine Rücklaufhemmung mittelst sich in 
den Boden eingrabender Pflugschar. Meh¬ 
rere Bellevillefedern zehren dabei den Rück- 
stoss auf und sollen nach Beendigung des 
nur kurzen Rücklaufs die Lafette wieder vor¬ 
schieben. 

Bei dem kurzen oben erwähnten Schiess¬ 
versuch von 136 Schuss zeigte sich in der 
That, dass der Rücklauf, der ungebremst 8 m 
betrug, sich durch die Bremsung beim ersten 
Schuss bereits auf r m verminderte, und dass 
die Bellevillefedern das Geschütz wieder 
auf den alten Fleck vorschoben. Die Seiten¬ 
richtung wurde aber dabei oft so verändert, 
dass dies geringe Mass, um welches sich — 
wie oben erwähnt — das Rohr auf dem Un¬ 


tergestell verschieben lässt (2‘/g0 nach links, 
I ’/s® nach rechts), dann nicht genügte, son¬ 
dern die Mannschaften völlig wieder neue 
Seitenrichtung nehmen mussten, was bei der 
fest in den Boden eingebohrten Pflugschar 
natürlich sehr anstrengend war und die 
Feuergeschwindigkeit beeinträchtigte. Es kann 
dies allerdings bei der immerhin primitiven 
Konstruktion, die durch die Zerlegbarkeit- der 
Gebirgs-Lafette bedingt war und für welche 
die modernen Vervollkommnungen, wie aus¬ 
gebildete Ober- und Unterlafette, hydrau¬ 
lische oder sonst eine analog wirkende Schiess¬ 
bremse etc. einer /V/rfar/iZ/mV-Schnellfeuer- 
lafette unmöglich waren, nicht Wunder neh¬ 
men. Angesichts des Umstandes, dass die 
Spanier mit der Handhabung des Geschützes 
noch nicht vertraut waren, kann es auch 
nicht befremden, dass sie im allgemeinen die 
von Krupp angegebene Feuergeschwindigkeit 
von 6 Schuss in der Minute nicht eiTeichten, 
sondern bei dem mehrgedachten Versuch mit 
Schrapnels normal nur 3 Schuss abgeben 
konnten und zu dem Urteil gelangten, dass 
6 Schuss nur unter aussergewöhnlichen Ver¬ 
hältnissen erreichbar, im Felde aber kaum 
möglich seien. 

Die Geschossgeschwindigkeit der 6 kg 
schweren Granaten und Schrapnels ist 275 m, 
die grösste Granatschussweite beträgt 3900, 
die grösste Schrapnelschpssweite 357p m, das 
Gewicht des kompletten Geschützes (Rohr, 
Lafette, Achse, Räder) 388 kg, verteilt auf 
4 Traglasten mit durchschnittlich annähernd 
je 100 kg. 


Die Geographie in den letzten Jahren. 

II. Polargebiete. 

(Abgeschlossen im April 1897). 

Von Dr. P. Eifert. 

Die Erforschung der Polargebiete, sowohl 
der arktischen wie der antarktischen, hat in 
den letzten Jahren einen erneuten Aufschwung 
erfahren, wodurch die Kenntnis dieser Gebiete 
in rein geographischer wie auch physikalischer 
Hinsicht in hohem Grade gefördert worden 
ist. Auch für die Folgezeit dürfte diese er¬ 
freuliche Begeisterung für polare Forschungen 
noch fortdauern und zwar wesentlich be¬ 
günstigt durch die grossartigen Erfolge der 
Nansen'sehen Reise. Eine zusammenfas¬ 
sende Darstellung der wichtigsten polaren 
Unternehmungen der letzten Jahre und ihrer 
Resultate, sowie der für die nächste Zeit ge¬ 
planten Reisen und ihrer Ziele dürfte daher 
den Lesern dieser Zeitschrift nicht uner¬ 
wünscht sein. 


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Elfert, Die Geographie in den letzten Jahren. 


427 


An die.Spitze stellen wir die Expedition 
des Norwegers Nansen. Am 21. Juli 1893 
hatte Nansen mit seinen Gefährten an Bord 
des für Überwinterung im Eise besonders er¬ 
bauten Schiffes „Fram“ Christiania verlassen, 
um an der nordeuropaischen und sibirischen 
Küste entlang fahrend, die neusibirischen 
Inseln zu erreichen und von hier aus durch 
die aus verschiedenen Beobachtungen ver¬ 
mutete polare Strömung sich über den Pol 
oder in die Nähe desselben treiben zu lassen. 
Nach anderthalbjähriger Treibfahrt, die das 
Schiff in nordwestlicher Richtung bis 83 0 
59' N. Br. und io2'> 27^ O. v. Green, führte, 
verliess Nansen am 14. März 1895 den „Fram“, 
weil derselbe immer mehr vom Pole abge¬ 
trieben wurde, um in Begleitung des Lieu¬ 
tenants Johansen mit Schlitten den Pol zu 
erreichen. Allein auch dieser Versuch kam 
nicht zur vollen Ausführung, da nach Er¬ 
reichung von 86® 14' N. Br. unter 44® S’W 
v. Gr. die ungünstigen Eisverhältnisse und 
eine südliche Trift die kühnen Reisenden zur 
Umkehr zwang. Nach einer Überwinterung 
auf Franz-Josefsland (vom 26. August 1895 
bis 19. Mai 1896) wurde die Reise nach dem 
Süden angetreten und glücklicherweise die 
zu andern Zwecken auf Franz-Josefsland 
weilende Jackson-Harmsworth-Expedition an¬ 
getroffen, mit welcher am 13. August 1896 
die Ankunft in Vardö erfolgte. Etwa 8 Tage 
später traf auch das Schiff „Fram“ von seiner 
Eistriftfahrt wohlbehalten inTromsö ein. Neben 
diesem Erfolge, die Höhe der bisher erreichten 
Breite um über 2® vorgeschoben zu haben, 
ist aber Nansen’s Reise auch fruchtbringend 
gewesen für die Erkenntnis der physika¬ 
lischen Verhältnisse des Polarmeeres. 

Vor allem ist zu nennen die Konstatierung 
einer ausgedehnten Tiefsee in den höchsten 
Breiten und eine eigentümliche Verteilung der 
Temperatur Verhältnisse in der Tiefe. Von der 
Gegend im Nordwesten der neusibirischen 
Inseln senkt sich der Meeresboden nach Nor¬ 
den und Westen und bildet ein Tiefseebassin 
mit Tiefen bis zu 3 800 m, das ohne Unter¬ 
brechung in die Tiefen des europäischen Nord¬ 
meeres übergeht. In Verbindung mit den 
sonstigen Wahrnehmungen Nansens, muss man 
jetzt annehmen, dass am Nordpol selbst wahr¬ 
scheinlich ein tiefes, das ganze Jahr hindurch 
von dichtgepackten treibenden Meereismassen 
bedecktes Meer vorhanden ist. In jener Tief¬ 
see zeigte nun das Thermometer bis etwa 
100 Faden Tiefe überall unter o® Temperatur 
bis herab zu — 0,50. Während aber in dem 
europäischen Nordmeere auch in grösseren 
Tiefen die letztere Temperatur gefunden wurde, 
fand Nansen in dem Circumpolarmeer in Tiefen 
unter ioo|,Faden Wassertemperatur Über o® 


bis hinauf zu -f" 0,5® und zwar bis zu den 
grössten Tiefen. Es ist dies hur dadurch 
erklärlich, dass durch die von der Nordmeer- 
Expedition im Jahre 1878 westlich von Spitz¬ 
bergen gefundene Rinne wärmeres Golfstrom¬ 
wasser in das Circumpolarmeer eindringt. 
Ausserdem hat die Expedition unschätzbares 
Material Ober Windstärke, Windrichtung, 
Meeresströmungen, Wassertemperatur, Salz¬ 
gehalt u. s. w. mitgebracht, die Jahre lang 
den Fachgelehrten Gelegenheit geben Werden 
zu eingehenden Studien und, namentlich was 
die meteorologischen Beobachtungen betrifft, 
zum Aufsuchen von Beziehungen zwischen 
unseren nord- und mitteleuropäischen Klima¬ 
verhältnissen und denen des hohen Nordens. 
Beiläufig bemerkt war die tiefste Lufttempe¬ 
ratur, welche Nansen ablesen konnte — 520 C., 
während in Ostsibiren schon Temperaturen 
zwischen — 60 und — 700 C. beobachtet 
worden sind. 

Zur selben Zeit, als Nansen glücklich von 
seiner Polarreise zurückkehrte, wurde die 
wissenschaftliche Welt in Spannung erhalten 
durch das Unternehmen des schwedischen 
Ingenieurs Andr^e, den Nordpol von Spitz¬ 
bergen aus mit Hülfe des Luftballons zu er¬ 
reichen, bezw. zu überfliegen und im arktischen 
Nordamerika zu landen. Andröe hatte am 
7. Juli mit seinen Gefährten Dr. Ekholm 
und Strindberg an Bord der „Virgo“ 
Gothenburg verlassen und nach Vervollstän¬ 
digung der Ausrüstung und Einnahme von 
Eisbooten und Brieftauben in Tromsö die Fahrt 
nach Spitzbergen angetreten. Hier wurde die 
notwendige Ballonhalle errichtet, der Ballon 
gefüllt und alles zur Abfahrt gerüstet, die beim 
Eintritt günstiger südlicher Windströmungen 
vor sich gehen sollte. 

Leider traten die erhofften Windströ¬ 
mungen nicht ein, so dass sich Ende August 
Andree entschliessen musste, wegen der Nähe 
des Winters für das Jahr 1896 die Reise 
ganz aufzugeben. Dagegen wird die Reise 
für den Sommer 1897 erneut aufgenommen 
werden, nachdem inzwischen auch der Ballon 
eine Vergrösserung erfahren hat. Ob aller¬ 
dings jetzt, nach Nansens glücklicher Reise, 
die etwaigen wissenschaftlichen Ergebnisse 
einer solchen Ballonfahrt viel Neues hinsicht¬ 
lich der arktischen Verhältnisse zu Tage 
fördern werden, diese Frage ist nicht mehr 
unbedingt zu bejahen. 

Auch die nördlichsten Inselgruppen des 
europäisch-asiatischen Eismeeres selbst, näm¬ 
lich Spitzbergen und Franz-Josefsland, sind in 
den letzten Jahren mehrfach von Wissenschaft: 
liehen Expeditionen zum Zweck ihrer gründlich¬ 
eren Durchforschung aufgesucht worden. Franz- 
Josefsland ist besonders durch die Jackson^ 


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428 


Elfert, Die Geographie in den letzten Jahren. 


Harmsworth'Expedition, über deren Erfolge in 
der „Umschau“ bereits Seite 109 (mit Karte) 
genauer berichtet worden war, als Forschungs¬ 
gebiet gewählt worden. Im vergangenen Jahre 
sind vorzugsweise die westlichen Teile dieses 
wenig bekannten Inselgebietes untersucht 
worden, im kommenden sollen die Neuauf¬ 
nahmen im übrigen Teile fortgesetzt und die 
fhlheren ergänzt werden. 

Im Sommer 1895 hat das englische Schul¬ 
geschwader bei Gelegenheit einer Übungs¬ 
fahrt auch Spitzbergen besucht und eine 
gründliche Vermessung der Recherchebai aus- 
gefohrt. Die alten französichen Aufnahmen 
aus dem Jahre 1838 haben sich hierbei als 
sehr genau erwiesen; auch den gegenwärtigen 
Gletsch^rverhältnissen wurde eingehende Auf¬ 
merksamkeit zugewendet- 

N Gleichzeitig mit Andr^e war im vorigen 

■V.. Jahre eine schwedische Expedition unter Füh¬ 
rung des Staatsgeologen De Geer nach 
.Spitzbergen aufgebrochen, um Fjord- und 
^Gletscherstudien daselbst auszuführen. Es ist 
der Expedition gelungen, den ganzen Eisfjord 
im Massstabe 1:100000 aufzunehmen und 
festzustellen, dass der ganze Fjord mit seinen 
viel grösseren Verzweigungen und seinen 
Küstenebenen eine Senkung darstellt, die auf 
allen Seiten gegen das Gebirge hin von alten 
Bruchlinien und bedeutenden Verwerfungen 
begrenzt wird. 

Einer englischen Expedition nach Spitz¬ 
bergen unter Sir MartinConwa y’s F ührung 
ist die erste Durchquerung der Hauptinsel 
von Westen nach Osten und zurück gelungen 
und zwar von der Sassen-Bai zur Agardh- 
Bai. Ausserdem wurden Überlandreisen von 
der Advent-Bai zum Bel-Sund und der Sassen- 
Bai ausgeführt und der Nordfjord, sowie die 
Dicksonbai genauer untersucht. 

Von schwedischer Seite wird für den 
Sommer 1897 eine neue Polarexpedition ge¬ 
plant und zwar unter Dr. Nathorst nach 
der Ostküste von Spitzbergen und dem König- 
Karl-Lande. Dr. Nathorst’s Plan ist, im Beginn 
des Juni nach Spitzbergen aufzubrechen und 
die Eiszustände einer genauen Untersuchung 
zu unterziehen, da voraussichtlich zu dieser 
Zeit das Eis ein Vordringen nach Osten nicht 
zulassen dürfte. Erst später im Sommer, wenn 
die Eisverhältnisse günstiger sind, soll die 
Expedition ostwärts nach dem König-Karl- 
Lande und von da nach Ny-Land und anderen 
etwa zwischen Spitzbergen und Franz-Josefs- 
Land gelegenen Inseln Vordringen. Als beste 
Zeit hierfür hält Dr. Nathorst die zweite Hälfte 
des August und den Anfang des September. 
Die Kosten des Unternehmens werden auf 
70 —75 000 Kronen geschätzt, von denen schon 
ein grösserer Teil gezeichnet ist. 


Neben den Versuchen, von europäischer 
Seite aus nach dem Nordpol vorzudringen, 
lassen auch die Amerikaner nichts unversucht, 
von ihrem Erdteile aus Ober Grönland hinaus 
das gleiche Ziel zu erreichen. In erster Linie 
sind es die mit ungeschwächter Energie all¬ 
jährlich ausgeführten Vorstösse Peairy’s, 
welche in den letzten Jahren unsere Kenntnis 
von Nordgrönland gefördert haben. 

Im Sommer 1895 hatte Peary sowohl 
die Verhältnisse des Binneneises wie auch 
die Eisumrandung der Independence-Bai ein¬ 
gehend untersucht. Die Abhänge des Inn- 
landeises erwiesen sich hierbei auf mehrere 
Kilometer hin als schneefrei und auf dem so 
freigelegten Lande hatten sich zahlreiche 
Seen und Teiche und überall rieselnde Bäche 
gebildet. Das Festland von Grönland endigt 
zwischen dem 820 und 830 N. Br. Nördlich 
davon liegt ein Archipel von unbekannter 
Ausdehnung, der sich nach Norden und Nord¬ 
osten erstreckt. Nach einem Vorschläge des 
Geographical Club zu Philadelphia sollen 
übrigens die nördlichsten Gebiete Grönlands 
zwischen Independence-Bai und dem 800 N. 
Br. Peary-Land benannt werden, 

Die am 17. Juli 1896 von Peary ange¬ 
tretene Expedition zur Fortsetzung seiner 
Studien in Grönland hatte nebenbei das Ziel, 
die Bergung des grossen ca. 40 Tonnen 
schweren Meteoriten vorzunehmen und nach 
den Vereinigten Staaten überzuführen, von 
welchem zuerst John Ross im Jahre 1818 
berichtete und der seitdem von keinem Weis- 
sen wieder gesehen worden war. Den rein 
wissenschaftlichen Teil seiner Reise scheint 
Peary erreicht zu haben, obwohl Berichte 
hierüber noch nicht vorliegen. Dagegen 
waren seine Bemühungen zur Bergung des 
Meteoriten erfolglos, da die hierzu mitge¬ 
nommenen Hebevorrichtugen sich als zu 
schwach erwiesen und zerbrachen. 

Für das Jahr 1897 plant nun Peary eine 
neue Nordpolarexpedition, die durch den 
Smith-Sund gehen und dann den Sherard 
Osborn-Fjord an der Nordküste Grönlands 
zum Ausgangspunkt für den eigentlichen Vor- 
stoss gegen den Nordpol nehmen will. An 
der Nordküste Grönlands liegen, wie bereits 
oben erwähnt, grosse Landmassen, die bis¬ 
her völlig unerforscht sind, von denen Peary 
jedoch annimmt, dass sie sich bis Zum 85« 
N. Br. erstrecken. In diesem Falle würde 
dann eine weit sicherere Grundlage für ein 
Vorwärtsdringen als die Eisfläche des Meeres 
gegeben sein, und vom Sherard Osborn-Fjord 
aus, wo der Hauptproviant aufgestapelt wird, 
würden in verschiedenen Abständen weitere De¬ 
pots errichtet werden können. Vom Endpunkte 
der Inselgruppe aus soll dann nach einer 


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Elfert, Die. Geographie in den letzten Jahren. 


429 


Überwinterung, um diesen Teil der Reise 
frühzeitig im Jahre in’s Werk setzen zu kön¬ 
nen, die Schlittenreise beginnen, welche Peary 
nicht für schwieriger hält, als die, welche er 
vor einigen Jahren in Gemeinschaft mit dem 
verstorbenen Norweger Eiwind Astrup über 
das grönländische Innlandeis ausgeführt hat. 
Selbstverständlich soll auch versucht werden, 
den bereits oben erwähnten Meteoriten end¬ 
lich nach Amerika zu bringen. 

Auf seiner letzten Fahrt (im Jahre 1896) 
nach dem hohen Norden hatte Peary auch 
eine Reihe von amerikanischen Gelehrten der 
Cornell-Universität mitgenommen, die er am 
7. August auf der Halbinsel Nugsuak, ca. 
150 km nördlich von Upernivik unter 74® 7^ 
N. Br. landete, um sie am 7. Sept. wieder 
abholen zu lassen. Die Hauptaufgabe dieser 
Expedition war, die geologischen Verhält¬ 
nisse dieses relativ kleinen Gebiets so genau 
als möglich festzustellen, ausserdem auch an¬ 
dere naturwissenschaftliche Beobachtungen an¬ 
zustellen. Nach dem Bericht von Ralp S. 
Tarr in der Zeitschrift „Science“ (9. Okt. 
1896) fand man an der südöstlichen Basis 
der Halbinsel einen mächtigen Gletscher, den 
man Cornell-Gletscher nannte, während ein 
an der Nordküste gelegener den Namen 
Wyckoff-Gletscher erhielt. Letzterer hat gar 
keine, ersterer nur eine schwache Bewegung. 
Die Nugsuak-Halbiiisel ist 40 km lang, durch¬ 
schnittlich 300 m hoch und erreicht bei Wil- 
COX Head 427 m, im höchsten Punkte aber 
762 m. Das Gestein besteht aus Gneis und 
ist mit zahlreichen Trappadern durchsetzt. 
Der Cornell-Gletscher sowie die übrigen 
Gletscher in diesem Teile Grönlands erwie¬ 
sen sich als in starker .Abnahme begriffen. 

Infolge dieser günstigen Erfolge tritt jetzt, 
wo Peary mit der Ausrüstung einer neuen 
Expedition für den Sommer 1897 sich be¬ 
schäftigt, einer der Teilnehmer der vorjähri¬ 
gen Cornell-Expedition Geo. H. Barton mit 
dem Vorschläge hervor, auch in diesem Jahre 
mit Peary eine Anzahl selbständige Expe¬ 
ditionen auszusenden, um gleichzeitig an ver¬ 
schiedenen Stellen der grönländischen Küste 
ähnlichen Beobachtungen wie im Vorjahre 
obzuliegen, welche dann mit einander in Ver¬ 
gleich gestellt werden könnten. Lieutenant 
Peary’s Schiff würde die Küste Grönlands 
wahrscheinlich in der Nähe von Kap Deso¬ 
lation, zwischen 60 und öl® N. Br., erreichen. 
In unmittelbarer Nähe wäre z. B. der Jul- 
ianshaab-Gletscher leicht zu erreichen als ein 
erfolgreiches Forschungsfeld für eine Expe¬ 
dition. Als Hauptzweck müssten alle Expe¬ 
ditionen die Untersuchung der früheren und 
gegenwärtigen Gletscherphänomene betrach¬ 
ten. Besonders müssten auch Beweise für 


die Vergletscherung der höchsten Piks und 
der äussersten Landspitzen gesammelt wer¬ 
den. Ebenso sollten Beobachtungen über 
frühere Hebungen und Senkungen der Küste 
angestellt und auch andere Wissenszweige 
nicht vernachlässigt werden. Jede dieser 
Einzel-Expeditionen müsste aus einem Glet¬ 
scherforscher als Leiter, einem Geologen, 
einem Zoologen, einem Botaniker, einem 
Meteorologen und einem Ethnologen bestehen. 
Ausserdem müssten die Beobachtungen so an¬ 
gestellt werden, dass sie an jede Stelle durch 
andere Expeditionen im folgenden Jahre 
leicht fortgesetzt werden könnten, da es jetzt 
für wahrscheinlich gilt, dass Grönland von 
Nordamerika aus in jedem Jahre erreicht 
werden kann, nachdem dies Peary sechsmal 
gelungen ist. Herr Barton hofft selbst, die 
im vorigen Jahre zu Umanak begonnenen 
Studien in diesem Sommer fortzusetzen. 

Auch zur Erforschung der Südpolarge¬ 
biete werden nach langer Pause von ver¬ 
schiedenen Seiten Expeditionen vorbereitet, 
nachdem die Fahrten des „Jason“ unter 
Larsen im Jahre 1893 »Antarctis“ 

unter Kristensen im Jahre 1894 äusserst 
günstige Eisverhältnisse dargethan haben. 

An der Spitze dieser Südpolar-Expeditonen 
steht die geplante deutsch-österreichische, mit 
welcher die Namen Neumayer und Payer 
als ihre hauptsächlichsten Förderer eng ver¬ 
knüpft sind. Indess liegt die Verwirklichung 
der von der Südpolarkommission geplanten 
Expedition noch in sehr weiter Ferne. Um 
so mehr ist es zu bedauern, dass von ge¬ 
wisser Seite aus diesem Unternehmen nur 
geschadet werden kann, wenn dilletantischer 
Übereifer sich der Propaganda bemächtigt 
und der guten Sache dadurch nur hinderlich 
ist. Auch hier möge nicht unterlassen wer¬ 
den, darauf hinzuweisen, dass die in verschie¬ 
denen Tagesblättern verbreitete Nachricht, 
nach welcher in diesem Sommer unter Führ¬ 
ung eines Physikers Dr. Rud. Me wes eine 
Vorexpedition nach Viktoria-Land geplant sei, 
als deren Teilnehmer Prof. Schöner (Würz- 
burg) als Geograph und Dr. Rieh. Buck als 
Arzt genannt werden, nichts mit der vorge¬ 
nannten deutsch-östeireichischen Expedition 
zu thun hat. Wie übrigens in Petermann’s 
Mitteilungen (1897 S. 48) weiter berichtet 
wird, giebt es in Würzburg gar nicht einen 
Professor Schöner, sondern es scheint ein 
Elementarlehrer dieses Namens daselbst die 
Reklame für das ganz unreife Unternehmen 
zu besorgen. 

Die bereits für den Südsommer 1896/97 
geplante belgische antarktische Expedition 
unterFührung von Lieutenant De Gerlache 
musste, da die Schiffseinrichtung und die In- 


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430 


Der heutige Stand der Frage Über die Tiara des Königs Saitapharnes. 


strumente zur gewünschten Zeit nicht fertig 
wurden, auf den Juli 1897 verschoben wer¬ 
den. Es wird beabsichtigt, zunächst die Er¬ 
forschung des Graham-Landes und seiner 
weiteren Umgebung vorzunehmen, im näch¬ 
sten Sommer 1898/99 sich Viktoria-Land zu¬ 
zuwenden und im Südwinter 1898 die kleinen 
unbewohnten Inselgruppen im südlichen in¬ 
dischen Ozean zu untersuchen. 

Die im September 1896 mit zwei hölzer¬ 
nen Schiffen abgegangene britische Südpolar- 
Expedition unter der wissenschaftlichen Leit¬ 
ung des Norwegers C. E. Borchgrevink, 
eines Teilnehmers der „ Antarctic-Expedition" 
hat sich als ein hauptsächlich geschäftliches 
Unternehmen herausgestellt, indem die „Bri¬ 
tish Antarctic-Company“ die reichen Guano¬ 
lager am Kap Adare auf Süd-Viktorialand 
ausbeuten und nebenbei Walfisch- und Rob- 
benja'gd ausüben will. Die Guanolager .sol¬ 
len eine Million Tonnen enthalten. 

Nach Berichten der „Westminster Gazette“ 
dürfte noch im Jahre 1897 eine weitere eng¬ 
lische Expedition nach dem Südpol zustande 
kommen. Die Unternehmer haben sich 
schon mit der englischen Regierung in Ver¬ 
bindung gesetzt, um deren Unterstützung zu 
erlangen, die auch zugesag^ ist. Wahrschein¬ 
lich wird die Expedition im Juni 1897 segel¬ 
fertig sein. Die Kosten werden auf etwa 
50 000 Pfund Sterl. geschätzt und sollen 
durch Sammlungen aufgebracht werden. Das 
Südpoiarmeer soll während des Winters gründ¬ 
lich erforscht werden. Ob dann weiterhin der 
Südpol erreicht werden wird oder nicht, 
jedenfalls stehen wertvolle wissenschaftliche 
Ergebnisse in Aussicht. Die Dauer der Ex¬ 
pedition wird auf drei Jahre berechnet. 

Endlich ist auch aus Amerika eine Süd- 
polar-Expedition unter Leitung von Dr. Cook, 
einem Begleiter Peary’s auf dessen erster 
Grönlandreise, abgegangen. Mit zwei kleinen 
Schiffen von je 100 Tonnen beabsichtigt er 
in der Erebus- und Terrobucht zu landen, 
um von hier aus seine Forschungen auszu¬ 
führen. Falls die Schiffe dort keinen günstigen 
Überwinterungsplatz finden, sollen dieselben 
nach den Falklandsinseln zurückgehen. 


Der heutige Stand der Frage über die Tiara 
des Königs Saitapharnes. 

Vor etwa einem Jahre, im April 1896, wurde 
in einer Sitzung der „Academie des inscriptions“ 
in Paris zum ersten Male ein antikes Kunstwerk 
vorgelegt und besprochen, welches seitdem sowohl 
in der fachwissenschaftlichen Welt, wie in aUen 
Kreisen der Gebildeten berechtigtes Aufsehen 
erregt hat: die sogenannte „ Tiara des Saita- 
p/iames.“ Es erschienen nicht nur in den archäo¬ 


logischen Fachzeitschriften, sondern auch in der 
Tagespresse eingehende Beschreibungen, vielfach 
sogar begeisterte Schilderungen der hervorragen¬ 
den Schönheit und des eminenten künstlerischen 
und geschichtlichen Wertes jenes kostbaren Stückes, 
welches der Louvre so glücklich war, allerdings zu 
bedeutendem Preise erwerben zu können. Allein 
es dauerte nicht lange und die Begeisterung erhielt 
eine bedenkliche kalte Uouche; Die Echtheit der 
Tiara wurde angezweifelt und zwar von einem un¬ 
serer ersten Archäologen, Prof. Furtwängler in 
München: in zwei kürzlich erst begründeten Fach¬ 
zeitschriften „Cosmopolis“ und „Intermezzi“ 
suchte er unter eingehender Motivierung nachzu¬ 
weisen,' dass die Louvreverwaltung und die fran¬ 
zösischen Archäologen überhaupt sich durch eine 
geschickte Fälschung hätten düpieren lassen. Die 
Franzosen wehrten sich gegen diesen Vorwurf, be¬ 
haupteten die Echtheit ihrer Acquisition und such¬ 
ten Furtwänglers Gründe zu entkräften; in wieweit 
ihnen dies gelungen, ist hier nicht der Ort, zu be¬ 
sprechen, ebensowenig können wir uns hier auf 
eine Verfolgung von Einzelheiten jener litterarischen 
Fehde einlassen, wir wollen vielmehr im Folgenden 
unseren Lesern nur eine durch Abbildungen (nach 
einem der letzten Hefte der revue archdologique) 
erläuterte Beschreibung jenes prächtigen Stückes ge¬ 
ben, welches in Fachkreisen so viel Staub aufgewirbelt 
hat. Bezüglich der Frage nach seiner Echtheit oder Un¬ 
echtheit bedauern wir allerdings im Interesse der 
Wissenschaft, die Furtwänglersche Anschauung 
durchaus teilen zu müssen. — 

Die Tiara des Saitapharnes ist, man mag über 
die Zeit ihrer Entstehung denken wie man will, 
jedenfalls ein hervorragendes Erzeugnis der Gold¬ 
schmiedekunst; sie besteht aus getriebenem und 
ciseliertem Golde, wiegt 443 Gramm, hat eine Höhe 
von 20 und einen unteren Durchmesser von 18 cm. 
Sie wurde angeblich in der Krim gefunden, in ei¬ 
nem in der Nähe des alten Olbia gelegenen antiken 
Grabe. Es ist sehr auffällig, dass über die näheren 
Fundumstände gar nichts mehr zu erfahren ist, und 
wenn ein französischer Archäologe meint, es habe 
dies seinen Grund seiner Überzeugung nach darin, 
dass die betr. Ausgrabung eine heimliche und ver¬ 
botene gewesen und das Stück Ober die russische 
Grenze nach Frankreich geschmuggelt worden sei, 
so ist das immer nur ein recht geringer und kaum 
nachhaltiger Trost. Dass die Tiara mit Olbia in 
Verbindung zu bringen sei, hätte man auch ohne 
solche vage Fundangabe gewusst, denn sie selbst 
trägt eine Inschrift, woraus sowohl dies hervor¬ 
geht wie der Name der Saitapharnes, welchem sie 
als Dedication von Rat und Einwohnern der Stadt 
Olbia verehrt wurde. Wir kommen auf diese In¬ 
schrift später noch zurück. 

Es ist eine längst bekannte Thatsache, dass Olbia 
sowohl wegen seiner geographischen Lage, wie 
wegen seines bedeutenden kommerziellen und in¬ 
dustriellen Verkehres unter den griechischen Städ¬ 
ten am schwarzen Meer einen hervorragenden 
|Platz einnahm. Auch der Name des Saitapharnes 
ist den Archäologen schon lange bekannt durch 
eine hochinteressante jetzt im Museum der Ermi¬ 
tage zu Petersburg aufbewahrte Steininschrift, 
welche besagt, dass ein Olbia benachbarter König 


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Der heutige Stand der Frage Ober die Tiara des Königs Saitapharnes. 


431 


eines Barbarenvolkes, namens Saitapharnes, häufig 
Einfälle in das Gebiet von Olbia machte und den 
Einwohnern kaum erschwingbaren Tribut aufer¬ 
legte; als er sich eines Tages wieder in bedroh¬ 
licher Nähe der Stadt befand, suchte ein reicher 
Olbianer, Protogenes, die Gefahr dadurch abzuwen¬ 
den, dass er ihm eine Abfindungssumme von 900 
Goldstücken zur Verfügung stellte. Saitapharnes 
indessen war diese Summe zu gering und die Be¬ 
wohner Olbias konnten eine Verwüstung der Stadt 
nur dadurch abwenden, dass sie ihm reiche und 
kostbare Geschenke freiwillig darbrachten. 

Als eines dieser Geschenke betrachten die fran¬ 
zösischen Archäologen die neugefundene Tiara. 
Wie sie sich das denken, bleibt allerdings recht un¬ 
klar, soll etwa der König, nachdem er das Aner¬ 
bieten des Protogenes ausgeschlagen hatte, seinen 
Überfall mehrere Monate verschoben haben, bis die 
kostbare Tiara angefertigt war ? Das ist doch 
wohl kaum anzunehmen, vielmehr wird man sich 
den Hergang der Ereignisse nur so rekonstruieren 
dürfen, dass die Bewohner von Olbia lediglich 
solche Kostkarkeiten dem Saitapharnes zum Ge¬ 
schenke- machten, die sie bereits besassen, nicht 
aber solche, die sie erst eigens zu diesem Zwecke 
hätten anfertigen lassen müssen in einem Momente, 
wo der Treflfliclie mit seinen Truppen bereits vor 
der Stadt stand. Die französische Hypothese wäre 
eher berechtigt, wenn die Inschrift sich deutlich als 
nachträglich auf die fertige Tiara gesetzt erkennen 
Hesse, in Wirklichkeit ist aber das Gegenteil der 
Fall; es ist mit ihr nicht nur bei der Raumvertei¬ 
lung gerechnet, sondern sie ist sogar vermöge der 
Art der Buchstabenanordnung zu dekorativen Zwe¬ 
cken benutzt. • Also die Vermutung der französi¬ 
schen Altertumsforscher, dass in der Tiara eines der 
an Saitapharnes gegebenen Geschenke zu erkennen 
sei, welche in der Protogenesinschrift erwähnt wer¬ 
den, ist wohl nicht sdchhaltig; aber man könnte 
ja auch umgekehrt argumentieren — und wer der 
Tiara skeptisch gegenübersteht, wird das vielleicht 
thun — indem man sagte; Die Fälscher haben Jene 
Protogenesinschrift gekannt, aus ihr das Sujet und 
den geschichtlichen Hintergnmd einschliesslich des 
Namens Saitapharnes entnommen. Leider scheint 
diese Argumentation mehr Berechtigung zu haben 
als die erste, denn wer die Verhältnisse in Süd¬ 
russland kennt, der weiss auch, dass an dem Be¬ 
trieb der dortigen Fabriken antiker Falsifikate, spe¬ 
ziell gerade der Goldschmiedearbeiten, zweifellos 
Gelehrte, mit antiker Litteratur und antiken Denk¬ 
mälern durchaus vertraute Persönlichkeiten, betei¬ 
ligt sind. Sie liefern den Stoff, den Vorwurf, ge¬ 
schickte, hervorragend begabte Künstler entwerfen 
nach antiken Analogien die Kompositionen und auf 
hoher künstlerischer Stufe stehende, tüchtige Gold- 
und Silberschmiede verarbeiten dieselben zu jenen 
prächtigen und fast in allem stilgerechten Erzeug¬ 
nissen, wie wir sie durch die Tiara des Saitaphar- 
ne^ vertreten sehen. 

Und nun wollen wir uns die Tiara selbst etwas 
näher betrachten. Sie hat etwa die Form einqp 
Zuckerhutes und zeigt mehrere reliefgeschmOckte' 
Zonen über einander, von welchen sich zwei durch 
figürliche Darstellungen gegenüber den rein orna¬ 
mental gehaltenen auszeichnen. Den Gegenstand 


der Mittelreliefs bilden zwei Episoden .aus der 
Ilias; Der Zorn des Achilles und der Scheiterhau¬ 
fen des Patroklos. Achilles ist sitzend dargesteUt 
im Schmucke seiner lang niederwallenden Haare, 



Die Tiara des Saitapharries. 


‘mit der Lanze in der Hand; hinter ihm stehen 
zwei Krieger, zu seinen Füssen erblickt man die 
Geschenke, welche die Fürsten der Achäer ihm 
dargebracht haben, um seinen Groll zu beschwich¬ 
tigen. Zur Linken sieht man Odysseus die Briseis 
wegführen, danach folgt eine Gruppe Gefangener 
und hinter ihnen vier wild daher sprengende Rosse. 
Auf der entgegengesetzten Seite befindet sich Phö¬ 
nix, Achilles ehrwürdiger greiser Lehrer, hinter ihm 
zwei Krieger im Begriffe, einen Eber zu opfern. — 
Die zweite Szene zeigt Patroklos, auf dem Schei¬ 
terhaufen gebettet, an welchem Achilles steht neben 
den Sühneopfem. Agamemnon, einen Lorbeer¬ 
kranz tragend, spendet Trankopfer über dem Leich¬ 
nam, während Briseis weint und Achilles mit aus- 
gestreckter Rechter die Winde anruft, welche durch 
zwei über dem Scheiterhaufen schwebende geflü¬ 
gelte Genien versinnbildlicht sind. 

Unterhalb dieses Feldes befindet sich ein zwei¬ 
ter mit figürlichen Darstellungen und zwar mit 
Jagdszenen, TierstOcken etc. geschmückter Strei¬ 
fen; zwischen beiden ist die — ebenfalls in Relief 
getriebene — Inschrift angebracht, welche folgen- 
dermassen lautet: 

„Der Rat und die Bevölkerung von Olbia den 
grossen und unbesiegbaren Saitapharnes.“ 

Der Akkusativ scheint uns etwas bedenküch; 
wir würden es — und zwar ganz richtig, auch im 
Sinne der griechischen Grammatik — für korrekter 
halten, wenn da stünde: „Der Rat und die Einwoh¬ 
nerschaft von Olbia ihrem lieben grossen und un¬ 
überwindlichen Saitapharnes." 

Dasselbe Bedenken hatte auch Furtwängler und 
er hat es in seinen angeführten Abhandlungen wie¬ 
derholt ausgesprochen. Der französische Archäo¬ 
loge H o 11 e a u X versucht in einer der letzten Num¬ 
mern der revue arch^ologique diesem Bedenken 




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Betrachtungen und kleine Mitteilungen. 


432 


zu begegj'en —: mit ebensoviel Aufwand der Ge¬ 
lehrsamkeit und überflüssigen Ausfällen gegen den 
deutschen Forscher wie Mangel an Glück. Er be¬ 
hauptet nämlich, es sei zu ergänzen 
d. h. also: „Der Rat und die Einwohnerschaft haben 
den ... Saitaphames geehrt" und beruft sich zum 
Beweise für ie Richtigkeit seiner Behauptung auf 
gleiche Konstruktionen, die sich auf Inschriftsteinen 
und Denkmälersockeln Anden. Das ist ja ganz 
schön, aber er vergisst dabei etwas, nämlich den 
Unterschied in der Bestimmung der Steine und 
Sockel und der Tiara. Jene sind nachtrifg/ich auf- 
gestellte Steinurkunden, welche einen ehrenden of- 
firiellen Akt urkundlich festhalten und den Sach¬ 
verhalt überliefern sollen; die Tiara hingegen ist 
ein Geschenk der Stadt Olbia an Saitaphames, in' 
diesem Zusammenhänge also würde eine Ergänz¬ 
ung durch „haben geehrt"jeglichen Sinnes entbehren. 
Im übrigen ist wohl auf den Tenor der Inschrift 
nicht zu viel Gewicht zu legen ebensowenig wie 
dies der Fall wäre bei etwa vorhandenen ortho¬ 
graphischen. Abweichungen von der Regel; denn 
jeder, der sich mit Inschriften jener Gegend be¬ 
schäftigt hat, weiss, dass solche Abnormitäten dort 
häufig Vorkommen; wir sind ja nicht in Griechenland 
selbst, sondern in einer fern vom Mutterlande ange¬ 
legten, mitten zwischen barbarischen Völkern ent¬ 
standenen griechischen Pflanzstadl; kein Wunder, 
dass sich im Laufe der Jahrhunderte immer mehr 
fremde Elemente einschUchen, dass man mehr und 
mehr die tadellos korrekte Handhabung der Mut¬ 
tersprache verlernte. — 

Indessen wie dem auch sei, die paläographischen 
Kriterien sind wohl bei unserer Tiara die am we¬ 
nigsten zureichenden, sie als Fälschung zu erklä¬ 
ren; aber es existieren dafür andere Gründe ge¬ 
nug, die Furtwängler mit scharfem Auge erkannt 
hat; vielleicht ist auch der nicht zu übersehen, dass 
gerade die angebliche Fundstelle Olbia in den letz¬ 
ten Jahren die Privatsammlungen und Museen mit 
Altertümern, besonders Goldschmiedearbeiten, ge¬ 
radezu überschwemmt: ln der Nummer der revue 
archöologique, welche über die erwähnte Vorzeig¬ 
ung und Besprechung der Saitaphames-Tiara durch 
Höron de Villefosse in der acad6mie des inscript- 
ions berichtet, heisst es in unmittelbarem Anschluss 
an deren Beschreibung „M. Heron de Villefosse 
presente ensuite un beau cotlier en or et en verres 
de couleur avec des motifs varids et d’un excel- 
lent travail. Ce collier a ^tö irouve aussi ä Olbia 
dans une tombe voisine de celle qui ren/ermait la 
tiare! — 

Auch dieses Kollier ist vom Louvre erworben 
worden und ebenso wie die Tiara des Saitaphames 
in der „salle des bijoux antiques" neben dem kürz¬ 
lich auch an dieser Stelle besprochenen Silberschatz 
von Boscoreale ausgestellt. q. 


Betrachtungen und kleine Mitteilungen. 

Die Naturwissenschaft vor 500 Jahren. 

Ein Rückblick auf den Stand der naturwissenschaft¬ 
lichen Begriffe und Ideen, wie sie sich vor nunmehr 
500 Jahren gestaltet, wird nicht nur dem Fachmann, 
sondern auch dem Laien, der Interesse an dem ge¬ 


sicherten Bestände der modernen Erkenntnis nimmt, 
einen anregenden Genuss bieten. Einen solchen 
Rückblick gewährt uns die verdienstvolle von FVof. 
Dr. Hugo Schulz in Greifswald besorgte Neuaus¬ 
gabe von Conrad v. Megenberg’s (geb. 1309, gesL 
1374 als Kanonikus am Dom zu Regensburg) be¬ 
rühmten Bttch der Natur,*) der ersten Naturge¬ 
schichte in deutscher Sprache. Unwillkürlich ent¬ 
wickelt sich beim Lesen von Conrad’s Buch ein 
Gefühl dankbarer Anerkennung des Gebotenen. Es 
ist das Werk eines, in seiner Klause schaffenden 
und überlegenden Gelehrten, dem für die Erschein¬ 
ungen und Vorgän« in der Natur ein helles, offe¬ 
nes Auge und der Trieb verliehen gewesen ist, das 
Gesehene nicht einfach als solches hinzunehmen, 
sondern es zum Gegenstände seines Nachdenkens 
zu machen. Das, was er gesehen, hat Conrad 
seinen Zeitgenossen nicht vorenthalten wollen. Er 
hat dadurch in einer schweren Zeit, wo der 
schwarze Tod, die Pest, Länder verwüstend und 
Menschen mordend unser Vaterland verheerte, an 
seinem Teil mächtig zur Verbreitung naturwissen¬ 
schaftlicher Kenntnisse beigetragen trotz der zahl¬ 
reichen Irrtümer, denen er als Kind seiner Zeit 
notgedrungen unterliegen musste.. Die Lehren des 
Aristoteles beherrschten die einzelnen Disziplinen 
der Naturwissenschaft wie sie es seit dem Hin¬ 
gange des grossen Stagyriten gethan hatten und 
noch lange nach der Zeit, in der Conrad v. Megen- 
berg sein Buch schrieb, thun solltea Die Vorgänge 
des Lebens und ihre Grundgesetze hatte Galenus 
festzustellen versucht. Die Lehren beider Männer 
begegnen uns im Buche der Natur wieder, aber in 
der Gestaltung, die sie durch die Epigonen und be¬ 
sonders die arabischen Gelehrten erfahren hatten. 
Die Begriffe über anatomische Verhältnisse sind 
noch ganz verworren, ein Unterschied zwischen 
Blutgefässen und Nerven z. B. kaum vorhanden. 
Die vier Elemente bilden das Baumaterial des 
menschlichen und tierischen Körpers. Die Lebens¬ 
funktionen werden unterhalten und bedingt durch 
das Verhältnis zwischen den vier GrundflOssigkei- 
ten: Blut, Schleim, gelbe und schwarze Galle. Die 
Verarbeitung dieser Ansichten durch Galen, den 
Meister des, das Denken so sehr erleichternden 
Schematisierens, hatte wesentlich dazu beigetragen, 
sie zum Allgemeingut der Kreise zu machen, die 
sich der Natur der Sache nach für sie interressie- 
ren mussten. Die Bemühungen, ein Bild der Vor¬ 
gänge des Lebens zu erhalten, Bestrebungen, die 
das Fundament aller vrissenschaftlichen Arbeit bil¬ 
den werden, so lange es Menschen geben wird, 
hatten dann weiter auch zu besonderen Ideen und 
Begriffen über die seelischen Vorgänge im belebten 
Organismus geführt. Drei Arten von Geist waren 
es, die nach der Vorstellung der Alten den Leib 
belebten: der Seelen-Geist, der Lebens-Geist und 
der natürliche oder organische Geist, Der erstge¬ 
nannte hatte seinen Sitz in den Gebilden, an de¬ 
ren Aufbau die Nervensubstanz wesentlich beteiligt 
ist. Vom Gehirn aus zog der Seelen-Geist durch 
die, als Röhren gedachten Nerven. Der Lebens- 
Geist war im Herzen und den Schlagadern thätig 
und der natürliche Geist strömte von der Leber 
aus durch die Gefässe dahin. Unklar wie alle diese 
Vorstellungen waren und, wegen des Mangels an 
positiven Kenntnissen in der Anatomie und Physio¬ 
logie sein mussten, sind folgerichtig auch die Be¬ 
griffe, die man sich aus den Ergebnissen des Zu¬ 
sammenwirkens der einzelnen, hier erwähnten Mo- 


•) Das Buch der Natur von Conrad v. Merenberg. Die erste 
Natureeschirhte in deutscher Sprache. In Neu-Hochdeutscher 
Sprache bearbeitet und mit AnmerkiiT^cn versehen von Dr H 
Schuir, Professor au der Universität Greifswald, gr. 8» (X u. 
446 S.) 1897. Greilswald. Julius Abel. Mk. . 


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Betrachtungen und kleine Mitteilungen. 


433 


mente gebildet hatte. Einer viel späteren Zeit ist 
es Vorbehalten geblieben, Licht in das Dunkel zu 
bringen, ein Vesal musste mit kQhner Hand die 
Geheimnisse des Baues des menschlichen Körpers 
durchforschen, den Irrtum seiner Vorgänger auf¬ 
decken und seinen Nachfolgern die Bahn frei 
machen und den Weg ebnen zu neuen, der Wahr¬ 
heit entsprechenden Befunden. Die Einteilung des 
-Buch der Na/ur" ist folgende; I. Vom Menschen 
un allgemeinen; II. Von den Himmeln und den 
sieben Planeten; III. Von den Tieren im allgemeinen: 
a) von den vierfössigen Tieren, b) vom Geflügel, 
c) von den Meerwundem, d) von den Fischen, e) 
von den Schlangen, f) von den Würmern; Iv. a) 
Von den Bäumen, b) von den wohlriechenden Bäu¬ 
men; V. Von den Kräutern; VI. Von den Edel¬ 
steinen; VII. Von den Metallen; VIII. Von den 
wunderbaren Gewässern. Um Conrad’s Werk, das 
einer uns so fern liegenden Epoche angehört, voll¬ 
inhaltlich zu verstehen, muss man versuchen, sich 
möglichst in die Denk- und Anschauungsweise sei¬ 
ner Zeit zu versenken. Es ist das eine unabweis¬ 
bare Bedingung, wenn man dem Sinne eines sol¬ 
chen Buches, wie des besprochenen, gerecht werden 
will. 


Eine der vielen streitigen Probleme der Kultur¬ 
geschichte und Völkerkunde ist bekanntlich die Her¬ 
kunft und ethnographische Verwandtschaft jenes 
uralten Volkes im mesopotamischen Stromlande, 
das den Assyrern und Babyloniern vorangegangen 
ist, der Sumero-Akkader. Bislang ist meist die An¬ 
sicht verfochten, dass dieselben zur wal-suranischen 
Rasse gehörten; dies wird neuerdings durch die 
eingehende Bearbeitung umfassender Ausgrabun¬ 
gen und Schädelvergleicnungen bedenklich erschüt¬ 
tert, die Prof. C o h e aus Phüadelphia vorgenommen 
hat. Darnach mehren sich die Anzeichen, dass wir 
es mit Sprösslingen der Arier zu thun haben. Die 
hierfür in Betracht kommenden anatomisch-anthro¬ 
pologischen Merkmale sind, wie der Globus (Bd. 70 
H. 22) berichtet: Ein schöner, eleichmässiger, kräf¬ 
tiger Wuchs, grosse geradest^ende Augen, kräf¬ 
tige, nur leicht gebogene Nasen, schmale Lippen, 
ausgesprochene Langköpfe und zwar mit glatt¬ 
geschorenen Schädeln. We längliche Gestalt des 
Schädels, die vorspringende Nase, die geraden 
Augen und die nicht vorstehenden lochbeineschlies- 
sen von vornherein jede mongolbche Verwandt¬ 
schaft aus. Gegen die etwaige semitische Abkunft 
spricht andererseits die nur sehr leicht gebogene 
Nase und die nicht aufgeworfenen Lippen. Dazu 
kommt ja noch der Umstand, dass sich diese Su¬ 
mero-Akkader durch die Sprache sehr scharf von 
den semitischen Assyrern unterscheiden, durch die 
geschorenen Köpfe und durch den Mangel der Be¬ 
schneidung. Was das Scheeren des Haares anlangt, 
so wäre das vielleicht daraus zu erklären, dass der 
Stamm vielleicht aus jener kälteren Gegend in die 
späteren wärmeren Wohnsitze eingewandert sei 
und nun der ungewohnten Hitze halber diese Sitte 
angenommen habe. Bei den Sittenbildern ist um¬ 
gekehrt jener kräftiger Bart- und Haarwuchs zu 
erkennen. Ach. 


Neue Wirkung der Äther- und Chloroform- 
Narkose. Wenn man unsere Kartoffel gleich nach 
der Ernte im Herbste zu neuem Austreiben zu 
brin^n versucht, so gelingt es nicht; erst wenn 
das Frühjahr gekommen ist, dann beginnt auch im 
Keller bei derselben Temperatur, bei welcher diese 
Knollen den ganzen Winter hindurch gehalten wur¬ 
den, ohne andere Hilfsmittel das Ausschlagen der 


Knospen. Die zum Austreiben notwendige Ruhe¬ 
periode, welche nicht von Licht und Temperatur, 
sondern von inneren Ursachen abhängig ist, ist 
eben dann vorüber. Bei den meisten Pflanzen 
unserer Breite fällt die für dieselben notwendige 
Ruheperiode in die Wintermonate. Auch die Samen 
bedürfen grösstenteils einer kürzeren oder längeren 
Zeit, damit jene Stoffmetamorphosen in ihnen vor 
sich gehen können, welche sie keimfähig machen. 
Die Samen der gemeinen Wolfsmilch - Arten — 
Euphorbia Cyparissias und Euphorbia exi^a — 
sollen sogar mehrere Jahre brauchen, bis sie ihre 
volle Keimkraft erlangt haben. — Müller-Thurgau 
hat bereits 1885 ‘n der Anwendung niederer Tem¬ 
peraturen ein Mittel gefunden, um bei der Kartoffel 
die unter normalen Verhältnissen lange Ruheperiode 
bedeutend abzukürzen. Lässt man Frühkartoffeln 
gleich nach der Ernte im Juli durch 24 Tage in 
einem Eiskeller liegen, so treiben dieselben viel 
früher aus, als solche Kartoffeln, welche während 
dieser Zeit in einem gewöhnlichen Keller aufbewahrt 
wurden. Der Übergang von Stärke in Zucker, 
welcher zum Wachstum unbedingt notwendig ist, 
wurde durch die Anwendung jener niederen Tem¬ 
peratur beschleunigt. Auch auf unsere Bäume und 
Sträucher scheint die Kälte in ähnlicher Weise ein¬ 
zuwirken ; denn man hat beobachtet, dass dieselben 
nach einem strengen Winter früher ausschlagen, 
als nach einem milden Winter. — Bei Hyacinthen, 
Tulpen, Maiglöckchen und anderen FrOhlingspflanzen, 
welche wir bereits zu Weihnachten zum Blühen 
bringen können, wird künstliche Wärme zum Aus¬ 
treiben angewendet.'— Nun hat der Däne Jo- 
hannsen nach einer vorläufigen knappen Mit¬ 
teilung ‘) in einer schwachen Äther- oder Cmoroform- 
Narkose ein Mittel gefunden, um die sonst not¬ 
wendige Ruheperiode für Pflanzen, Knollen, Zwie¬ 
beln und Samen abzukürzen. Die Gärtner sollen 
vgn diesem neuen Mittel bereits prakti^hen Ge¬ 
brauch gemacht haben. Sobald der von Johannsen 
versprochene ausführliche Bericht erschienen sein 
wird, soll darüber Näheres in diesem Blatte mit- 
geteüt werden. n. 


Der Ozongehalt der Luft. Das Ozon, von dem 
Baseler Professor Schönbein entdeckt, ist eine 
besondere Modifikation des Sauerstoffs, die sich 
durch eigentümlichen Geruch und grosse Reaktions¬ 
fähigkeit auszeichnet. Es bildet sich in der Natur 
bei vielen Oxydationsprozessen und auch unter dem 
Einfluss der atmosphärischen Elektrizität. Die Be¬ 
deutung dieser Entstehungsquelle hat schon viel¬ 
fach die Aufmerksamkeit der Chemiker auf sich 
gezogen, und es existieren viele ozonometrische 
Beobachtungen, welche gezeigt haben, dass der 
Ozongehalt der Luft zu verschiedenen Jahreszeiten, 
an verschiedenen Orten und unter verschiedenen 
Bedingungen verschieden ist. Wenn diese Beob¬ 
achtungen auch nicht alle zuverlässig sind, so ist 
doch sicher, dass die Ozonmenge in der Luft be¬ 
deutenden Schwankungen ausgesetzt ist, dass auf 
Feldern und im Walde die Luft stets Ozon oder 
ähnlich wirkende Stoffe enthält, welche in der Luft 
der Wohnräume fehlen. Das Ozon verschwindet 
in den Wohnräumen, indem es die organischen 
Substanzen Miasmen — oxydiert. Man hat sogar 
angenommen, dass der für uns sogleich merkliche 
Unterschied der Landluft von der Stadtluft durch 
den verschiedenen Ozongehalt bedingt sei. Maurice 
de Thierry hat nun vor kurzem *) bei Gelegen¬ 
heit eines Hagelwetters auf dem Mont Blanc beob¬ 
achtet, dass die Hagelkörner Ozonreaktionen geben. 

I) Botaoischea Zeatralblatt Bd. 58. No. 50. 

C. r. d. l'Acad. des Science» 134.4«». 


Dii;il(zed by v^ooQle 



434 


Betrachtungen und kleine Mitteilungen. 


Dadurch angeregt, untersuchte er den Ozongehalt 
der Luft in verschiedenen Höhen. Es ergab sich 
in Chamonix (105001) ein Gehalt von 3,5 mg und 
auf dem Grands-Mulets (3020 m) ein Gehalt von 
9,4 mg Ozon pro 100 ccm Luft, das ist etwa vier¬ 
mal so viel als in Paris. Der Ozongehalt der Luft 
•wächst also mit der Höhe. Thierry will denselben 
auch auf dem Gipfel des Mont Blanc bestimmen, s. 

• • 

•• 

Stahlcarbid. Die Verbindune des Kohlenstoffs 
mit Calcium, das Calciumcarbid, hat neuerdings be¬ 
kanntlich zur Herstellung von Acetylengas ausser¬ 
ordentliche Bedeutung gewonnen. Jetzt haben My- 
lius, Foerster und Schoene nachgewiesen, 
dass auch eine wirkliche chemische Verbindung des 
Eisens mit Kohlenstoff existiert, deren Vorhanden¬ 
sein im Eisen diesem die Eigenschaften des Stahls 
verleiht. Dieses Stahlcarbid lässt sich beim Lösen 
von Stahl in Säuren als Rückstand erhalten. Es 
bildet glänzende Kristaliblättchen, die besonders 
interessant deswegen sind, weil sie vollkommen 
Obereinstimmen mit kleinen Kristallen von bisher 
unbekannter Zusammensetzung, die sich im Meteor¬ 
eisen gefunden haben. Pr. 

• 

Subjektive Farbenerscbelnungen. In dickes 
braunes Papier von 40 cm im Quadrat schneidet 
man mit einem scharfen Messer ein Loch von 
12 mm im Quadrat, verklebt das Loch mit weissem 
Briefmarkenpapier und befestigt Ober der Mitte 
dieses durchscheinenden Fensters eine Nadel, die man 
mit Markenpapier anklebt. nimmt das braune 
Papier in die linke Hand, hält es vor eine Lampe 
und richtet das Auge auf das durchscheinende 
Fenster. Dann schiebt man einen dunklen Gegen¬ 
stand, etwa ein Buch, zwischen Auge und Fenster 
ein und zieht ihn nach wenigen Sekunden wieder 
weg, ohne die Augen abschweifen zu lassen. Einen 
Augenblick erscheint dann das Fenster von einem 
roten Saum umgeben und die Nadel sieht hellrot 
aus. Dauernde Farbenerscheinungen erhält man auf 
folgende Weise: Aus weissem Karton schneidet 
man eine Scheibe von etwa lo cm Durchmesser, 
zieht auf dieser zwei Radien, die einen Winkel von 
45* einschliessen und schneidet das zwischenliegende 
btOck bis auf einen Rand von 5 mm am Umfang 
heraus. Der Obrige Teil der Scheibe wird durch 
einen Radius in zwei gleiche Teile geteilt und der 
eine von diesen mit Tinte geschwärzt. Durch die 
Mitte steckt man eine Hutnadel^ die man an der 
Mitte anfasst, so dass die Scheibe auf dem dicken 
Knopf der Nadel aufruht und durch Fortschnellen 
des Randes in Drehung versetzt werden kann. 
Hält man die Scheibe senkrecht Ober schwarze 
Linien auf weissem Grund und dreht, so erscheinen 
die Linien, durch den Ausschnitt gesehen, in hellem 
Rot, wenn man so dreht, dass die Scheibe in der 
Richtung Ausschnitt, weisser Teil, schwarzer Teil 
herumgeht. Bei umgekehrter Drehung erscheinen 
die Limen blau. Diese und ähnliche Farbenerschein¬ 
ungen erklären sich so, dass beim Auffallen von 
schwachem weissen Licht auf die Nervenfasern der 
Netzhaut die rotempfindenden in der Umgebung 
für eine kurze Zeit miterregt werden, während die 
grün- oder violettempfindenden nicht beeinflusst 
sind. Wird dagegen das weisse Licht plötzlich ab¬ 
geschnitten, so sind die roten Fasern filr kurze Zeit 
ermüdet und abgestumpft, während die Einwirkung 
auf die grün- und violettempfindenden fortdauert 
und zu einem blauen Rand Anlass giebt. (Nature.) 

Dr. Pr. N«ch Sheiford Bidwell. 

• » 

• 

Z.weite internationale bibliographische Kon¬ 
ferenz. Das internationale bibliogr. Institut in Brüssel 


versendet soeben die Einladungen zu einer zweiten 
internationalen bibliographischen Konferenz, welche 
unter dem Patronate der belgischen Regierung vom 
2. bis 4. August in Brüssel stattfinden wird. Auf 
dem Programm derselben steht in erster Linie die 
Organisation und Ausarbeitung eines sillgemeinen 
bibüographischen Repertoriums, wie es von der 
Konfererenz des Jahres 1895 angeregt wurde, die 
Erörterung des ihm zu Grunde zu legenden Systems 
sowie der Regeln für die Herstellung der einzelnen 
Titelcopien. Weitere Punkte des Programms be¬ 
treffen den Stand der wissenschaftlichen Biblio¬ 
graphie in den einzelnen Ländern und Wissens¬ 
zweigen und die Herausgabe von Bibliographien 
überhaupt. Da eine Reihe hervorragender Gelehr¬ 
ter und wissenschaftlicher Gesellschaften bereits 
ihre Teilnahme an dieser Konferenz erklärt haben, 
verspricht dieselbe sehr interessant zu werden und 
das kolossale Unternehmen des Instituts, einen Zet¬ 
telkatalog der gesamten bestehenden Litteratur 
herzusteUen, wirksam zu fördern. Die Referate, 
welche vor dem i. Juli vorliegen müssen, werden, 
ebenso wie später auch die Verhandlungen, ver¬ 
öffentlicht werden. Anmeldungen nimmt das Insti¬ 
tut (Brüssel, Place du Musee) und sein Sekretariat 
in Wien (III. Hauptstrasse 6) entgegen. 


Eine eigenartige Entdeckung wurde kürzlich 
zufällig von einem Pariser Physiker gemacht, als 
er mit Ozon experimentierte, indem er fand, dass 
wenn Wasser mit Ozon geschüttelt und das Gas 
dadurch gleichmässig in dem Wasser verteilt wird, 
letzteres im Dunkeln längere Zeit phosphoresziert 
Ferner stellte sich heraus, dass abgekochtes, steri¬ 
lisiertes Wasser diese Eigenschaft nicht besitzt, mit¬ 
hin wohl das Leuchten auf eine durch den ozoni¬ 
sierten Sauerstoff bewirkte Verbrennung, gewisser- 
massen auf kaltem Wege, der im Wasser enthaltenen 
Mikroorganismen beruhen dürfte. 


Was thut man gegen Insektenstiche? Insek¬ 
tenstiche sind bekanntlich! ebenso häufig wie un¬ 
angenehm. Jedermann weiss, dass unter Um¬ 
ständen ein Insektenstich auch schwere Gesund¬ 
heitsstörungen mit sich bringen, ja, unter Umständen 
tötlich w’irken kann. Die dagegen angewandten 
Hausmittel, wie kalte Erde aimegen, oder frische 
Blätter, Essigumschläge oder nur kalte Umschläge 
sind ganz^unwirksam, genau ebenso unwirksam wie 
das auch in ärztlichen Kreisen sehr beliebte Am¬ 
moniak. Es gehört heutzutage zu der gewöhnlichen 
Touristenausrüstung ein kleines Fläschchen mit Am¬ 
moniak mit sich zu führen. Ist nun ein Insektenstich 
vorgekommen, so ist zwar häufig der Ammoniak 
ausgelaufen oder verflüchtigt, aber selbst wenn 
das nicht der Fall ist, leistet er gar nichts. Da 
hat nun ein Dr. Ottinger in der M. m. W. 
ein sehr gutes und einfaches Mittel aneegebei^ 
nämlich das Betupfen jedes Insektenstiches mit 
Ichthyol. Noch praktischer ist das Auflegen eines 
Ichthyolpflasters. Einen kleinen Streifen Ichthyol¬ 
pflaster kann jeder Tourist mit sich führen; er hat 
dann stets ein sicher wirkendes und einfaches Mittel 
bei Insektenstichen. m. 


No. as der Umscbaa wird eothaltea: 

Jurisch, Schädigungen gewerblicher Betriebe. — Paeig, Dae 
moderne ägyptische Volkslied. — Kalt-Reuleaux, Der Goldberg 
bau in Transvaal. — Nestler, Die Fortschritte der Botanik ira 
Jahre 1896. 


G. Horstmann's Druckerei. Frankfurt a. BL 


Diyiuzed by v^ooQle 



DIE UMSCHAU 

ÜBERSICHT ÜBER DIE FORTSCHRITTE UND BEWEGUNGEN AUF 
DEM GESAMTGEBIET DER WISSENSCHAFT, TECHNIK, 

Wöchentlich eine Nummer. LITTERATUR UND KUNST vierteljährlich 

Zu beziehen durch heraus^egrnben von M. 9.50. 

alle Buchhandlungen und ^ Dirr'UTJ/^T'rt Jahres-Abonncment 

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Verlag von: Verantwortlicher Redakteur: 

H. Bechhold Verlag, Frankfurt a. M. Otto Adolf Wolters, Frankfurt a. M. 

Neue Krame 19^91. 


J'ß 25. I. Jahrg. 


Nachdruck aus dem Inhalt der Zeitschrift tthns Erlatdmis 
der Redaktion verboten. 


1897. 19. Juni. 


Die physiologische Notwendigkeit des Todes. 

Von Dr. P. Jensen. 

Daran zweifelt Niemand, dass dem Leben 
des Menschen und anderen uns umgebenden 
Organismen ein unerbittliches Ziel gesetzt sei. 
Und mag das letztere auch einmal mehr in 
die Feme rücken, wie es denn sicher beglau¬ 
bigt ist, dass Menschen 152, 169, ja 185 Jahre 
alt geworden sind, auch sie konnten doch 
dem Knochenmann nicht entrinnen. Diese 
offenbaren Thatsachen geben uns das Bewusst¬ 
sein der Notwe»digkeii des Todes, obgleich 
der Einblick in die inneren Ursachen dieser 
Notwendigkeit noch auf manchen Widerstand 
stösst. Immerhin haben uns die neueren 
naturwissenschaftlichen Errungenschaften, be¬ 
sonders die Alles durchdringende Entwick¬ 
lungslehre, den Gesichtskreis geklärt für die 
Erkenntnis der inneren, physiologischen Not¬ 
wendigkeit des Todes, während noch in der 
Mitte dieses Jahrhunderts eine befriedigende 
Lösung dieses interessanten Problems kaum 
angebahnt war. 

Die früher dargebotenen Scheinerklärungen, 
welche in weiteren Kreisen apch heute noch 
landläufig sind, gingen von vorneherein von 
einem falschen Prinzip aus. In derselben 
Weise, wie man von jeher geneigt war, zur 
Erklärung einer Krankheit umsomehr irgend¬ 
welche augenfällige äussere Einwirkungen aus¬ 
reichend zu finden, je weniger man von den 
im Organismus vorhandenen krankhaften Kon¬ 
stellationen wusstfe, so suchte man auch die 
Ursachen des Todes vornehmlich in feindlichen 
Einwirkungen von Aussen. Der Tod durch 
Gewalt und der durch Krankheit bedingte, 
(unter deren Ursachen man auch vorwiegend 
nur die äusseren Schädlichkeiten sah), gaben 
das Vorbild für eine solche Auffassung der 
Todesursachen ab. Und ganz analog sollte 
denn auch im Falle des „natürlichen“ Todes, 
wo hervortretende äussere Einwirkungen als 

Untebau 1897. 


Todesursachen ausgeschlossen werden mussten, 
das Leben ganz allmählich durch Häufung 
unmerklich kleiner Schädlichkeiten der Zer¬ 
störung entgegengelührt werden. Nach dieser 
Auffassung würde der Mensch also ewig leben 
können, wenn man ihn vor jeglichen gesund¬ 
heitswidrigen Einflüssen zu behüten vermöchte. 

Diese Hypothese klingt wenig befriedigend 
und ist, wie wir alsbald sehen werden, auch 
völlig unhaltbar. Das Gleiche g^lt ftlr eine 
andere Vorstellungsweise, nach Welcher der 
Organismus im Laufe seines Lebens sich ab¬ 
nutzt, wie die Teile einer Maschine. Eine 
Abnutzung in diesem Sinne kann wohl in unter¬ 
geordnetem Masse mitwirken, nicht aber die 
vornehmste Upsache des natürlichen Todes 
sein. 

Um einen sicheren Ausgangspunkt für 
eine befriedigende Theorie des natürlichen 
Todes zu gewinnen, musste man vor Allem 
das Problem im Lichte unserer heutigen all¬ 
gemein • physiologischen Vorstellungen be¬ 
trachten und einen grossen Kreis verschieden¬ 
artiger Lebewesen berücksichtigen. Und da 
finden wir alsbald Thatsachen, welche den 
beiden angedeuteten Hypothesen von der 
Häufung kleiner Schädlichkeiten und von der 
Abnutzung völlig zuwiderlaufen. Die Eintags¬ 
fliegen (Ephemeriden) sind ganz offenkundig 
schon auf Grund ihrer normalen Organisation 
unrettbar dem Tode geweiht, da sie in Er¬ 
mangelung einer Mundöffnung gar nicht die 
Möglichkeit besitzen, Nahrung zu sich zu 
nehmen; wäre ihr Leben nicht aus anderen 
Gründen schon so kurz bemessen, so wären 
sie dem sicheren Hungertode verfallen. Hier 
wäre der Tod also ohne Schädlichlfeiten und 
ohne Abnutzung möglich und notwendig. 
Freilich stirbt die Eintagsfliege in Wirklich¬ 
keit nicht an der eben erwähnten Eigentüm¬ 
lichkeit ihrer Organisation, da der Tod noch 
früher in anderer Gestalt sie überrascht. Schon 
am Abend desselben Tages, an dem die Ephe- 

«5 


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436 


Jensen, Die physiologische Notwendigkeit des Todes. 


mera als fertiges Insekt (Imago) das Licht 
erblickt hat, finden wir ihre Leiche auf der 
Stätte liegen, wo sie sich ihres kurzen Lebens 
erfreut. Sollten hier im Laufe eines Tages 
gehäufte Schädlichkeiten und Abnutzung der¬ 
artig gewirkt haben? Dann müsste geradezu 
jeder Atemzug schädlich sein; innerhalb 
eines Tages aber einen Organismus nach Art 
einer Maschine abgenutzt werden zu lassen — 
das wie und wo wäre bei dieser recht plumpen 
Vorstellung auch noch aufzuklären — dürfte 
schon beinahe absurd erscheinen. Ist aber 
die „Abnutzung“ in einem anderen als dem ge¬ 
nannten Sinne verstanden, so ist das eben auch 
nur ein Wort für einen fehlenden Begriff, der 
also noch gesucht werden soll. 

Kehren wir zu der wichtigen Thatsache 
zurück, dass die Eintagsfliege infolge der Un¬ 
möglichkeit sich zu ernähren, schon in ihrer 
normalen Organisation eine unerbittliche Todes¬ 
ursache enthält, so drängt sich die Frage auf, 
ob nicht ganz allgemein der lebendige Orga¬ 
nismus in der Art seiner normalen Konstitution 
schon den Keim des sicheren Todes trage. 
Und in der That lassen sich hierfür eine 
grosse Menge der verschiedensten Beispiele 
aus dem Reiche des Sterbens anführen, bei 
welchen zugleich nach den bezüglichen zeit¬ 
lichen und sonstigen Verhältnissen eine Häufung 
äusserer Schädlichkeiten oder eine maschinen¬ 
artige Abnutzung als Todesursachen ausge¬ 
schlossen werden können. 

Der Eintagsfliege wäre noch das Beispiel 
zahlreicher anderer Insekten von kurzer 
Lebensdauer anzureihen. Denken wir ferner 
an Pflanzen, vor allem an einjährige. In 
wenigen Wochen entfaltet sich aus einem 
Samenkorn z. B. ein prächtig blühender Mohn. 
Der stolzen Blüte folgt die strotzende Frucht, 
dann stirbt die Pflanze unerbittlich dahin. 
Diesen Verlauf müssen wir als die Norm an¬ 
erkennen; hätten nennenswerte Schädigungen 
Vorgelegen, so würden sich Blüte und Samen¬ 
kapsel nebst Samen nur spärlich oder garnicht 
entwickelt haben. Der natürliche Tod der 
Blüte aber ist Vorbedingung für die Ausbil¬ 
dung der Frucht, und die lebendige Substanz 
der Samenkapsel muss absterben, damit der 
reife Same in’s Freie gelange, um sich hier 
seiner normalen Bestimmung gemäss ent¬ 
wickeln zu können. 

Das »letzte Beispiel macht uns mit der 
wichtigen Thatsache bekannt, dass das Ab- 
sterben von Teilen des Organismus, wie z. B. 
der Samenkapsel, sogar eine zweckmässige 
Einrichtung sein kann. Hier werden wir mit 
Recht annehmen, dass die Natur die Organi¬ 
sation dieser Teile so angelegt hat, dass das 
rechtzeitige Absterben derselben auf diese Weise 
verbürgt ist. Um hierauf näher eingehen zu 


können, müssen wir an dieser Stelle zuvor ein 
paar vorbereitende Bemerkungen einflechten. 

Erinnern wir uns daran, dass jeder grössere 
Organismus, Tier und Pflanze, aus einer Menge 
kleiner lebendiger Elementarteile, den Zellen 
zusammengesetzt ist, welche zwar in gewisser 
Abhängigkeit von einander stehen, aber doch 
ein in sich abgeschlossenes eigenes Leben 
führen. Auch für jede einzelne dieser Zellen, 
der sog. Elementarorganismen, und desgleichen 
für gewisse Zellkomplexe, wie wir sie in 
den Organen höherer Organismen kennen, gilt 
unser Problem vom Sterben. Und da finden 
wir sehr häufig, dass Zellen und Zellkom¬ 
plexe zum Besten des zugehörigen Organismus 
zweckmässiger Weise zu Grunde gehen, und 
zwar ohne dass äussere Schädigungen oder 
eine Abnutzung im Spiele sein kann. 

Gewisse pflanzliche Zellen, welche vor¬ 
trefflich gegen äussere Unbill geschützt und 
unter den günstigsten Lebensbedingungen im 
Innern der Holzpflanzen liegen, sterben nor¬ 
malerweise im ganz gesunden Organismus ab, 
um ihre „Leichen“ bestimmte Leistungen für 
die Pflanze übernehmen zu lassen. So geht 
z. B. die lebendige Substanz derjenigen 
Zellen, welche die der Saftströmung dienen¬ 
den Gefässe zusammenzusetzen berufen sind, 
allmählich zu Grunde; die in der Längsrichtung 
aneinander gereihten Zellen verstärken ihre 
Wände, lösen die einander trennenden Quer¬ 
wände auf und bilden so, nachdem die lebendige 
Zellsubstanz (das Protoplasma) dem Untergang 
anheimgefallen ist, lange feine Röhrchen, die 
Luft oder Wasser in sich führen. — Eine 
Unzahl lebendiger Zellen im Schwänze der 
Kaulquappe ist gemäss dem normalen Ent¬ 
wicklungsplan des Frosches dem Untergange 
geweiht, und dasselbe gilt für Zellkomplexe 
einer grossen Menge anderer Organismen, 
welche in ihrer Entwicklung eine sog. Meta¬ 
morphose durchmachen; dabei bilden sich 
ganze Organe mit zahllosen lebendigen Zellen 
zurück, was doch offenbar der Ausdruck der 
normalen Entwicklung des betreffenden Or¬ 
ganismus ist. Bei all den genannten Zellen 
steht der Tod mit gewissen Entwicklungs¬ 
stadien des zugehörigen Organismus im Zu¬ 
sammenhang. Hier aber wird wohl Niemand 
behaupten wollen, dass diese die normale 
Entwicklung zum Ausdruck bringenden, zweck¬ 
mässigen Veränderungen durch äussere Schäd¬ 
lichkeiten oder durch Abnutzung *) erzielt 


*) Vergl. „Umschau“ No. 4 (Bedeutung des 
Rückenmarkes etc.) und No. 8 (Erregung und Lähm¬ 
ung der lebendigen Substanz). 

*) Hierzu wäre zudem einerseits die Zeit zu 
kurz, andererseits geht z. B. bei der Metamorphose 
der Insekten das Absterben von Organen und Or¬ 
ganteilen (diesem Schicksal verfaSen Mundteile, 


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Jensen, Die physiologische Notwendigkeit des Todes. 


437 


seien. Oder wollte Jemand das hochentwickelte, 
fertige Insekt (Imago) als das Abnutzungs¬ 
und Schädigungsprodukt der Larve be¬ 
trachten ? 

Ähnliches gilt für zahlreiche Organe der 
höheren Tiere und des Menschen. Die bezüg¬ 
lich ihrer Funktion noch so räthselhafte Thy¬ 
musdrüse beginnt schon Stück für Stück zu 
sterben, lange bevor der zugehörige Organis¬ 
mus den Höhepunkt seiner Entwicklung er¬ 
reicht hat. Und doch befindet sich die in 
der Brusthöhle liegende Drüse nicht unter 
ungünstigeren Lebensbedingungen als die 
Lungen, die Schilddrüse und andere Organe. 
Beim Menschen fängt die Thymus schon bald 
nach dem dritten Lebensjahre an kleiner zu 
werden, indem die lebenden Zellen schwin¬ 
den und eine nach der anderen sich auflöst. 
Das einst bis gegen 30 g schwere Organ ist 
beim 30jährigen Menschen meist vollständig 
verschwunden. *) Eine ebenfalls im Verhältnis 
zum übrigen menschlichen Organismus vor¬ 
zeitige Rückbildung erfahren die Eierstöcke. 
Und zwar erfolgt dieselbe, nachdem die letz¬ 
ten der schon in den ersten Lebensjahren in 
definitiver Anzahl angelegten Eier ausgestossen 
worden sind. Auch hier ist also die Vernicht¬ 
ung von lebendiger Substanz an gewisse im 
normalen Entwicklungspläne gelegene Be¬ 
stimmungen gebunden. Derartige Beispiele, 
zumal auch aus dem Embryonalleben, mehren 
sich ins Unabsehbare, sobald man nach ihnen 
sucht. Es sei nur noch auf einige besonders 
sprechende Beispiele, wie die Pupillarmem¬ 
bran*) und die Metamorphosen in der em¬ 
bryonalen Entwicklung des Uro-genitalsystems*) 
der höheren Tiere hingewiesen. 

Noch eine andere wichtige Art des natür¬ 
lichen Todes von lebendiger Substanz haben 
wir kennen zu lernen. Die lebendige Sub¬ 
stanz der einzelnen DrOsenzellen (Mund- 
speicheldrOsen, Bauchspeicheldrüse, Milch- 


Antennen, Abdominalanhänge, Beine etc.; beson¬ 
ders lehrreich sind die bezüglichen Erscheinungen 
z. B. bei der Käferfamilie der Meloiden, zu der 
auch die Spanische Fliege gehört) meist im Puppen¬ 
stadium vor sich, wo SAutz gegen äussere Ge¬ 
fährdung besteht und das fast bewegungslose Tier 
geringster Abnutzungsgelegenheit ausgesetzt ist. 

') Diese und die nächstfolgende Thatsache unter 
Anderem führte den hervorraeenden pathologischen 
Anatomen Cohnheim (Atlgemeine Pathologie, 
Leipzig, 1882) schon zu der Überzeugung, dass die 
Ursadien des im Greisenalter erfolgenden Zell¬ 
schwundes physiologische seien. 

*) eine vorhangartige vollkommene Verschliessung 
der Pupille durch Zurückbleiben der Membran, die 
während des Lebens im Mutterleib die Pupille 
überzieht. 

*) Ham- und Geschlechtsorgan. 

•) u. *) vergl. O. Hertwig, Lehrbuch der Ent¬ 
wicklungsgeschichte, Jena, 18^. 


drOse, Schleimdrüsen etc.) geht bei der 
normalen Absonderungsthätigkeit bis zur 
Hälfte und mehr zu Grunde, wobei 
die abgestorbenen Massen zum Sekret wer¬ 
den. Hier ist die lebendige Substanz also 
derart organisiert, dass sie immer von Neuem 
teilweise stirbt, um das ihr eigene Absonder¬ 
ungsprodukt zu liefern. 

Die letzterwähnten Erscheinungen leiten 
uns endlich über zu einer Thatsache, welche 
für unser Problem von zugrundelegender Be¬ 
deutung ist. Es ist bekannt, dass überall im 
Organismus fortwährend lebendige Substanz 
abstirbt, so dass jeder Organismus in kurzer 
Zeit eine Leiche wäre, wenn nicht gleich¬ 
zeitig immer wieder durch Assimilation^) 
lebendige Substanz neu gebildet würde. Da 
demnach der normal lebende Organismus 
zum Teil fortwährend stirbt, so ist dieses 
partielle Sterben des lebenden Organismus zu 
unterscheiden von seinem definitiven allge¬ 
meinen Tod. Der letztere beruht darauf, dass 
die stetige Neubildung normaler lebendiger 
Substanz aufhört. So spitzt sich denn unser 
Problem von den Ursachen des natürlichen 
Todes zu der Frage zu: Warum vermag ein 
Organismus nach bestimmter Zeit keine lebens¬ 
tüchtige lebendige Substanz mehr anzubilden? 

Die oben erörterten Thatsachen haben 
uns zunächst gelehrt, dass der natürliche all¬ 
gemeine Tod der lebendigen Substanz in ihrer 
eigenen Organisation begründet liegt, ohne 
dass äusseren Schädigungen und einer ma- 
schinenmässigen Abnutzung ein wesentlicher 
Einfluss zuzuerkennen wäre. Was aber diese 
Organisation anbetrifft, so haben wir die für 
uns höchst wichtige Thatsache hervorzuheben, 
dass sich diese bei einem und demselben Or¬ 
ganismus fortschreitend verändert, wie dies in 
der Entwicklung zum Ausdruck kommt. Bei 
manchen Organismen verlaufen diese Ent¬ 
wicklungs-Veränderungen rasch und auffällig 
(z. B. bei schnell aus dem Samenkorn auf- 
schiessenden Pflanzen), bei anderen ganz all¬ 
mählich, wie etwa bei Wirbeltieren von langer 
Lebensdauer. Solche fortschreitende Veränder¬ 
ungen, wie sie der Organismus als Ganzes erfährt, 
können wir häufig auch deutlich an den ihn 
zusammensetzenden Elementarorganismen, den 
Zellen, wiederfinden. Und wir haben Grund 
zur Annahme, dass die Mehrzahl aller Zellen 
solchen stetigen Veränderungen, also einer 
Entwicklung, unterworfen ist. 

Wie kommen nun diese stetigen Ver¬ 
änderungen, diese Entwicklung, zu Stande? 
Es wurde vorhin betont, dass in jeder leben¬ 
digen Zelle fortwährend lebendige Substanz 
stirbt und neu entsteht. Damit ist aber Ge- 


*) Vgl. Umschau No. 8 (Erregung und Lähmung). 

» 5 ’ 


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438 


Nestler, Die Botanik im vergangenen Jahre. 


legenheit zu den fortschreitenden Veränder¬ 
ungen der lebendigen Substanz geboten, in¬ 
dem die neuentstandene Substanz von der bis¬ 
herigen jeweils um ein PVeniges verschieden ist. 
Diese Veränderungen führen zuerst in 
aufsteigender Linie zu grösserer Leistungs¬ 
fähigkeit der lebendigen Substanz; dann fällt 
die Kurve, indem die neugebildete lebendige 
Substanz jedesmal matterund spärlicher, kurz 
zunehmend altersschwach wird und so dem 
unbelebten Stoff, von dem sie abstammt, im¬ 
mer näher rückt. ist der Tod der leben¬ 
digen Substanz der natürliche Abschluss ihrer 
Entwicklung. 

Wenn wir innerhalb der lebendigen Zell¬ 
substanz die Stoffkonstellationen, welche die 
Entwicklung bedingen, vollständig über¬ 
sehen könnten, so würden wir auch erkennen, 
in welcher Weise das materielle System der¬ 
selben sich der endlichen Katastrophe not¬ 
wendig entgegen entwickelt; ähnlich wie wir 
heute das Endziel der Entwicklung unseres 
Planetensystems vorauszusagen vermögen. 
Die Ursachen des natürlichen Todes sind 
also gleichbedeutend mit den Ursachen der 
Entwicklung, und wie die letztere im Wesent¬ 
lichen in der Konstitution der lebendigen 
Materie begründet liegt, so auch der Tod. 
Ebensowenig wie der Mensch unter den 
günstigsten Bedingungen sich dauernde Jugend 
bewahren kann, so strebt er auch, durch die 
übrigen Entwicklungsstufen hindurch, unauf¬ 
haltsam dem Tode zu. Mit dem Vorzug der 
Entwicklung muss der lebendige Organismus 
auch das Endziel derselben, den Tod, in 
Kauf nehmen. 

Über die Ursachen der Entwicklung wissen 
wir noch nicht viel Bestimmtes, wollen da¬ 
her hier davon absehen. 

Von dem Leben der einzelnen Zellen 
hängt das Leben der mehrzelligen höheren 
Organismen und auch des Menschen ab. Be¬ 
ginnen die Zellen eines lebenswichtigen Or¬ 
gans zu altern, so dass sie ihre Funktionen 
nicht mehr gehörig ausüben können, so wird 
gleich der ganze Zellenstaat in Mitleidenschaft 
gezogen. Hat z. B. die Leistungsfähigkeit der 
Muskelzellen des Herzens nachgelassen, so 
hat der ganze Organismus die Folgen zu 
tragen; sind in diesem schon andere Organe 
altersschwach, *) so werden diese nun auch 
noch unter ungünstige Lebensbedingungen 
gebracht, so dass hier und dort in den Zellen 
eines wichtigen Organs die Lebensuhr zum 
Stehen kommt, womit der allgemeine Tod des 
Organismus eingeleitet wird. 

’) Solche „senile Atrophie“, welche eine allbe¬ 
kannte Erscheinung ist, tritt bald an den Lungen 
zuerst auf, bald am Darm, an den Nieren, am 
Zentralnervensystem etc. 


Dass neben den natürlichen Todesursachen 
auch äussere Schädigungen wohl meistens 
mitwirken, bedarf keiner weiteren Ausführung. 
Nur Ober die Abnutzung mögen noch ein 
paar Worte Platz finden. Dass die lebendige 
Substanz selbst eine Abnutzung nach Art einer 
Maschine erfahre, ist völlig abzuweisen. Der 
sonstwohi brauchbareVergleich des Organismus 
mit einer Maschine ist hinsfchtlich des uns be¬ 
schäftigenden Problems ein ganz schiefer; da 
die Teile der lebendigen Substanz sich meist 
innerhalb kurzer Zeit erneuen, so können sie 
sich nicht infolge von dauerndem Gebrauche 
abnutzen, wie die lang in Thätigkeit befind¬ 
lichen Maschinenteile. Eine Abnutzung in 
letzterem Sinne liegt dagegen vor, wenn mit 
den Jahren infolge des Blutdruckes die 
Elastizität der Arterienwände ein wenig ab¬ 
nimmt (Cohnheim) und auf Grund der 
wiederholten Dehnungen während des Atmens 
die Scheidewände der Lungenbläschen gewisse 
Veränderungen erleiden, wie sie bei beträcht¬ 
licherer Ausbildung die Krankheit des Lungen¬ 
emphysems auszeichnen. Den genannten Ab¬ 
nutzungserscheinungen, zu denen sich viel¬ 
leicht noch einige weitere hinzugesellen mögen, 
kann indes unter den Ursachen des natürlichen 
Todes immer nur eine sehr untergeordnete 
Rolle zugewiesen werden. 


Die Botanik im vergangenen Jahre. 

Von Dr, A. Nestler. 

Die Anzahl der zur Veröffentlichung ge¬ 
langenden Untersuchungen auf dem Gesamt¬ 
gebiete der Botanik und somit die Litteratur 
dieses Wissenszweiges steigert sich von Jahr 
zu Jahr in ausserordentlicher Weise, was 
schon daraus erkannt werden kann, dass die 
nur referierenden Zeitschriften beständig an 
Umfang und beständig an Kostenpreis zu¬ 
nehmen. SohiXz.'B. „Jusfs botanischer Jahres¬ 
bericht'* in dem letzten Jahre nicht weniger 
als rund 5300 Schriften besprochen, welche 
Zahl heuer wahrscheinlich auf 6000 steigen 
dürfte. Ebenso bringt das „botanische Zentral¬ 
blatt" jährlich Ober die Arbeiten des In- und 
Auslandes eine grosse Zahl mehr oder min¬ 
der kurzer Referate, in welchen alle Zweige 
der Botanik besprochen werden: die Ana¬ 
tomie, Physiologie, Systematik, Phaenologie, 
Paläontologie, die medizinisch - pharmazeut¬ 
ische Botanik u. s. w. — Das vornehmste 
Blatt dieser Wissenschaft, die botanische Zeit¬ 
ung, Welche bereits seit dem Jahre 1843 be¬ 
steht, enthält neben gediegenen Original¬ 
arbeiten auch kritisierende Referate, aber nur 
über die bedeutenderen Forschungen. — Ob- 


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Nestler, Die Botanik im vergangenen Jahre. 


439 


wohl die „österreichische botanische Zeitschrift** 
sich in ihrer „Litteratur-Übersicht“ vor¬ 
herrschend mit jenen Werken befasst, die in 
Österreich-Ungarn erscheinen oder auf die 
Flora dieses Gebietes direkt oder indirekt 
Bezug haben, so führt dieselbe trotz dieses 
beschränkten Gebietes für 1896 nicht weniger 
als nahezu 600 Werke an. 

Aus diesen wenigen Angaben Ober einige 
periodisch erscheinende Zeitschriften geht 
zur Genüge hervor, dass es ganz unmöglich 
ist, alle wertvollen Thatsachen eines einzigen 
Jahres im Rahmen einer Übersicht auch nur 
kurz zu erwähnen und einem weiteren Leser¬ 
kreise in verständlicher Form zugänglich zu 
machen. 

Es sollen daher nur jene Werke und 
Forschungen hervorgehoben werden, welche 
gewisse Erscheinungen von weitgehender Be¬ 
deutung behandeln. 

Da ist zunächt die alte, schon so oft von 
verschiedenen hervorragenden Botanikern 
(Böhm, Sachs, Strassburger u. a. m.) behan¬ 
delte und noch immer nicht endgiltig ent¬ 
schiedene Frage zu erwähnen, durch welche 
Kräfte das Wasser, ohne welches keine Pflanze 
existieren kann, bis in die höchsten Gipfel 
der Bäume gehoben wird. Alle bisher zur 
Erklärung dieser merkwürdigen Erscheinung 
angeführten Ursachen, der Wurzeldruck, der 
Luftdruck, das Aufsteigen in den capillaren 
Gängen des Holzes, eine osmotische Beweg¬ 
ung von Zelle zu Zelle u. a. erwiesen sich 
als ungenügend. Nun hat Askenasy diese 
Frage so behandelt: Durch die Sonnenwärme 
wird die Wasserverdampfung der Blätter be¬ 
wirkt; diese Wasserabgabe geschieht bekannt¬ 
lich vorherrschend durch die sogenannten 
Spaltöffnungen der Blätter, welche die Thore 
weiter, das Blatt durchziehender Kanäle dar¬ 
stellen. Während nun die diese Luftkanäle 
begrenzenden Zellen Wasser durch Verdunst¬ 
ung abgeben, wird gleichzeitig aus den be¬ 
nachbarten Zellen durch die Zellwände neues 
Wasser aufgesaugt. Der auf diese Weise ent¬ 
standene Zug setzt sich von Zelle zu Zelle 
fort bis zu den Wasserleitungsbahnen in den 
Blattadern und von da weiter durch die 
Zweige und den Stamm, bis zu den Wurzeln, 
welche das Wasser aus der Erde aufnehmen. 
— Diese Erklärung bekräftigt Askenasy durch 
einen sehr hübschen Versuch: ein langes 
Gläsrohr, das an dem einen Ende trichter¬ 
förmig gestaltet ist, wird mit ausgekochtem 
Wa^er gefüllt; der Trichter selbst ist mit 
Gips ausgegossen und vertritt die trans¬ 
pirierenden Blätter eines Baumes: das andere 
Ende des Rohres taucht in Quecksilber. Wäh- 

•). Verhandlungen des naturh. mediz. Vereins zu 
Heidelberg 1895 u. 1896. 


rend nun das Wasser an der Oberfläche des 
Gipses verdunstet, steigt das Quecksilber in 
der Röhre empor und zwar unmittelbar bis 
an den Gipskegel. — Auf diese Weise Hesse 
sich das Aufsteigen des Wassers in den 
Bäumen sehr schön erklären, wenn auch hier 
ununterbrochene Wassersäulen, wie in dem 
Glasröhre, vorhanden wären. Das ist aber 
nicht der Fall. Dessenungeachtet hat die An¬ 
sicht Askenasy’s sehr viel für sich, weil es 
nicht unbedingt notwendig zu sein scheint, 
dass in den einzelnen Wasserleitungsbahnen 
der Gewächse ununterbrochene Wassersäulen 
existieren I es ist denkbar, dass, wenn hier 
und da Luftblasen Vorkommen, eine seitliche 
Verbindung des Wassers von Zelle zu Zelle 
zur Wirkung gelangt. 

Über die Bedeutung des häufig vorkom¬ 
menden Blattrotes — man denke an die Blut¬ 
hasel, Blutbuche, an den Rotkohl etc. — 
waren die Meinungen ebenfalls sehr geteilt. 
Die Einen hielten im Hinblick auf die Scheu 
vieler Tiere vor der blutroten Farbe das 
Blattrot für ein Schutzmittel gegen die Angriffe 
pflanzenfressender Tiere, andere für einen Licht¬ 
schirm gegen den zerstörenden Einfluss der 
direkten Sonnenstrahlen auf das Blattgrün; hoch 
andere meinen, dass das Blattrot die Fähigkeit 
habe, die Wärme zu absorbieren und den 
betreffenden Pflanzenorganen nutzbar zu 
machen. Nun hat StahP) durch viele..Ver- 
suche mit Nagern und Wiederkäuern gezeigt, 
dass die Tiere wohl die grünen Blätter be¬ 
vorzugen, im hungrigen Zustande aber rote 
und nicht rote Pflanzen ohne Auswahl fressen. 
Mit Hilfe der Thermoelektrizität gelang es 
ihm zu konstatieren, dass die roten Stellen 
der Blätter sich rascher und im Maximum 
um 1.6*'C. stärker erwärmen, als die grünen. 
Das Blattrot soll somit im Dienste der 
Wärraeabsorption stehen, wodurch der Pflanze 
ein Mittel an die Hand gegeben ist, die 
Lebensvorgänge, das sind die Stoff- und 
Kraftwechselprozesse, zu beschleunigen. 

Ein grosses Interesse wird seit einer 
Reihe von Jahren dem Studium des Zell¬ 
kerns zugewendet, ja es giebt Botaniker, 
welche sich fast ausschliesslich mit diesem 
Gebilde beschäftigen, das mit Ausnahme von 
wenigen niederen Organismen bisher in jeder 
lebenden Zelle nachgewiesen werden konnte. 
Ob bei den Spaltalgen und Bakterien Zell¬ 
kerne Vorkommen, muss nach den bisherigen 
Untersuchungen als zweifelhaft bezeichnet 
werden. • Alle bis ungefähr Mitte 1896 ge¬ 
machten Beobachtungen bezüglich der Gestalt, 
der chemischen Zusammensetzung, der Funk¬ 
tion und anderer Eigenschaften des Zellkerns 

*) Annales du Jardin botanique de Buitenzorg 
1896. 


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440 


Nestler, Die Botanik im vergangenen Jahre. 


hat Zimmermann in einer kritischen Lit- 
teraturstudie zusammengefasst und auch die 
Kerne der tierischen Zellen in vergleichende 
Betrachtung gezogen. Bezüglich der Funktion 
des Zellkerns wurde kürzlich im Pfeffer’schen 
Institute zu Leipzig eine sehr wichtige Ent¬ 
deckung gemacht: es wurde nachgewiesen, 
dass die wichtigste Substanz einer jeden le¬ 
benden Zeile, das Zellplasma, nur dann eine 
Zellmembran zu bilden vermag, wenn das¬ 
selbe direkt oder indirekt durch Plasmafäden 
mit einem Zellkerne in Verbindung steht. Es 
geht also vom Zellkerne eine ganz bestimmte 
Reizwirkung aus, welche unter Umständen 
durch feine, den Nerven vergleichbare Plasma¬ 
fäden auf eine kernlose Plasmamasse über¬ 
tragen werden kann. 

Was die Ernährung der höheren Pflan¬ 
zen anbelangt, so weiss man längst auf 
Grund von Experimenten, insbesondere 
mit Wasserkulturen, dass dieselben unbe¬ 
dingt lo Elemente brauchen, unter denen 
sich auch das Calcium befindet. Die Algen 
verhalten sich ebenso, soweit man dieselben 
geprüft hat, mit Ausnahme von einigen we¬ 
nigen Süss wasserformen, welche, wie M o 1 i s c h ®) 
nacKgewiesen hat, merkwürdiger Weise des 
Calciums entbehren können. Auch konnte der¬ 
selbe Forscher feststellen, dass die Süss- 
Wasser-Algen nur in einer solchen Nährlösung 
gut gedeihen, welche rotes Lackmuspapier 
blau färbt (also alkalische Reaktion zeigt). 
Dadurch wird es erklärlich, dass natürliche 
Gewässer mit Algenvegetation alkalisch re¬ 
agieren. Die Bedingungen der Kultur und der 
geschlechtlichen und ungeschlechtlichen Fort¬ 
pflanzung einiger niederen Algen und Pilze 
sind von Klebs (Jena 1896) auf Grund jahre¬ 
langer Untersuchungen und Experimente in 
einer umfangreichen Arbeit zusammengefasst 
worden, so dass jedem, der sich tiefer mit 
dem Leben dieser niederen Pflanzen beschäf¬ 
tigt, trefTliche Anleitung zum Experimentieren 
und Anregung zu weiteren Untersuchungen 
geboten wird. — Was die neueren Forsch¬ 
ungen über die Gewinnung des Stickstoffes 
betrifft, so kann auf den kürzlich in diesem 
Blatte (No. 13) erschienenen Artikel „Der 
Stickstoff und diePflanzen“ hingewiesen werden. 

Wenn man bedenkt, dass die chemische 
Wirkung des Sonnenlichts für das Pflanzen¬ 
leben von der allergrössten Bedeutung ist — 


*) Die Morphologie und Physiologie des pflanz¬ 
lichen Zellkerns. Jena 1896. 

*) Pfeffer, Über den Einfluss des Zellkerns 
auf die Bildung der ZeUhauL Berichte der matheni.- 
phys. Klasse der kgl. sächs. Ges. der Wissensch. 
zu Leipzig. 

•) Die Ernährung der Algen. Sitzungsber. der 
kais. Akadem. Wien. 1896. 


ich erinnere daran, dass der so überaus 
wichtige grüne Farbstoff, das Chlorophyll 
oder Blattgrün, sich nur bei Gegenwart des 
Lichtes bildet; die Gewinnung des Kohlen¬ 
stoffes aus der Kohlensäure der atmosphär¬ 
ischen Luft geht nur unter der chemischen 
Wirkung des Lichtes vor sich; die Gewinn¬ 
ung des Stickstoffes aus stickstoffhaltigen an¬ 
organischen Substanzen und die Überführung 
desselben in organische Verbindungen wird 
(nach Laurent *) durch Einfluss der ultra¬ 
violetten Lichtstrahlen hervorgebracht — so 
wird man der von Wiesner durchgeführten 
Untersuchung über das photometrische Klima 
von Wien, Buitenzorg und Kairo *) eine grosse 
Bedeutung zusprechen müssen. Aus dieser 
umfangreichen Arbeit ist zu erkennen, dass 
die grösste chemische Lichtintensität in Wien 
etwas geringer ist, als in Buitenzorg; das 
Tagesmaximum derselben fallt in Wien auf 
den Mittag oder in die Nähe des Mittags, in 
Buitenzorg auf die späteren Vormittagsstun¬ 
den. Die Januar-Lichtsumme in Buitenzorg 
gleicht etwa der des Juni in Wien. Die bis¬ 
her angenommene grosse, mit der Annäher¬ 
ung an den Äquator eintretende Steigerung 
der Lichtsumme trifft thatsächlich nicht zu. 

Das Studium der Bakterien, welches noch 
vor kurzer Zeit fast ausschliesslich von Me¬ 
dizinern gepflegt wurde, wird nun auch, wenn 
auch vorläufig nur vereinzelt, von Botanikern 
mit Interesse gehandhabt, und mit Recht, da 
diese kleinen Lebewesen von der grössten 
physiologischen Bedeutung sind. — Man denke 
nur an das merkwürdige Zusammenleben von 
Bakterien und Leguminosen. Die heutige 
Bakteriologie hat nach Mez®) 1600 — 1700 
lateinische Namen, welche ungefähr 600 ver¬ 
schiedenen Arten zukommen; die Unterscheid¬ 
ung derselben ist, wie leicht einzusehen, oft 
sehr schwer. Es dürfte daher das kürzlich 
erschienene, sehr instruktive Werk von Leh¬ 
mann und Neu mann „Atlas und Grundriss 
der Bakteriologie und Lehrbuch der speziellen 
bakteriologischen Diagnostik (München 1896) 
Vielen sehr erwünscht sein. Zu jeder der 
hier behandelten Formen gehört eine (bis¬ 
weilen auch mehrere) kolorierte Tafel, auf 
welcher die verschiedensten Arten der Kul¬ 
turen, Stichkultur, Strichkultur, Agarstrich¬ 
kultur, Gelatine-Platte, Kartoffelkultur und 
mikroskopische Präparate bei starker Ver- 
grösserung dargestellt sind. — Auch das be¬ 
kannte vortreffliche Werk von Flügge „Die 


‘) Bull, de l’Acad. roy. de Belgique, 3 serie, 
Tome XXXII 1896. 

*) Denkschriften der kais. Akademie der Wissen¬ 
schaften. Bd. LXV. 

•) Botanisches Zentralblatt Bd. LXXVIII No. 7. 


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Nestler, Die Botanik im vergangenen Jahre. 


441 


Mikroorganismen'* ist in völlig umgearbeiteter 
Auflage (Leipzig 1896) erschienen. 

Es ist entschieden als eine erfreuliche 
Thatsache zu bezeichnen, dass die „scientia 
amabilis“, wie die Botanik zu Zeiten, Rousseau’s 
genannt wurde, unter den Laien immer mehr 
Anhänger gewinnt, indem mit vollem Rechte 
allmählich der Satz zur Geltung kommt, dass 
die Kenntnis vom Leben der Pflanzen ebenso 
zur allgemeinen Bildung gehört, wie die Welt» 
geschichte, die Litteratur, die Philosophie, 
Staats- und Kulturgeschichte. Diesen Ge¬ 
danken spricht F. Cohn in der Vorrede zu 
der 2. Auflage seines schönen, populären 
Werkes »Die Pflanze** aus, das in der ange¬ 
nehmsten Weise Ober die Fortschritte der 
Botanik in den letzten Jahren Aufklärung 
verschafft. — Auch das Erscheinen der 2. 
Auflage des trefflichen, für weitere Kreise 
bestimmten Werkes »Das Pflanzenleben** von 
Kerner V. Marilaunist ein weiterer Beweis 
für das Interesse, das unserer Wissenschaft 
entgegengebracht wird. 

Die Aufgabe der Physiologie ist seit ihrem 
Bestände stets dieselbe geblieben, indem sie 
die Lebenserscheinungen der gesamten Pflan¬ 
zenwelt durch Beobachtung und E.xperiment 
zu erkennen und die dabei wirksamen Kräfte 
aufzufinden strebt. Dass sie der Kenntnis des 
inneren Pflanzenbaues nicht entbehren kann, 
ist leicht einzusehen, wenn man bedenkt, dass 
jeder, der' einen richtigen Einblick in den 
Gang einer Maschine gewinnen will, zunächst 
über die Form und die gegenseitige Lager¬ 
ung der einzelnen Teile derselben im Klaren 
sein muss. So hängen die Fortschritte der 
Physiologie zunächst von denen der Ana¬ 
tomie ab, welche durch Vervollkommnung 
der Mikroskope wesentlich gefördert wurde, 
ferner von dem Aufschwünge der Physik und 
ganz besonders der Chemie, ohne welche ein 
Verständnis der Lebensvorgänge eines pflanz¬ 
lichen wie eines tierischen Organismus nicht 
möglich ist. Und wenn man bedenkt, dass 
auch die Bedeutung der Bakteriologie für 
die Physiologie von Jahr zu Jahr, zunimmt, 
was bereits oben kurz angedeutet wurde, so 
ist daraus einerseits das Zusammenwirken ver¬ 
schiedener Wissenschaften zur Lösung der¬ 
selben Aufgaben leicht ersichtlich, andererseits 
geht daraus hervor, welche grossen Anfor¬ 
derungen heutzutage an eine erfolgreiche 
ph3'siologische Forschung gestellt werden. — 
Der Systematiker hat das Ziel seiner Bestre¬ 
bungen im Vergleiche zu früheren Jahren 
bedeutend höher gestellt. Das blosse Anhäufen 
von Tausenden getrockneter Pflanzen, das 
Beschreiben derselben und Einregistrieren in 
Büchern wird schon lange nicht mehr als 
eigentliche, wissenschaftliche Arbeit angesehen; 


die grossen Herbarien sind nur Mittel zu 
einem höheren Zwecke, sie Werden stets un¬ 
entbehrliche, kostbare Behelfe zur Lösung 
jener Aufgabe sein, die als Ziel sich die Er¬ 
forschung der Entwickelung der Pflanzenwelt 
gesetzt hat. Dass eine schrittweise Entwicke¬ 
lung der Pflanzenformen im Laufe vieler Jahr¬ 
tausende vor sich gegangen ist, lehren uns 
unzweifelhaft die in den verschiedenen alten 
Schichten der Erdkunde aufgefundenen Pflan¬ 
zenreste; doch wie dieser Entwickelungsprozess 
stattgefunden hat, wie neue Arten sich gebildet 
haben, das wird aus diesen toten Resten nicht 
klar, sondern kann nur durch das Studium 
der jetzt lebenden Pflanzen, besonders durch 
die Aufdeckung der Beziehungen zwischen 
den auf die Pflanzen der Jetztwelt einwirken¬ 
den Faktoren und die Verbreitung jener (d. i. 
durch Verbindung der Biologie mit der 
Pflanzengeographie *) beantwortet werden. 
Warming*) nimmt an, dass „jede Pflanze 
eine besondere, angeborene Kraft oder Fähig¬ 
keit habe, sich an die gegebenen neuen Ver¬ 
hältnisse direkt anzupassen, d. h. auf eine für 
das Leben nützliche Weise in Übereinstim¬ 
mung mit den neuen äusseren Lebensbedin¬ 
gungen zu variiren“. — Von Wettstein*) 
wurde für die Artenbildung der Gattung 
Gentiana Bastardbildung, direkte Anpassung 
an Gebiete mit verschiedenen Existenzbedin¬ 
gungen und ein „Faktor“ erkannt, der als 
„Saisondimorphismus“ zuerst von Wallace 
für die Tierwelt angewendet worden ist. 
Dieser Ausdruck wird sofort aus Folgendem 
klar: 

Einzelne Arten haben sich im Laufe eines 
relativ kurzen Zeitraumes in zwei Arten ge¬ 
gliedert, in eine früh- und in eine spätblühende; 
die einen wachsen rasch empor über die dieselben 
umgebenden Pflanzen und trachten vor einem 
gewissen Zeitpunkte zu blühen und Früchte 
zu tragen; die anderen wachsen sehr langsam 
und werden bald von den benachbarten Pflanzen 
im Wachstum überflügelt; sie trachten eben 
erst nach einer gewissen Zeit ihre Entwick¬ 
lung zu vollenden. Dieser Zeitpunkt ist nach 

*) Neuere pflanzengeographische Werke: O. 
Drude, Deutschlands Pflanzengeographie. Ein 
geographisches Charakterbild der Flora von Deutsch¬ 
land und der angrenzenden Alpen- sowie der Kar- 
athenländer. I. Th. Stutt^rt 1896. — M. Will- 
omm. Grundzüge der Pflanzenverbreitung auf 
der iberischen Halbinsel. I. Bd. des Sammelwerkes: 
„Die Vegetation der Erde“ von A. Engler und 
O. Drude. Leipzig 1896. 

*) Lehrbuch der oekologischen Pflanzengeo¬ 
graphie. Eine Einführung in die Kenntnis der 
Pflanzenvereine. Berlin 18^. 

®) Die europäischen Arten der Gattung Gentiana 
und ihr entwickelungsgeschichtlicher Zusammenhang 
(Denkschriften der kais. Akad. d. Wiss. in Wien 
1896.) 


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44* 


Königin Victoria vor 6o Jahren. 


Wettstein <) der Höhepunkt in der Entwickelung 
der mitteleuropäischen Wiesen und die damit 
zusammenhängende erste, allgemeine Heu¬ 
mahd. Die beiden Arten mit ihren jetzt 
konstanten Eigentümlichkeiten im Baue und 
der Lebensweise haben sich durch Zuchtwahl 
im Sinne Darwins aus einer Art entwickelt, 
welche ursprünglich im Sommer blühte. Es 
ist leicht einzusehen, dass in Folge der ge¬ 
nannten Einflüsse nur solche Individuen mit 
allen ihren besonderen, erblichen Eigenschaften 
sich dauernd erhalten konnten, die aus irgend 
welchen unbekannten, inneren Ursachen vor 
oder nach jenem kritischen Zeitpunkte zur 
völligen Ausbildung gelangten. Nicht allein 
für einige Enziane, sondern auch für Pflanzen 
anderer Gattungen wurde die in historischer 
Zeit auf die angegebene Weise vor' sich ge¬ 
gangene Neubildung von Arten nachgewiesen. 


Königin Victoria vor 6o Jahren. 

Am 22. Juni feiert die Königin Victoria 
das 60 jährige Jubiläum ihres Regierungs¬ 
antritts. Der Tag wird in England und seinen 
Kolonien mit beispielloser Festlichkeit be¬ 
gangen. — Man muss der greisen Herrscherin 
lassen, dass es ihr gelungen ist, die Bedeutung, 
die sich England im letzten Jahrhundert er¬ 
worben hat, zu erhalten und teilweise sogar 
noch zu mehren. — Wenn England auch in 
den letzten Jahren in seiner Politik manchmal 
nicht die glückliche Hand hatte, wie früher, 
so ist das einerseits der grösseren Aktivität 
Russlands zuzuschreiben, andererseits dem 
Zufall, dass gerade in den wichtigsten Zeiten 
keine Minister an der Spitze der Regierung 
waren, die der Leitung der auswärtigen An¬ 
gelegenheiten sich voll gewachsen zeigten. — 
Die Königin ist ja in England nur die Re¬ 
präsentantin, eine wesentliche direkte Beein¬ 
flussung der Regierungsangelegenheiten steht 
ihr nicht zu; je w'eniger sie selbst hervortritt, 
um so besser. Es gehört eine ungewöhnliche 
Selbstverleugnung dazu, an der Spitze des 
grössten und bedeutendsten Landes der Welt 
zu stehen, ohne seine Person auch nur im 
geringsten leuchten zu lassen. Diesen Takt 
muss man bei der Königin Victoria rühmen; 
es ist wichtiger, das anzuerkennen, was sie 
nicht that, als was sie that. — Dabei hat sie 
ihre Regierungs- und Repräsentationspflichten 
bis in ihr hohes Alter treu erfüllt. — Es ist 
ganz besonders interessant für uns, dass die 


*) Der Saisondimorphismus als Ausgangspunkt 
für die Bildung neuer Arten im Pflanzenreiche. 
(Berichte der deutschen botan.' Gesellschaft, Band 
XIII, H. 7.) 


Charktereigenschaften, die wir heute aner¬ 
kennen müssen, klares Erkennen, Takt und 
hohes Pflichtgefühl schon dem achtzehnjährigen 
Mädchen eigen waren. Zweifellos wird es 
unsere Leser interessieren, die Beschreibung 
zu lesen, die Mc. Carthy in seiner „Ge¬ 
schichte unserer Zeit" (A history of our own 
times) von der Thronbesteigung der jungen 
Königin giebt, besonders auch, wie die Männer, 
die sie bei ihren ersten Regierungsakten 
sahen, über ihr Benehmen urteilten; *) 

Wilhelm IV. (der dritte Sohn Georgs III.) 
hatte keine Kinder hinterlassen, die ihm auf 
den Thron hätten folgen können; die Krone 
ging deshalb auf die Tochter seines Bruders, 
des Herzogs von Kent über. Dies war die 
[Prinzessin Alexandrina Victoria, welche in 
Kensington Palace am 24. Mai 1819 geboren 
war. 

Die Prinzessin war also etwas Ober 18 Jahre 
alt. Der Herzog von Kent starb einige Mo¬ 
nate nach der Geburt seiner Tochter und das 
Kind wurde unter der Obhut seiner Mutter 
auf das Beste erzogen. Sowohl auf die 
Heranbildung der geistigen, wie der sittlichen 
Eigenschaften wurde der grösste Wert gelegt. 
Man hielt sie zur Selbständigkeit an, zu 
sj'stematischem Arbeiten und zur Ordnung, zu 
Vorsicht und Sparsamkeit, gerade als ob sie 
arm wäre. 

Man legt gewöhnlich dem/> Was zeitge¬ 
nössische Geschichtsschreiber über die Erzie¬ 
hung von Prinzen oder Prinzessinnen sagen, 
wenig Wert bei; es ist aber sicher, dass 
die Prinzessin Victoria vernünftig und gut 
erzogen wurde. 

„Der Tod des Königs von England hat 
überall die grösste Bewegung hervorgerufen. 
Cousine Victoria soll sich musterhaft benom¬ 
men haben. Sie übernimmt eine schwere 
Verantwortung, besonders jetzt, wo alle Par¬ 
teien so erregt sind und alle Hoffnung auf 
ihr ruht!" — Diese Worte sind ein Auszug 
aus einem Brief vom 4. Juli 1837, den Prinz 
Albert, der spätere Gemahl der Königin, an 
seinen Vater von Bonn aus schrieb. 

Die junge Königin hatte sich in der That 
sehr besonnen gezeigt. Miss Wynn giebt 
eine hübsche Beschreibung, wie die junge 
Herrscherin die Mitteilung ihrer Thronbestei¬ 
gung erhielt. Der Erzbischof von Canterbury, 
Doktor Howley und Lord Chamberlain, der 
Marquis von Conyngham, kamen von Windsor 
nach dem Kensington Palace, wo die Königin 
Victoria wohnte, um ihr den Tod des Königs 
anzuzeigen. Es war zwei Uhr morgens, als 
sie wegfuhren und erst um fünf Uhr kamen sie 
nach Kensington. „Sie klopften, sie schellten. 


*) Übersetzt von Marie Bechhold. 


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Königin Victoria vor 6o Jahren. 


443 


und es dauerte geraume Zeit^ bis endlich der 
Portier am Thor erschien; wieder mussten sie 
im Hof warten, dann führte man sie in einen 
der unteren Räume, wo man sie offenbar-ver- 
gass. — Wieder schellten sie und verlangten 
nach der Kammerzofe der Prinzessin Victoria, 
um Ihrer königlichen Hoheit mitzuteilen, dass 
sie- eine Audienz in einer höchst wichtigen 
Angelegenheit wünschten. Nach weiterem 
Warten und wiederholtem Schellen erschien 
die Kammerzofe mit der Mitteilung, die Prin¬ 
zessin ruhe in so süssem Schlummer, dass 
sie sie unmöglich stören könne. Sie sagten 
darauf: wir sind in Staatsangelegenheiten zu 
der Königin gekommen und selbst Ihr Schlaf 
muss dem weichen. Es geschah; und um zu 
zeigen, dass sie nicht warten lassen wollte, 
erschien sie nach wenigen Minuten in einem 
losen Nachtgewand und Shawl, das Haar 
offen über die Schulter fallend, in Pantoffeln, 
mit feuchten Augen aber vollkommen gesam¬ 
melt und würdevoll. — Es wurde jetzt nach 
dem Premierminister Lord Melbourne geschickt 
und eine Sitzung des Staatsrats auf ii Uhr 
zusammenberufen, darauf Hess der Lord 
Kanzler die Königin den üblichen Eid schwören 
und umgekehrt erhielt Ihre Majestät den Treue¬ 
eid der Kabinetminister und anderer Mit¬ 
glieder des Staatsrats. Mr. Greville, der im 
allgemeinen wenig enthusiastische Bewun¬ 
derung ftir königliche Personen zeigte, hat die 
Scene in bewegten Worten beschrieben. 

„Der König starb zwanzig Minuten nach 
zwei gestern morgen und die junge Königin 
beriet mit dem Staatsrat in Kensington Palace 
um II Uhr. Nichts ähnelt dem ersten Ein¬ 
druck, den sie hervorrief oder dem Beifall 
und der Bewunderung, der sich Ober ihre Art 
und ihr Benehmen erhob, sicherlich nicht mit 
Unrecht; er war ganz aussergewöhnlich und 
übertraf alles, was man je früher gesehen 
hatte. Sie war so jung und unerfahren und 
die Welt wusste so wenig von ihr, man war 
daher ausserordentlich neugierig, wie sie diese 
Probe bestehen würde; es hatte sich deshalb 
eine erhebliche Menge im Palast zusammen¬ 
gefunden, obgleich nur eine kurze Mitteilung 
gemacht worden war. Zunächst musste sie 
ihre Lektion lernen, die für diesen Zweck 
Melbourne erst selbst hatte lernen müssen. . . . 
Sie neigte sich vor den Lords, nahm ihren 
Sitz ein und las ihre Rede mit klarer, be¬ 
stimmter und vernehmbarer Stimme, ohne den 
geringsten Anflug von Furcht oder Verlegen¬ 
heit. Sie war in ganz einfacher Trauerkleidung. 
Nachdem sie ihre Rede verlesen hatte und 
der Eid für die Sicherheit der Kirche von 
Schottland geleistet und unterzeichnet war, 
wurden die Staatsräte vereidigt, zunächst die 
beiden königlichen Herzöge; als die beiden 


alten Männer, ihre Onkel, niederknieten, ihr 
Treue schwuren und die Hand küssten, sah 
ich, wie sie über und über errötete, wie wenn 
sie den Kontrast zwischen ihren staatlichen 
und natürlichen Beziehungen fühlte; es war 
dies das einzige Zeichen von Bewegung. Ihr 
Benehmen gegen sie war sehr anmutig und 
verbindlich; sie küsste sie beide, erhob sich 
von ihrem Stuhl und ging auf den Herzog 
von Sussex zu, der am entferntesten von ihr 
war und zu gebrechlich, um zu ihr zu gehen. 
Sie schien überrascht von der Menge Männer, 
die vereidigt wurde und die einer nach dem 
anderen herankamen, um ihre Hand zu küssen. 
Aber sie sprach zu keinem und machte auch 
nicht den geringsten Unterschied in ihrem Be¬ 
nehmen in Bezug auf Rang, Stellung oder 
Parteizugehörigkeit. Ich beobachtete sie be¬ 
sonders, als Melbourne und die Minister, der 
Herzog von Wellington und Peel zu ihr 
traten. Sie machte die ganze Ceremonie durch, 
sah gelegentlich auf Melbourne, um sich zu 
instruieren, wenn sie zweifelhaft war, was sie 
thun sollte — was übrigens nur selten vorkam — 
und dies alles geschah mit vollkommenster 
Ruhe und Überlegung, zugleich aber mit an¬ 
mutiger Bescheidenheit und einem gewissen 
Geschick sich für jeden besonders zu inte¬ 
ressieren und ihn zu gewinnen." 

• Sir Robert Peel sagte zu Mr. Greville, 
dass er von ihrem Benehmen entzückt gQ,wesen 
sei, „besonders habe ihm ihre Bestimmtheit 
und die Art, wie sie ihre Stellung erfasst habe, 
grossen Eindruck gemacht“. Der Herzog von 
Wellington bemerkte in seiner geraden Art, 
„wenn sie seine eigne Tochter gewesen wäre, 
hätte er auch nicht wünschen können, dass 
sie ihre Rolle besser spiele“. „Um zwölf Uhr* 
sagt Mr. Greville, „hielt sie eine Sitzung ab, 
bei der sie den Vorsitz führte und zwar mit 
einer Sicherheit, wie wenn sie in ihrem Leben 
nie was andres gethan hätte; und obgleich 
Lord Lansdown und mein Kollege absichtlich 
mit den Sitzungsakten etwas Konfusion ge¬ 
macht hatten, Hess sie sich doch nicht irre 
machen. Sie sah sehr nett aus und obgleich 
ziemlich klein, und ohne eigentlich schön zu 
sein, machten doch ihr anmutiges Benehmen 
und ihre Haltung eine angenehme Erscheinung 
aus ihr. Durch ihre Jugend flösst sie jedem, 
der sich ihr nähert, grosses Interesse ein, ein 
Interesse, das, ich kanns nicht leugnen, ich 
selbst fühle .... Kurz, sie handelt in jeder 
Beziehung mit Takt und gesundem Verstand. 
So weit sich bis jetzt beurteilen lässt, macht 
sie einen äusserst günstigen Eindruck und 
ihre Art und ihr Benehmen versprechen das 
Beste. „Doch“ fügte Mr. Greville vorsichtig zu, 
„wäre es voreilig, zu sehr auf ihr Urteil und auf 
ihren Takt in wichtigeren Dingen zu rechnen". 




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444 


Königin Victoria vor 6o Jahren. 


Das Interesse oder besser die Neugierde, 
mit der die junge Königin beobachtet wurde, 
war um so grösser, als die Welt nur 
wenig von ihr wusste. Aber so ging es 
nicht nur der Welt im allgemeinen, sondern 
sogar den Staatsbeamten und Würdenträgern', 
die in engster Beziehung zu Hofkreisen 
standen. 

Nach Mr. Greville, der übrigens, ausser 
in Dingen, die er selbst sah, nicht zu genau 
genommen werden darf, war die junge Kö¬ 
nigin durch ihre Mutter vollkommen abge¬ 
schlossen von der Welt auferzogen worden 
— „so hatte sie nie,“ sagt er, „ausserhalb 
ihres Schlafzimmers übernachtet, noch war 
sie jemals mit irgend jemanden anders als 
Baronin Lehzen allein gewesen, so dass keiner 
von ihren Bekannten, keiner derer, die ihr 
in Kensington nahe stehen, nicht einmal die 
Herzogin von Northumberland, ihre Erzieherin, 
eine Idee davon haben, was sie ist oder was 
sie verspricht.“ — Es ging genug an dem Hof 
der beiden Souveräne vor, die vor Königin 
Viktoria auf dem Thron sassen, um die strenge 
Abschliessung zu rechtfertigen, die die Her¬ 
zogin von Kent für ihre Tochter wünschens¬ 
wert erachtete. Georg IV. ähnelte Karl II. 
von England, ohne dessen Bildung und Ta¬ 
lent, Wilhelm IV. war ein Friedrich Wilhelm 
von Preussen, ohne dessen Geist. Die Ma¬ 
nieren der Hofgesellschaft hatten einen An¬ 
strich, der, gelinde ausgedrückt, heutzutage 
kaum in einer Schankstube zu finden wäre. 
Man kann selbst die vorteilhaftesten Beschreib¬ 
ungen von Zeitgenossen, so weit sie die Ma¬ 
nieren am dortigen Hof betreffen, nicht lesen, 
ohne der Herzogin von Kent dankbar zu 
sein, dass sie ihre Tochter so wenig als mög¬ 
lich davon sehen Hess. 

Es wurde mit grossem Interesse bemerkt, 
dass die Königin sich vielfach „Viktoria" 
unterschrieben hatte und nicht, wie man er¬ 
wartet hatte, „Alexandrina Viktoria". Mr. 
Greville erwähnt in seinem Tagebuch am 
24. Dezember 1819, dass der Herzog von 
Kent seiner Tochter den Namen Alexandrina 
zu Ehren des Kaisers von Russland gab. Sie 
sollte eigentlich Georgiana genannt werden, 
aber der Herzog bestand darauf, dass ihr 
Hauptname Alexandrina sei. Der Regent 
(Georg IV.) sandte nach Lieven (dem russ¬ 
ischen Gesandten) und machte ihm viele 
Komplimente, en le persiflant, dass der Zar 
Pathe sei, gab ihm aber zu verstehen, dass 
der Name Georgiana hier zu Lande niemals 
an zweiter Stelle stehen dürfe und deshalb 
könne sie ihn überhaupt nicht tragen.“ Es 
war sehr klug, einfach den Namen „Viktoria" 
anzunehmen, mit dem keine unvorteilhaften 
Erinnerungen verknüpft waren. 


Wir wollen nicht auf eine detaillierte Be¬ 
schreibung all der Ceremonien eingehen, die 
mit der Thronbeschreibung der neuen 
Herrscherin verbunden waren. Der Prokla¬ 
mation der Königin, ihres erstmaligen Er¬ 
scheinens auf dem Thron im Hause der Lords, 
als sie persönlich das Parlament vertagte und 
des grossartigen Krönungsfestes am 28. Juni 
des folgenden Jahres sei nur mit diesen 
Worten gedacht. Wohl aber ist es unter 
allen den Erinnerungen an Hofceremonien 
und politischen Veränderungen erwähnens¬ 
wert, dass wenige Tage nach der Thronbe¬ 
steigung Mr. Montefiore zum Sheriff von 
London gewählt wurde, der erste Jude, der 
je zu diesem Amte berufen war und dass er 
von Ihrer Majestät zum Ritter geschlagen 
wurde, als sie am Lordmayors-Tag die City 
besuchte. Er war der erste Jude, der hierzu¬ 
lande von einer königlichen Hoheit geehrt 
wurde, seit der guten alten Zeit, wo könig¬ 
liche Hoheiten zwar Geld von Juden zu leihen 
geruhten, aber ihnen im Weigerungsfälle die 
Zähne ausziehen Hessen. Das Prinzip der 
religiösen Freiheit und Gleichheit, das 
mit zu dem Charakteristischsten der Königin 
Viktoria gehört, hätte kaum besser inauguriert 
werden können, als durch die Ehrenbezeug¬ 
ungen, die Fürstin und Stadt dem Sir Moses 
Montefiore erwiesen. 

„Die Thronbesteigung der Königin fiel 
in eine sehr ernste Zeit; nach innen und aussen 
hatte die neue Regierung schlechte Aussichten. 
Die beiden letzten Regierungen hatten nicht 
nur viel dazu beigetragen, das Gefühl der 
Anhänglichkeit an die Person des Herrschers 
zu lockern, sondern auch das allgemeine Ver¬ 
trauen in das monarchische Prinzip erschüttert. 
Das alte persönliche Regiment war unge¬ 
bräuchlich geworden, die echte konstitutionelle 
Regierung aber, wie wir sie kennen, war 
noch nicht versucht. Erst kurz zuvor war 
die Katholiken-Emanzipation gewährt wor¬ 
den. Soziale Unzufriedenheit herrschte fast 
überall. Wirtschaftlich zweckmässige Gesetze 
wurden allgemein noch wenig begriffen. 
Klasseninteressen standen sich schroff gegen¬ 
über. Jedermann war nicht nur ein selbst¬ 
süchtiger Parteinehmer, sondern man war auch 
fest überzeugt, dass jede andere Klasse der 
seinen feindlich gegenüberstehe und dass die 
natürliche Pflicht der Selbstverteidigung und 
Selbsterhaltung heische, dass man fest auf 
seinem Parteistandpunkt beharre." 

So Mc. Carthy; und wenn einst die Regierung 
der Königin Viktoria zu Ende geht, wird man 
mit diesem letzten Passus auch den Abschluss 
ihrer Regierungszeit charakterisieren können. 
Jene Gegensätze vermindern sich nur zeit¬ 
weilig, um dann mit um so grösserer Macht 


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Der zukünftige elektrische Betrieb der Eisenbahnen. 


445 


oft an anderer Stelle und zwischen andern 
Klassen wieder auszubrechen. Dr. B. 


Der zukünftige elektrische Betrieb der 
Eisenbahnen, 

der mit den von der preussischen Eisenbahn¬ 
verwaltung beschlossenen Versuchen auf der 
Strecke Berlin - Potsdam der Verwirklichung 
näher zu rücken beginnt, bietet dem Eisen¬ 
bahntechniker eine Fülle von Problemen, deren 
endgültige Lösung zwar erst die Praxis brin¬ 
gen wird, deren theoretische Erörterung aber 
gewiss ebenso interessant wie förderlich ist. 
Letzteres lässt sich von dem originellen Pro¬ 
jekt des Ingenieurs Max Schiemann mit 
Recht behaupten, das derselbe soeben in einer 
anregend und gemeinverständlich geschriebe¬ 
nen Broschüre *) dem Publikum unterbreitet. 

Schiemann gehtdavon aus, dassder elektrische 
Betrieb der Fernlinien sein Vorbild im Strassen- 
bahnverkehr haben wird, insofern als kurze 
Züge und schnelle Aufeinanderfolge derselben, 
die Regel bilden werden. Hierzu drängt nicht 
nur der Umstand, dass eine häufige Verbind¬ 
ung der Endpunkte für den allgemeinen Ver¬ 
kehr wichtiger ist als die gleichzeitige Be¬ 
förderung von vielen Reisenden, sondern auch 
die technische Rücksicht auf möglichste Ver¬ 
ringerung des Kraftbedürfnisses für einen Zug 
und möglichst gleichraässige Verteilung des 
Kraftverbrauches auf der ganzen Linie. 

Je geringer das Zugsgewicht, um so klei¬ 
ner die Elektromotoren, um so geringer der 
Strombedarf für den Zug, um so einfacher, 
sicherer und billiger die Stromzuleitung. Je 
kleinere Einheiten man in Verkehr setzt, 
desto sicherer und wirtschaftlicher ist auch 
der Betrieb, weil man die Schwankungen des 
Verkehrsbedürfnisses innerhalb eines Tages 
berücksichtigen kann, weil man sich diesen 
Schwankungen anschmiegen und ein günstigeres 
Verhältnis zwischen toter und Nutzlast er¬ 
halten kann. Kleine Zugeinheiten in kurzen 
Zwischenräumen bringen den weiteren Vor¬ 
teil mit sich, dass die Stromleitung in gleich- 
mässigerer Weise belastet wird, als wenn 
man lange schwere Züge befördert. Die Be- 
ahspruchung der Stromleitung und der Ma¬ 
schinen wird viel gleichförmiger, die Anlage 
wird rationeller arbeiten. 

Das geringere Gewicht des Zuges, der an 
und für sich um fast das ganze Lokomotiv- 


') Schiemann, Max. Elektrische Femschnell- 
bahnen der Zukunft. Populäre volkswirtschaftliche 
Eisenbahnskizze. Mit 6 Holzschnitten und i lithogr. 
Tafel. Gr. 8® (56 S.) 1897. Leipzig. Oscar Leiner. 
M. 1.50. 


gewicht, also um ca. 40 t leichter wird, bietet 
vor allem auch den Vorteil, dass eine spezifisch 
geringere Arbeitsleistung beansprucht wird, 
und dass alle diejenigen schädlich wirkenden, 
durch die hin und her bewegten Massen der 
Lokomotive bedingten Bewegungen der Dampf¬ 
lokomotive fortfallen und somit das Geleise 
durch die rotierenden Massen der Elektro¬ 
motoren wesentlich günstiger beansprucht 
werden. Es wird dadurch ermöglicht, auf dem 
heutigen Oberbau, welcher ft)r Dampfbetrieb 
an der Grenze seiner Leistungsfähigkeit an¬ 
gelangt ist, die grosse Geschwindigkeit von 
durchschnittlich 100 km in der Stunde ohne 
jedes Bedenken durchzuführen. Der so be¬ 
schriebene Zug erhält seinen elektrischen 
Strom durch direkte Leitung zugeführt, welche 
entweder neben dem Geleise erhöht, oder 
über dem Geleise oder nach anderen noch 
zu erfindenden Methoden an dem Bahnkörper 
entlang geführt wird. 

Die Umsetzung der Elektrizität durch die 
Motoren in mechanische Arbeit ist uns Allen 
bekannt. Die z. Z. in hoher Blüte stehenden 
Strassenbahnen lehren es uns täglich. Der 
Betriebsstrom wird durch sogenannte Kraft¬ 
stationen, die in der üblichen Weise mit 
Dampf betrieben werden, erzeugt. Dass man 
diese Kraftstationen zugleich mit Werken in 
Verbindung bringen wird, die an den Orten 
ihrer Aufstellung noch lukrative Nebenge¬ 
schäfte, wie Beleuchtung der Städte und Ort¬ 
schaften, Kraftabgabe an dieselben und andere 
der Elektrizität vorbehaltene Arbeitsgebiete 
mit übernehmen werden, ist zunächst anzu¬ 
nehmen und wird sich bei der Ausführung 
wohl immer befürworten lassen. Das Gesagte 
dürfte zunächst genügen, um auf die Be¬ 
schaffenheit der Betriebsmittel in grossen Um¬ 
rissen hinzuweisen. Wenn wir nun z. B. anneh¬ 
men wollen, dass solche aus3—4Wagen be¬ 
stehenden Züge dem durchschnittlich erprob¬ 
ten Verkehrsbedürfnisse zwischen Berlin und 
Köln genügen, so könnte der Vorschlag be¬ 
rechtigt sein, diese Züge von Berlin bis Köln 
glatt durchlaufen zu lassen, da weder ein 
Wasser- und Kohlennehnien der Lokomotive 
nötig ist, noch ein Auswechseln des Motor¬ 
wagens sich erforderlich macht, noch ein 
Fahrgast bei der guten leiblichen Bewirtung 
in den heutigen Harmonikazügen das Bedürf¬ 
nis empfinden wird, den Zug eher zu ver¬ 
lassen, als bis er an seinem Bestimmungsorte 
angelangt ist. Einem derartigen Zuge würde 
nichts im Wege stehen, die 590 km lange 
Strecke in kaum 6 Stunden zu durchlaufen, 
während heute der schnellste Zug 10 Stunden 
für diese Strecke benötigt. Nun berührt aber 
dieser Zug eine Menge Orte, deren Reisende 
ebenfalls an das Endziel oder einen Zwischen- 


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446 


Der zukünftige elektrische Betrieb der Eisenbahnen. 


punkt der Strecke Berlin-Köln auf dem 
schnellsten Wege gelangen wollen. Nach den 
heutigen Gepflogenheiten führt ein auf dem¬ 
selben Geleise fahrender Vorort- oder Per¬ 
sonenzug die Fahrgäste zu den grösseren 
Städten, welche der Schnellzug aufenthalt¬ 
nehmend berührt. An diesen Orten steigen 
die für den Schnellzug bestimmten Fahrgäste 
in denselben Über. Wenn man bedenkt, dass 
die Aufenthalte in dem schnellsten Zuge 
Berlin-Köln etwa ®/4 Stunden betragen, so 
liegt der Gedanke nahe, durch einen im elek¬ 
trischen Betriebe äusserst günstigen Zwischen¬ 
betrieb jeglichen Aufenthalt zu vermeiden. 
Da der elektrische Bahnbetrieb es leicht er¬ 
möglichen lässt, jede Wagenachse durch einen 
Elektromotor selbstbewegend zu machen, und 
da fernerhin die Regulierung eines Elektro- 


Aufenthalt seinem Endziel an der Landes¬ 
grenze oder der Reichshauptstadt entgegeneilt. 

Die Kurvengeleise sind unter sich so ver¬ 
bunden zu denken, dass Kreuzungen mit den 
Hauptgeleisen nicht stattfinden. Die durch¬ 
gehenden Hauptgeleise werden vielmehr nur 
mittels Unterführungen oder Überführungen 
(Tunnel oder Viadukt) überschritten. Das in 
der Figur punktierte Geleise stellt diese Ver¬ 
bindung dar. Auf den Kurvengeleisen ver¬ 
kehren Motorwagen, welche wir uns annähernd 
so konstruiert denken, wie die elektrischen 
Strassenbahnwagen. Vor allen Dingen sind 
diese Anschiebewagen in Länge, Gewicht und 
innerer Ausstattung so eingerichtet, dass sie 
zeitweise dem eigentlichen Fernzuge ange¬ 
hängt werden können, zum Zwecke, die in 
der Stadt angesammelten Fahrgäste während 



motors sehr fein die Geschwindigkeit ein¬ 
stellen lässt, um z. B. einen in Fahrt befind¬ 
lichen Zug langsam einzuholen und sich diesem 
anzukuppeln, finden wir in dieser Eigenschaft 
die Möglichkeit, die Fahrgäste aller Zwischen¬ 
stationen während der annähernd vollen Zugs¬ 
geschwindigkeit von loo km dem eigentlichen 
Durchgangszuge zu übermitteln. Zu dem 
Zwecke denken wir uns die von Berlin-Köln 
durchgeführte zweigleisige Strecke an allen 
nennenswerten Stationen mit Abzweiggeleisen 
eingerichtet, wie es durch die Figur näher an¬ 
gedeutet wird. Die in grossem Radius ab¬ 
gehenden Kurvengeleise führen in die Nähe 
der Stadt, können sogar innerhalb der Stadt 
in Strassengeleise oder Hochbahngeleise über¬ 
geführt werden, während auf dem geraden 
Geleise der Zug weiter fährt und ohne 


der Fahrt dem Durchgangszuge zu über- 
ftlhren. Es werden also die Stirnseiten dieses 
Wagens ähnliche Einrichtungen haben müssen 
wie die Stirnseiten des Fernzuges. Ferner 
wird man den Wagen mit Kuppelungen zu 
versehen haben, welche womöglich selbst- 
thätig bei Einholen und Berühren des voran¬ 
fahrenden Zuges sich in denselben einlegen, 
um ein sicheres Überführen der Fahrgäste 
mittelst einer fliegenden Verbindungsbrücke 
mit Lederbälgen und Geländern bewerkstel¬ 
ligen zu können. Hat dieser „Ortswagen“ die 
Fahrgäste des Ortes an den „Haupt-Fernzug“ 
abgegeben, so können andererseits die im 
„Haupt-Fernzuge“ befindlichen Fahrgäste, die 
in den betreffenden Zwischenstationen ab- 
steigen wollen, während der Fahrt auch von 
diesem „Anhängewagen“ oder „Anschiebe- 


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Der zukünftige elektrische Betrieb der Eisenbahnen. 


447 


wagen" aufgenommen werden, der nach Er¬ 
ledigung dieses Austausches vom Zuge los¬ 
gekoppelt wird und auf dem Kurvengeleise 
der nächsten Station rückwärts wieder in die 
betreffende Stadt zurückfährt. Dort werden 
die Fahrgäste in den einzelnen Strassen ver¬ 
teilt, ohne dass besondere Empfangsbauten 
nötig wären. Es würden sich bei dieser An¬ 
ordnung des Zugverkehres sogar die prunk¬ 
vollen Bahnhöfe in den Zwischenstationen 
vollständig erübrigen lassen. Man wird es 
in der Hand haben, die Hauptgeleise ausser¬ 
halb der Städte vorbeizufOhren und nur mit 
den Abzweiggeleisen das Stadtinnere zu be¬ 
rühren. Bei der gewählten Geleisanordnung 
wird es ermöglicht, dass ein und derselbe 
Anschiebewagen immer nur den Lokalver¬ 
kehr Zwischen zwei Stationen vermittelt und 
zwischen den betr. Stationen als Teil des 
Fernzuges fungiert. Zur Erläuterung diene 
das Folgende: Der Hauptzug mit dem ange¬ 
hängten Stationswagen komme aus Station A 
auf dem Geleise I und fahre nach B. Der 
Stationswagen wolle nach Station C ; er hängt 
sich daher am Kurvengeleise / ab und fährt 
rückwärts in die Station C ein. Nach Ab¬ 
setzen der Fahrgäste und Wiederaufnahme 
der Rückfahrgäste fährt der Einzelwagen auf 
dem punktierten Geleise nach der anderen 
Seite des Bahnkörpers, um durch das Kurven¬ 
geleise II zu gelangen und sich dem rück- 
fahrenden Efirnzuge bis nach der Station A 
anzuhängen, woselbst die gleiche UmVangier- 
ung erfolgt. Es hat dieses Fahrgäste-Über- 
ftlhrungs-System grosse Ähnlichkeit mit dem 
An- und Abbooten bei Schiffen und findet 
hierin einen uns nicht unbekannten Vergleich. 
Als Bahnbetrieb ist aber diese Art der Fahr¬ 
gast-Überführung vollständig neu und dürfte 
dadurch eine besondere Aufmerksamkeit ftlr 
sich in Anspruch nehmen. Eine Schwierigkeit 
liegt vielleicht nur in den selbstthätigen Kup¬ 
pelungen, für die ein Bedürfnis herrschen 
würde, während heute die Bestrebungen auf 
Konstruktion selbstthätiger Kuppelungen mehr 
einen Bequemlichkeitsgrund haben. Es ist 
eine alte Erfahrung, dass Erfindungen erst 
dann‘gemacht werden und'erst dann gut ge¬ 
macht werden, wenn deren unabweisbares 
Bedürfnis vorhanden ist. Bei elektrischem 
Betriebe liegt natürlich der Gedanke nahe, 
die Kuppelungseinrichtungen elektromagnetisch 
einzurichten, und in der That lassen sich auch 
hierftlr wieder einfache Konstruktionen finden, 
ebenso wie es ermöglicht worden ist, mit den 
einfachsten Mitteln äusserst wirksame elektro¬ 
magnetische Bremsen an den Wagenachsen 
und Rädern anzubringen und zu verwenden. 

Es dürfte dem Leser interessant sein, zu 
erfahren, wie man sich eine derartige magne¬ 


tische Wagenkuppelung zu denken hat, wenn 
der anzukuppelnde Wagen (Anschiebewagen) 
während der Fahrt sich seinem vorderen 
■Wagen innig und stossfrei anschmiegen soll. * 
Man denke sich zu diesem Zwecke unsere 
heutigen Puffer mit einem isolierten Drahte 
umwickelt, der von einem Strome bestimmter 
Stärke durchflossen wird. Wählt man die 
Polarität der beiden Kuppelungen derartig, 
dass die Puffer des Anschiebewagens mit ihren 
magnetischen Polen auf die ebenfalls magneti¬ 
sierten hintersten Puffer des Hauptzuges an¬ 
ziehend einwirken, so wird beim Ankuppeln 
eine Anziehung der Puffer stattfinden. Beim 
Abkuppeln werden durch Abschalten des ma¬ 
gnetisierenden Stromes entweder die Kuppel¬ 
ungen magnetlos werden oder bei geeigneter 
Schaltung einander abstossen; es würde sodann 
die lebendige Kraft des zurückfahrenden An¬ 
schiebewagens gleichsam dem weiterfahrenden 
Zuge übertragen werden und eine Bremsung 
des zurückbleibenden Wagens erreicht werden. 
Es wird nun darauf ankommen, die Magneti¬ 
sierung der Puffer so stark zu machen, dass 
die differierenden Zugkräfte des angekuppelten 
und des anzukuppelnden Wagens durch die 
magnetische Anziehung der Pufferpole aus¬ 
geglichen werden. Selbstverständlich wird 
man der Sicherheit halber noch die mecha¬ 
nischen Kuppelungen zwischen den Anschiebe¬ 
wagen so lange festhalten, als Personen über 
die Verbindungsbrücke hin- und zurückbeför¬ 
dert werden. Nach Aufhören der Fahrgast- 
Überftlhrung zwischen den beiden letzten 
Wagen wird man die mechanische Kuppelung 
zuerst lösen und dann durch allmähliches 
Abschalten des Puffer-Magnetisierungsstromes 
ein Loslassen oder durch Umschalten ein Ab¬ 
stossen der magnetischen Kuppelung bewirken. 

Ein Verpassen von Anschlüssen, wie wir 
es heutzutage leider noch recht oft erleben, 
wird zur Unmöglichkeit werden, weil die 
Wagen einander in kurzen Zwischenräumen 
folgen. Ebenso fällt das so überaus lästige 
Rangieren von Wagen gänzlich fort, da sich 
jeder Wagen selbst fortbewegen kann. 

Rechnen wir mit der angenommenen Ge¬ 
schwindigkeit von loo km in der Stunde, so 
drängt sich uns die wichtige Frage auf, ob 
es in Zukunft noch nötig sein wird, während 
der Nachtstunden den Personenverkehr fort¬ 
zusetzen. Man sollte wohl annehmen, dass 
der Reisende, wenn er in den Tagesstunden 
von 6 Uhr früh bis 12 Uhr Nachts, also 
während 18 Stunden, im Eisenbahnwagen ge¬ 
sessen und dabei 1800 km (mehr als durch 
ganz Deutschland in seiner längsten Aus¬ 
dehnung) zurückgelegt hat, das Bedürfnis nach 
Schlaf im feststehenden Bette im vollsten 
Masse empfinde. Das selbst im heutigen 


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448 


Betrachtungen und kleine Mitteilungen. 


Schlafwagen nervenunwürdige Schlafen wirkt 
nicht beruhigend auf die Geisteskräfte des Rei¬ 
senden, so dass ein Vorteil des Nachtreisens ei¬ 
gentlich nicht vorhanden ist. Wer späterhin 
sehr lange Reisen machen muss, fährt früh 
um 6 Uhr vom Anfangspunkt fort, hört um 
12 Uhr auf, übernachtet in dem Orte, der von 
dem betr. Zuge um 12 Uhr Nachts erreicht 
wird, und fährt den nächsten Tag wieder um 
6 Uhr weiter. Eine besonders bequeme Hotel¬ 
einrichtung wird sich bei diesem Reisesystem 
entwickeln müssen. Zwischen 12 Uhr Nachts 
und 6 Uhr früh befindet sich nirgends ein 
Personenwagen in Bewegung; dagegen kann 
während der 6 Nachtstunden deijenige Güter¬ 
verkehr abgewickelt werden, der am Tage 
zwischen den Personenzügen nicht bewältigt 
werden konnte. Auch hierbei ist zu bedenken, 
dass in den 6 Nachtstunden ein Weg von 
600 km zurückgelegt werden kann, der der 
24stündigen Güterzugsleistung heutigen Tages 
mindestens gleichkommt. 


Betrachtungen und kleine Mitteilungen. 

Die dänische Pamlr-Ezpedltion. 

Pamir, jenes Hochplateau in dem die russisch- 
asiatischen Besitzungen mit den englisch-indischen 
zusammenstossen, ist fast noch gänzlich unbekannt. 
Zwar hat Russland in den letzten Jahren sogen. 
„Forschungsexpeditionen“ hingeschickt, dieselben 
hatten aber weniger wissenschaftliche als vielmehr 
strategische Bedeutung. Russland hat die ganz 
entschiedene Absicht, Pamir seinem Reich einzuver¬ 
leiben. Es ist daher besonders interessant, aus den 
Ergebnissen der dänischen Pamir-Ejmedition zu er¬ 
sehen, dass Russland kein wüstes Gebiet erwirbt, 
wie man bisher glaubte, sondern ein begehrens¬ 
wertes, fruchtbares Stück Erde. Premierleutnant 
O. Olufsen, ein Teilnehmer an der Expedition, 
berichtet darüber in der letzten Sitzung der „Ge¬ 
sellschaft für Erdkunde“ (nach der Voss. Ztg.) wie 
folgt: Die im Jahre 1896 ausgeführte Expe¬ 
dition ging vom kaspisee mit der Militärbahn 
nach Samarkand, danh weiter nach Taschkent und 
Osch im östlichen Turkestan, von wo die eigent¬ 
liche Pamirreise begann. Man benutzte Pferde und 
Esel als Reit- und Lasttiere und war mit allem 
Lebensbedarf ausgerüstet, da man ihn im Pamir 
nicht überall vorfindet. Die Begleiter waren Us¬ 
beken. Die Eingeborenen verstehen übrigens unter 
Pamir nur den östlichen Teil des von uns so be¬ 
nannten Gebietes. Das Wort bedeutet eine wüste, 
hochgelegene, Wind und Wetter ausgesetzte Stelle, 
und eine Wüste ist nur der östliche Teil nebst 
einem Stück des südlichen Teiles. Die ungeheue¬ 
ren Schneemassen, die sich im Winter auf dem 
Pamir anhäufen, finden bei. der Schmelze ihren 
Weg nach Westen, wo also Wasser in Menge vor¬ 
handen und damit die Vorbedingung zur Frucht¬ 
barkeit gegeben ist. Die Flüsse sind reissend; ihre 
Schnelligkeit beträgt 2—9 Meter in der Sekunde. 
Ihr Überlauf liegt in der flachen, vegetationslosen 
Steppe; ihr mittlerer und unterer Lauf dagegen ist 
tief in das Land eingeschnitten, reich an vVasser- 
fällen. Brücken sind selten, das übersetzen über 


die Flüsse daher oft beschwerlich. Die Steppen 
des Ostens werden von armen Wüstenstämmen 
bewohnt; im Süden und Westen wohnen Acker¬ 
bauer, die dort wohlhabend werden würden, wenn 
sie nicht so viel von den R_aubzügen der Afghanen 
zu leiden hätten. Diesem Übel werden die Russen 
nun wohl ein Ende machen. Von Osch aus ist 
schon eine gute fahrbare Strasse bis Gultscha ge¬ 
baut. Die Reisenden hatten dort sonniges, pracht¬ 
volles Wetter. Überall spross junges Gras; man 
sah die Hafer- und Gerstenfelder der Kirgisen, 
weidende Pferde, Kühe und Ziegen; grosse Kara¬ 
wanen von beladenen Kameeleri zogen in der 
Richtung von Ost nach West. In der Alaisteppe 
(der Name Alai bedeutet Paradies; im Sommer 
bietet diese Steppe gute Weide) gelangte man 
über die Baumgrenze. Man fand dort die Leichen 
zweier russischer Ordonnanzen, die unlängst in einem 
Schneesturme umgekommen waren. Nachdem man 
den Kisü-art-Pass überschritten hatte, kam man in 
die eigentliche Wüste. Von Pflanzenwuchs ist dort 
kaum, die Rede; fast unaufhörlich wehen stürmische 
Winde. Die Sonne ist in einen Dunstnebel gehüllt, 
aber nachts ist der Himmel schön klar. Man braucht 
dort unbedingt eine blaue Brille zum Schutze der 
Augen; die Bergkrankheit tritt auf; die Haut, wo 
sie nicht bedeckt ist, „verbrennt". In der Nähe 
des Karakiil (13180 Fuss hoch gelegen) wird der 
Pflanzenwuchs wieder etwas reichlicher; dort wächst 
eine Lavendelart mit holzigem Stamm, die man als 
Brennstoff benutzt. Der See selbst liegt mit seiner 
blauen, von Inseln und Halbinseln zerschnittenen 
Wasserfläche malerisch zwischen hohen Schnee¬ 
bergen. Er hat keinen Abfluss und sein Spiegel 
hat früher ersichtlich viel höher gestanden. Sein 
Wasser ist salzig. Man sah nur ein paar Enten 
dort, sonst kein Leben. Anders an dem südlich 
g^elegenen Taschilkul (12.000* hoch). Dort giebt es 
Fische und Vögel; die Frösche machen abends 
grossen Lärm. Vortragender schoss zwei Adler 
von 2'/* Meter Spannweite. Abends haucht <ler 
See Fieberdünste aus, die alle Teilnehmer der 
Reise krank machten. Es giebt dort zwei kleine 
Bärenarten, die aber scheu und schwer zu schies¬ 
sen sind. Zwei Arten wilder Schafe weiden in 
der Wüste. Die Kirgisen benutzen den Yakochsen 
als Reit- und Nutztier; ausserdem halten sie Zie¬ 
gen. Man ging nun weiter zum Pamirflusse und 
diesen abwärts bis Kalai Kumb. Weiter unten 
heisst der Fluss Paudsch; er war da, wo man ihn 
antraf, bei Masar tepe, 15 Meter breit. Nun be¬ 
gann eine sehr beschwerliche Reise. Die meist 
steil zum Flusse abfallenden Ufer nötigten zu un¬ 
aufhörlichem Auf- und Abwärtsklettem; viele Ne¬ 
benflüsse mussten ohne Brücke überschritten wer¬ 
den. Doch liegt auch viel fruchtbares Land am 
Flusse, das mit Hilfe künstlicher Bewässerung be¬ 
wirtschaftet wird. Die Leute halten Esel, Kühe 
und Schafe, auch eine Art Windhund befindet sich 
unter den Haustieren. Man baut Gerste, Weizen 
und Hirse; i^rikosen, Apfel und Birnen gedeihen 
vortrefflich. Die Aprikosen werden auf den flachen 
Dächern in der Sonne getrocknet und so aufbe¬ 
wahrt. Die Häuser sind Lehmbauten mit flachen 
Dächern, alle festungartig mit ThOrmen und Schiess¬ 
scharten zur Abwehr der afghanischen Räuberban¬ 
den. Die Bewohner sind mit Bogen bewaffnet und 
schiessen mit Steinen. Vortragender sah, wie sie 
Vögel in 25—30 Ellen Entfernung erlegten. Über¬ 
all wurde man freundlich aufgenommen; vor jeder 
Stadt kam eine Abordnung der Bewohner mit Ge- 
sclienken aller Art entgegen. Geld ist vielfach, 
namentlich in der Provinz Wakhan noch ganz un¬ 
bekannt; anderwärts zahlt man mit russischem 
oder afghanischem Gelde. Es giebt Skorpione und 


Diiiilized by V^OOQlC 


Betrachtungen und Kleine Mitteilungen. 


449 


eiltige Spinnen dort, und von einem Skorpione ist 
Vortragender gestochen worden. Der ganze Arm 
schwoll ihm an; nach vierzehntägiger Behandlung 
mit Karbol und Borsäure war er aber wieder ge¬ 
sund. Man traf auch in der Provinz Garan einen 
Trupp afghanischer Räuber, der eben alles ausge¬ 
plündert hatte, den Reisenden aber vorsichtig aus 
dem Wege ging. Sechzig bis siebzig der Kerle 
sah man auf dem andern Flussufer, wohin sie sich 
in Sicherheit gebracht hatten, mit grossen Schwer¬ 
tern drohen. In den Provinzen Schugnan und 
Roschan, die man weiterhin durchsetzte, wurde das 
Klima immer angenehmer, das Land immer frucht¬ 
barer. Wein, Kirschen und_ Maulbeeren gedeihen 
dort neben Aprikosen und Äpfeln. Die Maulbeeren 
werden getrocknet, zerkleinert xmd zu einer Art 
Brod verbacken, das nicht übel schmeckt. Die 
Sonne ist oft bedeckt; die Tageswärme beträgt 
18—20 Gr. C; nachts ist es i bis 2 Gr. kühler. 
In Wakhan war es noch etwas windig, weiterhin 
nicht mehr. Bei Sonnenuntergang spürte man eine 
heisse Luftströmung, die von den Bergen herab in 
die Thäler geht. Von Kalai Kumb wurde die Reise 
Ober das Gebirge zum Surchab und zur Alaisteppe 
zurück fortgesetzt. Hier hatte man wieder von 
Sturm und Regen zu leiden. Der aufgeweichte 
Lehmboden macht das Überschreiten der sonst un¬ 
schwierigen Pässe oft recht beschwerlich. Bald 
fiel reichlich Schnee. Den Taldykpass bewältigt 
man sonst in einem halben Tage; wegen des Schnees 
aber, der den Weg verw-^eht hatte, brauchte man 
diesmal volle fünf Tage, da man nur mit äussers- 
ter Vorsicht Vorgehen konnte. Aus diesem sibiri¬ 
schen Winter kam man, in Osch angelangt, in einen 
fast tropischen Sommer; es reiften gerade die 
Trauben. Vortragender, der auf der Reise viele 
Messungen ausgelOhrt, astronomische Punkte fest¬ 
gelegt und magnetische Beobachtungen gemacht, 
ausserdem ein ausführliches Tagebuch und schöne 
ethnologische Sammlungen .für das Kopenhagener 
Museum angelegt hat, gedenkt den Pamir im nächs¬ 
ten Jahre nochmals und eingehender zu erforschen. 


Über die Telegraphie ohne Drähte sind in 
letzter Zeit fortgesetzt Versuche gemacht worden, 
u. a. auch von Tesla, der nach den Berichten der 
Tagespresse bis auf 20 Meilen Entfernung befrie¬ 
digende Resultate erzielte. Wenn darüber jedoch 
nÄere Mitteilungen noch abzuwarten sind, so ist 
Bestimmteres über neuere Versuche in England be¬ 
kannt geworden. Prof Slaby von der Tedmischen 
Hochschule in Charlottenburg, der denselben in der 
zweiten Maiwoche in England beiwohnte, bezeich¬ 
net sie als vollständig geglückt; man kann auf 3^ 
engl. Meilen durch die Luft ohne Draht telegraphieren, 
und es ist nicht mehr zweifelhaft, dass man auch 
grössere Entfernungen wird überwinden können. 
Die Versuche fanden an der englischen Küste bei 
Bristol zwischen dem Leuchtturm Flat Holme und 
dem an der Küste gelegenen Lavernock statt. 
Beide Punkte waren früher durch ein Kabel ver¬ 
bunden, das aber infolge sehr starker Ebbe und 
Flut sowie durch ankerwerfende Schiffe häufig ver¬ 
letzt wurde. Die Einrichtung der neuen Art Tele- 
CTaphie ist nun ungefähr folgende: An dem einen 
Punkt wird durch Wechselstromvorrichtungen ein 
starkes elektrisches Feld erzeugt. Die elektrischen 
Wellen gehen wie Lichtstrahlen nach allen Richt¬ 
ungen in die umgehende Luft und pflanzen sich 
mit sehr grosser Geschwindigkeit fort. Je nach¬ 
dem man solche elektrischen Wellen erzeugt oder 
die Erzeugung unterbricht, giebt man in die um¬ 
gebende Luft Zeichen, die an einem anderen Orte, 
der Empfangsstation der Depesche, durch folgende 


Vorrichtung erkennbar gemacht werden: Verbin¬ 
det man die Enden einer mit Eisenfeilspähnen 
gefüllten GlashOlse durch Drähte mit einer schwa¬ 
chen Batterie, so kann wegen des ausserordentlich 
grossen Widerstandes der Eisenfeilspähne kein 
Strom entstehen. Nun hat man entdeckt, dass eine 
solche Clashülse ihren Widerstand plötzlich enorm 
verringert, wenn man sie einer elektrischen Strah¬ 
lung aussetzL Gelangen also die am ersten Ort 
erzeugten elektrischen Wellen und Strahlen durch 
die Luft zu dieser Glashülse an der Empfangs¬ 
station, so entsteht ein Strom in den Drähten, der 
ein Läutewerk in Bewegung setzt. Das Zeichen, 
dass man telegraphieren will, ist also gegeben. 
Wird nun die elektrische Strahlung an ihrer Er¬ 
zeugungsstelle unterbrochen, so behält die Glas¬ 
hülse mit den Eisenfeilspähnen ihren geringen elek¬ 
trischen Widerstand bei. Es wäre also ein neues 
Zeichengeben nicht möglich. Rüttelt man aber nur 
wenig an ihr, berührt man sie nur, so wächst ihr 
elektrischer Widerstand ausserordentlich. Schaltet 
man statt des Läutewerks, das nur zum Anrufen 
dient, einen Morseschen Telegraphenapparat in den 
Stromkreis ein, so kann man von neuem ein Zei¬ 
chen geben. Es ist nun das Verdienst des Italie¬ 
ners Marconi, eine Einrichtung getroffen zu haben, 
mittels der nach jedem Zeichen an die Glashülse 
gerührt wird. Man kann dadurch also beliebig 
wieder Zeichen nach einander geben, je nachdem 
man an der Ursprungsstelle die elektrische Strah¬ 
lung unterbricht, d. h.. man kann durch die Luft 
von einem Orte nach dem anderen telegraphieren, 
ohne dass beide durch einen Draht verbunden sind. 
Der Versuch ist auch bereits zwischen zwei eng¬ 
lischen Kriegsschiffen mit gleichem Erfolg auf zwei 
Meilen Entfernung ausgeführt worden. — Diese 
englischen Versuche bestätigen die bereits in Wann¬ 
see bei Berlin erzielten Resultate. Es war bekannt¬ 
lich schon im vorigen Jahre gelungen, Ober die 
Waisserfläche des Sees ohne Draht zu telegra¬ 
phieren. (Elektrizität.) 

• • 

Eine zusammenhängende Darstellung der ge¬ 
samten Lelsttmgen und Fortschritte auf dem 
Gebiete der romanischen Philologie und ihrer 
Grenzwissenschaften zu bieten, diese grossartige 
Aufgabe stellt sich der von Professor Dr. K. Voll¬ 
möller herausgegebene Kritische Jahresbe¬ 
richt über die Fortschritte der roman¬ 
ischen Philologie, der nunmehr, nachdem ein 
Rechtsstreit mit dem Verleger des ersten Bandes 
das Erscheinen der Fortsetzung eine zeitlang ver¬ 
zögert hatte, dank der Energie des Herausgebers 
in die Bahn einer regelmässigen Entwicklung ge¬ 
bracht ist und in 4 Heften jährlich zur Ausgabe 
gelangt. Das ftir die Sprachwissenschaft hochbe¬ 
deutsame Werk entspringt dem von der roman¬ 
ischen Philologie immer mehr empfundenen drin¬ 
genden Bedürfnis nach einer periodischen kritisch 
zusammenfassenden Darstellung ihrer gesamten 
Forschungsresultate. Die in den verschiedenartigen 
Veröffentlichungen niedergelegten Arbeiten aller an 
der Forschung teilnehmenden Nationen bedürfen 
streng kritischer Sichtung und zusammenfassender 
Würdigung von durchaus kompetenten Federn, um 
nicht nur dem Erforscher grösserer Gebiete, sondern 
auch dem Einzelforscher stets die nötige schnelle 
und sichere kritische Orientierung über das in 
jedem Einzelfache der romanistischen Wissenschaft 
Geleistete zu gewähren. Ebenso wie die zerstreuten 
Ergebnisse wissenschaftlicher Forschung stets zu- 


Dii;il(zed by v^ooQle 



450 


Betrachtungen und kleine Mitteilungen. 


sammenfassender kritischer Beleuchtung bedürfen, 
so müssen auch im Jahresberichte die <äer Im* 
guistisch-grammatischen, wie der litterarhistorischen 
Forschung sich bietenden neuen Materialien kri¬ 
tischer Betrachtung unterzogen werden; so die 
Vokabularien und Sprachtexte aller Zeiten, neu be¬ 
kannt gewordene Inschriften, Dokumente, Hand¬ 
schriften, Druckwerke und ebenso alle neu ver¬ 
öffentlichten Kataloge von Handschriften und Drucken. 
Die romanische Philologie bedarf bei ihrem Fort¬ 
schreiten auch mehr und mehr der Resultate 
aller Grenzwissenschaften. Wie dieselbe 
nicht blos bis zu ihrem Entstehen dem Dilettantis¬ 
mus überlassenes Material wissenschaftlich zu be¬ 
arbeiten anfing, sondern sie, nicht minder früher 
ausschliesslich der Theologie, den historischen Dis¬ 
ziplinen, den Rechtswissenschaften zugehöriges 
Material in ihren Studienkreis ziehen musste, so 
wnrd dieselbe bei ihrer weiteren Ausgestaltung und 
Vertiefung nicht nur nicht umhin können, mit den 
anderen philologischen Wissenschaften, z. B. la¬ 
teinischer, germanischer, keltischer, semitischer 
Sprach- und Litteraturwissenschaft die gehörige 
Fühlung zu erhalten, sondern auch von der Theo¬ 
logie, den Geschichts- und Rechtswissenschaften, 
der Kultur- und Kunstgeschichte zu lernen, sie 
wird vielmehr auch, selbst ihrem engeren Be¬ 
griffe nach, aus allen diesen Gebieten der 
Wissenschaft konkretes Material entlehnen müs¬ 
sen. Wenn bislang fast allein der auf irgend 
welche eingehende Fachstudien gestützte Ro¬ 
manist im Stande war, die zumeist unerlässlichen 
Anlehen auf angrenzenden Gebieten zu machen, so 
soll fortan der Jahresbericht jedem Forscher auch 
hierin mit ausreichender Unterweisung an die Hand 
gehen und über alle den romanischen Philologen 
irgendwie angehenden Arbeiten auf dep bezeich- 
neten Grenzgebieten sachkundige Referate bringen. 
Dadurch soll die romanische Philologie der von 
ihren Vertretern stets angestrebten naturgemässen 
Vertiefung und Abrundung immer näher geführt 
werden und auch den in Betracht kommenden 
fremden Wissenschaften selber diejenige Förderung 
zu teil werden, die jede Verbindung verwandter 
Disciplinen denselben verleiht. — Auch den be¬ 
sonderen Bedürfnissen des Schulmannes 
soll der Jahresbericht dienen. Wie die romanische 
Philologie ihren Aufschwung während der letzten 
Jahrzehnte vornehmlich den Anforderungen ver¬ 
dankt, welche die Schule stellte, so wird es stets 
ihr Bestreben sein, den Sprach- und Litteratur- 
Unterricht mehr und mehr zu durchgeistigen, ihn 
rationeller und bildender zu gestalten. Es wird 
darum der Jahresbericht neben der neuesten fran¬ 
zösischen u. s. w. Nationallitteratur stets auch die 
direkt die Schule angehenden grammatischen und 
litteraturgeschichtlichen Arbeiten, die Textausgaben 
für die Schullektüre und alle einschlägigen päda¬ 
gogischen Fragen, die in der Litteratur Behandlung 
gef^unden haben, in kritischen Referaten beleuchten. 
Da nur mit einer bis in das Einzelne gehenden 
Teilung der Arbeit das wissenschaftliche Programm 
erfüllt werden kann, so ist der Herausgeber be¬ 
strebt gewesen, für jedes möglichst eng begrenzte 
Fach sets einen kompetenten Specialforscher zum 
Referenten zu gewinnen. Die Kritik wird dadurch 


in jedem Punkte belehrend werden. — Die Haupt¬ 
einteilung des grossartig angelegten Unternehmens, 
das eine vollständige Rundschau über Sprache, 
Litteratur und Kultur der romanischen Völker bieten 
wird, ist: I. Einleitung; Encyklopädie und Metho¬ 
dologie, Geschichte der romanischen Philologie. 
Erster Teil; Sprachwissenschaft. A. SpracßiwisseH’ 
schaß im Allgemeinen {Sprachphilosophie und 
Phonetik). B. Vorromanische Sprachen mit Aus¬ 
nahme des Lateinischen. C. Latein. — II. Zweiter 
Teil: Litteraturwissenschaft. A. Vorbereitende LU- 
teraturen. B. Lateinische Litteratur. C. Romanische 
Litteratur. Der dritte Teil behandelt die Grenz- 
Wissenschaften {Volkskunde, Kulturgeschichte etc.), 
der vierte Teil den Unterricht in den romanischen 
Sprachen. — In der Raschheit des Erscheinens wird 
der Romanische Jahresbericht allen anderen grös¬ 
seren Jahresberichten voraus sein, da das Manu¬ 
skript für 1891 bis 1894 bereit liegt und durch 
unausgesetzte Förderung des Druckes die Vollendung 
der beiden Bände ohne Störung und Unterbrechung 
gesichert ist. — Näheres über die Organisation des 
Unternehmens und seine innere Einrichtung findet 
sich in der vom Herausgeber verfassten Schrift: *) 
„ Über Plan und Einrichtung des Romanischen 
Jahresberichtes'^, die gewissermassen als Einleitung 
anzusehen ist. 

• 

Stillstehen tmd Fortschreiten im Kunstge¬ 
werbe war das Thema eines Vortrages des Bild¬ 
hauers Herrn. Obrist im Baw. Kunstgewerbe¬ 
verein, dessen anregende Ausführungen Mitteilung 
an weitere Kreise verdienen. Als Fortschritt im 
Gebiete des Kunstgewerbes bezeichnete der Red¬ 
ner nicht die gesteigerte technische Fertigkeit, son¬ 
dern vielmehr das freie schöpferische Erfinden 
neuer Formen von Gegenständen des Gebrauchs, 
neuer konstruktiver Gebilde, neuer Verzierungsarten 
in neuen Farben und Materialien. Ein solcher Fort¬ 
schritt ist nicht nur aus ideellen Rücksichten, son¬ 
dern auch aus kommerziellen Gründen durchaus not¬ 
wendig, wenn wir der ausländischen Konkurrenz 
Herr werden wollen. Die Ursache, warum z. B. 
das englische Kunstgewerbe so in die Höhe gekom¬ 
men ist, beruht grösstenteils auf der grösseren 
Selbständigkeit der Fabrikanten in Sachen des Ge¬ 
schmacks, auf deren Unabhängigkeit von den Wün¬ 
schen des verständnislosen Publikums, sodass man 
den Markt mit künstlerisch wertvollen Erzeugnissen 
erobern konnte, indem man durch die Menge des 
Gebotenen dem Publikum den Geschmack der ent¬ 
werfenden Künstler aufzwang. Was dagegen bei 
uns an Originellem geleistet wird, bleibt in der 
Regel vereinzelt und ohne nachhaltige Wirkung 
auf den Geschmack der Allgemeinheit, oder es ver¬ 
fällt verständnisloser Nachahmung und kommt in 
verzerrter Gestalt unter die Leute. — Was den 
englischen Tapeten ihre Originalität verleiht, be¬ 
ruht zumeist auf der Fähigkeit des englischen Vol¬ 
kes, die aus Ostasien gekommenen Anregungen im 
eigenen Sinne zu verwerten und so der Arbeit den 
Stempel des eigenen Geistes aufzudrücken. Red¬ 
ner bezeichnet den englischen Geschmack als spe¬ 
zifisch weiblich und findet hierin die Ursache, wes¬ 
halb das englische Kunstgewerbe sich so grosser 
Beliebtheit bei der Wohnungs-Ausstattung erfreut, 
indem die letztere CTösstenteils in den Händen der 
Frauen liegt. Im Gegensatz hierzu sei das deutsche 
Farbenempfinden kräftiger, für stärkere Kontraste em- 

•) Erlangen, Fr. Junge. Preis Mk. 3.—. 


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Betrachtungen und kleine Mitteilungen. 


451 


pfänglich, womit derjenige zu rechnen habe, wel* 
eher bei uns auf dem Gebiete der Wanddekoration 
Zeit- und Volksgemässes schaffen will. — In ähn¬ 
licher Weise wie die Tapeten wurden auch andere 
Erzeugnisse des Auslandes auf ihre Vorzüge geprüft 
und besprochen: englische Möbel und Töpfereien, 
französische und dänische Keramik, weiterhin Ar¬ 
beiten aus Zinn, Bucheinbände etc. — Der Eng¬ 
länder besitzt nicht die Fähigkeit, andere Stilarten 
leicht nachzuempfinden, dagegen den Sinn für das 
Materialechte — eine EigensAaft, die in unserer 
Jugend ^ossgezogen werden sollte. Im Franzosen 
steckt eine besonders lebhafte Initiative, eine ge¬ 
wisse Abneigung gegen alle Tradition und Kon¬ 
vention, eine Zuneigung zum Revolutionären. Es 
würde zu weit führen, näher auf die zahlreichen 
Beispiele einzugehen, welche der Vortragende an- 
lührte, um an denselben auf die Mängel unseres 
deutschen Kunstgewerbes hinzuweisen. Den Schluss 
bildete ein entschiedener Appell an das Selbstver¬ 
trauen und die Schaffensfrei^e des Einzelnen. Die 
langsame Bedenklichkeit, die Schüchternheit, die 
Angst vor den Konsequenzen müssen aufgegeben 
werden. Z. d. bayr. Kunst-Gew.-Ver. 


Die Bezeichnung „Gotischer Stil“ ist falsch, 
da die Goten selbst keine Stilperiode geschaffen. 
Felix Dahn berührte diese Frage neulich in 
einem im Kunstgewerbeverein zu Breslau gehalte¬ 
nen interessanten Vortrage über Theoderich den 
Grossen, König der Ostgoten, der sich besonders 
mit den Baudenkmälern aus der Regierungszeit des 
kunstsinnigen Königs beschäftigte und das heutige 
Ravenna mit dem damaligen verglich. Das, was 
man als gotisch bezeichnet, hat nients Gemeinsames 
mit den Kunstwerken aus Theoderichs Zeit, die 
durchaus romanischen Charakter tragen, sondern 
erst bei den Franken unter den Merowingern ent¬ 
standen und müsste demnach eigentlich alt¬ 
fränkisch heissen. 


Alkoholische Gährung ohne Hefezellen. In 
Nr. 8 der „Umschau“ hatten wir dje interessante 
Entdeckung Eduard Büchner’s gebracht, dem 
es gelungen war, einen Presssaft aus Hefe herzu- 
stellen, der die vergährbaren Zuckerarten in 
Gährung versetzt. Er hatte damit bewiesen, dass 
die Gährung nicht auf die Thätigkeit der lebenden 
Hefezelle zurückzuführen sei. Nun hatten sich ge¬ 
wichtige Stimmen') erhoben, die meinten, es könn¬ 
ten sich bei der Herstellung des Presssaftes viel¬ 
leicht winzige Stückchen lebenden Protoplasmas 
durchgedrückt haben, die den Zerfall des Muckers 
verursachten. Büchner hat diese Einwände einer 
experimentellen Untersuchung unterzogen’) und ist 
zu dem Resultat gekommen, dass sie nicht haltbar 
sind. Starke Antisystica, wie Chloroform, Benzol 
und Natriumarsenit, die das Wachstum lebender 
Hefezellen verhindern, vernichten die Gährwirkung 
des Presssaftes nicht. Auch wenn der Presssaft 
zur Trockne eingedunstet wird, büsst er seine 
Wirkung nicht ein. Hefe, die 6 Stunden lang auf 
100® erhitzt wurde, war nicht mehr im Stande zu 
wachsen und sich fortzupflanzen, war also abge¬ 
tötet, wohl aber vermochte sie noch Bierwürze in 
Gährung zu versetzen. Die Zytnase, so nennt 
Büchner den wirksamen Bestandteil, war also 
nicht verändert. B. 


>> Von Voit und v. Kupffer. 

») Ber. d, d. cheni. Ges. XXX. Nr. 9. 


Ein neues Element. In unserer Zeit bringt die 
Entdeckung eines neuen Elements gerade keine be¬ 
sondere Erregung in der wissenschaftlichen Welt 
mehr mit sich, zumal man auch sehr skeptisch ge¬ 
worden ist. Geburts- und Todestag liegen, meist 
nicht weit auseinander. Man erinnert sich noch, 
dass das kürzlich gefundene angeblich neue Eie- - 
ment Lucium nur ein kurzes Leben fristete. — Nun 
berichtet Delafontaine in den „ChemicalNews“, 
von einem neuen Element, dem Philippitan, von. 
dem er eine grössere Anzahl Salze dargestellt hat. 
Schon 1843 hatte Mosander in der Erbinerde zwei 
weitere neue Elemente vermutet: Terbium und 
Philippium. Ersteres wurde anerkannt, letzteres 
aber bestritten. Die Existenz des letzteren wurde 
1^8 von Delafontaine von neuem behauptet. Dem 
Nichtfachmann werden diese Zweifel merkwürdig’ 
erscheinen. Er möge jedoch berücksichtigen, dass 
die Salze dieser seltenen Elemente - vielfach grosse 
Ähnlichkeit mit einander haben, sehr schwierig zu 
trennen sind und dass meist mit sehr kleinen 
Mengen ^Bruchteile eines Gramm) gearbeitet wer¬ 
den muss. — Durch die Gasglühlichtindustrie, de¬ 
ren Glühkörper aus sogen, seltenen Erden’) be-' 
steht, wurden als Rohmaterialien für diese eine 
Menge seltener Mineralien an den Markt gebracht, 
die sonst nur als Raritäten zu erlangen waren. So 
gelang es Delafontaine, über ein Kilo des sehr 
seltnen Minerals Fergusoint zusammen zu bringen 
und daraus das neue Element Philippium darzustel¬ 
len, dessen Existenz er damit bewiesen zu haben 
scheint. Man sieht mit grossem Interesse den 
weiteren Mitteilungen entgegen, die Ober die Stel¬ 
lung dieses Elements in der Reihe der übrigen 
weitere Aufschlüsse zu geben versprechen. B. 


Zusammenhang zwischen Birmanen, Ägyp¬ 
tern, Chinesen tmd Indem. Wie lange, selbst 
bis in die Zeiten jener verhältnismässig hohen 
Gesittung hin, mit seltsamer Zähigkeit sich Vor¬ 
stellungen und Sitten bei den verschiedenen 
Völkern der Erde erhalten, zeigt u. A. das 
Vorkommen bestimmter, auf ein Gewicht fixier¬ 
ter Stöcke von Silber in Birma, die aber nicht 

g emünzt waren. Erst in alierjüngster Zeit sind die 
.upi eingeföhrt. Das Wort für diese Einheit, tical, 
ist fremdländischen Ursprungs, und so liegt die 
Vermuthung nahe, dass das birmanische Gewicht 
überhaupt von draussen eingeföhrt isL Nun zeigen 
sich ganz überraschende Uebereinstimmungen mit 
ägyptischen Münzen, so dass wir wieder vor der 
heiklen Frage und Entscheidung stehen, selbständige 
Erfindung bei zw'ei ganz verschiedenen Völker¬ 
schaften und in ganz verschiedenen Zeiten, oder 
Übertragung. Auch die Chinesen würden mit in 
Betracht kommen, deren astronomische-Kenntnisse 
und Fähigkeiten sich schon früh entwickelt haben. 
Anderseits weist der Stil der birmanischen Tempel¬ 
bauten unzweifelhaft nach Indien, und da gerade 
in den Pagoden die Grössenverhältnisse auf der 
ägyptischen Elle basieren, so ist immerhin diese 
Möglichkeit, geographisch-historisch genommen, die 
naheliegendste. Ach. 

* 

Deutsche Privat-Bibliotheken. Der Heraus¬ 
geber des „Verzeichnisses von Privat-Bibliotheken“, 
G. H edel er in Leipzig, wird dem soeben erschie¬ 
nenen ersten Band (Amerika) noch in diesem Jahre 
den dritten Band (Deutschland) folgen lassen. Um 
diesen wichtigen Teil möglichst vollständig zu ge¬ 
stalten, richtet derselbe an alle Besitzer hervorra- 


») Vergl. Umschau Nr, lo, S. 177. 


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452 


Betrachtungen und kleine Mitteilungen. 


gender BQchersammlungen die Bitte, ihm, soweit 
nicht bereits geschehen, Angaben über Bündezahl, 
S onderrichtung und sonstige Einzelheiten ihrer 
Bücherbestände zur unentgeltlichen Benutzung zu 
senden. Bei den im ersten Band kurz beschriebe¬ 
nen 6oi amerikanischen Privatbibliotheken fanden 
Sammlungen von unter 3000 Bänden nur dann Auf¬ 
nahme, wenn hoher Wer^ Seltenheit etc. dies recht¬ 
fertigten oder wenn es sich_ um bedeutendere Spe¬ 
zialsammlungen handelte. Ähnliche Begrenzung ist 
auch ihr die Bearbeitung des dritten Bandes nbtig. 
Neben BQchersammlungen litterarischer und allge¬ 
meiner Richtung werden im Privatbesitz befindli^e 
beachtenswerte wissenschaftliche und technische 
Fachbibliotheken berücksichtigt. Für die Allgemein¬ 
heit dürfte die Zusammenstellung, deren Benutzung 
ein jedem Band beigegebenes Sachregister erleich¬ 
tert, auch insofern Interesse bieten, a^ dieselbe da¬ 
zu beitragen kann, dass wichtige im Privatbesitz 
befindliche und daher wenig ^kannte Bücher¬ 
schätze für litterarische und wissenschaftliche 
Forschungen mehr als bisher zu Rate gezogen 
werden. Besitzer wertvoller Bibliotheken sollten 
die Mühe einer kurzen Mitteilung nicht scheuen. 


Die Trockenlegung des Zuidersees haben die un¬ 
ternehmenden Holländer bekanntlich schon vor eini- 

f en Jahren projektiert, und die Regierung hatte eine 
esondere Ivommission gewählt, welche mese Frage 
näher studieren sollte. Diese Kommission hat jetzt 
Bericht erstattet. Die vorzunehmende Arbeit würde 
31 Jahre dauern, dafür würden aber über 3000 
Quadratkilometer (fast 60 Quadratmeilen) für die 
Kultur gewonnen werden. Es muss an der Küste 
entlang ein 6 m hoher Damm von 35 m Basisbreite 
errichtet werden, der an 50 km Länge haben muss 
und dessen Aufführung 9 Jahre Zeit beansprucht. 
Die Gesamtkosten würden sich auf 520 Mül. Mark 
belaufen, wobei die an die Fischer des Sees zu 
zahlende Entschädigung schon einbegriffen ist; da¬ 
gegen schätzt man den Wert des zu gewinnenden 
Terrains auf 540 Mill. Mark. Sch. 


Eine elektrische Anlage zur Erprobung der 
Beförderung des Pflanzenwachstuma durch Elek¬ 
trizität wird auf der RosenaussteUung zu Frankfurt 
a. M. vorgeführt. Die Anlage ist ziemlich einfach. 
Wir sehen einen hohen Holzmast in der Mitte einer 
Anzahl Beete, die zum Teil eingesäet, zum Teü 
mit Pflanzen besetzt sind. Unter dem Mast befin¬ 
det sich in der Erde die elektrische Batterie, von 
der aus unterirdische Leitungsdrähte die Elektrizi¬ 
tät den Beeten, die durch eine Asphaltschicht von 
den nicht zu elektrisierenden Beeten getrennt sind, 
zuführen. Ein weiterer Leitungsdraht läuft an dem 
Mast in die Höhe und verzweigt sich oben in ver¬ 
schiedene Drähte, um die Elektrizität der Luft heran¬ 
zuziehen. Der Landwirtschaftsminister hat den Er¬ 
finder aufgefordert, im Harz Versuche mit der Ver¬ 
tilgung der Reblaus durch Elektrizität zu machen. 


Elektrische Droschken sind jetzt in New-York 
in grösserer Zahl in Gebrauch. Wie wir der „Elek¬ 
trizität“ enrnehmen, lässt die Electric Carriage and 
Wagon Comp, vorläufig 13 Wagen in der Stadt 
kursieren, die nach dem Akkumulatorensystem von 
Morris & Salom eingerichtet sind. Der Wagen 
unterscheidet sich von dem gebräuchlichen Hansom 
dadurch, dass er- auf vier Rädern ruht, während 
jener nur zwei hat. Die Akkumulatorenbatterie ist 
in dem Kasten unter dem Sitze des Wagenlenkers 
untergebracht und wiegt etwa 225 kg. Die Steuer¬ 


ung erfolgt durch das hinten kleinere Räderpaar. 
Zu beiden Seiten der Kutsche sind Glühlampen an¬ 
gebracht und auch das Wageninnere wird durch 
eine solche erhellt. Die gewöhnliche Geschwindig¬ 
keit beträgt 20-24 km die Stunde, jedoch kann sie 
im Maximum bis auf 32 40 km die Stunde ge¬ 
bracht werden, natürlich auf Kosten der Leistung» 
dauer der Akkumulatoren; und ferner hängt me 
Geschwindigkeit auch wesentlich von der Steigung 
und Beschaffenheit der Wege ab. Die Betoebs- 
kosten soUen um die Hälfte billiger sein wie bei 
dem Verkehr mit Pferden. In der Stadt New-York 
will man an allen Verkehrspunkten, an Bahnhöfen, 
Fähren, Theatern, Hotels u. s. w. Haltestellen 
solche elektrische Droschken einrichten; auch in 
anderen Städten wird mit der Einführung dieses 
modernen Fahrzeuges immer mehr vorgegangen. 


SprechsaaL 

Herrn in S/.: Eine Darstellung der ganzen Welt¬ 
geschichte, die allen Ansprüchen ^nügt und die 
Mitte hält zwischen minutiöser Austtorlichkeit und 
Kürze des Kompendiums, besitzen wir streng ge¬ 
nommen nicht 1895 ist in Hannover im Verlage 
von Manz und Lange ein Werk erschienen von 
Dr. W. Martens: „Weltgeschichte. Ein Handbuch 
für das deutsche Volk.“ Doch Ist es nicht sowohl 
ein Handbuch, als vielmehr ein Schulbuch, das al¬ 
lerdings seinen Zweck, eine auf dem Boden der 
neueren Forschung stehende, knappe Zusammen¬ 
fassung des geschichtlichen Stoffes zu bieten, er¬ 
reicht, dagegen eine grössere Ausführlichkeit — 
das ganze ^nttelalter wird auf 260 Seiten abgehan¬ 
delt: — zu wünschen übrig lässt. Weit inhaltrei¬ 
cher ist Oskar Jägers „Wel^eschichte“ in 4 star¬ 
ken Bänden, das für Laien noch empfehlenswerter 
sein dürfte. Beiden haftet jedoch ein Mangel an: 
sie nehmen zu wenig Rücksicht auf die leitenden 
Ideen der Geschichte und ihren Fortschritt. Daher 
sej auch hier wieder hingewiesen auf L. v. Ranke: 
„Über die Epochen der neueren Geschichte: Vor¬ 
träge dem Könige Maximilian II. von Bayern ge¬ 
halten“, im 9. Bande seiner Weltgeschichte, heraus¬ 
gegeben von A. Dove, Leipzig, Duncker & Hum- 
blot. Auch Laien, die sich mit der Entwickelung 
der Weltgeschichte beschäftigen wollen, kann diese 
Arbeit nicht genug zum Studium empfohlen wer¬ 
den. — Das beste Werk über preussische Geschichte 
ist die Arbeit von E. Berner: „Geschichte des preus- 
sischen Staates“, München-Berlin 1890I91; daneben 
ist von bleibendem Werte L. v. Ranke: Zwölf 
Bücher preussischer Geschichte, 2. Aufl. i878}7ft 
Leipzig, Duncker & Humblot, die leider nur bis 
zum Ausbruch des siebenjährigen Krieges reichen. 
Gerade Ranke verdanken wir ja als erstem eine 
Würdigung der wirtschaftlichen Thätigkeit der 
Hohenzollem. Hier sei zugleich auf ein Werk 
aufmerksam gemacht, das für das Studium der 
deutschen Geschichte einem lange gefühlten Be¬ 
dürfnis abgeholfen hat: B. Gebhardt: „Handbuch 
der deutschen Geschichte, 2 Bände“; 1891192, Union, 
Deutsche Verlagsgesellschaft.“ Ausser der poli¬ 
tischen Geschichte ist auch die Verfassungs- und 
Wirtschaftsgeschichte sowie die Entwickelung des 
geistigen Lebens in besonderen Abschnitten behan¬ 
delt, wenigstens bis zum Interregnum, während ae 
von da nur im Rahmen der politischen Geschichte 
berührt werden. Allen Freunden ernster histori¬ 
scher Arbeit sei dies Werk empfohlen. Dr. m. 

No. a6 der Umsebao wird enthalten: 

Maller, Schulmedizin u. Naturheilkunde. — Lampe, Die trans¬ 
sibirische Bahn. — Ettlinger, Der Roman im-vergangenen Jahre. 


G. Horstmann's Druckerei. Frankfurt a. M. 


Dii;il(zed by v^ooQle 


DIE UMSCHAU 

ÜBERSICHT ÜBER DIE FORTSCHRITTE UND BEWEGUNGEN AUF 
EEM GESAMTGEBIET DER WISSENSCHAFT, TECHNIK, 

Wöchentlich eine Nummer. LITTERATUR UND KUNST 


Zu be2iehen durch 
alle Buchhandlungen und 
Postanstaltcn. 

Postrcitungsprciäliste No. 7331.'«. 

Vei'lag von: 

H. Bechhold Verlag:, Frankfurt a. M. 


herausgegeben von 

DR. J. H. BECHHOLD 


Neue Krame 19.31. 


Preis vierteljährlich 
M. 3,50. 

JahrevAbonncment 
Preis M. 10.—. 

Im Ausland nach Coura, 
Verantwortlicher Redakteur: 

Otto Adolf Wolters, Frankfurt a. M. 


26. 1 . Jahrg. 


Nachäruck aus cUm ItOtal! dsr Zsitsehrift ohtts Erlat^ms 
dsr RtdakHon vtrhoUn. 


1897. 26. Juni. 


Der deutsche Roman im vergangenen Jahre. 

Von Josef Ettlincbr. 

I. 

Zwei Umstände bestimmen das Bild der 
belletristischen Prosalitteratur vom letzten 
Jahr: die ungewöhnlich hohe Ziffer der Er¬ 
scheinungen überhaupt und das frappante 
Überwiegen der weibliche^ Talente. Das Eine 
kann etwas zufälliges und vorübergehendes 
sein; das Andere ist so sicher weder zufällig, 
noch vorübergehend, wie der ganze weit¬ 
greifende Umbildungsprozess, der unter dem 
Schlagwort der modernen Frauenbewegung 
verstanden wird. Es ist, ats würden mit dem 
mähligen EntschnOren des schwächeren Ge¬ 
schlechts aus seinen jahrhundertalten Fesseln 
auch auf diesem Gebiet eine Menge neuer 
Kräfte gelöst, die sich vordem nicht hatten 
Umsetzen können; als sei ein Acker, der viele 
Menschenalter lang brach gelegen, zum ersten 
Male umgepflügt und mit junger Saat bestellt 
worden. Nicht etwa, dass Frauen schreiben, 
berührt überraschend; das war höchstens zu 
Roswithas Zeiten noch einigermassen unge¬ 
wöhnlich. Aber dass eine grössere Gruppe weib¬ 
licher Autoren von starken, zum Teil unge¬ 
wöhnlich starken Gaben jetzt gleichzeitig auf 
dem Plan erscheint und im Wettbewerb mit 
den eingetragenen Celebritäten des männ¬ 
lichen Litteraturgeschlechts sieghaft die Führ¬ 
ung nimmt, das ist eine Wandlung, die nicht 
mehr übersehen, nicht mehr weggestritten 
oder weggelächelt werden kann. Sie kommt 
vielleicht uns Mitlebenden nicht so deutlich 
zum Bewusstsein; in künftigen Jahrzehnten 
aber, wenn erst die leichtwiegende Spreu von 
den Körnern geschieden und verweht ist, 
wird man vermutlich an diese Überflügelung 
der männlichen Autoren und den Verlust 
ihrer litterarischen Hegemonie den Beginn 
einer neuen Zeitwende in der Geschichte 
deutscher Prosadichtung knüpfen. 

Umtcfaao 1897. 


Zu solchem Ergebnis muss notwendig ge¬ 
langen, wer das Fazit aus dem massenhaften 
Umsatz an Druckpapier und jenen schwefel¬ 
gelben Umschlägen zieht, die allmählich auch 
bei uns als belletristische Bücheruniform sich 
einzubürgern beginnen. Es kommt allerdings 
hinzu, dass gerade im Bereiche des Romans 
diesem fetten Jahre zahlreiche magere vor¬ 
aufgegangen waren. Die ältere Erzählerschule, 
die durch Namen, wie Spielhagen, Heyse, 
Hopfen, Lindau, Gottschall vertreten 
wird, hat ihren Bankrott schon vor geraumer 
Zeit angemeldet; alle willige Anerkennung 
für ihr früheres Schaffen hilft darüber nicht 
mehr hinweg. Aber auch ihre Gegner, die 
zornigen, jungen Naturalisten, die sich in¬ 
zwischen teils gemausert, teils vom Schauplatz 
verzogen haben, konnten ihre Herrschaft nicht 
etablieren. Weder M. G. Conrads, noch 
Bleibtreus oder Conradis Romane, deren 
Muse „in dem Schenken sein Haus* gegan¬ 
gen und Kellnerin geworden war, haben dem 
Schicksal einer rasclren Vergessenheit ent¬ 
gehen können. Die nervös überreizten, so¬ 
genannten Decadence-Geschichten von Her¬ 
mann Bahr, diesem sonst fähigsten und 
geistreichsten Kopfe des jungen Österreich, 
kamen Ober Kuriositätserfolge in engen Kreisen 
nicht hinaus. Heinz Tovote, der gerühmte 
Columbus des Berliner Grisettenromans, war 
schon vor mehreren Jahren auf dem Boden 
seiner Erfindungsgabe angelangt und treibt 
seitdem, um nicht ganz stumm zu sein, mit 
winzigen Novellchen Homöopathie. Hermann 
Heiberg und der jüngst verstorbene Tel- 
mann, auf deren erste Romane man in den 
achtziger Jahren so grosse Hoffnungen ge¬ 
baut hatte, sind rascher, als gedacht, in die 
platten Niederungen des Feuilletonromans ge¬ 
raten und gelten heute als die bewährtesten 
Klassiker der Leihbibliotheken. Auch der 
begabteste Nachahmer des Zolaachen Experi¬ 
mentalromans, Conrad Alberti, hat nach 

26 


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454 


Ettlinger, Der deutsche Roman im vergangenen Jahre. 


den ersten verheissungsvollen Anläufen nicht 
die Kraft besessen, sich weiter emporzubrin¬ 
gen. Von Max Kretzer, der den eigent¬ 
lichen Berliner Volks- und Proletarierroman 
geschaffen und hier seine unbestrittene Do¬ 
mäne hat, kann man zwar nicht sagen, dass 
er sich gleich den meisten Anderen rückwärts 
entwickelt habe, aber seine stets gleichmässig 
trockene, fast protokollmässig sachliche und 
nüchterne Darstellungsweise schliesst einen 
höheren ästhetischen Effekt seiner Werke 
ausK Andere Autoren der modernen Richtung, 
wie Felix Hollaender oder Hans Land, 
haben nur zeitweilig ernstere litterarische 
Kreise zu interessieren vermocht. Hollaenders 
letzter, Anfangs vorigen Jahres erschienener 
Roman „Sturmwindim Westen“,') eine grob-ge¬ 
schmacklose Zerkleinerung verjährter Skandal¬ 
geschichten aus Berlin W. — die übrigens 
schon Spielhagen am Schlüsse seines Romanes 
„Sonntagskind“ verwerten zu sollen glaubte 
— hat wohl ein paar Monate lang die ge¬ 
wünschte Sensation gemacht, zugleich aber 
die Hoffnungen, die man auf eine Entwick¬ 
lung dieses Talentes gesetzt hatte, für lange 
Zeit hinaus vernichtet. 

Fehlte es daneben auch nicht an manchen 
vollwertigen und gesunden Werken, so bleibt 
doch das Gesamtbild der Produktion seit dem 
Beginn des Jahrzehnts entschieden unerfreu¬ 
lich und dürftig. Und es würde sich auch im 
letzten Jahrgang nur wenig günstiger gestaltet 
haben, wenn eben nicht in diesem, wie schon 
angedeutet, das weibliche Element in so re¬ 
spektabler Stärke und Leistungsfähigkeit am 
Start erschienen wäre. Inmitten dieser Gruppe 
und an ihrer Spitze befindet sich das viel¬ 
leicht stärkste epische Talent unserer jetzigen 
einheimischen Litteratur, das zwar keine neue 
Erscheinung mehr, aber erst vor kurzem in 
den Zenith seines Schaffens getreten ist: 
Helene Böhlau. Ihr Münchner Künstler- 
roraan mit dem seltsamen Titel „Der Rangier¬ 
bahnhof' *) ist der feinsten Reize voll: eine 
milde und doch kräftige Mischung von aro¬ 
matischem Humor und rührend-zarter Seelen¬ 
tragik. Aber beträchtlich höher noch steht 
an erschütternder Kraft und Reife der Ge¬ 
staltung ihr jüngstes Werk: „Das Recht der 
Mutter“,^) diese mit Herzblut geschriebene 
Geschichte eines jungen, reinen Geschöpfs, 
das der Schauer einer kurzen Frühlingsliebes¬ 
nacht zur Mutter und weiterhin zur helden¬ 
mütigen Kämpferin um Leben und Besitz des 
eigenen Schmerzenskindes gemacht hat. Mag 
auch das Genovefaschicksal der tapferen, jun¬ 
gen Seele eines leicht romantischen Neben- 

M Berlin, S. Fischers Verlag. M. 4. *) Berlin, 

F. Fontane & Co. M. 4. •) Berlin, F. Fontane & 

Co. M. 6. 


geschmacks nicht entbehren, — es sind Szenen 
in dem Buche, die zu dem hinreissendsten 
und blühendsten gehören, was unsere Prosa¬ 
dichtung besitzt, und auch was irgend Pein¬ 
liches der Stoff enthalten könnte, hat durch 
den Adel einer echten, unverkünstelten Em¬ 
pfindung die volle Schönheitsweihe erhalten. 
Dabei meldet sich nirgends eine aufdring¬ 
liche Tendenz, wird nirgends die Entrüstung 
des Lesers gegen eine verrottete und inkon¬ 
sequente Gesellschaftsordnung geradezu mobil 
gemacht: einzig für den, der es mitempfindet, 
klingt leise, aber vernehmlich die grenzenlose 
Verachtung der Verfasserin ftlr das tugend¬ 
stolze Pharisäertum der kompakten Majorität 
hindurch. 

Lauter und dringlicher schlägt uns diese 
Anklage wider die herrschende Geschlechts¬ 
moral aus Gabriele Reuters Roman: „Aus 
guter Familie“^) entgegen, wohl dem meist- 
besprochenen Buche des letzten Jahrgangs 
und dem verdienstlichsten, insofern es eine 
ganz bestimmte Kulturmission zu erfüllen und 
in fossil gewordene Anschauungen vom Be¬ 
rufe des Weibes Bresche zu legen trachtet. 
Was seine Blätter entrollen, ist die durchaus 
typische Entwicklungsgeschichte der höheren 
Tochter unserer Tage, von der seligen, fröh¬ 
lichen Konfirmandenzeit bis hinein in die 
Jahre zerronnener Illusionen und verkrüppelter 
Ideale, ein Lebensbild von oft frappanter 
Echtheit und Treue der Beobachtung, bestimmt 
und auch geeignet, den Nachweis zu führen, 
wie einseitig und engherzig die eingebürgerte 
Erziehung unserer Töchter betrieben wird. 
Für die moderne Frauenbewegung ist das 
Buch als Mauerbrecher von unvergleichlich 
höheremWerte, denn Dutzende von Broschüren, 
Versammlungen, Streitreden. Dennoch verrät 
es mit keinem polemischen Worte, keiner 
störenden Reflexion ein Bewusstsein seines 
Zweckes; nur der tragisch verbitterte Schluss 
macht einen entschieden afRchierten Eindruck, 
wie denn auch künstlerisch der zweite Teil 
des Werkes nicht mehr auf der Höhe des 
ersten steht. 

In beiden Romanen ringt ein Weib mit 
seinem Schicksal. In jenem siegt, in diesem 
unterliegt es. Der eine giebt die Tragödie 
der erfüllten, der andere die der unerfüllten 
Mutterschaft. Aber als der letzte, ungenannte 
Grund aller weiblichen Leiden taucht doch 
immer wieder der brutale Egoismus des 
herrschenwollenden Mannes auf, des Mannes, 
der Gesetze und Sitten von je nach seinem 
Eigenwillen geformt und gemodelt hat und 
mit ihrer Hilfe das andere Geschlecht in 
Banden hält. Und wie uns zeitweilig männ- 


*) Berlin, S. Fischer Verlag. 4. Aufl. M. 4. 


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Ettlinger, Der deutsche Roman im vergangenen Jahre. 


455 


liehe Autoren von Sacher-Masochs Stamme 
die traurige Unheilslehre verkünden wollten, 
dass die gesamte Mannheit in weibliche 
Sklavenketten gebannt sei, so zieht sich durch 
die meisten der neueren Frauenromane — nur 
mit viel grösserem und durch die Thatsachen 
bestätigtem Rechte — das Leitmotiv vom 
Egoismus des Mannes in seinen mannig¬ 
fachen Spielarten. Von seinem sinnlichen 
Egoismus erzählt „Seine Gottheit'* von Emil 
Marriot; von seinem gesellschaftlichen 
Egoismus „Sein Ich'* von Emil Roland;®) 
von dem ästhetischen Egoismus des Künstlers 
„Die Lampe der Psyche" von Ida Boy-Ed;’) 
und auch in der Novellenlitteratur weiblichen 
Ursprungs wird das Thema in den verschie¬ 
densten Variationen abgewandelt. 

Am wenigsten würde man hinter dem 
Marriotschen Romane die Feder einer Frau 
vermuten, schon deshalb nicht, weil er ganz 
aus der Seele eines Mannes heraus geschrie¬ 
ben ist. Alles ist hier extrem: der aus ple¬ 
bejischer Abkunft zum gefeierten Chirurgen 
emporgestiegene Mann, der die süsse Schön¬ 
heit eines Mädchens mit einer Art wütender 
Ekstase begehrt und zuletzt, um sein Ziel 
getäuscht, an ihr zum Mörder wird; das 
Mädchen selbst, dessen religiös versteifte 
Keuschheit vor dem brennenden Werben des 
Verlobten immer wieder zurückbebt und lieber 
dem Tod sich, als ihm vermählt. Aber im 
Banne einer starknervigen, straffen und lücken¬ 
losen Darstellung von unerbittlicher Konse¬ 
quenz und Logik vergisst man ganz das 
Raffinement, das sich in der Wahl und Zu- 
sammenfilhrung gerade dieser beiden Cha¬ 
raktere ausdrOckt. Und es ist nicht der letzte 
von den Vorzügen dieses quälend interessan¬ 
ten Buches, dass man nicht entdeckt, auf 
wessen Seite die Verfasserin mit ihrem Herzen 
steht, dass sie Licht und Schatten nirgends 
nach Willkür künstlich verteilt hat. Die heikle 
Technik des Ich-Romans meistert sie spie¬ 
lend; aber indem sie dem ganzen Werke die 
Form von Aufzeichnungen gab, die der zum 
Zuchthaus verdammte Mörder in einsamer 
Zelle niederschreibt, nimmt sie den Schluss 
der Tragödie vorweg und schreckt so den 
Leser von der ersten Seite an durch die Vor¬ 
stellung der sicher kommenden Katastrophe, 
deren Eintritt zum Überfluss noch eine ziem¬ 
lich gewaltsame Verzögerung erfährt. 

Minder schroff und tragisch, aber mit dem 
geheimen Hohne, den schon der Titel an¬ 
klingen lässt, wird der Egoismus einer Man¬ 
nesseele bei Emil Roland aufs Tapet ge¬ 
bracht. Das „Ich“, dessen gedeihliche Existenz 

*) Berlin, Freund & Jeckel (Carl Freund). M. 5. 
•) Berlin, F. Fontane & Co. M. 3. ^) Stuttgart, 

J. G. Cotta Nachf. M. 5. 


um keinen Preis gestört werden darf, gehört 
einem Legationsrat, den die Neigung zu einem 
verwaisten schönen Kinde erfasst hat. Er 
würde sie auch trotz ihrer Armut zu seiner 
Frau machen, aber — ihr einziger Bruder 
büsst eine unbedachte jugendliche That im 
Zuchthaus, und über diesen fatalen täche de 
faniille sich hinwegzusetzen, vermag der etwas 
streberhaft veranlagte, gesellschaftlich korrekte 
Herr trotz aller Liebe zu dem hochherzigen 
und reinen Mädchen nicht. Als er sich end¬ 
lich doch dazu entschliesst, findet er ihr 
Herz schon verriegelt. Mit erfreulicher 
Natürlichkeit und leichter, sicherer Zeichnung 
ist die kleine, aber fesselnde Handlung dar¬ 
gestellt; ihre Qualitäten lassen von dem künf¬ 
tigen Schaffen der bis jetzt wenig hervorge¬ 
tretenen Verfasserin noch das Beste erwarten. 

Nur zu befestigen hatte dagegen Frau 
Ida Boy-Ed ihren Ruf als vortreffliche Er¬ 
zählerin mit ihrem schon genannten jüngsten 
Roman, dessen etwas humanistisch angehauch¬ 
ter Titel eine durchaus moderne und mit 
keinerlei Gelehrsamkeit beschwerte Handlung 
deckt. Dem berechtigten Egoismus des Künst¬ 
lers, dessen schweifende Natur sich in die 
allgemeinen Ehe-Normalstatuten nicht ein- 
passen kann, wird hier mit klugem Bedacht 
die Stange gehalten. Damit verbindet sich 
die feine Grundidee, dass es Thorheit ist, zu 
glauben, Li^be sei die absolute Einheit, in 
der Mannes- und Frauenseele ganz ohne Rest 
aufzugehen vermöchten; dass vielmehr jeder 
Teil stets ein Stück seines Selbst unenthüllt 
und unenträtselt für sich behält, ja behalten 
muss, und dass das gross und zart fühlende 
Weib sich weislich hüten soll, mit Psyches 
Lampe neugierig in Winkel und Tiefen der 
geliebten Seele zu leuchten, die sich ihr nicht 
von selbsl erhellen wollen. Mit dieser ge¬ 
sunden, zwischen den Geschlechtern vermit¬ 
telnden Moral und seiner flüssigen, lichtvollen, 
nur ganz wenig mit verbrauchten Mitteln 
arbeitenden Darstellung gehört das Buch zu 
den erfreulichsten Früchten des Jahres. 

Von einer völlig neuen Seite zeigt sich 
die moderne Frau und ihr Verhältnis zu der 
Ehe als solcher in Annie Bocks Roman 
„Dora Peters", in dem ausnahmsweise der 
Egoismus des Weibes als der bald treibende, 
bald hemmende Faktor wirkt.®) Die Idee, 
den Charakter eines Mädchens aus seinen 
Hüllen zu schälen, das von dem geliebten 
Manne trotz seines Werbens nicht geheiratet 
sein will, einfach weil es sich zur Ehe nicht 
berufen fühlt, ist ebenso originell, wie ihre 
Ausführung gelungen, so lange es sich eben 
nur um dieses Thema dreht. Leider aber hat 


*) Berlin, F, Fontane & Co. M. 5. 

a6' 


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456 


Ettlinger, Der deutsche Roman im vergangenen Jahre. 


die Verfasserin ihre Heldin nicht mit der 
Konsequenz ausgestattet, ihrer subjektiven 
Abneigung gegen die Ehefesseln treu zu 
bleiben, und hat auf den fein modellierten 
Liebesroman auch noch die gröbere Ge¬ 
schichte der daraus erwachsenen Ehe folgen 
lassen, die stark ins Triviale abfällt. Hätte 
das Buch statt seiner drei Teile nur deren 
zwei, und endete es — wie etwa Fontanes 
„Irrungen, Wirrungen" — mit der Scheidung 
zweier resignierter Liebender, anstatt mit der 
zweier entfremdeter Gatten, es könnte An¬ 
spruch auf unumschränktes Lob erheben. Hier 
und da stören wohl ein paar falsche Töne 
den Eindruck; im ganzen aber ist die Dar¬ 
stellung lebhaft, frisch, fast sprudelnd, selten 
salopp und durchweg modern geschult. 

Zwei Frauenromane, die sich ihrerseits 
durch eine Mischung von veralteter und mo¬ 
derner Technik als Produkte einer Übergangs¬ 
zeit kennzeichnen, sind „Am Arbeitsmarkt'* 
von A. von Gersdorff®) und „Moderne Ju¬ 
gend'^ von Bianca Bobertag.^®) Der erste 
der Beiden, der durch das Feuilleton zahl¬ 
reicher Zeitungen ging, lässt sich anfangs an, 
als wolle er vom überfüllten Arbeitsmarkt der 
Grossstadt ein modern-soziales Gemälde ent¬ 
werfen. Aber in dem grossen Rahmen hat 
dann doch nur ein kleines Bildchen Platz 
gefunden: die Geschichte eines verabschie¬ 
deten jungen Offiziers und seines ' Existenz¬ 
kampfes, die wohl partieenweise interessant, 
jedoch im ganzen etwas zu flach behandelt 
und durch eine zwecklos eingeflochtene Neben¬ 
handlung unnütz beschwert ist. Erklecklicheres 
in der Verkettung romantischer Schicksale 
leistet der ziemlich pretentiöse Roman der 
Frau Bobertag, ein überaus breitspurig und 
stillos geschriebenes Buch, von dem man 
schwer versteht, wie ein Verlag von der 
klassischen Vergangenheit des Cottaschen ihm 
Gastfreundschaft gewähren konnte. Die Ge¬ 
schicklichkeit, durch rechtzeitig abgebrochene 
Kapitel Spannung zu erwecken und ein be¬ 
deutender Fonds von Bücherwissen aller Art 
machen allein noch keinen litterarischen Wert 
aus. 

Das wechselfällige Verhältnis zwischen 
Adoptivvater und Pflegesohn, das hier einen 
Teil der arg romantisch verkapselten Hand¬ 
lung bildet, liegt auch dem jüngsten Romane 
der Frau Lou Andreas-Salomö zu Grunde, 
der Spätherbstgeschichte „ Ausfremder Seele“ ^ *) 
die im übrigen von unvergleichlich feinerem 
Gewebe ist, als der lange Bobertagsche Ro¬ 
manstrickstrumpf: kein Buch für Alltags¬ 
menschen freilich, aber eine subtile Seelen- 


•) Leipzig, Carl Reissner. 2 Bd. M. 7. ‘®) Stutt¬ 
gart, Cotta. M. 5. ") Stuttgart, Cotta. M. 2. 


und Stimmungsstudie, bloss etwas fremdartig 
im Stil, weil die Verfasserin dem Anscheine 
nach ihre holländische Herkunft nicht völlig 
verleugnen kann oder will. 

Als Roman im herkömmlichen Sinne lässt 
sich diese Arbeit ebensowenig ansehen, wie 
die beiden grösseren Erzählungen „Rittmeister 
Brand“ und „Bernhard Vogelweid“, die Marie 
Ebner-Eschenbach als ihre Gabe vom 
letzten Jahre zu einem starken Bande ver¬ 
einigt hat.'*) Ich bekenne offen, dass ich zu 
dieser dem Rufe nach grössten unserer zeit¬ 
genössischen Dichterinnen ein persönliches 
Verhältnis nie habe finden können und Ober 
eine hochachtungsvolle Bewunderung ihrer 
klaren, vornehmen, liebenswürdigen Darstell¬ 
ungskunst, die nie ein Wort zu viel und 
keines zu wenig giebt, nicht hinausgekommen 
bin. Ergriffen hat sie mich nie, und ihren 
Menschen gegenüber habe ich die Empfind¬ 
ung, als lägen dicke Glaswände zwischen mir 
und ihnen und der Luft, die sie atmen. 
Dieses Gefühl des Fremd- und Fernseins hat 
der neueste Band ihrer Erzählungen nur ver¬ 
stärken können. Der Held der ersten ist an 
Edelmut ein Teilheim, ein Toggenburg an 
treuer, nichts begehrender Liebe; aber der 
Meisterschaft, mit der sein Porträt gleichsam 
radiert ist, entzieht man sich gleichwohl nicht. 
Dagegen kann bei der grösseren zweiten 
Erzählung aller sonnige Hümor Ober die Nich¬ 
tigkeit und Misswahl des Stoffes, den Herr 
von Moser recht nötig zu einem seiner Alltags¬ 
einakter hätte verwenden können, nicht 
hinwegtäuschen. 

Da mit den zuletzt aufgeführten Arbeiten 
das Gebiet der Novelle einmal gestreift ist, 
mag ein rascher Blick in dieses weite Seiten¬ 
thal der Prosadichtung die Bestätigung brin¬ 
gen, dass auch dort an weiblichen Talenten 
kein Mangel herrscht. Die Führung nimmt 
hier nach wie vor Ilse Frapan, die ihre 
lebhafte und originelle Erfindungsgabe schon 
seit Jahren ausschliesslich in gut durchge¬ 
reiften Novellenbänden ausmünzt und dabei 
in dem Boden ihrer Heimatstadt Hamburg 
die stärksten Wurzeln ihrer Kraft gefunden 
hat. Mit dem 1893 erschienenen Bande „Be‘ 
kannte Gesichter“ hatte sie eine Höhe er¬ 
reicht, auf die sich ihre seitdem ausgegebenen 
Bücher noch nicht wieder gebracht haben, 
auch wohl schwer bringen konnten. Aber 
mit diesem Vorbehalt betrachtet, gewährt ihre 
jüngste Sammlung „ Vom ewig Neuen“ '*) so 
viel heiteren und reinen Genuss, dass man 
jede Furcht verliert, dieses kräftig treibende 
Talent könne seine Blüte schon überschritten 


**) Berlin, Gebr. Paetel fElwin Paetel), M. 6. 
“) Berlin, Gebr. Paetel. M. 5. 


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Müller, Schulmedizin und Naturheilmethode. 


457 


haben. Ihm verwandt, doch 'nicht eben¬ 
bürtig, zeigt sich mit dem Sammelbande 
„Der Lebenskünstler** **) die so rasch zti 
Ruf gelangte Gabriele Reuter, die in der 
grossen Titelnovelle einen ähnlichen Fall 
behandelt, wie ihn der Roman „Sein Ich'^ 
von Emil Roland, und wie ihn auch Suder- 
manns jüngste, übrigens bemerkenswert 
schwache Arbeit „Die indische Lilie** ent¬ 
hält. Mir gefiel am besten aus dem Buche 
die kleinste, aber in ihrer wortkargen Kürze 
eine ganze Menschentragödie umspannende. 
Geschichte „Evis Makel.“ — Als ein völlig 
neues, verheissungvolles Novellentalent er¬ 
schien im letzten Jahr zum ersten Male 
Anselm — sprich: Selma — Heine auf der 
litterarischen Scene, deren drei „Novellen** im 
besten Sinne des Wortes Aufsehen machten. 
Noch mehr war dies bei den Arbeiten von 
C. V i e b i g der Fall, die jedoch vorläufig nur in 
den hervorragenderen Zeitschriften erschienen 
sind. Von sonstigen begabten Novellisten weib¬ 
lichen Namens, wie Adalbert Meinhardt, 
Charlotte N i e se u. A. hat das abgelaufene Jahr 
nichts eingebracht, von Maria Janitschek nur 
einen arg verstrindbergten Skizzenband „ Vom 
Weibe** der eine ungewöhnlich ordinäre 
Phantasie verrät und teilweise besser in einer 
Zeitschrift für Sexualpathologie, als in einer 
litterarischen Kritik be- oder verurteilt wird. 

, (Eip Schlimrtjkel -fplgt.) 


Schulmedizin und Naturheilmethode. 

Voa Dr. med. Paul MOller. 

Wenn unsere Uhr nicht mehr geht, so 
tragen wir sie zum Uhrmacher, weil wir wissen, 
dass wir selbst für gewöhnlich den Schaden 
nicht auffinden und mithin auch nicht heilen 
können, dass nur der Uhrmacher allein in 
diesem Falle der Sachverständige ist und das 
nicht mehr funktionierende Werk wieder in 
Ordnung bringen kann, nachdem er den 
Fehler entdeckt hat. In ähnlicher Weise ver¬ 
fahren wir mit all den Gebrauchs-Gegenstän¬ 
den unseres täglichen Lebens, sobald sie 
reparaturbedürftig sind. Wir erkennen also 
das Prinzip der Arbeitsteilung an, und es ist 
in unseren Kulturstaaten ein Ding der Un¬ 
möglichkeit, dieses in der geschichtlichen 
Entwicklung Gewordene und mithin kulturell 
Höhere an einzelnen Punkten durchbrechen 
und für unberechtigt erklären zu wollen. Auch 
für das Gebiet der Heilkunde muss es gelten. 
Jeder Einsichtige muss sich demgemäss sagen, 

**) Berlin, S. Fischer Verlag. M. 3. Erschienen 
in der „Romanwelt.“ *•) Berlin, Gebrüder Paetel. 
Mk. 4.—. Berlin, S. Fischer, Verlag. Mk. 2.— . 


dass auf dem Gebiete der Krankheit und der 
Heilung derselben der ärztliche Fachmann 
allein der Sachverständige ist und dies um¬ 
somehr, als gerade das Gebiet der Krank¬ 
heitslehre und der Heilkunde ein so unge¬ 
heuer umfangreiches ist, als auf keinem andern 
Gebiete die Möglichkeit von Irrtümern und 
Trugschlüssen sowohl beim Fachmann als in 
noch viel höherem Masse beim A^icÄrfach- 
mann grösser, und auf keinem anderen die 
rein subjektive Auffassung dem allein richtigen 
objektiven thatsächlichen Erkennen mehr hin¬ 
derlich ist, als hier. 

Die Naturheilmethode unterscheidet sich 
zunächst schon in diesem nicht unwesentlichen 
Punkte von der „Schulmedizin“ (um dieses 
Wort hier vorläufig einmal gelten zu lassen): 
im Lager der Naturheilmethode glaubt man 
vielfach, jeder könne mit seinem „natürlichen 
Instinkt sein eigener Arzt** sein; der Besitz 
und das Herumblättern in einem der land¬ 
läufigen Bücher, wie Bock, Kneipp oder Bilz, 
genüge, um eine Krankheitserscheinung bei 
sich selbst oder bei Andern in ihrer Bedeut¬ 
ung richtig zu erkennen und mit Erfolg zu 
behandeln. Gegen diese irrige Ansicht macht 
die Schulmedizin Front! Deshalb wird sie 
vielfach angegriffen: man wirft ihr vor, sie 
wolle die Aufklärung über das heiligste Gut 
der Menschen: über deren körperliche und 
dapii.t^ vielfach im Zusammenhang stehende ® 
soziale und geistige Gesundheit, ihre Erhalt¬ 
ung und ev. Wiedergewinnung verhindern, 
um im Trüben fischen zu können. Dieser 
Vorwurf ist ein durchaus unberechtigter! Die 
durch ihn Betroffenen sind meist zu stolz, 
um etwas darauf zu erwidern; ich will ihn 
aber hier zu widerlegen versuchen. 

Die Mehrzahl des Publikums ist sich näm¬ 
lich des Unterschieds zwischen Gesundheits- 
lehre \xnd Krankheitslthvt. nicht bewusst! Die 
Gesundheitsl^hr^ soll sein ein populäres*N\sstns- 
gebiet; die Krankheits\ehve kann und soll nie 
populär werden! Ebenso, wie ich wissen muss, 
wie ich meine Kleider, meine Möbel etc. zu 
schonen habe, damit sie nicht leiden, dieselben 
aber zum Schneider resp. Möbelhändler schicke, 
wenn sie gelitten haben, ebenso soll ich die 
Regeln der Gesundheitslehre im weitesten 
Sinne beherrschen, um stets nach ihnen han¬ 
deln zu können, soll mir aber meiner Un¬ 
wissenheit bewusst werden, wenn ein stören¬ 
der Moment im normalen Ablauf des Lebens 
sich eingestellt hat und mich in diesem Falle 
an den Fachmann wenden! Wer sich als 
ärztlicher Fachmann nur einen kleinen Er¬ 
fahrungschatz gesammelt hat, dem ist es klar, 
wie kompliziert, wie schwer zu übersehen 
und in ihrer Bedeutung abzuschätzen auf ein¬ 
mal die Verhältnisse werden, wenn sich solche 


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458 


Müller, Schulmedizin und Naturiieilmethode. 


„störenden Momente im Ablauf des körper¬ 
lichen oder geistigen Lebens" (was wir mit 
„Krankheit“ bezeichnen) einstellen. Eine vom 
Nichtfachmann ungeahnte Fülle von Wissen 
und Können, von persönlicher und durch die 
Litteratur überkommener Erfahrung gehört 
dazu, um eine Krankheit nach Ursache, Wesen 
und mutmasslichem Verlauf richtig zu er¬ 
kennen, und wenn sie erkannt, in ihrer Be¬ 
deutung abzutaxieren und ihren Träger da¬ 
von zu befreien; schon diese Fülle von 
Wissen, Können und Erfahrung wird nie 
gestatten, dass die Krankheitslehre und mit 
ihr die Heilkunde populär wird, sondern dass 
sie die Domäne von /'«cÄleuten bleiben muss 
und bleiben wird. Auch noch aus einem 
andern Grunde ist es nicht wünschenswert, 
dass sie populär wird: die Thatsachen der 
Krankheitslehre und der aus ihr sich ergeben¬ 
den Heilkunde bilden ein solches Chaos 
scheinbarer Widersprüche, dass der Kranke 
selbst oder seine nichtfachraännischen Ange¬ 
hörigen, ganz abgesehen davon, dass sie 
Hypochonder werden, bei oberflächlicher Be¬ 
schäftigung mit diesen Fragen in die grösste 
Verwirrung geraten, nicht im Stande sind, 
aus dem scheinbaren Widerspruch der That¬ 
sachen sich zu einem einheitlichen Standpunkt 
durchzuarbeiten, mithin wie ein schwanken¬ 
des Rohr die „Mode“ von einer Theorie zur 
* andern mitmachen, auch wohl trotz des Man¬ 
gels an Fachkenntnissen in schrullenhafter 
Weise sich selbst Theorien zusammenbrauen, 
die „Wissenschaft“ bespötteln und verachten 
zu können glauben und damit einen grossen 
Heilfaktor verlieren: das Vertrauen zum Arzt 
und zu seiner Kunst! Wer diesen Faktor des 
Vertrauens nicht kennt oder unterschätzt, wer 
die Bedeutung des vertrauengeniessenden 
Familienarztes, dieses Freundes und Beraters 
in guten und schlechten Tagen, nicht zu 
würdigen versteht, mit dem an dieser Stelle 
zu debattieren würde vergeblich sein. Viel¬ 
leicht wird er anderer Meinung werden, 
wenn ihn, was ich ihm nicht wünsche, eine 
unheilbare Krankheit, z. B. Krebs oder 
Schwindsucht, packt! Jedenfalls ist es ihm 
dann lieber, einen vertrauenbesitzenden Arzt 
zu haben, der seine Krankheit wohl erkennt, 
der ihm aber mit einer Notlüge die furcht¬ 
baren Seelenqualen der Todesahnung von 
der Stirne streicht, als ein aufklärendes po¬ 
puläres Buch über die Krankheitslehre, dessen 
Lektüre ihm den Rest seines Lebens ver¬ 
gällen kann! Ich bitte nicht missverstanden 
zu werden: der Arzt beansprucht zu einer 
erspriesslichen Wirksamkeit das Vertrauen 
seiner Klienten nicht darum, um, wie der 
römische Augur, gewissermassen die Dummen 
an der Nase herumzuführen, um auf bequeme 


Weise durch Hokuspokus sich die Taschen 
ftlllen zu können, sondern das Vertrauen, 
welches er geniesst und welches auf seinem 
Besitz von solidem Wissen und Erfahrung 
basiert, soll unwillkürlich und unmittelbar ge¬ 
wissermassen suggestiv auf den Kranken 
wirken! Der Kranke braucht eine autoritativ 
auftretende Person, an der er sich aufrichtet. 
Diese Suggestivwirkung nicht nur auf die 
Gemütsverfassung, sondern direkt auf die 
Krankheit selbst ist wissenschaftlich fest¬ 
gestellt. 

Es entsteht nun die weitere Frage: Wer allein 
ist berechtigt, sich „ärztlicher Fachmann“ zu 
nennen? Auch hier gehen die Ansichten der 
Schulmediziner und der Naturheilmethodler 
vielfach auseinander. Ist es zur Ausbildung 
eines aut der Höhe des jeweiligen Erkennens 
stehenden Ärztestandes unumgänglich nötig, 
dass ein Universitäts-Fachstudium mit Staats¬ 
prüfungen gefordert werden muss, oder ist 
es möglich und (wie die Naturheilkunde viel¬ 
fach will) sogar wünschenswert, dass statt 
dessen Leute aus dem Volk, unbekümmert 
um ihre Vorbildung und ihren bisherigen 
Stand durch Unterrichtskurse in einigen 
Wochen oder Monaten zu „praktischen Ver¬ 
tretern der Heilkunde'' herangebildet werden 
können? 

Da die ärztliche Gesamtwissenschaft ein 
festgegliederter organischer Bau ist, so bedarf 
sie zu ihrer Beherrschung auch eines method¬ 
ischen Unterrichts. Auf einem jeden Gebiete 
menschlichen Wissens und Könnens verlan¬ 
gen wir eine Lehrzeit, einen „Studiengang“, 
und je umfangreicher ein einzelnes Gebiet 
wird, um so ausgiebiger muss auch die Lehr¬ 
zeit werden, um so weniger ausreichend wer¬ 
den blosse Unterrichtskurse in „Ausbildungs¬ 
fabriken“ von wenigen Wochen oder Monaten 
sein. Auf jedem Gebiete giebt es Genies, die 
diese Schablone des Unterrichts nicht nötig 
haben und sich gewissermassen aus sich 
selbst heraus zur höchsten Blüte entfalten. 
Doch solche Naturen gehören immer nur zu 
den Ausnahmen. In der Regel kann in kei¬ 
nem Berufszweig, auch in dem des Künstlers 
nicht, eine Schulzeit entbehrt werden! Einer 
jeden Schule haftet etwas Schablonenhaftes, 
Einseitiges an. Jedoch die Vorteile einer me¬ 
thodischen schulgemässen Bildung oder rich¬ 
tiger Z^wrrÄbildung lassen diese eben ange¬ 
deuteten Nachteile verschwindend erscheinen, 
umsomehr, als der Schüler alsbald in dem 
pulsierenden Leben der selbständigen Praxis 
und im Kampfe ums Dasein seine besten 
Kräfte entfalten muss, schliesslich seine cigC' 
nen praktischen Erfahrungen macht und alles 
Unzeitgemässe, Unpraktische mit mehr oder 
weniger Berufstalent ablegt! Wir Arzte kön- 




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Müller, Schulmedizin und Naturheilmethode. 


459 


nen daher in der Regel (mit seltenen ver¬ 
einzelten Ausnahmen) nur dem die moralische 
Berechtigung zur praktischen Ausübung der 
Heilkunde zuerkennen, der einen ärztlichen 
Universitäts-Studiengang durchgemacht hat, 
wobei ich hier auf die Frage: ob human¬ 
istisches Gymnasium oder Realgymnasium als 
Vorstufe, nicht eingehe. Es ist nach unserer 
Ansicht eine bodenlose Gewissenlosigkeit, 
und, wo es wider besseres Wissen geschieht, 
eine schamlose Spitzbüberei, wenn Halbwisser 
auf dem Gebiete der ärztlichen, Kunst sich 
prätentiös hervordrängen und den studierten 
Berufsarzt, der die Mängel der allgemeinen 
Heilkunde, die Grenzen menschlichen Wissens 
und Könnens oft genug schmerzlich empfin¬ 
det, als einen Nichtswisser, einen Giftmischer, 
einen Geldaussauger hinstellen, wenn ein Bade¬ 
meister, der die Technik der Wasserbehand¬ 
lung beherrscht, sich in Selbstüberhebung für 
einen „Arzt ftlr Wasserbehandlung“ halt, oder 
wenn jener Gute, der ein geheimnisvolles 
Lehrbuch der Homöopathie besitzt und in 
ihm herumgeblättert hat, mit Homöopathie 
herumzuquacksalbern sich ftlr berechtigt und 
berufen hält, wie es z. B. leider so mancher 
auf dem Lande treibt! Ein Jeder, der dies 
liest, blicke auf seinen eigenen Beruf: am 
Anfang seiner Berufsthätigkeit schien alles 
so klipp und klar, so einfach, so plausibel, 
und die Zukunft lächelte rosig, je mehr man 
jedoch mit Verständnis , und mit Herz auf 
dem Gebiete seines Berufes sich praktisch 
bethätigte, umsomehr lernte man leider die 
Mängel, die Unvollkommenheit, die unend¬ 
lichen Schwierigkeiten, die dem letzten Er¬ 
kennen und Können im Wege stehen, wür¬ 
digen und sich bescheiden, umsomehr hat 
man aber auch ein Recht, über charlatanist- 
ische „Besserwisser“ seine Entrüstung offen 
auszusprechen. 

Wenn ich bisher von Anhängern der 
Naturheilmethode gesprochen habe, so habe 
ich damit zumeist nur die nicht ärztlich stu¬ 
dierten Vertreter derselben gemeint. Meine 
bisherigen Einwände bezogen sich weniger 
auf die Methode als solche, als auf deren 
Vertreter, soweit sich diese aus den Kreisen 
der nicht ärztlich Studierten rekrutieren. Ge¬ 
rade die Ansichten dieser Letzteren sind 
populär geworden und umfassen vielfach das, 
was man landläufig unter „Naturheilmethode“ 
versteht: man meint, nur ein «/'f:Ä/studierter 
Mann könne ein echter Naturheilkundiger sein. 
Ich kann mich des Eindrucks nicht erwehren, 
als läge dieser Propaganda vielfach das Mo¬ 
tiv einer Verhetzung gegen den KrzX&stand 
als solchen zu Grunde. Es kommt hier ein 
sozialer Gegensatz zum Ausdruck, der eigent¬ 
lich mit den Methoden der Heilung nichts zu 


thun hat, aber unter der Fahne der Natur¬ 
heilmethode nicht in letzter Reihe sich breit¬ 
macht. Dieses sozialen Gegensatzes werden 
sich sowohl die studierten Arzte, welche sich 
offen zur Naturheilmethode bekannt haben, 
als auch zusammen mit ihnen ein Teil der 
vernünftigeren Anhänger unter den Nicht' 
ärzten jetzt mehr und mehr bewusst. Ich 
verweise hier auf einen Artikel eines An¬ 
hängers der Naturheilmethode, des Herrn 
J. Beyer.*) Dieser sehr gute kurze Artikel 
deckt sich mit meinen bisher entwickelten 
Ansichten fast vollkommen! 

Es erübrigt jetzt noch, die beiden Metho¬ 
den als solche, mit ihren vermeintlichen Ge¬ 
gensätzen, einander gegenüberzustellen. 

Das ärztliche Gesamtwissen und -Können 
erstreckt sich 

1) auf die Lehre von den Ursachen der 
Krankheiten und ihrer Verhütung; 

2) auf die Krankheitslehre im engeren 
Sinne; 

3) auf die Heilung der Krankheiten. 

Auf allen 3 Gebieten bestehen zwischen 

Naturheilmethode und Schulmedizin gewisse 
Differenzen. Ich kann hier nur die Haupt¬ 
punkte streifen. 

ad i) Es ist eine höchst segensreiche 
Wirksamkeit, welche die Naturheilmethode 
entfaltet, indem sie dem Publikum die Augen 
öffnet, dass eine vernünftige Lebensführung 
in Bezqg auf Nahrung, Kleidung, Wohnung, 
auf verständigen Wechsel zwischen Arbeit, 
Erholung und Ruhe, dass eine Rückkehr zur 
Einfachheit die Grundbedingungen zur Ge¬ 
sundheit sind. Diese Lehre kann nicht oft 
und nachdrücklich genug gepredigt werden. 
Sie ist segensreich vor Allem mit deshalb, 
weil sie den Aberglauben an „Wundermittel“, 
an „Wunderkuren“ zerstört, weil sie die 
Menschen sittlich hebt, indem sie einsehen 
lernen, dass sie selbst durch vernünftige Le¬ 
bensweise sich gewichtige Garantieen des 
Gesundbleibens resp. Gesundwerdens schaffen, 
dass sie in den Menschen das Geivissen Ober 
die eigene Verantwortlichkeit für die Gesund¬ 
heit ihrer selbst, ihrer Familie, ihrer Unter¬ 
gebenen und Arbeitnehmer weckt. Der 
Naturheilmethode gebührt unstreitig das 
Verdienst, die Frage von der Bedeutung der 
Gesundheitspflege wieder in Fluss gebracht und 
populär gemacht zu haben, womit jedoch nicht 
gesagt sein soll, dass sie damit etwas Neues, 
etwas der Schulmedizin Unbekanntes aufge¬ 
funden hätte. Wenn der Schulmediziner hierin 
etwas zu lässig war, so findet das wohl darin 
seine Erklärung, dass er vielfach, gestützt 

‘) In „Unser Hausarzt", Zeitschrift für Gesund¬ 
heitspflege, Naturheilkunde und Lebenskunst, III. 
Jahrgang, No. 8 vom 16. Januar 1895. 


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Lory, Politische Historie und Kulturgeschichte. 


auf tausendfältige in der Stille seines Berufes 
gemachte Erfahrungen, die Hoffnung aufge- 
geben hat, die Menschheit Ober die Gesund¬ 
heitslehre mit Erfolg aufzuklären, zu über¬ 
zeugen und sie in ihrem Thun und Handeln 
zu beeinflussen. Was haben, um nur ein 
Beispiel anzufOhren, die in der Presse durch 
Wort und Bild dem Publikum, gegebenen 
Warnungen vor den Auswüchsen der gesund¬ 
heitsschädlichen Mode, des engen Korsetts, 
des zu engen Schuhwerks, genützt? So gut 
wie nichts! Die Mode, der Industrieritter ist 
mächtiger als die göttliche Vernunft! Die 
Hoffnung, durch Aufklärung hygienisch zu 
wirken, ist des Weiteren beim Arzte viel¬ 
fach geschwunden, infolge der absoluten 
Aussichtslosigkeit auf Erfolg in all den 
Fällen, in denen der Mensch wohl nach den 
Gesundheitsregeln leben möchte, aber aus 
materieller Not nicht leben kann ! Es ist nicht 
des Arztes Sache und Aufgabe, seine ganze 
Thätigkeit der Sozialpolitik zu weihen und 
sich an der Lösung sozialer Fragen, mehr als 
es jeder andere Staatsbürger zu thun hat, 
aktiv und praktisch zu beteiligen. Der Arzt 
bedauert wohl immer wieder die nie zu be¬ 
kämpfende, auf dem Gesetze der Trägheit 
beruhende Kritiklosigkeit und Dummheit der 
Menschen (wobei ihm oft der Sorgenbrecher 
des Humors zuhilfe kommen muss), er hat 
auch ein warmes Herz für die soziale Not, 
die unser Kulturleben vielfach gezeitigt hat, 
aber er ist in erster Linie praktischer Arzt, 
an den sich der bereits Kranke um Rat wendet, 
der sich mit den gegebenen unvollkommenen 
Verhältnissen, mit der Thatsache der nicht 
aus der Welt zu schaffenden Dummheit und 
geistigen Trägheit der Menschen und des so¬ 
zialen Elends abzufinden und sich gewisser- 
massen durch dieselben mühsam durchzuquälen 
hat, und der sich sehr wohl bewusst ist, dass 
seine Thätigkeit deshalb vielfach nur ein er¬ 
bärmliches Flickwerk ist und gar nichts an¬ 
deres sein kann ! 

Die Besitzer grosser Naturheilanstalten, 
in denen die oberen Zehntausend behandelt 
und abgezapft werden, ebenso wie die schön¬ 
geistigen Naturheilmethodler vom grünen Tisch 
haben leicht reden und dem Doktor praktikus 
draussen in den Arbeitervierteln oder auf dem 
Lande Vorwürfe machen, dass er nicht „natur- 
gemässe Heilfaktoren“ (gesunde Wohn-, Ar- 
beits- und Schlafräume, vernünftigen Wechsel 
zwischen Arbeit und Erholung, ausreichende 
Diät, abhärtende Wasserprozeduren etc.) 
heranziehe! Erst vormachen, lieber Freund 
und Kollege mit der Praxis aurea et diamantina! 

Weiter scheinen die Anhänger der Natur¬ 
heilmethode die Thatsache zu übersehen, dass 
es eine Reihe von Krankheiten giebt, denen 


man auch bei Befolgung der Regeln der Ge¬ 
sundheitslehre trotzdem nicht mit Sicherheit 
aus dem Wege gehen kann; ich erinnere an 
Unglücksfälle z. B. in der Industrie, oder 
durch elementare Gewalten, oder beim Ge¬ 
burtsakt, weiter an gewisse ansteckende Krank¬ 
heiten, wie Masern, Scharlach, (denen man 
höchstens einen gestählteren und widerstands¬ 
fähigeren, nie aber einen absolut unanfecht¬ 
baren Organismus entgegenstellen kann), 
ferner an Krankheiten, deren Ursachen noch 
so unbekannt sind, dass man den Thatsachen 
Gewalt anthun müsste, wenn man sie auf eine 
„naturwidrige Lebensführung" zurückführen 
wollte; ich erinnere an bestimmte Konstitutions- 
Krankheiten, wie Bleichsucht, Zuckerruhr, 
Skrophulose, an die Disposition zur Tuber¬ 
kulose, zur abnormen Fettleibigkeit, zur Gicht, 
zu Nervenerkrankungen, zur Krebserkrankung 
u. s. w. Durch eine vernünftige Lebensweise 
kann man vielleicht (auch nicht sicher), die 
Symptome dieser zuletzt aufgezählten Krank¬ 
heiten oder die akuten in die Erscheinung 
tretenden Ausbrüche derselben mildern oder 
verhindern, nicht aber die Grundursachen 
selbst, die jedenfalls in den geheimsten inneren 
Vorgängen, Anlagen etc. zu suchen sind, aus 
der Welt schaffen. 

(Schluss folgt). 


Politische Historie und Kulturgeschichte. 

Von Karl Lory. 

Die Thätigkeit des Historikers zerfällt in 
zwei sehr wohl auseinander zu haltende 
Momente: das primäre, mechanische der Ge- 
schichts- (besser Quellen)-/orsc/i«w^ und das 
sekundäre, künstlerische der Geschichts- 
schreibung, der Darstellung. Es gab Zeiten, 
die das eine oder das andere zu stark betonten, 
die harmonische Verbindung beider aber hat 
immer die hervorragendsten Produkte der 
geschichtlichen Litteratur gezeitigt. Dass Ge¬ 
schichtsschreibung Kunst ist, wurde in jüngster 
Zeit wiederholt und auch auf dem letzten 
Historikertage zu Innsbruck ausdrücklich be¬ 
tont; dies aber zugegeben, w'ird man leicht 
einsehen, dass auch der Historiker sich den 
die übrige Künstlerwelt jeweilig beherrschen¬ 
den Richtungen und Anschauungen nicht 
wird entziehen können. Nie freilich wird er 
in dieser Beziehung bahnbrechend sein, viel¬ 
mehr stets der empfangende, nachahmende 
Teil; schon deswegen, weil er meistens — 
aus Mangel an Zeit und vielfach auch an 
Lust, sich in Fühlung z. B. mit der neuesten 
Litteratur zu halten — die in seiner Jugend 
herrschende und von ihm aufgenommene 


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Lory, Politische Historie und Kulturgeschichte, 


461 


Richtung sein Leben lang festhalten wird; 
man denke nur an L. v. Ranke, den Vertreter 
des Kosmopolitismus mitten in einer Zeit, da 
das nationale Empfinden scharf und ausge¬ 
sprochen hervorzutreten begann; immer aber, 
früher oder später, wird die Geschichtsschrei¬ 
bung in jene Bahnen einlenken, die auch 
Poesie, Malerei etc. bereits gegangen sind. 

Demjenigen unter den deutschen Historikern 
nun, der bestimmt zu sein scheint, eine neue 
Epoche in der deutschen Geschichtswissen¬ 
schaft zu begründen, kam diese Wahrheit in 
Bezug auf sein eigenes System selbst zum 
Bewusstsein — ein Zeichen dafür, wie 
Lamprecht — denn er ist es, den wir 
meinen — sich selbst historisch zu begreifen 
gesucht und vermocht hat. Der durch seine 
„Deutsche Geschichte“, ein nicht eben leicht 
zu lesendes, aber ausserordentlich belehrendes 
und fesselndes Buch, in den weitesten Kreisen 
bekannt gewordene Leipziger Geschichts¬ 
professor hat nämlich noch vor nicht allzu 
langer Zeit seine neue Methode in Parallele 
gestellt mit der Freilichtmalerei und Impres- 
sionistik auf dem Gebiete der Kunst: wie man 
dort anfänglich über „grobe Realistik", über 
„Materialismus in der Kunst" u. dergl. geklagt 
habe, wie die neue Technik aber doch gegen¬ 
wärtig zur unbestrittenen Herrschaft gelangt sei, 
so, meint er, werde es auch in der Geschichts¬ 
wissenschaft gehen. Lamprecht hätte aber 
auch an die neueste belletristische Litteratur 
erinnern können, die ja in den letzten Jahren 
bekanntlich auch die Wendung vom ausge¬ 
sprochenen Realismus zur Psychologie gemacht 
hat — eben dahin will er, wie wir sehen 
werden, die Geschichtsschreibun? führen. Und 
die geschichtliche Entwicklung hat er zweifels¬ 
ohne für sich: auch die Historie wird die 
Bahnen finden, in welchen Kunst und Litter¬ 
atur sich bereits bewegen. — 

Historisch betrachtet bedeutet Lamprechts 
Methode die längst notwendig gewordene 
Reaktion gegen die sog. ,,politische Schule“ 
in der deutschen Geschichtswissenschaft, wie 
denn auch die politischen Historiker sein Auf¬ 
treten bereits auf allen Linien als Kriegs¬ 
erklärung aufgenommen haben. Wenn wir 
um hundert Jahre zurOckgehen, so finden wir 
die Historiographie wesentlich von philo¬ 
sophischen Ideen beherrscht; die Namen der 
grössten unserer klassischen Dichter sind ihr 
nicht fremd. Unter dem Einfluss der durch 
F. A. Wolf erst recht eigentlich in die Wissen¬ 
schaft eingeführten Kritik aber, wozu auch - 
abgesehen von dem nur vorübergehenden der 
Romantiker — jener der Hegelschen Philo¬ 
sophie mit ihrer in den Mittelpunkt gestellten 
Idee vom Staate kam, bildete sich die neuere 
deutsche Historie, die „kritische" (wir nennen 


nur Niebuhr, Dahlmann, Ranke) und aus der¬ 
selben hervorgehend die „politische“ Schule. 
Jak. Grimm hat es zuerst ausgesprochen, dass 
es „höchste Not“ sei, „aus der Geschichte 
die Politik aufzubauen“; ihre Hauptvertreter, 
Sybel und Treitschke, sind bekanntlich vor 
noch nicht allzu langer Zeit aus dem Leben 
geschieden. Die politische Schule war ganz 
unzweifelhaft ein Fortschritt gegenüber der 
rein 4 critischen; sie suchte und fand die Ver¬ 
bindung mit dem praktischen Leben, unserer 
Ansicht nach nicht das schlechteste Ziel jeder 
wahren Wissenschaft, der es doch nie genügen 
darf, die Summe des Erforschten in möglichst 
vielen unhandlichen und schwerverständlichen, 
kaum dem Fachmann in ihrer Gesamtheit 
überblickbaren Anzahl von Folianten aufzu¬ 
stapeln, damit gelehrter Kastengeist sich daran 
ergötzen könne, wie etwa ein Kind an seinen 
geheimen Schätzen; die politischen Historiker 
thaten ausserdem den glücklichen Griff, die 
in massgebenden Kreisen geflegten und später 
siegreichen kleindeutschen Ideen sich anzu¬ 
eignen, die in ihren strengsten Konsequenzen 
freilich bisweilen zum preussischen Partikular¬ 
ismus führten, wie denn auch die beiden Führer 
der Schule es bekanntlich zu Hofhistorio¬ 
graphen gebracht haben. Was die speziell 
an H. V. Sybel sich anschliessenden Historiker 
als ihre Aufgabe ansehen, hat Fr. Meinecke 
in seinem dem verstorbenen Meister gewid¬ 
meten Nachruf (Hist. Zeitschr., Bd. 75, 390 ff.) 
ausgesprochen: „Wir, die wir meinen", heisst 
es dort, „dass die idealistische Weltanschauung 
und das intensive Staatsgefühl des älteren 
Geschlechtes sich noch keineswegs ausgelebt 
haben, wollen ein Vermächtnis in Treue 
pflegen, ohne dass wir es deswegen epigonen¬ 
haft zum unverrückbaren Dogma erstarren 
lassen brauchen". Aber es klingt doch für- 
wahr sehr resigniert, wenn wir kurz zuvor 
die Worte lesen; „Wir bemühen uns, die 
politische Weisheit der sybelschen Generation 
als Erbe festzuhalten; aber es fehlt uns dabei 
der unmittelbare politische Impuls, und so 
versiegt eine Quelle des Lebens für uns". 
Und wenn Meinecke sich auf eine Zukunft 
vertröstet, wo sie der Nation beweisen könnten, 
„dass ihre emsige Arbeit auch für die Auf¬ 
gaben der Gegenwart nicht fruchtlos geblieben 
sei", so hat er die Geschichte wenigstens 
kaum für sich. 

Gegenüber der „politischen Historie“ be¬ 
zeichnet man die durch Lamprecht vertretene 
Richtung gemeiniglich als „Kulturgeschichte“. 
Jedenfalls mehr aus historischen Rücksichten 
als deshalb, weil damit das Wesen der Sache 
besonders glücklich bezeichnet würde. Als 
Vater der Kulturgeschichte gilt bekanntlich 
kein Geringerer denn Voltaire; Verbreitung von 


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462 


Lory, Politische Historie und Kulturgeschichte. 


Humanität und Aufklärung schien ihm das 
wahre Ziel aller geschichtlichen Entwicklung. 
Zur Aufnahme des Wortes hat ein unschein¬ 
bares Lehrbuch für Realschüler viel beige¬ 
tragen, nämlich Adelungs „Kurzer Begriff 
menschlicher Fertigkeiten“, woraus später 
„Versuche einer Geschichte der Kultur des 
menschlichen Geschlechtes“ wurden: kleine 
Ursachen, grosse Wirkungen — das Wort 
„Kulturgeschichte“ war geschaffen! 

Die alles beherrschende kritische Richtung 
aber war der Kulturgeschichte nicht günstig; 
und uns will es fast scheinen, als habe sich 
der Begriff derselben hauptsächlich dadurch 
erhalten und eingebürgert, dass das Volk^ 
instinktiv fühlend, wie viel mehr die Kultur¬ 
geschichte seinen Ansprüchen und Neigungen 
entgegenkommen müsse, als die Diplomaten- 
und Staatengeschichte, ihr sein Interesse er¬ 
hielt, wie denn auch die Arbeiten der berühm¬ 
testen Kulturhistoriker überwiegend populärer 
Natur waren: man denke nur an G. Freytag, 
der ein freies Dichterleben der akademischen 
Laufbahn vorzog; an W. H. Riehl, bei dem 
man nicht weiss, wo der Poet aufhört und 
der Gelehrte anfängt; aber auch an J. Scherr 
z. B., den Cyniker unter den deutschen 
Historikern, dessen Namen eine zartere Gene¬ 
ration nicht gerne nennt, weil er die üble 
Gewohnheit hatte, die Wahrheit furchtbar 
grob zu sagen, der aber doch die echten 
deutschen Trutzköpfe immer wieder begeistern 
wird. Wie sehr würde der Laie, der vielleicht 
der Lektüre dieser Männer wahrhaft histo¬ 
risches Wissen verdankt, überrascht sein, 
wenn er etwa in Wegeies „Geschichte der 
deutschen Historiographie" die Namen Riehl 
und Scherr überhaupt nicht und den G. Frey¬ 
tags nur in einer Anmerkung finden würde! 

Freilich gab es nun aber auch schon vor 
Lamprecht eine „zünftige“ Kulturhistorie, von 
der „politischen“ Stiefmutter als nicht aus 
der Welt zu schaffendes Übel geduldet, so¬ 
lange sie hübsch eingezogen lebte und klein 
beigab; denn sonst sprach man ihr einfach 
die Existenzberechtigung ab — wir erinnern 
nur an den Konflikt zwischen Schäfer und 
Gothein —, und das bedeutete ungefähr so 
viel als „Roma locuta est“, was meist eben 
genug bedeutet. Allgemach war man soweit 
gekommen, dass selbst ein Kulturhistoriker 
wie von Zwiedineck die Verwertung des kul¬ 
turgeschichtlichen Momentes in Treitschkes 
„Geschichte des deutschen Volkes“ als Ideal 
hinstellen konnte! Denn die Zeit, mächtiger 
als alle Schule, hatte ja schon längst immer 
gebieterischer das Bedürfnis fühlbar gemacht, 
das Leben des Volkes und seiner Geschichte 
zu berücksichtigen. Die Frage nach dem „Wie?“ 
machte der politischen Historie viel Kopf¬ 


zerbrechen, und die Antwort der meisten 
schien zwar einfach, war aber wenig geist¬ 
reich : entweder vorne oder hinten, entweder 
als Einleitung oder als Appendix flickte man 
gemeiniglich einen kulturgeschichtlichen Um¬ 
riss als unentbehrlichen Hintergrund an; be¬ 
sonders schön hat es Johannes Janssen in 
seiner deutschen Geschichte gemacht, indem 
er Erziehung, Unterricht, Kunst, Wissenschaft, 
Politik je in einem Kapitel mit entsprechend 
vielen Unterabteilungen hübsch artig neben¬ 
einander abthat; manchen Leuten hat das so 
gut gefallen, dass es ein Jesuit nunmehr für 
die Zeit vor der Reformation nachahmen 
will; einsichtige Historiker freilich — auch 
gutkatholische — schüttelten über eine solche 
Verarbeitung des Stoffes den Kopf. Treitschke 
dagegen, nicht zuletzt auch ein Künstler der 
Form, hat — das muss zugestanden werden 
— vielleicht den besten Ausweg gefunden; 
die alle geschichtliche Entwickelung bedingen¬ 
den] geistigen Kollektivkräfte des gesamten 
Volkskörpers aber zum Mittelpunkt der Dar¬ 
stellung zu machen, das wäre Treitschke 
schon nach seiner ganzen Veranlagung un¬ 
möglich gewesen, und. dazu hätte es auch 
einer völligen Umgestaltung der historischen 
Methode bedurft. 

Diese Umgestaltung hat uns Lamprecht 
gebracht. 

Lamprechts Vorläufer — nicht seine Vor¬ 
bilder! — sind vor allem im Auslande zu 
suchen: wir erinnern an Condorcet, der zu¬ 
erst sozialistische Anschauungen und natur¬ 
wissenschaftliche Gesetze in die Geschichts¬ 
wissenschaft hineingetragen hat; ein deutscher 
Historiker nannte dieses erste Aufleuchten 
eines neuen Morgenrotes bezeichnenderweise 
„verhängnisvoll“! Ferner an Comte, den Ver¬ 
treter der sozialen Dynamik, an Buckle, den 
Darwinisten in der Geschichte, Verfasser der 
hochberühmten „Geschichte der englischen 
Zivilisation“, u. s. w. In Deutschland wagte 
es Du Böis-Reymond, den Berufshistorikern 
ins Handwerk zu pfuschen, und wurde dafür 
wie seine ausländischen Kollegen von den Män¬ 
nern der strengen Observanz gebührend zu¬ 
rechtgewiesen. 

Lamprecht darf aber mit den Genannten 
keineswegs zusammengeworfen werden. Sein 
System begreift man nur dann völlig, wenn 
man seine Entwicklung kennt, wie er sie 
selbst uns geschildert hat. Bei der Lektüre 
der Quellen der deutschen Kirchen- und Pro¬ 
fangeschichte des X. Jahrh. „bildete sich ihm 
die Erfahrung von der Existenz eines im Ver¬ 
hältnis zu heute absolut anderen Geisteslebens 
zu dieser Zeit“. Er ging dann zur Kunstge¬ 
schichte über, zog auch die Litteratur etc. 
heran, und fand die allgemeine psychische 


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Lory, Politische Historie und Kulturgeschichte. 


463 


Disposition, von der aus die Kunst gepflegt j 
wurde, mit jener der Sitte und Litteratur 
identisch. Gegenüber dem Abstand von heute 
sah er sich nun vor die Aufgabe gestellt, die 
im Leben des Volkes vor sich gegangenen 
säkularen Wandlungen zu verfolgen; als das 
notwendige Fundament erkannte er das Wirt¬ 
schaftsleben, oder, wie man sich damals nach 
Roschers Vorgang noch ausdrückte, „die ma¬ 
terielle Kultur". Seine Studien umfassten all¬ 
mählich fast alle Zweige des menschlichen 
Lebens, und je mehr er sich in den Geist 
der einzelnen Epochen vertiefte, um so über¬ 
zeugter trat in ihm der Gedanke zu Tage, 
dass sich geistige und materielle Kultur über' 
all ganz genau die Wage hielten, ein Gedanke, 
den er dann in seiner „Deutschen Geschichte" 
zu verkörpern suchte. Dem Geisteszustand 
der ältesten Zeit, von ihm mit Symbolismus 
bezeichnet — die symbolische Abstammungs¬ 
sage z. B. erscheint ihm als Charakteristikum 
desselben, entspricht die „okkupatorische" 
Wirtschaft; „Typismus" ist sein Schlagwort 
für die Zeit vom 3. — ii. Jahrh., abgelöst von 
dem „Konventionalismus" der Stauferzeit und 
des ausgehenden Mittelalters; beiden entspricht 
die damals herrschende Naturalwirtschaft, und 
zwar dem Typismus die markgenössische 
Kultur, welche dann, wie der Typismus in den 
Konventionalismus, in die grundherrliche über¬ 
ging. Das En?porkQ^m^en, der Geldwirtschaft, 
das Erstarken von Handel und Industrie am 
Ausgang des Mittelalters führt im Wirtschafts¬ 
leben ebenso eine neue Zeit herauf wie die 
Glaubensspaltung im geistigen — Luther er¬ 
rang dem Individuum die Freiheit im Glau¬ 
ben, Jahrhunderte später dann Kant die Frei¬ 
heit vom Glauben, an Stelle der Offenbarung 
die Vernunft setzend: Luther ist vorbildlich : 
für den „Individualismus", Kant für den „Sub¬ 
jektivismus" ihrer zeitgenössischen Geistes¬ 
kultur ; und auch hier wieder die Parallele zum 
Wirtschaftsleben: dem Individualismus ent¬ 
spricht der genossenschaftliche, dem Subjek¬ 
tivismus der individuelle Betrieb von Handel 
und Industrie. 

Im Verlaufe seiner Studien wurde sich 
Lamprecht klar über die Methode, welche 
besser als die bisherige die Geschichte dem 


*) Lamprechts Auffassung von Luther ist auch 
sonst verbreitet; über Kant urteilt u. a. ähnlich Joh. 
Scherr. Man könnte jedoch mit Häckel diesen bei¬ 
den ebensogut Keppler und Darwin gegenüber¬ 
stellen, als Beseitiger des geocentrischen und an- 
thropocentrischen Standpunktes; Ranke hat bekannt¬ 
lich eine ähnliche Einteilung wie Lamprecht ver¬ 
sucht, jedoch die ihn beherrschende-Idee vom Staate 
in den Mittelpunkt gestellt. Alle derartigen Ver¬ 
suche werden überhaupt immer von der Persön¬ 
lichkeit ihres Urhebers abhängig und daher stets 
mehr geistreich als strengbeweisend sein. 


grossen, allgemeinen Ziel jeder Wissenschaft 
zuführen könne, nämlich „die Anschauungs¬ 
komplexe der sinnlichen Wahrnehmung durch 
begriffliches Denken in ihre Teile zu zerlegen 
und von Neuem ordnend zusammenzusetzen." 
Nicht sofort aber Hess er sich klar und be¬ 
stimmt über diese seine neue Methode aus: 
er war gefasst auf theoretischen Widerspruch 
und wollte an der Hand der Polemik seine 
An- und Absichten darlegen. Man begnügte 
sich jedoch lange Zeit damit, ihm einzelne 
Ungenauigkeiten u. dgl. in seiner deutschen 
Geschichte nachzuweisen, um ihn damit — 
wie er selbst sagt — womöglich wissenschaft¬ 
lich abzuthun; auf die Prinzipienfrage ging 
man erst auf seine eigene Anregung hin ein, 
und nun allmählich gruppierten sich seine 
Gegner: die einen um die Sybelsche „Hist. 
Zeitschrift", die andern um das „Hist. Jahr¬ 
buch" der Görresgesellschaft. Von letzterer 
Seite aus bemühte man sich vor allem, seine 
Theorie auf Dogma und Kirchenglauben hin 
zu prüfen und ihn ev. zum Ungläubigen zu 
stempeln; in allerjüngster Zeit hat man z. B. 
seine Negierung der Willensfreiheit in der Ge¬ 
schichte hervorgezogen; Lamprecht hat sich 
bis dato jedoch noch nicht herbeigelassen, 
auf „ultramontane" Angriffe zu antworten. 

Dagegen hat er die von Rachfahl, Meinecke 
u. a. eröffnete Fehde mit den politischen 
Historikern bereitwilligst aufgenommen; der¬ 
selben verdanken wir zwei grundlegende Ab¬ 
handlungen aus seiner Feder, die Broschüre 
über „Alte und neue Richtungen in der Ge¬ 
schichtswissenschaft" und den Aufsatz „Was 
ist Kulturgeschichte?" in der von ihm mit- 
herausgegebenen „Deutschen Zeitschrift für 
Geschichtswissenschaft“. 

Schritt für Schritt hat er darin über seine 
Methode Aufschluss gegeben. Seine Darleg¬ 
ungen verdienten eine eingehende Würdig¬ 
ung, welche aber den uns gewährten, ohne¬ 
hin sich schon seinem Ende zuneigenden 
Raum ganz allein beanspruchen würde. Hier 
nur soviel: Eine bestimmte Weltanschauung 
— meint Lamprecht — hat mit der Auffass¬ 
ung der Geschichte überhaupt nichts zu thun; 
es handelt sich nur darum, was man als 
„Motor der Erklärung" der geschichtlichen 
Erscheinungen nimmt; eine ältere Richtung 
nahm das Zweckprinzip, konnte aber damit 
für eine Anzahl von Vorgängen keine befrie¬ 
digende Erklärung finden, speziell dann, wenn 
„das individuelle Moment des Thuns zurück¬ 
tritt vor der generischen Gleichmässigkeit 
des Ergebnisses aller Handlungen; hier for¬ 
dert die Betrachtung statt des Erkenntnis¬ 
prinzips das der Kausalität, und statt der in¬ 
dividuell gefärbten Personengeschichte ent¬ 
steht eine Lebenshaltungsgeschichte generi- 


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464 


KalT'Reuleaux, Der Goldbergbau in Transvaal. 


scher, kollektivistischer Natur. Grundlage der 
geschichtlichen Betrachtungsweise ist und 
war von jeher die Psychologie, bei den Äl¬ 
teren allerdings — bei Schlosser, Gervinus, 
Ranke — die individuelle, an deren Stelle 
die kollektivistische zu treten habe; und die 
Kulturgeschichte im Sinne einer Wissenschaft 
des sozialpsychischen Gesamtverlaufs müsse 
für alle geschichtlichen Richtungen oberste Be¬ 
dingung werden. 

Die so von Lamprecht empfohlene sozial¬ 
psychologische Betrachtungsweise hat in Jüngs¬ 
ter Zeit Hintze in der Hist. Zeitschrift als 
hervorragende Errungenschaft gepriesen und 
Lamprecht selbst hat in dieser allerdings 
hochbedeutsamen Kundgebung eines politi¬ 
schen Historikers »eine Wendung im ge¬ 
schichtswissenschaftlichen Streit“ erblickt; 
seinen Abschluss aber dürfte dieser Streit 
voraussichtlich noch nicht in allzunaher Zeit 
finden, und wir werden nicht ermangeln, 
den Lesern der »Umschau“ gelegentlich über 
dessen Weiterentwickelung zu berichten. 


Der Goldbergbau in Transvaal. 

Vou O. Kalt-Reuleaux. 

Das Gold kommt in der südafrikanischen Repu¬ 
blik sowohl in Konglomeratflözen*), in Gängen*), als 
auch als Alluvium*) vor. Bergmännisch abgebaut 
werden jedoch blos die Flöze, die der /Tavforma- 
tion angehören, welche in horizontalen Schichten 
gelagert, abwechselnd von Thonschiefern, Sand¬ 
steinen , Konglomeratoren und Diabasen gebildet 
wird. Geographisch verteilen sich die Goldfunde 



auf die Felder des Witwatersrand, des De-Kaap- 
Lydenburg-, Klein-Letaba-, Klerksdorp-, Malmani- 
Marakasard-, Houtboschdorp-, Vryheid- und Selati- 


I) G&nge aus einzelneQ durch Kieselgur verbundeoeD QuarZ' 
Kieseln gebildet, die das Gold enthalten. 

■) Erzfahrende Spalten. 

*) AnscbweminuDg. 


distriktes, aber die Ausbeute des Witwatersrand 
betrug im Jahre 1895 ein Gewicht von 47,631 kg 
gegenüber 5,225 kg aller übrigen Goldfelder. Dort 
ist auch allein ein bergmännisch-technischer Betrieb 
auf den Gruben eingerichtet, in den anderen 
Bezirken arbeitet man noch häufig in der ur¬ 
wüchsigsten Weise. 

Der Witwatersrand ist ein öder Gebirgsrücken, 
der sich von Westen nach Osten, etwa 50 km südlich 
der Landeshauptstadt Prätoria hinzieht und die 
Wasserscheide bildet zwischen dem Flussgebiete 
Oranje und Limpopo, dem atlantischen und indischen 
Ozean. An diesen lehnt sich im Süden eine breite 
Flözmulde, die zahlreiche mit Sandsteinschichten 
wechsellagernde goldhaltende Konglomerate führt, 
welche sich nach der Mitte des Beckens abflachen. 
Man hat bisher 6 Flözgruppen aufgefunden, baut 
aber gegenwärtig nur die Hauptflözgruppe ab, und 
zwar auf ungefähr 70 Gruben in ausgedehnten, 
technisch hochentwickelten Betrieben. Die Haupt¬ 
flözgruppe ist bis jetzt auf annähernd 80 km Länge, 
wenn auch wiederholt mit kürzeren Unterbrech¬ 
ungen, erschlossen worden. Die Bergbaubetriebe 
haben bisher als tiefsten Schacht einen solchen auf 
der Farm Elandsfontein von rund 750 m Tiefe ge¬ 
senkt und gefunden, dass die Flöze in jeder be¬ 
liebigen Tiefe gleichmässig mit Gold durchsetzt 
sind. Diese Flöze sind schichtenartig auftretende 
Anhäufungen von Quarz-Kieseln der verschiedensten 
Grösse, deren kieseliges Bindeglied von blaugrauer 
Farbe das Gold birgt. Die Mächtigkeit der Flöze 
wechselt von der Dicke einer einfachen Schnur bis 
zu 30 m und der Goldgehalt von wenigen bis zu 
loo Gramm pro Tonne Gestein. 

Im Jahre 1885 fand der Boer Stuben, der seine 
Schafherde auf die Weide in dem als Wüste gel¬ 
tenden Gebirgszuge trieb, der Stätte, wo heute die 
Langlaagte Grube liegt, glitzerndes Quarzgestein, 
das sich als goldhaltiges Quarzkonglomerat erwies 
und sofort einen stetig anschwellenden Strom von 
Goldhungrigen dem Lande zuzog, in dem bis da¬ 
hin die Boeren, welche die Kultur der Briten in 
der Kapkolonie und in Natal flohen, ein anspruchs¬ 
loses Dasein als Ackerbauern und Hirten gefristet 
hatten. Englische und amerikanische Kapitalisten 
nutzten die Gelegenheit aus und bald herrschte die 
Bienenemsigkeit zahlloser Goldgräber in der früher 
so ruhigen Stille der Berge und Schluchten. Die 
Boerenregierung war anfänglich geblendet von der 
wirtschaftlichen Entwickelung des Landes, denn die 
Burghers erhielten von den Aktiengesellschaften 
jeden Preis für ihren Grund und Boden bezahlt, der 
früher nur kärgliches Einkommen sicherte. Sie 
waren eine Weile ohnmächtig, die Bergbauindustrie, 
gesetzlich zu regeln, bis der Staatssekretär 
Dr. L e y d s ein Gesetz entwarf und von dem Volks- 
raad billigen Hess, welches nicht nur die jedem 
Goldgräber zukommende Bodenfläche festsetzte 
sondern auch bestimmte, dass jeder „Claim“ abge¬ 
baut werden musste, sollte sein Besitzer nicht das 
Eigentumsrecht einbüssen. Diese Stipulation sollte 
verhindern, dass ein und dieselbe, über bedeuten¬ 
dere Kapitalien'’ verfügende Person ein grösseres 
Areal in ihre Hand vereinige. Trotzdem trat die¬ 
ser Fall später ein, und sind augenblicklich nur 
reiche Aktiengesellschaften in Witwatersrand thätig. 


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Kalt-Reuleaux, Der Goldbergbau in Transvaal, 


♦65 


Verschuldet wurde die Erscheinung einerseits da- ' mit 16-24 Paar Ochsen bespannten geräumigen 
durch, dass das Gold in dem Konglomerate gleich- | Planwagen mussten alle Lebensmittel von der 
mässig, aber in unbedeutenden Mengen verteilt ; Kapkolonie herbeigeschafft werden, so da ss ftlr eine 
ist, was dessen Gewinnung erschwert und söge- Tonne Gewicht 6-800 Mark Fracht gezahlt werden 



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nannte „Goldnester" — d. h. mit Gold stark durch- musste. Von den damaligen Preisen geben die 
setzte Einzelstellen — ausschliesst, die den auf heutigen noch ein annäherndes Bild; obgleich 
eigene Faust schürfenden Goldgfäber mit einem , Johannesburg, das sich seit zehn Jahren aus Nichts 
Schlage bereichern, anderseits durch die Teuerung ! zu einer Stadt von ca. 70—80,000 Einwohnern mit 
infolge der schlechten Verkehrsmittel. Auf den | mehreren Theatern, trefflichen Hotels, elektrischer 



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466 


Kalt*Reuleaux, Der Goldbergbau in Transvaal. 


Beleuchtung u. s. f. emporgeschwungen hat, durch 
drei Eisenbahnlinien mit den Küstenstädten verbun* 
den ist, kostet dort heute noch die Flasche deutschen 
Bieres 3,50 Mk., das Gläschen Whiskey oder Genever 
75 Pfg*» Paar Stiefel 40 Mk., das Besohlen 
eines solchen 10 Mk. u. s. f. Die Goldgräber konn¬ 
ten allgemach eben ihren Lebensunterhalt von der 
Goldausbeute bestreiten und waren gezwungen, 
ihre Claims den Aktiengesellschaften zu verkaufen 
und selbst in deren Dienste als Bergarbeiter zu 
treten. Der erzielte Tagelohn von 20 Mk. pro acht¬ 
stündige Schicht, war und ist noch sehr hoch, das 
grösste Hemmnis filr die Fortentwicklung der Berg¬ 
bauindustrie, allein Ersparnisse zu erübrigen ver¬ 
hinderten die Kosten der Lebenshaltung. Selbst heute 
noch lebt der Arbeiterstand im Goldlande von der 
Hand in den Mund, denn leibliche Genüsse versagt 
er sich nicht. 

Nun brach die Epoche des Grossbetriebes an, 
der heute in den bedeutenderen Gruben durchaus 
auf der Höhe der Zeit steht. Während man an¬ 
fänglich blos das Ausgehende der Lagerstätten mit 
Tagebaubetrieb gewinnen konnte, war man 
infolge des starken Fallwinkels der Flöze bald ge¬ 
nötigt, zum unterirdischen Betriebe überzugehen, 
indem man vorwiegend flache Schächte und von 
diesen horizontale Sohlenstrecken anlegte. Das 
geförderte Konglomeratgestein wird durch Farbige, 
die 3 Mk. Tagelohn erhalten, in eisernen Förder¬ 
kästen zu den Schächten geschafft und dort ver¬ 
mittelst Eisenkübel zu Tage gefördert. In vielen 
Gruben geschieht die Förderung durch elektrische 
Kraft. 

Der Arbeitsprozess bei der Goldgewinnung be¬ 
steht in der Zerkleinerung des Gesteins in den 
Pochwerken, der Amalgamation des darin ent¬ 
haltenen freien Goldes, der Ausscheidung der 
Schwefelkiese, der Gewinnung des Goldes aus den 
Rückständen des Pochwerkbetriebes und aus den 
Schwefelkiesen. Das Konglomerat wird zunächst 
durch Steinbrecher zerkleinert und vermittelst selbst- 
thätiger Aufgabevorrichtungen in Pochwerke zu 
5 Pochstepgeln geschafft, in denen es durch die 
1000 Pfund schw'eren Stengel zu Pochmehl ver¬ 
wandelt wird. Nun giesst man Quecksilber in die 
Pochtröge, wodurch das Gold amalgamiert wird, 
das Pochmehl wird dann mittelst Wasserspülung 
durch feinmaschige Siebe geführt und in breitem, 
dünnem Strome über die auf einer Seite der Poch¬ 
sätze aufgestellten Amalgamiertische geleitet, welche 
mit, mit Quecksilber bestrichenen Kupferplatten 
belegt sind. Der grösste Teil des Goldamalgams 
wird nun vom Quecksilber der Amalgamiertische 
gebunden, soweit es nicht schon durch das Queck¬ 
silber in den Pochtrögen zurückgehaltcn worden 
war. Die Pochtröge leert man alle zwei Tage und 
befreit täglich ein oder zweimal die Platten durch 
Abschaben vom Amalgam. Gold und Quecksilber 
werden alsdann in Retortenöfen durch Destil¬ 
lation des Quecksilbers wieder getrennt. Aus der 
von den Amalgamiertischen ablaufenden Pochbrühe 
werden etwaige Schwefelkiese mittelst eines ameri¬ 
kanischen Stossherdes mit wandernder Herdfläche, 
dem sogenanten Fruevanner, ausgeschieden und dem 
Plattnerischen Chlorinationsverfahren unterworfen. 
Zu diesem Zwecke werden die Kiese in langen 
Fortschaufelungsöfen vollkommen vom Schwefel ab¬ 


geröstet, gereinigt und in Oxyde verwandelt; durch 
Einlassen von Chlorgas in das in grosse Bottiche 
gefüllte Röstgut wird das Gold in lösliches Chlorgold 
verwandelt, das Chlorgold mit Wasser ausgewa¬ 
schen und aus d.er Lösung das Gold durch Eisen¬ 
vitriol ausgefällt. Pochsand und Pochschlämme, die 
durch nasse Aufbereitung getrennt werden, behan¬ 
delt man gemäss dem Cyanid-Verfahren. In gros¬ 
sen, etwa 6—8 m weiten, 2—3 m tiefen, mit Filter¬ 
boden versehenen Bottichen wird das in Sanden und 
Schlämmen noch enthaltene Gold mittelst schwacher, 
0,05—o,4proz. Cyankaliumlauge gelöst und aus der 
durch das Filter austretenden Lösung in langen 
Kästen, durch deren Kammern die Goldlösung auf- 
und absteigend hindurchgeführt wird, das Gold mit¬ 
telst Zinkspänen ausgefällt. Sowohl der im Platt- 
ner’schen, wie im Cyanidverfahren fallende Gold¬ 
schlamm wird im Tiegel unter Zusatz von Borax, 
Soda und Sand verschniolzen und demnächst das 
Gold in Barren gegossen. Das so gewonnene Gold 
(zumal das durch den Cyanidprozess erhaltene) 
enthält noch geringe Mengen von Silber, Kupfer, 
Eisen und Zink, bedarf also noch einer Raffination 
vor seiner Verwendung in der Münze. Aus diesem 
Grunde erzielen die Goldbergwerke für i Unze 
Gold nur 70 Mk., während Feingold mit 79,50 M. 
pro Unze bezahlt wird. 

Die Zahl der im Witwatersrand-Goldfelde be¬ 
schäftigten Arbeiter soll nach Angabe der Chamber 
of Mines in Johannesburg Ende 1895 etwa 13200 
Europäer und 36000 Farbige betragen haben. Der 
Verdienst der weissen Arbeiter schwankte von 
18—22 Mk., jener der Farbigen von 2—3 Mk. pro 
Tag. In demselben Berichtsjahre zahlten wenige 
Gesellschaften unter 52 pCt. Dividenden, zahlreiche 
über 100 pCt., z. B. Fereira 150 und Jubilee 120 
pCt. Einige Gesellschaften gaben allerdings gar 
keine Dividende. Die Gesamtgoldausbeute des 
Transvaals betrug bis jetzt 240,791 kg im Werte von 
rund 306,000,000 Mk. 

Was die Zukunft des Witwatersrand betrifft, 
so dürfte durch dessen Ergiebigkeit Transvaal bald 
die erste Stätte unter allen Gold erzeugenden Län¬ 
dern einnehmen. Sanguiniker berechnen schon an 
der Hand von Ermittelungen durch Bohrversuche 
den annähernden Wert des vorhandenen Goldes, 
jedoch sind solche cum grano salis aufzunehmen, 
und dürfte die wirtschaftliche Entvrickelung des 
Freistaates in erster Linie von der endgültigen Ge¬ 
staltung der politischen Lage in Südafrika und von 
einer besseren Regelung des Arbeitsmarktes ab- 
hängen. Der Goldreichtum des Landes ist aller¬ 
dings unbestreitbar; es äusserte sich Bergrat 
Schmeisser: „Ich ermittelte, dass bis zu 800 m 
Tiefe ein Goldwert von rd. 1,853,000 kg im Werte 
von rd. 4,290,000,000 Mk. und bis zu einer Tiefe von 
1200 m von rd. 3,105,000 kg Gold im Werte von 
rd. 7,187,000,000 Mk. vorhanden ist.“ Leider unter- 
liess derselbe anzugeben, auf welchen That- 
Sachen er seine Behauptung fusse. In jüngerer 
Zeit hat der amerikanische Bergingenieur Ham- 
mond den preussischen Bergrat noch übertrumpft 
in der Aufstellung gewagter Hypothesen, für welche 
ein thatsächlicher Beweis sich bei der beschränkten 
Entwickelung deä Bergbaus in Transvaal noch nicht 
erbringen lässt 


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Betrachtungen und Kleine Mitteilungen. 


467 


Betrachtungen und kleine Mitteilungen. 

Der Streitfall zwischen Japan und Hawai 
hat durch den zwischen den Vereinigen Staaten und 
Hawai geschlossenen Annexionsvertrag eine Er¬ 
ledigung gefunden, die insofern nicht Überraschen 
kann, als der Anschluss des Inselreichs in der nörd¬ 
lichen Hälfte des Stillen Ozeans an die Union schon 
seit der Revolution von 1893, welche die Monarchie 
in Hawai beseitigte, von einer starken Partei an¬ 
gestrebt wurde. Schon damals wurde von Präsi¬ 
dent Harrison kurz vor seinem Rücktritt die An¬ 
nexion empfohlen, die nur deshalb nicht zur Aus¬ 
führung kam, weil sein Nachfolger Cleveland die¬ 
selbe nicht billigte. Mc. Kinley hat es für gut ge¬ 
halten, die durch den Auswandererstreit mit 
Japan und dessen drohende Haltung gegebene Ge¬ 
legenheit nicht unbenutzt vorübergehen zu lassen 
und seine Politik entspricht den Handelsinteressen 
der Vereinigten Staaten, die mit 80,6 pCt. an der 
Einfuhr und 91,4 pCt. an der Ausfuhr der Hawai- 
Inseln beteiligt sind. Japan hat ein Interesse an 
Hawai, weil sich dorthin ein grosser Teil seiner 
Auswanderung richtet. Seit in Japan die Auswan¬ 
derung freigegeben ist, hat sich in dem dichtbe¬ 
völkerten Lande ein starker Kolonisationstrieb ent¬ 
wickelt. Es haben sich Gesellschaften gebildet, die 
die Beförderung von Auswanderern planmässig be¬ 
treiben, und da der japanische Arbeiter bei hoher 
Leistungsfähigkeit sehr bedürfnislos ist, so fangen 
die westlichen Staaten Nordamerikas bereits an, 
den japanischen Wettbewerb unangenehm zu 
empfinden. Der japanischen Regierung ist es 
augenscheinlich darum zu thun, die Auswan¬ 
derer nach Gebieten zu lenken, wo ihre Arbeits¬ 
kraft für das Mutterland nicht verloren geht. 
Japan vertritt in seinen Ansprüchen auf weitere 
Zulassung der Einwanderung in gewisser Be¬ 
ziehung auch ein Recht, ab der letzte König der 
Sandwichsinseln, Kalakaua, die japanische Einwan¬ 
derung besonders gewünscht und gefördert hat, um 
der drohenden Entvölkerung vorzubeugen. Die Ein¬ 
geborenen, Hawaier oder auch Kanaken genannt, 
welche zur polynesischen Rasse gehören, gehen 
wie fast alle Naturvölker, wenn sie mit der Zivili¬ 
sation in Berührung kommen, dem gänzlichen Aus¬ 
sterben entgegen. Gegenwärtig leben noch etwa 
40,000 des schönen Volkes und von diesen sind 
bereits mehr ab 2000 von der schrecklichen Lepra 
befallen. Wahrscheinlich sind die Vorfahren der 
Eingeborenen von den Markesas und Tahiti, wie 
die sich eng an die Markesaner anschliessende 
Mundart und die nach Tahiti weisenden Sagen und 
Sprichwörter anzudeuten scheinen, im 10. Jahrhun¬ 
dert eingewandert. Auch stimmen die religiösen 
Ansichten der Hawaier im wesentlichen mit denen 
der Tahitier überein. Die übrige Bevölkerung setzt 
sich zusammen aus 6000 Mischlingen, 15,000 Chi¬ 
nesen, 12,000 Japanern, 8000 Portugiesen, 2000 
Amerikanern, 1300 Engländern, looo Deutschen und 
einigen hundert Vertretern anderer europäischer 
Nationen. Die Hawai-Inseln gehören zu den we¬ 
nigen Tropenländem, in denen die Akklimatbation 
des Europäers zu gelingen scheint. Die Amerikaner, 
Engländer und Deutschen sind mebt Kaufleute, 
Pflanzer und Handwerker, die Portugiesen, Chi¬ 


nesen und Japaner dagegen Arbeiter. Deutsche, 
die seit Jahrzehnten auf den Eilanden leben, er¬ 
freuen sich der besten Gesundheit, wobei die kräf¬ 
tige Ventilation wohl von wesentlicher Bedeutung 
ist. Der beständige, steife Nordostpassat führt stetig 
frische, gesunde Seeluft hinzu; überdies fehlen die 
so gefürchteten Mangrove-Sümpfe, die Brutstätten 
totbringender Miasmen; endlich erreicht die Tem¬ 
peratur nie jene übermässige Höhe, welche in 
andern tropbchen und subtropischen Gebieten für 
den Weissen dauernden Aufenthalt zur Unmöglich¬ 
keit macht. Die Vegetation auf diesen gesegneten 
Südsee-Eilanden bt dank der imgemein günstigen 
klimatischen Verhältnisse eine sehr üppige. Zucker¬ 
rohr, Reis, Palmen, Bananen, Kaffee und hundert 
andere Tropengewächse gedeihen in vorzüglicher 
Güte. Verschiedene Punkte der Inselgruppe besitzen 
sehr verschiedenes Klima. Die hohen Berge bilden 
eine Wetterscheide zwischen den feuchten östlichen 
und den trockenen westlichen Gebieten. An ihnen 
gleiten die das ganze Jahr hindurch wehenden, 
auf ihrem weiten Wege über den Ozean mit Feuch¬ 
tigkeit durchsetzten Winde in höhere, kältere Re¬ 
gionen und verlieren dabei ihren Wassergehalt. 
Hier regnet es täglich, an einigen Punkten sogar 
fast ununterbrochen. Wunderbar üppige Vegetation 
entspriesst dem Boden, und mehr als hundert 
Farrnarten schmücken dip Abhänge, von denen 
malerische Giessbäche in die Tiefe stürzen. Ein 
ganz anderes Bild zeigt die Sudwestküste: kahle 
Febwände, nackte Lavaströme und nur dort grüne 
Oasen, wo Wasserläufe den Erdboden feucht hal¬ 
ten. Vollkommen regenlose Gebiete sind mitunter 
nur eine bis zwei deutsche Meilen entfernt von 
solchen, in denen ununterbrochen Niederschläge 
stattfinden. In der bei 300 m Höhe beginnenden 
tropischen Waldformation ist die Koa (Acacia Koa) 
der herrschende Baum, der seine Kronen über ein 
Dickicht von immergrünem Unterholz ausbreitet. 
Daneben findet sich der durch die Ausfuhr seines 
Holz selten gewordene Santelholzbaum (Santalum 
album). Der Archipel ist ein Werk der untersee- 
bchen vulkanischen Kräfte; die Gesteine sind fast 
durchweg vulkanbch (Basalte, Augitandesite und 
Tuffe). Die acht grösseren bewohnten Inseln 
heissen Niihau, Kanal, Oahu, Molokal, Lanal, Maui, 
Kahulaui und Hawai, drei kleinere Febeneilande 
Lehua, Molokini und Nihoa sind unbewohnt Hawai, 
die grösste Insel, nach der die ganze Gruppe auch 
benaimt wird, trägt die hohen Vulkane Mauna Loa 
und Mauna Kea, welche die höchsten Spitzen 
unserer Alpen beinahe erreichen. Die wilden, zer¬ 
klüfteten Ufer der Küste bilden unweit des maler¬ 
isch am Meer gelegenen Städtchens Kilo einen 
halbkreisförmigen, zwei deutsche Meilen langen 
Einschnitt und gestalten sich so zu einem Meer¬ 
busen, der an Schönheit dem Golf von Neapel nicht 
nachsteht. Die Inselgruppe wurde 1527 zuerst von 
Spaniern entdeckt, sie war Cook bereits bekannt, 
als er dieselbe 1778 aufsuchte. Zu Cooks Zeiten, 
der bekanntlich von den Eingeborenen erschlagen 
wurde, war die Gruppe unter drei Staaten verteilt. 
Die Vereinigung derselben zu einem Staatswesen 
ist das Werk des intelligenten Häuptlings Kame- 
hama I. (1789—1819), der durch weise Massregeln 
mit Hilfe von Amerikanern den Handel hob, die 


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468 


Betrachtungen und kleine Mitteilungen. 



Verwaltung ordnete und die Einfillir- 
ung des Christentums, die unter seinem 
Sohn und Nachfolger erfolgte, vorbe* 
reitete. Sein Enkel, Kamehama III., 
gab dem Lande 1840 eine freisinnige 
Verfassung mit einem Herren- und Ab¬ 
geordnetenhaus ; die Selbständigkeit 
Hawaiswurde 1843 von England, Frank¬ 
reich, den Vereinigten Staaten und 
Belgien anerkannt. Als mit Kamehama 
V. der letzte männliche Nachkomme 
des ersten Kamehama starb, wurde 
Kalakaua, ein Verwandter des könig¬ 
lichen Hauses, durch Volkswahl König, 
der bis zu seinem Tode, 1891, das 
Inselreich beherrschte, allerdings mehr 
dem Namen nach als in Wirklichkeit, 
denn im Laufe der Jahre ■ waren die 
königlichen Rechte immer mehr zusam¬ 
mengeschrumpft, und unter Kalakauas 
Nachfolgerin, seiner Schwester Liliuo- 
kalani, welche die verlorene Macht der 
Herrscher durch eine den beiden ge¬ 
setzgebenden Häusern aufgezwungene 
Verfassung zu erneuern suchte, brach 
das monarchische System vollständig 
zusammen. 

Seit dem 17. Januar 1893 ist Hawai 
eine Republik unter einem Präsidenten, 
der zugleich Minister des Äusseren ist, 
mit drei Ministern und einem Rat von 
14 Mitgliedern. 

Schon damals wurde von der amerikanischen 
Kolonie, die einen grossen Einfluss besitzt, die An¬ 
nexion seitens der Vereinigten Staaten gewünscht, 
die nun durch die jüngsten Ereignisse zur Thatsache 
geworden ist. Die Vereinigten Staaten machen 
durch die Aufnahme Hawais in die Union keine 
schlechte Erwerbung und die Einverleibung ist 
insofern für beide Teile vorteilhaft, als das Haupt¬ 
exportprodukt, Zuckerrohr, fast nur nach den Ver¬ 
einigten Staaten verschifft wird, während der 
Import meistens von und Ober San Francisco geht, 
und zwar auf den Schiffen der Oceanic Steamship 
Lompany, die auch die Verbindung zwischen der 
Inselgruppe und Australien unterhält. Zuckerrohr 
bildet nicht nur den bedeutendsten Exportartikel 
sondern Oberhaupt 
das Hauptprodukt 
der Hawai-Gruppe, 
zu dessen Anbau die 
JapanischenArbeiter 
eingefuhrt wurden. 

Es bestehen 69 
Zuckerplantagen, 
meist 400 bis 1000 
Hektar grosse, fast 
alle mit eigenen 
Mühlen, doch giebt 
es 7 besondere gros¬ 
se Zuckermühlen; 
die jährliche Aus¬ 
fuhr übersteigt jetzt 
schon 100,000 Ton¬ 
nen. Andere Han¬ 
delsgewächse sind 
Reis und Kaffee. 


Palmenallee bei Honolulu. 

Für den hohen Stand der Kultur auf Hawai 
zeugt, dass derSchulbesuch obligatorisch ist. Ausser 
den Volksschulen giebt cs Sekundärschulen und 
drei höhere Schulen in Honolulu, Lahalna und Hilo. 
Die Presse wird durch 7 Zeitungen, von denen 4 
in englischer, 3 in hawaischer Sprache erscheinen, 
repräsentiert. Eisenbahnlinien bestehen auf den 
Inseln Hawai (40 km), Maui (n km) und Oahu 
(39 km), Telegraphenlinien auf Maui. Telephon¬ 
leitungen umgeben Oahu und befinden sich auf 
Hawai, Maui und Kaui. Die Militärmacht besteht 
aus einer Miliz unter einem Oberst; unter Leitung 
eines deutschen Kapellmeisters hat sich eine ganz 
aus Kanaken bestehende vorzügliche Kapelle gebildet. 

Die Hauptstadt Honolulu, zugleich Hafenstadt, 
hat etwa 20,000 Einwohner, die ein buntes Gemisch 

von allen Völkern 
der Erde bilden. 
Ausser den Ost¬ 
asiaten sind die Por¬ 
tugiesen numerisch 
am stärksten ver¬ 
treten, doch gehören 
sie zum grössten 
Teil den unteren 
Schichten der Be¬ 
völkerung an und 
besitzen keinen po¬ 
litischen Einfluss. 
Die Geschäftsstras¬ 
sen ausgenommen, 
ist Honolulu durch¬ 
weg eine Villenstadt 
zu nennen. Die Pri¬ 
vathäuser sind, den 
klimatischen Ver- 




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Betrachtungen und kleine Mitteilungen, 


hältnissen entspre¬ 
chend, meist ein¬ 
stöckig, mit hohen, 
luftigen Gemächern 
und breiten, gedeck¬ 
ten Veranden ver¬ 
sehen. Tiefschattige 
Gärten, angefbllt mit 
all den unvergleich¬ 
lich farbenreichen 
Gewächsen der Tro¬ 
pen, lassen eine jede 
dieser luxuriös aus¬ 
gestatteten Behaus¬ 
ungen als ein kleines 
Paradieserscheinen; 
sogar die Öffent¬ 
lichen Gebäude, wie 
Rathaus, Universi¬ 
tät, Theater u. s. w., 
liegen, dem Auge 
halb verborgen, in 
einem Kranz der 
herrlichsten Bäume. 


apparat wirkt, d. 

Von den Hawaii-Inseln: Hulu-Tänzennnen. h. von dem Ver- 

Nach einer photographischen Aufnahme. lauf des primären 

I Stromes, 2. durch 

ber die Eigenschaf* die Funkenstrecke, die in den sekundären Kreis 
rht R ön tg en in den 1 vor den Entladungsapparat eingeschaltet wird, 
nie der Wissenschaft ' 3. durch Einschaltung eines Tesla-Transforma- 
I Beobachtungen und | tors, 4. durch den Grad der Verdünnung der 
cehend wiedergeben. Entladungsröhre, 5. durch verschiedene, noch 
tgen, dass die Luft, nicht genügend erkannte Vorgänge im Innern 
ich allen Richtungen | der Entladungsröhre. Im Anschluss daran teilt 
itellt man zwischen Röntgen praktisch Wichtiges über „weiche“ und 
intensive X-Strahlen „harte“ Röntgen-Röhren mit. Die Anschauungen 
izenzschirm eine un- über das Wesen der Röntgen-Strahlen nach dem 
>s diese den ganzen heutigen Stande des Wissens fasst Röntgen dahin 
in trotzdem noch ein zusammen: i. Die von einem Entladungs^parate 
nürs bemerken. Bc- ausgehende Strahlung besteht aus einem Gemisch 
n noch mit einer von Strahlen verschiedener Absorbierbarkeit und 
das Fluoreszenzlicht Intensität. 2. Die Zusammensetzung dieses Ge- 
hvvindet vollständig, misches ist wesentlich von dem zeitlichen Verlauf 
splatte den Schirm des Entladungsstromes abhängig. 3. Die bei der 
cm dickem Bleiblech Absorption von den Körpern bevorzugten Strahlen 
die undurchlässige sind für die verschiedenen Körper verschieden. 
I Kopf des Beobach- 4. Da die X-Strahlen durch die Kathodenstrahlen 
rch eine sinnreiche entstehen und beide gemeinsame Eigenschaften ha- 
ass die beschriebene ben — Fluoreszenzerzeugung, photographische und 
’en ist, dass von der ' elektrische Wirkungen, eine Absorbierkeit, deren 
sgehen. Würde un- j Grösse wesentlich durch die Dichte der durch 
ebenso empfindlich , strahlten Medien bedingt ist u. s. w. —, so liegt 
würde ein in Thä- i die Vermutung nahe, dass beide Erscheinungen Vor- 
)arat uns erscheinen gänge derselben Natur sind. Zum Schlüsse kommt 
t Tabakrauch gleich- Röntgen auf die Sichtbarkeit der X-Strahlen zu 
ides Licht. — Sodann sprechen. Er sagt darüber: „Die von G. Brandes 
;hrung Nachricht, die beobachtete Thatsache, dass die X-Strahlen in der 
der Strahlung zweier Netzhaut des Auges einen Lichtreiz auslösen können, 
)ie Vorkehrung hat habe ich bestätigt gefunden. Auch in meinem Be- 
blichen zur Messung ! obachtungsjournal steht eine Notiz aus dem Anfang 
^hotometer. U. a. hat ' des Monats November 1895, wonach ich in einem 
tometers untersucht, , ganz verdunkelten Zimmer nahe an einer hölzernen 
sich mit der Rieh- Thür, auf deren Aussenseite eine Hittorf’sche Röhre 
uchung eigneten sich befestigt war, eine schwache Lichterscheinung, die 
Entladunesapparate i sich über das ganze Gesichtsfeld ausdehnte, wahr- 
einem Winkel von nahm, wenn Entladungen durch die Röhre geschickt 
mstrahlen getroffen ' wurden. Da ich diese Erscheinung nur einmal be- 
e Bestrahlung einer , obachtete, hielt ich sie für eine subjektive, und dass 
telpunkt konstruiert I ich sie nicht wiederholt sah, liegt daran, dass später 
zum Rande dieser ' statt der Hittorfschen Röhre andere, weniger 
Erst bei einem Erna- ' evakuierte und nicht mit Platinanode versehene 


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470 


Betrachtungen und kleine Mitteilungen. 


Apparate zur Verwendung kamen. Mit den jetzt in 
Gebrauch befindlichen, harten Röhren lässt sich der 
Brandes’sche Versuch leicht wiederholen. Vielleicht 
ist die Mitteilung von folgender Versuchsanordnung 
von einigem Interesse. Hält man möglichst dicht 
vor das offene oder geschlossene Auge einen ver¬ 
tikalen, wenige Zehntelmillimeter breiten Metall¬ 
spalt und bringt dann den durch ein schwarzes 
Tuch verhüllten Kopf nahe an den Entladungs¬ 
apparat, so bemerkt man nach einiger Lbung einen 
schwachen, nicht gleichmässig hellen Lichtstreifen, 
der Je nach der Stelle, wo sich der Spalt vor dem 
Auge befindet, eine andere Gestalt nat: gerade, 
gekrümmt oder kreisförmig. Durch langsames Be¬ 
wegen des Spaltes in honzontaler Richtung kann 
man diese verschiedenen Formen allmählich inein¬ 
ander übergehen lassen. Eine Erklärung dieser Er¬ 
scheinung ist bald gefunden, wenn man daran denkt, 
dass der Augapfel geschnitten wird von einem 
lamellaren Bündel X-Strahlen, und wenn man an¬ 
nimmt, dass die X-Strahlen in der Netzhaut Flu¬ 
oreszenz erregen können.“ t 

• • 

Noch einmal die Tiara des Saitapbames.*) 

Der Direktor des Odessaer Museums E.v. Stern 
veröffenüicht in der neuesten Nummer der Berliner 
Philolog. Wochenschrift einen Aufsatz, der die An¬ 
nahme der deutschen Archäologen, dass es sich in 
der Tiara um eine Fälschung handelt, sehr zu un¬ 
terstützen geeignet ist Wir erfahren daraus, dass 
in Otschakow, 30 Werst vom Platze des alten Olbia 
gelegen, von jüdischen Händlern, Gebrüder Hoch- 
niann (auch Gauchmann geschrieben) ein schwung¬ 
hafter Handel mit Fälschungen getrieben wird. Zu¬ 
erst waren es Inschriften auf kleinen Stücken an¬ 
tiken Marmors, die unter Beihilfe eines Epigraphi¬ 
kers hergestellt, seit Anfang der 90er Jahre ver¬ 
trieben wurden. Einige Produkte zeigen eine ziem¬ 
liche Bekanntschaft mit der epigraphischen Liitera- 
tur, der Topographie und Geschichte der Küste des 
Pontos und erheben sich über blos mechanische 
Zusammensetzung zu freier künstlerischer Kompo¬ 
sition mittels der erborgten Phrasen, so dass von 
Stern anfangs selbst durch sie getäuscht worden 
ist, wie das auch anderen Gelehrten erging. Seit 
etwa zwei Jahren jedoch haben die Gebr. Hoch¬ 
mann aufgehört, solche Fäbchungen auf den Markt 
zu bringen, sie verlegten sich auf ein anderes Feld, 
das ihnen dann auch eine ungleich ergiebigere 
Ernte verschaffte, das der Goldlälschung. Es wer¬ 
den eine grosse Anzahl solcher Fälschungen genau 
beschrieben, die teils in russischen Sammlungen 
sich befinden, teils ins Ausland verkauft wurden. 
Immer wird hier Olbia als Fundort angegeben, und 
zwar deshalb, weil an allen anderen südrussischen 
Plätzen genaue ofBzielle Kontrole besteht und man 
ihnen darum nicht so leicht glänzende Funde an¬ 
dichten kann. 

Aufmerksam wurde Herr von Stern auf die 
Fälscher zuerst, als er in einem Prozess eines Al¬ 
tertumssammlers in Kischinew gegen die Brüder 
Hochmann als Sachverständiger ein Gutachten ab¬ 
zugeben hatte. 

Es handelte sich ausser anderen Goldsachen um 
eine Nike und einen goldenen auf einem Centauren 
reitenden Eroten, den die Händler als antik ver¬ 
kauft hatten. 

Das Gutachten, das darauf lautete, dass die 
Gegenstände nicht antike Arbeiten, wohl aber vor- 
zü^iche moderne Nachahmungen antiken Stils und 
antiker Technik seien, fand volle Bestätigung durch 
einen Juwelier, der aussagen konnte, dass die Nike 


•) Vcrjfl. „Umschau* Nr. 34, S. 430. 


und der Erot in seiner Werkstatt auf Bestellung 
des Ciseleurs Rachumowsky gegossen seien, der 
dann diesen Gegenständen selbst den letzten Schliff 
gegeben habe. Der Juwelier sagte ferner aus, dass 
er häufig Goldplatten für Rachumowsky gewalzt 
habe, darunter eine, deren Gewicht er übereinstim¬ 
mend mit dem der Tiara angab. Ein Besuch im 
Quartier des Herrn Rachumowsky zeigte Herrn 
V. Stern, dass alle Wände seines Zimmers mit 
vorzüglichen Zeichnungen antiker Palmetten u. s. w. 
bedeckt waren; von seinen Arbeiten bekam er nur 
ein vorzüglich geschnittenes goldenes Skelett zu 
sehen, dessen Verfertigung ihm nach seiner eigenen 
Angabe sechs Monate Zeit gekostet hat, und das 
er zu seinem eigenen Vergnügen gearbeitet haben 
will. Nach Aussage anderer ist dieses Skelett von 
Hochmann bestellt und dazu bestimmt, dem Baron 
Rothschild als neuester Fund von Olbia angeboten 
zu werden. Rachumowsky selbst stellte in Abrede, 
dass er die Tiara gearbeitet habe, behauptete aber, 
dass er wohl imstande sei, eine solche Arbeit zu 
leisten. Der Prozess gegen die Brüder Hochmann 
oder Gauchmann hat noch nicht seinen Abschluss 
gefunden; ob sie im Falle einer Verurteilung ihren 
Hintermann oder ihre Hintermänner, die ihnen die 
Vorlagen und Inschriften geliefert haben, angeben 
werden, lässt sich natürlich nicht Voraussagen. 

Man wird aber schon jetzt den Verdacht nicht 
mehr abweisen können, dass auch die Tiara des 
Saitapharnes in der Werkstatt des Herrn Jlachu- 
mowsky in Odessa gefunden, d. h. fertig gestellt 
worden ist, und dass der Louvre von listigen Be¬ 
trügern hinter das Licht geführt ist * 


Für die Anwesenheit des Menschen in Ame¬ 
rika zur Eiszeit erbringt Dr. E. W. Claypole 
einen neuen Beweis. Es wurde nämlich eine mit 
einer Rinne versehene (groved) Steinaxt in einer 
Tiefe von 6,71 m in der Drift des nördlichen Zen- 
tral-Ohio gefunden und zwar war sie teilweise von 
Thon (boulder clay) umgeben und lag in einer 0,30 
m dicken Schicht von grobem Kies eingebettet 
Darüber lag eine 4 m dicke unter sehr zähe Schlamm¬ 
schicht mit einigen Sandstreifen untermischt; darü¬ 
ber lagerte endlich eine 2,5 m dicke Thonschicht 
Dr. Claypole betrachtet diese Schichten als die 
Ablagerungen der Wasserströme und stillen Tüm¬ 
pel, die aen Abfluss einer Gletschcrfahrt in einer 
flachen Gegend charakterisieren. Die Steinaxt be¬ 
steht aus einem harten grüngestreiftem Schiefer, 
was aber, infolge des schwefelhaltigen Wassers in 
der Kiesschicht vollständig brühig geworden. Die 
konzentrischen Farbenlinien, die den Konturen der 
Axt parallel verlaufen, beweisen, dass sie erst ent¬ 
standen sein können, nachdem die Axt von dem 
neolithischen Verfertiger seine Form erhalten und 
aus dem brühigen Zustande des Gesteins geht her¬ 
vor, dass es sehr lange Zeit in der Kiesschicht ein¬ 
gebettet gewesen sein muss. Eine kritische Prüf¬ 
ung desPundes seitens amerikanischer Geologen 
und Archäologen dürfte wohl bald erfolgen. 

Globus. 


No. 37 der Umsebaa wird euthalten: 

Bctcke, Schwimm- und Trockendocks (Illustriert). - Müller, 
Schulmedizin und Naturheilkunde. (Schluss). — Berg(, Zur Psy¬ 
chologie des Dilettanten. — Russner, Stromsammlcr oder Accu- 
mulatoren. - Die Massai. 


G. Horstmann's Druckerei. Frankfurt a. M. 


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DIE UMSCHAU 

ÜBERSICHT ÜBER DIE FORTSCHRITTE UND BEWEGUNGEN AUF 
DEM GESAMTGEBIET DER WISSENSCHAFT, TECHNIK, 
LITTERATUR UND KUNST 

heraiis^cgcben von 

dr. j. h. bechhold 


Wöchentlich eine Nummer. 

Zu beziehen durch 
alle Buchhandlungen und 
Postaostalten. 

Postzcitungfiprcialiste No. 7331a. 

Verlag voti: 

H. Bechhold Verlag, Frankfurt a. M. 


Neue Kritme 19 ai, 


Preis vierteljährlich 
M. 3.50. 

JahreS'A bonnement 
Preis M. ro.~. 

Im Ausland nach Cours. 
Verantwortlicher Redakteur; 

Otto Adolf Wolters, Frankfurt a. M. 


27. I. Jahrg. 


Nachdruek aus dtm Inhali dtr Zeitachrift ohn* Erlaubnis 
<Ur Ridakliou vrrboirti. 


1897. 3. Juli. 


Hawaii und Japan und die japanische 
Auswanderung. 

Von VON Brandt 

Wirkt. Geb. Rat. vorm. Kaiserl. Deutscher Gesandter in Peking. 

Am 8. März lief der Japanische Dampfer 
Shinshu Maru mit 670 japanischen Einwan¬ 
derern in Honolulu ein. Da zwei Fälle von 
Masern an Bord vorgekommen waren, 
wurden die Einwanderer in der Quaran¬ 
tänestation untergebracht, während das 
Schiff seine Reise fortsetzte. Bei der durch 
die Zollbehörde vorgenommenen Untersuchung 
stellten sich Unregelmässigkeiten, thatsächliche 
oder angebliche, heraus und von der ganzen 
Zahl wurde nur 102 das Landen gestattet. 
Was die anderen betraf, so wurde von den 
unter Kontrakt engagierten Arbeitern (374) 
behauptet, dass die für die Zulassung der¬ 
selben erforderliche vorhergängige Erlaubnis 
des Einwanderungsamts nicht eingeholt worden 
sei, während bei den freien Arbeitern (194) 
die Zollbehörde erklärte, dass die von den¬ 
selben nach der Vorschrift des Gesetzes be¬ 
sessenen und vorgezeigten fünfzig Dollars 
nicht ihr Eigentum, sondern nur ein rück¬ 
zahlbarer Vorschuss seien. Die gegen diese 
Entscheidung der Zollbehörde erhobene Be¬ 
schwerde des Kapitäns, des Agenten der 
„Kobe Einwanderungs-Gesellschaft" und des 
Japanischen Generalkonsuls Shimamura wurde 
am 17. März vor dem obersten Gerichtshöfe 
einstimmig mit der Begründung zurück¬ 
gewiesen, dass dem Gerichtshöfe eine Ein¬ 
mischung in die Entscheidung der Zollbehörde 
nicht zustehe, da dieselbe, nach Massgabe 
auch durch Gerichtshöfe der Vereinigten 
Staaten gefällter Entscheidungen als eine end¬ 
gültige angesehen werden müsse. 

Am 22. März wurden von mit dem Sakura 
Maru angekommenen 316 Einwanderern 153 
zugelassen und 163 aus den oben angeftlhrten 
Gründen nach Japan zurückgesandt. j 

UmMbau 1897. 


Nach dem Eingang der Berichte des 
japanischen Generalkonsulats entsandte die 
japanische Regierung am 18. April einen 
diplomatischen Agenten, Akiyama, auf dem 
Kreuzer Naniva nach Hawaii, um Genug- 
thuung für die Vertragsverletzungen zu 
fordern, die sie darin sah, dass den japanischen 
Einwanderern verwehrt worden sei zu landen, 
dass man ihnen nicht gestattet habe, die 
Vertretung ihrer Sache einem Rechtsbeistande 
zu übergeben und dass die Hawaiischen 
Gerichtshöfe eine gerichtliche Entscheidung 
der von den Japanern erhobenen Beschwerde 
abgelehnt hätten. Die Regierung von Hawaii 
hat diesen Forderungen gegenüber ihren 
früheren Standpunkt aufrecht erhalten. Der 
mit Japan ausgebrochene diplomatische Konflikt 
und die möglichen Folgen desselben haben 
aber die Frage der von den dortigen M achthabern 
längst geplanten Annexion Hawaiis durch 
die Vereinigten Staaten in schnelleren Fluss 
gebracht und am 16. Juni ist in Washington 
der allerdings noch der Ratifikation durch 
den Senat bedürfende darauf bezügliche Ver¬ 
trag von dem Gesandten Hawaiis und dem 
amerikanischen Staatssekretär unterzeichnet 
worden. 

Fragt man sich nun, welche Gründe die 
Hawaiische Regierung zu dem, wenn nicht 
mit dem Wortlaut, so doch mit dem Sinne 
der mit Japan seit Jahren bestehenden Vertrags¬ 
beziehungen im Widerspruche stehenden 
Vorgehen gegen die Japanischen Einwanderer 
veranlasst haben kann, so liegt die Antwort 
darauf wohl in der Besorgnis vor den durch 
die immer zunehmende Anzahl von sich in 
Hawaii aufhaltenden Japanern erregten resp. 
genährten Annexionsgelüsten Japans. 

Am IO. März schrieb der „Stern von 
Hawaii“ (Hawaiian Star): „Augenblicklich 
leben 36000 Japaner in Hawaii und wenn 
die Einwanderung in dem Masse wie bisher 
fortdauert, so wird die japanische Bevölkerung 

«7 


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472 


VON Brandt, Hawaii und Japan und die japanische Auswanderung. 


bald die Oberhand gewinnen, besonders seit¬ 
dem viele Soldaten, die an dem Kriege gegen 
China teilgenommen, sich mit ihren Familien 
hier niedergelassen haben. Das japanische 
Element ist eine Gefahr für alle seefahrenden 
Nationen". 

Die „Hawaii Gazette“ äusserte sich ganz 
ähnlich. „Wenn jetzt, so schrieb sie, eine 
ernste Frage zwischen Japan und uns besteht, 
so ist es, weil wir uns seit Jahren in eine 
unvernünftige, thörichte Einführung von 
Arbeitern gestürzt haben, ohne uns um die 
möglichen Folgen derselben zu kümmern. 
Jetzt haben wir einen Schreckep bekommen 
und rufen plötzlich Halt“. Und an einer 
anderen Stelle: „Die Japaner betrachten die 
Inseln als ein finanzielles Paradies und 
wünschen sehr natürlicher Weise sie von 
Japan annektirt zu sehn. Das Gefühl tritt 
ganz deutlich in der Presse Japans hervor 
und ist ein gewöhnlicher Gesprächsgegenstand 
unter der ackerbauenden Klasse. Land, das 
dem gewöhnlichen Arbeiter 500 pCt. an Lohn 
bringt, muss sehr verlockend und der Besitz 
solchen Landes, wenn sich demselben keine 
Schwierigkeiten entgegenstellen, sehr er¬ 
wünscht sein. Darum ist das Begehren der 
Japaner, Hawaii zu besitzen, ein ganz all¬ 
gemeines, wenn auch nicht aus politischen 
Gründen. Es wird nur als eine Quelle des 
Gewinns angesehen, grade wie wir eine 
Guano-Insel ansehen“. 

Der Verlauf einer am 17. März in Hono¬ 
lulu abgehaltenen japanischen Massenversamm¬ 
lung, in der ein feuriger kleiner Redner er¬ 
klärte, dass er bereit sei, sein Leben für seine 
ungerechterweise am Landen verhinderten 
Landsleute zu lassen, dass die Japaner das 
Land zu dem gemacht hätten, was es sei, 
dass sie es besässen und ein Recht darauf 
hätten, und mit der Frage schloss, ob die 
Versammelten es dulden wollten, dass ihre 
Landsleute nach Japan zurückgeschickt wür¬ 
den, wird nicht dazu gedient haben die Be¬ 
sorgnisse der Fremden in Honolulu zu ver¬ 
ringern. Dass diese Bedenken nicht ganz 
unbegründet, geht aus den Angaben über die 
Bevölkerungszahl Hawaiis und der Zusam¬ 
mensetzung derselben hervor. Während sich 
Ende 1890 unter 90,000 Einwohnern 12,360 
Japaner befanden, war die Anzahl der letz¬ 
teren Ende 1896 auf 36,000 für eine geschätzte 
Bevölkerungsziffer von 116,000 gestiegen. 
Zugleich waren das Vorgehen Japan’s gegen 
China und Korea in 1894 — 96 wie die Hal¬ 
tung der japanischen öffentlichen Meinung 
und Presse in der Frage einer weiteren Aus¬ 
dehnung der Interessen und Machtsphäre des 
Landes der Art gewesen, dass schwächere 
Staaten in dem Anwachsen japanischer Ein¬ 


wanderung wohl berechtigt waren nicht nur 
eine soziale, sondern auch eine politische 
Gefahr zu erblicken. 

Bei der Beurteilung der Japaner nament¬ 
lich auch in Europa wird an den Unternehm¬ 
ungsgeist derselben und ihre Expansions- 
Fähigkeit und Lust häufig ein durch¬ 
aus falscher Massstab gelegt, indem man nur 
die Zeiten in Erwägung zieht, während deren 
d. h. von 1637 bis in die 70er Jahre dieses 
Jahrhunderts allen Japanern nicht allein das 
Verlassen des Landes, sondern auch die 
Rückkehr in dasselbe, selbst falls sie durch 
einen Sturm an fremde Küsten verschlagen 
oder als Schiffbrüchige von einem fremden 
Schiffe aufgenommen worden waren, bei To-* 
desstrafe untersagt war. Während der Zeit, 
die den mongolischen Invasionsversuchen zu 
Ende des 13. Jahrhunderts folgte, wie in der 
Zeit zwischen der ersten Berührung Japans 
mit europäischen Nationen von der Mitte des 
16. Jahrhunderts bis zu dem Erlass des oben¬ 
erwähnten Verbots, haben die Japaner als 
Seeräuber, Schiffer, Händler, Söldner, Ar¬ 
beiter und Sklaven einen sehr erheblichen 
Anteil an dem Völkerverkehr nicht nur in 
Ostasien, sondern bis nach Indien gehabt. 
Die Sucht nach Abenteuern und der un¬ 
ruhige auf Aussergewöhnliches gerichtete Sinn 
sind auch heute noch charakteristische Kenn¬ 
zeichen der Japaner, aber es sind auch an¬ 
dere Gründe vorhanden, die die Massen zur 
Ausw'anderung treiben. 

Bei einem Areal von 382,416 qkm. (ohne 
Formosa) besass Japan in 1895 eine Bevölkerung 
von 41,810,000 Seelen, die sich seit 188.4 
4,360,000 vermehrt hatte, während z. B. das 
für den Anbau von Reis und Gerste, den 
beiden Hauptnahrungsstoffen, verwendete Land 
durchaus nicht in gleichem Verhältnis wie 
die Einwohnerzahl gewachsen ist und die Er¬ 
träge des Anbau’s sogar überhaupt vielfach 
unter die früherer Jahre zurückgegangen sind. 
So war die Reisernte in 1896 die schlechteste 
seit 1889 und um 9,30/0 geringer als die des 
Jahres 1895 und die Gerstenernte sogar um 
11,30/ü schlechter als die des vorhergehenden 
Jahres. Das mit Reis bebaute Land zeigte 
in 1896 eine Zunahme von nur 0,30/0, wäh¬ 
rend das mit Gerste bebaute Land sogar um 
0,40/0 zurOckgegangen war. Unter den Um¬ 
ständen ist die von der Japanischen Presse 
auch wieder bei Gelegenheit der Schwierig¬ 
keit mit Hawaii aufgestellte Behauptung, dass 
die Möglichkeit der freien Auswanderung 
eine Lebensfrage für Japan sei, um so be- 
rechtiger als die Dichtigkeit der Bevölkerung 
Japans, Jeso (Hokkaido) abgerechnet, 147 auf 
den Qkm. beträgt, eine Dichtigkeit, die nur 
von den Niederlanden (147) erreicht und 


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VON Brandt, Hawaii und Japan und die japanische Auswanderung. 


473 


von Belgien (218) und Sachsen (253) 
abertroffen wird. Nur darf dabei nicht 
ausser Augen gelassen werden, dass der 
Norden Japans selbst ein vortreftliches Kolo¬ 
nisationsgebiet für die Japaner abgeben würde, 
wenn die Bevölkerung sich nur dazu ent- 
schliessen könnte, sich nach nördlichen Kli- 
maten zu begeben. 

Während Kiushin 148, Shikoku 160, West 
Nippon 175 und Mittel Nippon 171 Bewoh¬ 
ner auf den qkm. zählen, haben Nord Nippon 
mit 78,225 qkm. nur 82 und Jeso mit 94,012 
qkm. nur 5 Einwohner auf den qkm; bieten 
also überreichlichen Raum ftir den Ueber- 
schuss der Bevölkerung in den westlichen 
und südlichen Theilen des Landes. Aber 
grade die Thatsache, dass es die Bewohner 
der südlicheren Theile sind, die das Kontin¬ 
gent für die Auswanderung stellen, lässt die 
Auswanderer namentlich wo es sich um dau¬ 
ernde Niederlassung und Ackerbau als Le¬ 
benserwerb handelt, südlichere Gegenden 
vorziehen. 

Ein anderer nicht zu Übersehender Faktor 
ist die sich in Japan immer mehr fühlbar 
machende Notwendigkeit, der heimischen In¬ 
dustrie neue Absatzgebiete zu schaffen. In 
1896 heisst es in einem über die Hawaii- 
Frage von einer der einflussreichsten, wenn 
nicht der einflussreichsten Zeitung Tokyos, 
der „liji Shimpo“ „Tageblatt“ veröffentlichten, 
von der „Japan Mail“ wiedergegebenen Artikel, 
beziffert sich die Ausfuhr nach Hawaii auf 
25,000 yen, in 1895 war sie auf 392,000 yen 
(Silberdollars) gestiegen. Dieses bemerkens¬ 
werte Wachstum ist einzig und allein der 
Thatsache zuzuschreiben, dass sich in der 
Zwischenzeit Japaner in grosser Menge dort 
niedergelassen haben. Es ist nicht länger 
möglich, zu behaupten, dass die Japaner ein 
zu Hause sitzen bleibendes, nicht unterneh¬ 
mungslustiges Volk seien. Die Theorie ist 
durch die Thatsache längst über den Haufen 
geworfen worden. In Hawaii, in San Fran¬ 
cisco, in Vancouver, in Canada, in Queens¬ 
land, in Neu-Caledonien, in den Philippinen, 
in Singapore, in Wladivostok, in Korea, in 
Brasilien, kurz überall, bestehen jetzt japa¬ 
nische Kolonien. Trotz der Schwierigkeiten, 
die in Hawaii vorliegen, drängen Hunderte 
noch dorthin und ungeachtet der Gefahren, 
die in Korea drohen, und der geringen Sicher¬ 
heit, die die Gesetze dieses Königreiches fllr 
Leben und Sicherheit bieten, setzen die Ja¬ 
paner noch immer nach dort über und dringen 
in das Innere der Halbinsel vor. Was Unter¬ 
nehmungslust und den Mut, sein Glück auch 
unter Gefahren zu suchen, angehen, so kann 
die Befähigung zur Auswanderung nach fernen 
Ländern den Japanern nicht abgesprochen 


werden. Und eben so wenig kann es fraglich 
sein, dass die ökonomische Notwendigkeit und 
das nationale Interesse auf die Auswanderung 
als auf eine weise Erleichterung und wünschens¬ 
werte Massregel hinweisen. Die Regierung 
sollte bei der Behandlung der Hawaii'schen 
Frage diese Thatsachen im Auge behalten. 
Es ist nicht wünschenswert, dass die Ehre 
des Reichs durch die Anwendung von Gewalt 
einem Schwächeren gegenüber befleckt werde, 
aber alle Sorgfalt muss angewendet werden, 
um einen Präzedenzfall zu vermeiden, der den 
freien Zug der Japanischen Auswanderung 
beschränken könnte. Die Zeit ist fhr Japan 
gekommen, ernsthaft an sein Volk in fremden 
Ländern zu denken und seine Kriegsschiffe 
periodisch nach den Plätzen zu senden, wo 
seine Unterthanen ihr Brod ernten und neue 
Märkte für die Erzeugnisse ihres Vaterlandes 
eröffnen. 

Die von dem Jiji Shimbun vertretenen 
Anschauungen sind unzweifelhaft richtige und 
bei den mancherlei Vorzügen, die japanische 
Einwanderer besitzen, würde man sie in vielen 
Ländern, in denen die Furcht vor der gelben 
Pest noch nicht zum beliebten Werkzeuge 
politischer Parteien geworden ist, unzweifel¬ 
haft gern aufnehmen, wenn der Jingoismus 
des japanischen Volkes und der japanischen 
Staatsmänner nicht dahin geführt hätte, dass 
Japan und die Japaner überall mit nur zu 
berechtigtem Misstrauen betrachtet werden. 

Es ist ein eigenes und nicht unverdientes 
Geschick, dass der japanische Staatsmann, 
der mehr als irgend ein anderer zur üppigen 
Entwickelung dieser unliebsamen Seite des 
japanischen National-Charakters beigetragen 
hat, der langjährige Führer der Radikalen 
und frühere sowie jetzige Minister der Aus¬ 
wärtigen Angelegenheiten, Okuma, berufen 
ist, den bitteren Bodensatz des von ihm ge¬ 
brauten Tranks japanischer Politik selbst zu 
leeren, in Hawaii die Früchte seiner Korea 
und China gegenüber beobachteten Haltung 
zu ernten und vor den Vereinigten Staaten 
in Hawaii zurückweichen zu müssen, wie sein 
Vorgänger Mutzu ira Kabinet Jto das in 
Liaotung vor den drei Mächten zu thun ge¬ 
zwungen war. 

Ob und wie weit Formosa sich als ein 
passendes Gebiet für japanische Massen¬ 
einwanderung erweisen wird, muss dahin 
gestellt bleiben. Das Klima der Insel hat 
sich für die japanische Armee seit der Be¬ 
setzung derselben im Juni 1895 als ein 
wahrhaft mörderisches erwiesen und man 
wird wohl nicht zu hoch greifen, wenn man 
die Zahl der seit der Zeit dort begrabenen 
Japaner auf mindestens 25,000 annimmt. Das 
ist wenig ermuthigend ftlr die Söhne des Lan- 

»7 


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474 


Betcke, Schwimm- und ‘Trockendocks. 


des der aufgehenden Sonne, besonders da 
ihnen auch die in Formosa sesshafte auf 
über 2’/, Million geschätzte chinesische Be¬ 
völkerung eine schwer zu überwindende Kon¬ 
kurrenz machen dürfte. Übrigens befindet sich 
auch die japanische Regierung auf Formosa 
in einer eigenthümlichen und schwierigen 
Lage. Nach dem Friedensvertrage von Shi- 
monoseki lief am 8. Juni d. J. die zweijähr¬ 
ige Frist ab, innerhalb welcher es den chine¬ 
sischen Ansiedlern auf Formosa freistand, ihren 
Besitz zu verkaufen und die Insel zu ver¬ 
lassen ; nach diesem Zeitpunkt kann die ja¬ 
panische Regierung sie als japanische Unter- 
thanen ansehen und behandeln und wenn sie 
dies thut, wie sie wohl kaum anders kann, 
so erhält sie damit ein Element, das sich 
bis jetzt unter gleichen Bedingungen dem 
Japanischen überall überlegen gezeigt hat. 

Trotzdem bleibt für eine friedliche japan¬ 
ische Expansion in Ostasien und Hinter¬ 
indien noch genug Raum, freilich nur unter 
der Bedingung, dass dieselbe von allen jingoist- 
ischen Tendenzen freibleibe oder dass Japan 
im Laufe der Jahre solche kriegerischen Er¬ 
folge erringe, dass ihm gegenüber die Ein¬ 
sprache Europas verstumme und China sich 
willenlos dem Gesetz des Siegers zu unter¬ 
werfenhabe. Und selbst in dem letzteren Falle 
bliebe es mehr als zweifelhaft, ob der Ja¬ 
paner oder der Chinese aus einem friedlichen 
Wettkampfe als Sieger hervorgehen würde. 

Vielleicht auch, und es wäre das ein 
merkwürdiges Spiel des Schicksals, kann 
Deutschland in die Lage kommen, mit Japan- , 
ischer Einwanderung rechnen zu müssen. 
Berichteten doch die japanischen Zeitungen 
kürzlich von einem Japaner Namens Suzuki 
Kakutaro, der von den Karolinen in 1891 
auf eine der Inseln des Bismarck-Archipels, 
im Osten von Neu-Guinea, gelangt sei und 
dort sechs Jahre zugebracht habe, während 
welcher Zeit drei andere Japaner von den 
Eingeborenen erschlagen und aufgefressen 
worden wären. Suzuki erzählt, dass auf den 
Inseln, trotz der Wildheit der Bewohner, 
schon verschiedene mutige Fremde’ ein Ver¬ 
mögen erworben hätten, so unter andern eine 
amerikanische Frau, die mit nichts angefan¬ 
gen und jetzt einige sechzig Läden in ver¬ 
schiedenen Plätzen und 4^/< Million Yen 
besässe (sic!) Da Suzuki beabsichtigt, seine 
Abenteuer in Buchform herauszugeben, wird 
es ihm wohl nicht an Nachahmern unter 
seinen Landsleuten fehlen, deren Verzehrung 
durch die Eingeborenen vielleicht noch ein¬ 
mal, man denke nur an den Vorwand für die 
erste japanische Expedition nach Formosa in 
1874, zu diplomatischen Schwierigkeiten 
zwischen Japan und Deutschland führen könnte! 


Schwimm- und Trockendocks. 

Von G. Bktcke, 

I. Schwimmdocks. 

(Mit vier Abbildungen.) 

Alle Schiffe müssen von Zeit zu Zeit ihrer 
besseren Konservierung wegen in ihren Unter- 
und Überwasserteilen gründlich gereinigt, 
hölzerne von Kraut- und Muschelansatz, eiserne 
ausserdem von Rost befreit werden. Grössere 
Schiffe, welche aus Holz erbaut sind, erhalten 
zum Schutz gegen Ansatz und Bohrwürmer 
eine Kupferhaut; die Aussenhaut eiserner 
Schiffe ist lediglich durch möglichst wider¬ 
standsfähige Farbe vor dem Zerstören durch 
Rost geschützt, falls das Schiff nicht ausser 
seiner eisernen noch mit einer hölzernen Haut 
bekleidet ist, was jedoch in der grossen Kauf¬ 
fahrteiflotte nur selten der Fall ist. Den Teil 
nun der Schiffe, welcher sich über ihrer 
Schwimmebene befindet, mit den nötigen 
Schutzmitteln zu versehen, bietet keine be¬ 
sonderen Schwierigkeiten, dagegen sind für 
die Besorgung des unter Wasser befindlichen 
Teiles des Schiffes besondere Vorrichtungen 
nötig. — Wenn uns heute zu diesem Zweck 
moderne Einrichtungen, die Schwimm- und 
Trockendocks, zur Verfügung stehen, so gab 
es eine Zeit, wo man sich auf andere Weise 
helfen musste und diese Art, in welcher man 
die Schiffe reinigte, ist auch noch heute dort 
in Gebrauch, wo man aus Mangel an den 
nötigen Mitteln oder aus örtlichen Rücksich¬ 
ten sich den Bau von Docks versagen musste. 

Betrachten wir uns den Reinigungsprozess 
und die damit verbundenen Instandhaltungs¬ 
arbeiten zunächst bei einem hölzernen Segel¬ 
schiff. Das Schiff hat eine grössere Auslands¬ 
reise hinter sich. Sein Bestimmungsort führte 
es in die Tropengegend. Die Sonne hat mit > 
verzehrender Glut auf die Decks und die 
hölzerne Aussenhaut gebrannt; die einzelnen 
Planken, aus denen Decks und Aussenhaut 
bestehen, sind infolge der Hitze zusammen¬ 
gekrochen; das in den Nähten befindliche 
Werg, ein Dichtungsmaterial, welches aus 
mit gelbem Theer getränktem Hanf besteht, 
ist locker, das Deck infolgedessen undicht 
geworden. Die Farbe der Holzhaut ist rissig 
geworden oder aufgesprungen und auch hier 
sind die Nähte gelockert. Das Schiff hat Ge¬ 
genden passieren müssen, die das Ansetzen 
von Kraut und Muscheln ganz ausserordent¬ 
lich förderten: seine Rückfahrt hat sich in¬ 
folgedessen bedenklich langsamer gestaltet und 
es ist dringend erforderlich geworden, vor An¬ 
tritt einer neuen Auslandsreise das Schiff gründ¬ 
lich nachzusehen, zu reinigen, abzudichten, 
notwendig gewordene Reparaturen am Schiffs¬ 
körper vorzunehmen und denselben mit neuer 


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Betckl, Schwimm* und Tko( kendocks. 


475 


Farbe zu versi'lien. Das Schift' wird zu die¬ 
sem Zweck vollständig abgeriistet; der Raum 
(das Innere) des SchitVes wird entleert, alle- 
beweglichen auf Deck belindliohtm Peile wer¬ 
den entfernt und es wird an die Stelle ver¬ 
holt, wo sich die Vorrichtungen betinden, mit 
liereii Hilfe man die erforderlichen Vorarbeiten 
für die Instandsetzung des SchilTes vor sich 
gehen lassen kann. Um nun das SchifT für 
ilie Reinigung, das Abdichten und Streichen 
\on zunächst einer Seite auf die geginüber- 
licgende neigen zu können, werden unterhalb 
der Marsen (Mastkörbe) zwei mächtige I'laschen- 
züge, sogenannte Ciienen, die in Blocken von 
\on 6- 8 Rollen laufen, angebracht, deren 
Läufer ('Pauc) mit einem Gangspill (Winde mit 
senkrechter Axe) verbunden werden. Sobald 
dieses in Gang gesetzt ist, wird das Schiff 
zuerst langsam, dann aber allmählich leichter 
folgend, soweit wie jeweilig am Schiftskürper 
gearbeitet werden soll, auf die Seite geneigt, 
bis man zuletzt mit der Arbeit am Kiel an¬ 
gelangt sein wird. Zur Aufnahme der arbeiten¬ 
den Leute und des nötigen Materials und 
der Werkzeuge dient ein aus Balken und 
Brettern zusammengezimmertes Floss. lAbb. i.l 
Nachdem zunächst der Mirschelansatz, Schlamm 
und Schlick entfernt, wird das Schiff in allen 
Nähten abgedichtet, worauf diese gepecht 
(mit siedendem Rech ausgegossen) werden, 
um sodann geschrapt, getheert, um schliess¬ 
lich mit neuem Farbeauftrag ver.sehen zu wer¬ 
den. Sind nun die Arbeiten auf der ihnen 
SchifFscite vollendet, so wird das Schilf eben- 
lalls mit Hilfe der Winden zunächst in seine 
Schwimmebene zurückgebracht. Die hierzu 
erforderliche Kraft liefert das Gewicht des 
Schiffskörpers und es wird dem Aufrichten 
desselben langsam stattgeben. Nvinmehr wird 
das Schift' gedreht uikI der eben geschilderte 
Vorgang beginnt auch für die Besorgung der 
anderen SchiIfsseite. 

Mit dem stetigen Wachsen der Abmess¬ 
ungen und der damit verbundenen Zunahme 
des Gewichts dei- Schifte konnte das eben 
beschriebene \’erfahren nur bei Schift'cn einer 
gewissen Grosse zur Anwcnilung kommen 
und man war bald gezwungen, für das Rei¬ 
nigen gn'isserer 1 landel.s- und Krie*gsschifte 
sich nach ausreichenden Hilfsmitteln uinzu- 
sehi-n. L'nd das geschah mit dem Bau vnn 
Schwimm- und Trockendocks. 

Das Docken der Schiffe nun untenschi idet 
sich vom Kielliolen schon deshall) selir vor¬ 
teilhaft, weil der Schiffskörper beim Kielhoh ii 
in IfezLig auf seine Verbandteile ganz be¬ 
sonders bean.sprucht wird, wältrend das ins 
Dock aufzunehmende Schilf in keiner Weise 
unter diesem Prozess zu leiden hat. 

Um die Zeit der fünfziger Jahre entstand 





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.VhHldung I 













476 


Betcke, Schwimm- und Trockendocks. 



Abbildung 2. 


die Konstruktion und der Bau eines hölzernen 
Schwimmdocks auf der Werft des verstorbe¬ 
nen Geheimen Kommerzienrats Klawitter, 
eines um die Förderung des Schiffsbaues ganz 
besonders verdienten Mannes. Wenn man 
bis dahin weder an den Küsten der Nordsee 
noch des baltischen Meeres Gelegenheit ha¬ 
ben konnte, grössere Handels- und Kriegs¬ 
schiffe docken zu können, so war von dieser 
Zeit ab die Liegestelle jenes hölzernen 
Schwimmdocks der Sammelplatz nicht allein 
aller grösseren und kleineren Schiffe der den 
beiden Meeren benachbarten Länder, sondern 
auch die Kriegsmarinen sah man häufig das 
berühmt gewordene Dock aufsuchen. Die 
ehemalig königlich preussische Kriegsmarine 
hatte dem Dock für ihren ständigen Gebrauch 
einen Platz neben der damaligen Werft Danzig 
angewiesen und hat das Schwimmdock dort 
vom Anfang der fünfziger bis in die Mitte, 
der siebenziger Jahre gelegen. Die Werft . 
wurde nach dieser Zeit mit sämtlichen Neu¬ 
anlagen der modernen Kriegswerften in eine 
kaiserliche umgewandelt und man konnte das 
alte Dock nunmehr entbehren. Dieses erste 
Schwimmdock, welches unsere Abbildung 2 
zeigt, war in allen seinen Teilen aus Holz 
erbaut. Es hatte die für die damalige Zeit 
respektable Länge von 80 m. Da es für die 
Aufnahme grosser Schiffe berechnet war, so 
musste es in seiner Bauart aussergewöhnlich 
massiv ausgeführt werden. Seine Bodenwan¬ 
gen (Rippen im Boden) waren über t m hoch 
und jede aus vier Balken zusammengesetzt; 
ebenso waren alle übrigen Verbandteile ent¬ 
sprechend stark gehalten. Infolge dieser 
schweren Bauart war auch die Wasserver¬ 
drängung eine so grosse, dass das Dock 


nicht, wie unsere heutigen eisernen Schwimm¬ 
docks, auf seinem Unterbau schwimmen konnte, 
sondern zum Abschluss gegen das Wasser 
mit einem grossen Schlussthor versehen wer¬ 
den musste. An dem diesem Thor gegenüber 
gelegenen Dockende waren die für den Be¬ 
trieb erforderlichen Maschinen und Kessel in 
einem nach aussen und innen durch eine 
Querwand abgetrennten Raume untergebracht, 
über welchem sich ein mit Fenster und Thüren 
versehenes ftlr den Zugang zum Maschinen¬ 
raum dienendes Dockshaus befand. Das Dock 
hat das Wasser nie wieder verlassen können, 
da es für seine Aufnahme keine Aufschlepp¬ 
vorrichtungen gab und so musste das von 
Zeit zu Zeit notwendig werdende Abdichten 
des unter Wasser liegenden Teiles auch unter 
Wasser erfolgen und das geschah auf höchst 
originelle Art. Eine grosse Menge Häcksel 
wurde in das das Dock umgebende Wasser 
geschüttet und mit sogenannten Käschern, 
einem Fischereigerät an langer hölzerner 
Stange unter den Boden desselben getrieben. 
Das Wasser wurde nun so lange in Beweg¬ 
ung gehalten, bis aller Häcksel aufgetrieben 
und sich in den Nähten des Bodens festge¬ 
setzt hatte. Damit war das Abdichten auf 
längere Zeit besorgt und soll das alte Dock 
niemals undicht gewesen sein. 

Betrachten wir uns nun zunächst das 
Docken der Schiffe in modernen Schwimm¬ 
docks. Da man diese nicht mehr aus Holz, 
sondern nur noch aus Eisen erbaut, so sind 
sie bedeutend leichter als die älteren Holz¬ 
konstruktionen und ist ihre Wasserverdräng'* 
ung eine bedeutend geringere. Sie besitzen 
schon in ihrem Unterbau soviel Tragfähig¬ 
keit, um das zu dockende Schiff bequem auf- 


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Betckk, Schwimm- und Trockendocks. 


477 


nehmen zu können und sind daher an beiden 
Enden offen. Der Dockkörper ist in derselben 
Weise wie eiserne Schiffskörper, aus Spanten 
(Rippen) und äusserer und innerer Beplattung 
hergestellt und durch mehrere Querschotte 
abgeteilt, um einerseits dem Bau die nötige 
Verstärkung zu geben und andererseits ein 
gleichmässiges Verteilen der beim Senken 
des Docks einströmenden Wassermengen zu 
erzielen. Die an den Innenllächen der Dock¬ 
wände angebrachten Abstufungen haben den 
Zweck, den beim Eindocken der Schifte 
nötigen Stützen Halt zu geben. 

Das zu dockende Schiff wird nun zunächst 
ins Dock geholt oder — falls ein Dampfer — 
läuft mit eigener Kraft ein. Um das Schiff 
aufnehmen zu können, muss das Dock so 
weit gesenkt werden, als das Schift' tief geht. 
Ausserdem muss aber das Dock noch um 
so viel gesenkt werden, dass das Schiff die 
auf dem oberen Boden des Docks befind¬ 
lichen Stapelklötze nicht berühren kann. 

Das Senken geschieht durch Einlassen 
von Wasser in den Boden und die Seiten¬ 
wände. Es werden zu diesem Zweck die in 
dem Boden des Docks angebrachten Ventile, 
welche mit den auf beiden Seitenbauten be¬ 
findlichen Docks durch Zugstangen verbun¬ 
den sind, geöffnet. Das Wasser strömt nun 


in gewaltigen Massen ein und nicht lange 
währt es, bis das Dock den erforderlichen 
Tiefgang erreicht hat. Die Ventile werden 
nunmehr geschlossen und das Schiff kann 
einlaufen. (Abbild. 3.) Nunmehr treten die in 
dem Seitenbau vorhandenen Maschinenpumpen 
in Thätigkeit. Sie beginnen das Dock zu 
lenzen (leeren), indem sie das eben einge¬ 
strömte Wasser durch die in den Seiten¬ 
wänden oberhalb der Schwimmlinie des Docks 
befindlichen Öftnungen nach aussenbords 
werfen. Diese Arbeit geht allerdings nicht 
so schnell von Statten und erfordert bei 
unserem Dock einen Zeitaufwand von un¬ 
gefähr vier Stunden. Während das Schift' 
noch schwimmt, w’ird mit Hülfe einer dün¬ 
nen Leine die Mitte des Docks markiert, 
und das Schift' nach dieser Marke so ver¬ 
baut (mit Tauen befestigt), dass dasselbe sich 
in der Breitenmitte des Docks befindet, so 
dass es, sobald es trocken fällt, sich auf die 
Stapelklötze setzt. Inzwischen sind von bei¬ 
den Seiten des Docks und vom Schiff aus 
die nötigen Abstützungen gemacht. Nachdem 
das Schift' völlig trocken steht, w'erden auch die 
letzten Bodenstützen angebracht und die 
Arbeiten können nunmehr beginnen. Unsere 
Abbildung 4 veranschaulicht ein in einem 
eisernen Schwimmdock stehendes Segelschiff. 





Abbildung 3. 


A.. 


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478 


Berg, Die Psychologie des Dilettanten. 


Während nun für die Aufnahme schwerer 
Dampf- und Kriegsschiffe in der Regel Trocken¬ 
docks gewählt werden, so hat man doch in 
letzter Zeit Schwimmdocks von solchen Ab¬ 
messungen erbaut, die auch die grössten und 
schwersten Schiffe aufzunehmen im Stande 
sind. In letzter Zeit baute die Firma Blohm 
& Voss in Hamburg ein Ponton-Schwimmdock, 
welches zum Docken von Schiffen bis zu 
einer Länge von 195 m bestimmt ist. Das¬ 
selbe besteht aus sieben nebeneinander liegen¬ 
den Querpontons, Über welchen sich die in 
einer Länge erbauten Seitenaufbauten erheben. 
Bei der ungeheuren Ausdehnung dieser Auf- 


Die Psychologie des Dilettanten. 

Essay von Leo Bero. 

Die grosse Kunstmisere kommt von den 
Dilettanten; — sagen die Künstler und zum 
Teil auch die Kritiker. Wie aber? wenn es 
umgekehrt wäre und die Dilettanten von der 
Kunstmisere kämen? Schon Schiller war der 
Meinung, dass das Publikum nicht die Künstler, 
sondern die Künstler das Publikum verdürben. 
Das kommt auf dasselbe hinaus. Denn die 
Dilettanten sind das eigentliche, unmittelbare 
Kunstpublikum. 

Ich glaube, dem Problem des Dilettantismus 



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Abbildung 4. 


bauten musste auf einen besonders starken 
Längsverband Bedacht genommen werden. 
Das Einschleusen des Wassers beim Ver¬ 
senken der Pontons geschieht auch hier durch 
Bodenventile in den einzelnen Pontons. Zum 
Auswerfen des Wassers dienen zwei zwei- 
cylindrige Verbund - Maschinen, welche in je 
einem Seitenbau aufgestellt sind und welche 
das Lenzen für alle Pontons mit Hilfe von 
Centrifugalpumpen gleichmässig bewirken. Für 
den Antrieb sind zwei in den Aufbauten be¬ 
findliche Transmissionen vorhanden. Je nach 
Grösse und Gewicht der zu dockenden Schiffe 
werden einzelne oder mehrere Pontons gefüllt 
und gelenzt, welche Einrichtung in Bezug auf 
Zeit- und KrafTverbrauch diese Konstruktion 
sehr vorteilhaft auszeichnet. — 


ist so recht noch nie nachgedacht worden? 
Man weiss nicht, wie nah’ es sich mit dem 
Kunstproblem selber berührt. Wenn man 
einmal, da die Ästhetik von oben, d. h. von 
den vollendeten, reinen Kunstwerken, zu keiner 
befriedigenden Lösung geführt hat, von unten, 
vom Dilettantismus, anfinge, das Kunstproblem 
zu studieren? Denn es giebt keine Grenzen 
von Kunst und Dilettantismus, überall fliessen 
beide in einander, kaum dass es deutlich 
merkbare Übergänge giebt. Es giebt nicht in- 
bezug auf die ausübende Kunst zwei Gat¬ 
tungen von Menschen: Künstler und Dilet¬ 
tanten. Vielmehr kann man sagen: Jeder 
Künstler, auch der grösste, ist irgendwie, in 
einem Stücke Dilettant: und unter den Werken 
von Dilettanten findet sich manches, und sei 
es auch nur eine Zeile, ,die in die Kunst 


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Berg, Die Psychologie des Dilettanten. 


479 


hineinragt; nur dass man in der Umkehrung 
nicht so weit gehen kann, zu sagen: auch 
ieder Dilettant ist zugleich in irgend einem 
Stücke ein Künstler. Aber wer als Kritiker, 
Redakteur oder Mitglied von litterarischen 
oder künstlerischen Prüfungskommissionen, 
viele Dilettantenwerke in die Hand bekommt, 
hat oft Grund zu staunen, über Geniestreiche 
von Dilettanten in Einzelheiten. Das grosse 
Vergnügen, das aus der Komik von Dilettanten¬ 
werken stammt, hat fast immer zur Ursache 
eine unzureichende Begabung im Einzelnen 
z. B. eine blühende Phantasie oder ein Talent, 
das versetzt ist und auf falsche Gebiete ge- 
rathen ist. Nur dass, während die Talent- 
losigkeit vielseitig und grenzenlos ist, das 
Talent stets seine engen Schranken hat. 

Dilettant ist im wörtlichen Sinne der Lieb¬ 
haber der Kunst, der Empfangende, Genies¬ 
sende, die schönste Definition des Wortes 
Publikum. Er delekiert sich an der Kunst 
(italienisch dilettare, lat. delectare, ergötzen.) 
Damit er das kann, muss er die Kunst auch 
irgenwie üben; ohne diese Übung wird er 
nie zu einem Genüsse des Formalen kommen. 
Das war der Sinn, in dem Goethe die Dilettanten 
ermunterte. Der Künstler schafft nur fflr ein 
Publikum von Künstlern, ist ein Kardinalsatz 
seiner Ästhetik. Hier in diesem Verhältnis 
von Kunst und Publikum wurzelt auch die 
Missstimmung zwischen Künstlern und Kri¬ 
tikern. Den absolut unkünstlerischen Menschen 
kann sich der Künstler nicht einmal als 
Publikum, also ganz und gar nicht als Be¬ 
urteiler gefallen lassen. — Wenn Schiller von 
den dilettantischen Dichtern spricht, für welche 
die Sprache schon dichtet und denkt, so ist 
ähnliches gemeint, nur dass man für Sprache 
die sprachübenden Meister setzen muss. Der 
dilettierende Dichter ist derjenige, welcher die 
Sprache Andrer begriffen und gefühlt hat, und, 
sie reproduzierend, sich einbildend, ein Neues 
zu schaffen. 

Der Dilettantismus hat so viele Erklärungen 
gefunden als die Kunst selber; sie waren 
stets die Negationen, nur dass sie immer als 
ein reines Minus, wie auch als ein Plus im 
Minus, als umgekehrte Position gedacht waren. 
Erkennt man das Wesen der Kunst im For¬ 
malen, muss der Dilettantismus das Formlose 
sein. Man wird sich nicht wundern, bei einem 
Franzosen ihn definiert zu finden, als une 
disposition d’esprit tr^s-intelligente et ä la 
fois tr^s - voluptueuse, qui nous incline tour 
ä tour vers les formes diverses de la vie ct 
nous conduit ä nous pr^ter ä toiites ces formes, 
Sans nous donner ä aucune (Paul Bourget). 
Vielleicht ist damit eher der Anarchismus 
definiert als der Dilettantismus. Die Reaktion 
gegen die Lebens- und Gesellschaftsformen 


ist eher ein Charakteristikum des Künstlers, 
als des Dilettanten. Wer die Kunst aus der 
Liebe herleitet, kann dahin kommen, den 
Dilettantismus zu erklären als die Liebe zur 
Kunst ohne Gegenliebe. Das ist eine Jener 
geistreichen Erklärungen, die viel zu geistreich 
sind, um etwas zu erklären. — 

Zu einem Kunstwerke gehören drei Lebens¬ 
potenzen : ein Wollen, ein Können, ein Voll¬ 
bringen. Durch eine je einmalige Setzung 
eines Minus an Stelle des entsprechenden Plus 
vor diese Potenzen entsteht eine Säule von 
Relationen, die sich jeder selbst aufbauen 
kann. Sie bilden das grosse Postament, auf 
dem schliesslich das Kunstwerk sich errichtet. 
Unmittelbar unter ihm stehen diejenigen Werke, 
in denen ein Tüchtiges gewollt ist. Tüchtiges 
gekonnt wird, mit denen dennoch aber nichts 
erreicht wird (mit mathematischen Zeichen 
ausgedrückt: -f- A -f- B — C. Das sind die 
künstlerischen Torsos. Wo Tüchtiges gewollt 
und auch erreicht wird, trotz Unvermögen, näm¬ 
lich mit anderen als künstlerischen Mitteln, 
(+ A — B 4 - C) da entsteht ein unkünstlerisches, 
aber noch kein dilettantisches Werk, ein Werk, 
das in der Folgezeit vielleicht in anderen 
Sphären des Geistes oder der Gesellschaft 
als gerade der spezifischen Kunstgeschichte 
eine Rolle spielt. Und wo endlich ein Un¬ 
tüchtiges mit künstlerischen Mitteln ausgeführt 
und erreicht wird (— A + B -f- C), ent.steht 
die Künstelei, die negative Kunstleistung, die 
deshalb noch nicht dilettantisch ist und ge¬ 
wiss nicht dafür genommen wird; viel eher 
verdrängt sie einmal auf Jahrzehnte grosse 
Kunstleistungeru Der Berninismus in der 
Baukunst und der Euphuismus in der Poesie 
sind die berühmten Beispiele hierfür. 

Das Reich des Dilettantismus beginnt erst 
bei der zweiten Negation. Der Fall, dass 
etwas Untüchtiges gewollt, untüchtig aus¬ 
geführt und gleichwohl etwas erreicht wird, 
lasse ich als den Glückszufall des Dilettan¬ 
tismus bei Seite. Ein berühmtes Beispiel ist 
das „Rheinlied“ von Nik. Becker. Viel ge¬ 
wöhnlicher sind die beiden andern Fälle, in 
denen nichts erreicht wird, das eine Mal bei 
tüchtigem Wollen ohne entsprechendes 'I'alent, 
das andere Mal trotz einem Talente, aber 
ohne tüchtigen künstlerischen Willen. Wir 
sind in der Hölle der Ohnmacht und inneren 
Erfolglosigkeit. In ihrer dunkelsten Schrift, 
hinter dem impotenten (-f- A — B - C) und 
dem indifferenten (— A steht der 

absolute Dilettantismus (— A — B — C), 
der nichts will, nichts kann und auch nichts 
erreicht. 

Das Alles auf jeden Teil, auf jeden Vers 
und auf jeden Pinselstrich bezogen. Denn 
es handelt sich um die Wesensunterschei- 




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480 


Berg, Die Psychologie des Dilettanten. 


düngen. Die Grössenbestimmungen von Kunst 
und Dilettantismus sind wieder andere. Die 
Bewertung des schaffenden Menschen hängt 
davon ab, ob er vorwiegend und wie lange 
er sich im Lichte der Kunst oder in der 

Hölle der Ohnmacht aufgehalten hat. — 

« « 

Im Kunststaate sind die Dilettanten die viel 
zu Vielen, deren Herkunft sich aus 5 Quellen 
herleiten lässt, welche alle aber zugleich 
Quellen der Kunst selber sind. 

1) Die Nachahmung. Das ist die Quelle, 
die am leichtesten zu entdecken war und auch 
am frühesten gefunden wurde. Das Vollendete 
macht in dem Laien den Künstler frei: Jeder 
liest, sieht, hört es als hätte er selbst gedacht, 
und empfunden, zuweilen mit dem Gefühle 
des Hasses, als sei ihm nur jemand zuvor¬ 
gekommen. Eben hat er es selber sagen und 
ausdrücken wollen. Ein formales Genie zieht 
einen Schweif von Dilettanten nach sich, und 
unmittelbar nach einem Triumphe der Kunst 
folg^ auch ein Triumph des Dilettantismus. 
Raffael in der Malerei, Mozart in der Musik, 
Heine in der Lyrik, Schopenhauer in der 
Philosophie haben verheerend gewirkt. Eine 
Stufe tiefer stehen die Dilettanten, die durch 
Rhetorik, und noch tiefer, die durch den Er¬ 
folg in der Kunst zum Schaffen angeregt 
werden. Aber ob innerlich, ob äusserlich, 
es ist immer ein Erfolg des Andern, dev über 
das Talent des Einen täuscht. Wenn jemand 
ein Glückslos gezogen, kaufen sich seine 
Freunde Lotterielose: wenn ein Drama Beifall 
fand, lässt sich sofort eine Steigerung der 
dramatischen Produktion wahrnehmen. 

2) Die Kritik. Die Kritik des Vorhandenen 
erweckt den Schöpfer des Neuen. Aber sie 
erweckt auch den Dilettanten. Aus dem Ge¬ 
fühle kritischer Überlegenheit erwächst gar 
leicht ein neues Werk. Bei dem Dilettanten 
ist diese Kritik umgekehrte Bewunderung. 
Also dieses Genie macht solche Dummheiten? 
Und es wird gefeiert? Wärst Du das nun 
gewesen! Schlimmer hättest Du es vielleicht 
auch nicht gemacht! Das ist die Skala des 
Raisonnements. Die Kritik überschreit die 
Bewunderung und persönliche Bescheidenheit. 
Wenn Dilettanten sagen: schlimmer hältst du’s 
auch nicht gemacht, dann giebt’s immer ein 
Unglück. Denn sie machen sich sogleich 
ans Werk. Die Dilettanten aber finden 
an den Dilettanten die unerbittlichsten 
Kritiker, und jeder zieht ein Heer von Dilet¬ 
tanten hinter sich; das Halb-Talent, besonders 
wenn es Erfolg hat oder sich doch irgendwie 
zur Geltung zu bringen vermag, die Schaar 
der Viertel-'l'alente, das Viertel-Talent die 
Achtel-Talente, und so fort bis in die Unend¬ 
lichkeit weiter. In kleinen Vereinen kann man 


den Prozess dieser Fortzeugung am schönsten 
beobachten. 

3) Der Gebrauch. Aus dem Unverhältnis 
von Schöpfungen und Gebrauch schreibt sich 
das Elend in der Kunst her; wirtschaftlich 
ausgedrückt: es wird mehr produziert als 
konsumiert. Für die Ausbreitung des Dilet¬ 
tantismus muss sich das umgekehrte Gesetz 
ergeben. Es giebt auch Gebiete, auf denen 
mehr Talente gebraucht werden, als vorhanden 
sind. Und da sind es die Dilettanten, welche 
an die Stelle der Talente rücken. Anfänglich 
allerdings müssen die halben Talente für die 
ganzen, dann die viertel, achtel u. s. w. für 
sie einstehen. Das kann man beim Journa¬ 
lismus, beim Theater gut verfolgen. Journalisten 
und Schauspieler muss man haben, in grosser 
Zahl sogar, und man nimmt, was man bekom¬ 
men kann. Allgemein gesprochen: der Dilet¬ 
tantismus ist das in die Erscheinung tretende 
Problem von der Nachfolge. Die alten Juden 
wussten schon, dass einem schlechten König 
stets ein schlechterer folgt. Nicht nur, dass 
ein Bismarck keinen Nachfolger findet, sogar, 
wenn einer von den Kleinsten gestürzt werden 
soll, z. B. ein Lackowitz vom „Berliner Lokal- 
Anzeiger", so findet sich stets ein noch Talent¬ 
loserer, der ihn ablöst. Auf Goethe folgt in 
Deutschland in seiner dominierenden Stellung 
Ludwig Tieck, auf diesen Gutzkow, und auf 
Gutzkow — Paul Lindau, Der Nachfolgev ist 
fast immer der Schatten, welchen der Dilet¬ 
tantismus vorauswirft. 

Dass schliesslich die halben Talente und 
ganzen Dilettanten die Künstler verdrängen, 
ist eine bekannte Thatsache, die jeder kennt, 
der sich um die Geschichte der Kunst be¬ 
kümmert hat. Ihre Folge ist, dass schliesslich 
mit den neuen Leuten auch neue Lebens¬ 
bedingungen und Gesetze der Kunst zur Herr¬ 
schaft kommen, z. B. die Kunst zu schaffen 
verdrängt wird, durch die Kunst zu schmei¬ 
cheln oder Geschäfte zu machen. Dieser 
Kampf endigt stets damit, dass aus der Dilet- 
tanterei eine neue Ästhetik gemacht wird, und 
die Künstler es sind, welche zu Dilettanten 
erklärt werden. Mein Freund, Paul Blumen¬ 
reich, der verkrachte Direktor des Ausstellungs- 
'l'heaters, definierte mir einmal den Begriff 
des Schriftstellers als desjenigen, welcher von 
dem lebt, was seine Feder schreibt. Alles 
Andere sind die Dilettanten. Im Zeitalter der 
General- und Lokalanzeiger, ich wüsste nicht, 
wie man da den Schriftsteller besser definieren 
könnte, ln ihm wird Voltaires Satz, dass 
jede Kunst berechtigt sei, ausser der lang¬ 
weiligen, die kritische ultima ratio. Da über 
das, was langweilig ist, aber dieselbe Klasse 
von Menschen entscheidet, so wird zunächst 
jede Art ernsthafter Kunst ausgeschieden. 


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Berg, Die Psychologie des Dilettanten. 


481 


Auf diese Weise fallen ganze Kunstgattungen 
dem Fluche des Ünkünstlerischen oder Dilet¬ 
tantischen anheim, bis sie schliesslich auch in 
Wirklichkeit nur noch von Nichtkünstlem ge¬ 
pflegtwerden, von solchen, denen das lebendige 
Gefühl fehlt von dem, was wirkt. So schwand 
die Tragödie aus der französichen, die Jamben¬ 
tragödie aus der deutschen Litteratur. Bei der 
Beurteilung mancher Dichter, z. B. Wilden¬ 
bruchs, ist es wichtig, sich zu erinnern, dass 
sie unter dem Gefühle dieses Fluches anfingen 
zu schaffen und es niemals in sich und durch 
sich überwunden haben. Zum Glücke erfor 
dert die gute Absicht, das Volk zu amüsieren, 
so viel Talent, dass es wenigstens nicht die 
absoluten Dilettanten sind, denen die neue 
Ästhetik, Technik, Dramaturgie entnommen 
\ wird. Selbst die Possendichter, so niedrig 
ihre Kunst steht, ganz ohne Talent werden 
sie nicht sein, wenn sie Erfolg haben. Be¬ 
denklicher wird die Sache schon beim Feuil¬ 
leton-Roman. — 

Nicht nur für den Tagesgebrauch, auch 
für des Lebens Schmuck braucht ein Volk 
Talente. Und auch hier wieder kann man 
das Aufrücken der Kleinen zum Ruhme der 
Grossen beobachten. Wenn ein Maupassant 
tot ist, ist stets ein Tovote da, ihn zu ersetzen. 
Und in Ermangelung eines Luther nimmt 
man sogar noch einiges Christentum von 
Egidy, diesem typischen Dilettanten in Re¬ 
ligion und Politik, der aber gleichwohl eine 
Art von religiös-sozialer Bewegung hervor¬ 
gebracht hat. So oft ein neues Kunst¬ 
institut entsteht, müssen ein paar Dutzend 
mittlere Talente in die Höhe gelobt werden, 
dass sie dem Institut zur Zierde gereichen. 
Anfangs ist man froh, dass sie nicht durch¬ 
fallen, später verlangt man Achtung für sie, 
bald sticht man mit ihnen die andern aus, bis 
sie schliesslich eine neue Kunst begründet 
haben. Damit endigt des Dilettanten Laufbahn. 
In allgemeinen Umrissen ist das die Geschichte 
vieler moderner Schauspieler und Dichter. 
Die Direktoren und Aktionäre sind am Werke, 
es handelt sich um die Existenz. Sie „machen“ 
die Kunst — 

4) Die partielle Begabung. Wir stehen an 
der Lebensquelle des Dilettantismus, die sich 
wieder aus drei Nebenquellen zusammensetzt: 

Die erste ist die versandende Quelle der 
für eine Kunst nicht ausreichenden Begabung. 
Das ist der Dilettantismus derer, die dichten, 
weil sie ein gewisses Verstalent und sonst 
nichts haben, oder Phantasie, oder ein starkes 
Gefühl, oder ein einmaliges Erlebnis. Das 
sind gewöhnlich die komischen Intermezzi im 
Dilettantismus, der mit ihnen erst zur Ent¬ 
faltung gelangt. Gerät solch Dilettant in 
eine Klique hinein, wie 2. B. Franz Held, 


der jetzt verschollene Schöpfer der „Fresko- 
Bühne“, so gilt er wegen seiner einseitigen 
Begabung für ein Genie. Gerade seine spe¬ 
zifische Begabung aber, sein Phantasie¬ 
reichtum, machte ihn für Andere zur komischen 
Erscheinung. 

Die andere Nebenquelle ist die falsche 
Verwendung einer vorhandenen, unter Um¬ 
ständen sogar tüchtigen Begabung. Immer¬ 
mann spricht humoristisch von der „versetzten 
Hippokrene.“ Das ist der Dilettantismus der 
Redner, welche Dichter, der Denker, welche 
Künstler, der Journalisten, welche Politiker, der 
Bureaukraten, welche Minister werden. Hier an 
dieser Stelle drängen sich geradezu Kunst und 
Dilettantismus, treten sich gleichsam gegenseitig 
auf dieFOsse, Erfahrungssatz aus der Psycho¬ 
logie des Schaffens: Wenn ein Schaffender fühlt, 
dass er etwas auf seinem eigenen Gebiete 
nicht auszudrücken vermag, wenn er noch 
nicht reif, noch nicht klar, noch nicht durch¬ 
drungen genug ist von seinem Gegenstände, 
dann flüchtet er sich mit seinem Inhalt auf 
ein anderes Gebiet. Hier dilettiert er mit 
leichterem Gewissen. Er kennt nicht die 
Strenge der Gesetze einer anderen Kunst, genau 
so wie man im bürgerlichen Leben leicht¬ 
sinniger lebt in der Fremde als zu Hause. 
Wenn dem Philosophen seine Philosophie 
ausgeht, macht er Gedichte, wenn dem Dichter 
die Worte fehlen, fängt er an zu malen; der 
Lyriker schreibt in solcher Not Kritiken, der 
Kritiker macht aus seiner Kritik eine Novelle, 
oder was so aussieht (das lyrische Theater¬ 
feuilleton). Heut ist der Dilettantismus überall 
ausgebrochen, die Krankheit ist akut geworden. 
So sind die vielen Werke entstanden, von 
denen man zur Entschuldigung sagt; es sind 
gemalte Novellen, in Musik gesetzte Politik, 
dramatisierte Philosophie. —• Den Ernst er¬ 
kennt und anerkennt jeder nur in seinem 
eigenen Lande, weshalb die Ausländer in den 
Theaterstücken immer vollkommene Narren 
sein müssen. Ich erinnere mich immer noch 
gerne des naiv erstaunten Gesichtes, mit dem 
ein grosser und sehr berühmter Gelehrter mir 
nach der Vorstellung des Lear mit Ernesto dem 
Grossen, ich meine Rossi, gesagt hat: „Ja, 
dann freilich ist das Theater eine ganz ernste 
Sachel“ Er hat trotz manchem Handwerker 
und Spiesser die Künstler für Müssiggänger 
und Charlatane gehalten. — Ein andrer Ge¬ 
lehrter, von dem ich Grund habe, anzunehmen, 
dass er auch als Schriftsteller kein Dilettant 
gewesen ist, hat eines Tages seine sämtlichen 
nicht wissenschaftlichen Manuskripte verbrannt, 
er, der auch nicht das kleinste wissenschaft¬ 
liche Zettelchen der Vernichtung preisgegeben 
hätte! Man hat eben nur Gewissen, wenn 
man zu Hause ist. 


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482 


Berg, Die Psychologie des Dilettanten. 


Die dritte Nebenquelle ist der Universal- 
istnus, der in der Kunst dieselbe Sünde ist, 
die in der Politik der Kosmopolitismus ist, zu 
deutscli die Vaterlandslosigkeit eines Talentes, 
die Oberflächlichkeit wird und geradewegs 
zum Dilettantismus führt. Wir finden sie 
besonders in der Litteratur. Man ist Schrift¬ 
steller, nur Schriftsteller, aber weil man 
Schriftsteller ist, muss man auch Politiker, 
Redner, Dramaturg und Gelehrter, Dichter, 
Kritiker sein. Diese Allerweltkünstler hat 
Pailleron hübsch in seinen „Cabotins“ ge¬ 
zeichnet. Oft freilich werden die Künstler in 
diesen Dilettantismus durch die Umstände 
hineingedrängt. Tausende von Talenten ver¬ 
kümmern , aber wo eins zu einer Stellung 
gelangt, muss es sich durch Vielseitigkeit 
verflachen. Überall, wo Institute nicht für 
jedes Ressort besondere Talente anstellen 
können, muss Einer vierlerlei bewältigen. 
Es hat mancher als gtiter Schriftsteller oder 
Beamter angefangen und als elender Redakteur 
oder Direktor geendigt. Die Presse, die 
Politik, die Vereine werden von dieser Quelle 
des Dilettantismus bewässert. Fast jeden 
Arbeiter auf diesen Feldern beurteilt man 
ungerecht, wenn man nur auf seine Wirksam¬ 
keit sieht, ohne seine ursprüngliche Veranlagung 
zu kennen. Im bürgerlichen Leben ist es 
eben so: aus kleinen Kaufleuten werden grosse 
Betrüger, wenn die Umstände es wollen. — 

5) Die Subjektivität des modernen Men¬ 
schen, welche nach selbständiger Betätigung 
verlangt, wozu heut nur noch die Kunst 
Raum giebtj — beim Dilettanten heisst sie 
Eitelkeit. An dem Tage, an welchem sie 
ihre Individualität entdeckt haben, fangen sie 
Alle an zu dichten oder zu malen oder zu 
mimen. Das sind dann die Gemütszustände, 
in denen man sich unverstanden fühlt. Das 
Mägdelein legt sich ein Tagebuch bei, um 
ihm seine süssen Gefühle zu vertrauen. Später 
lässt die Krankheit gewöhnlich nach, und aus 
den Dilettanten von gestern werden die 
Philister von heute. Es ist wie mit andern 
Jugendkrankheiten auch: werden sie nicht 
rechtzeitig überwunden sind sie unheilbar. 
Steckt aber wirklich Individualität in den 
Leuten, so findet sie später zuweilen Betäti¬ 
gung auf anderen Gebieten, wo nicht gar in 
der Kunst selber. Aber dann eben sind sie 
keine Dilettanten mehr. Jedes Genie hat 
noch als Dilettant begonnen; nur dass man 
bei ihm von unreifen Erstlingswerken spricht, 
die man als dilettantische bezeichnet hätte, 
wenn er sich nicht später in die Kunst hinein- 
entwickeit hätte. 

Dilettantismus ist an sich noch kein 
Gegensatz, sondern ist vielmehr eine Neben¬ 


erscheinung der Kunst. Er verträgt sich so¬ 
wohl mit Talent, als mit Eigenart, wie sich 
das grösste Talent und die seltenste Eigen¬ 
art mit dem Dilettantismus gut verträgt. 
Die Geschichte lehrt es: Lcssing, Schiller, 
Ibsen, die Schlegel und Friedrich d. Gr. sind 
als Lyriker, Klopstock, Heine, Uhland, Greif 
und Lassalie als Dramatiker, Napoleon, 
Beethoven und Hebbel als Novellisten, Kleist, 
Bismarck und R. Wagner als Journalisten, 
Chateaubriand und V. Hugo als Politiker, 
Walther Scott und Lamartine als Historiker, 
Zola als Naturforscher und Voltaire, Beau¬ 
marchais und Goethe auf sehr vielen Ge¬ 
bieten Dilettanten gewesen. Mit der Aus¬ 
bildung der Technik und der wissenschaft¬ 
lichen Hilfsmittel schwindet das Terrain des 
Dilettantismus. Man kann ihn leichter kon¬ 
trollieren. Das ist aber nicht immer ein Glück 
für den menschlichen Geist. Denn es sind 
oft die Dilettanten, denen wir die besten 
Einsichten verdanken; es waren z. B. die 
politischen Dilettanten des 18. Jahrhunderts, 
denen wir die Umgestaltung der Gesellschafts¬ 
formen verdanken. Wenn der Geist die Fach¬ 
leute verlassen hat, springt er über auf die 
Dilettanten. Das ist in der Politik und in der 
Wissenschaft freilich häufiger als in der 
Kunst. Aber die Dilettanten sind es, denen 
wir die Volkslyrik verdanken, die zwar nicht 
das Volk, aber auch nicht die. zünftigen Dichter 
geschaffen haben. Was man mit Dilettanten 
im Theater machen kann, hat der Franzose 
Antoine bewiesen. Dilettantismus und Kunst 
schöpfen aus denselben Quellen. Der Geist 
lässt sich nicht klassifizieren. Es giebt 
nicht Maler, Dichter, Dilettanten, sondern es 
giebt nur Menschen, die sich zum Teil in 
ihrem Berufe, zum Teil aber auch gegen 
ihren Beruf entwickeln; und dann ereignet 
es sich, dass dem Dilettanten, nicht dem 
Künstler der grosse Wurf gelingt. So kommt 
es, dass manches Memoirenwerk einer un- 
litterarischen Persönlichkeit seine Zeit über¬ 
lebt hat, indessen die Werke der Schrift¬ 
stellerzunft in den Fluss des Schweigens 
längst versunken sind, z. B. die Memoiren 
des Benvenuto Cellini, der Markgräfin von 
Bayreuth u. a. Wenn die Zünftler unter den 
Künstlern sich lange genug blamiert haben, 
wird „Dilettant“ ein Ehrentitel wie „Laie“ in 
Zeiten niedergehenden Kirchenregiments. Ist 
es der Dilettantismus, der die Kunst auf den 
Hund bringt, so ist er es auch wieder, der 
sie vom Hunde herunterbringt. In künstler¬ 
ischen Verfallzeiten geht das neue Leben zu¬ 
weilen gerade von dem Dilettanten aus, von 
den Kritikern, Kunstenthusiasten, Volks- oder 
Kulturfreunden. Der Klassizismus ist nichts 
anders als ein Umweg zur Kunst durch den 


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Müller, Schulmedizin und Naturheilmethode. 


483 


Dilettantismus in seiner Äusserung als Nach¬ 
ahmung; und wenn in Zukunft das Theater 
wieder als ein Hunstinstitut angesehen wer¬ 
den wird, so wird das nicht das Resultat der 
heutigen Theaterentwicklung sein, sondern 
ein Geschenk der Dilettanten-Unternehmungen, 
der Freien Bühnen u. s. w. 

Gewöhnlich freilich ist der Dilettantismus, 
um es in umgekehrter Reihe zu rekapitulieren, 
nichts als die Jugendkrankheit der Individuen, 
die ausbrechende Krankheit ihrer Subjektivi¬ 
tät, häufig ein Anzeichen allgemeiner Ver¬ 
flachung, der Grenzverschiebung der Geistes¬ 
gebiete oder des Grössenwahns, nicht selten 
gerade die Folge der Wirksamkeit genialer 
Dichter. In jedem Falle hängt er mit der 
Kunst zusammen, er ist ihr Schatten und 
nicht gänzlich ohne Lichter. Ihr völliges 
Zerrbild ist er nie, und sie soll sich hüten, 
ihr Schattenbild für ihre Gestalt verantwort¬ 
lich zu machen. Der Dilettantismus ist die 
Kunst noch einmal, nur in tieferen Sphären, 
die sich zuweilen aber als die wichtigeren 
erweisen. Wenn man das Gesetz, welches 
das Verhältnis zwischen Dilettantismus und 
Kunst bestimmt, auf eine vernünftige Formel 
gebracht haben wird, wird man den ersten 
grossen Schritt in die Psychologie des Kunst¬ 
schaffens gethan haben. In Bezug auf die 
Natur lässt es sich vielleicht so ausdrücken: 
das VeriiältniS des Künstlers- zur Natur ist 
ein lebendiges, er ist produktiv, konsumptiv 
oder reformativ (gestaltend, geniessend, Ge¬ 
setze gebend); das des Dillettanten ist ein 
indifferentes, er ist imitativ, destruktiv oder 
spekulativ (Nachahmer, Sammler, Kritiker). 
In Bezug auf das Leben z. B. ist der 
Gelehrte der typische Dilettant. — Grosse 
Künstler verraten ihre Psychologie zuweilen 
gerade in ihren Dilettantenwerken (man kann 
z. B. die Lyrik Friedrichs des Grossen, die 
Dramen Lassalles und Heines u. s. w. für 
ihre Psychologie nicht entbehren), und der 
Dilettantismus wieder ist der Selbstverrat der 
Kunst. Es giebt manches Dilettantenwerk, 
welches ein Kunstwerk-wäre, wenn es in an¬ 
ständiger Toilette daherkäme. Zuweilen kann 
die Kritik sie ihr besorgen; und dann sagen 
die Künstler, diese wäre produktiv geworden. 

Die Dilettanten sind wie die Verbrecher 
der Vorwand zu jeder Art von Bevormund¬ 
ung und Unfreiheit geworden: weil es Ver¬ 
brecher giebt, muss sich der ruhige Bürger 
jeder Polizeichikane aussetzen; weil es so 
viele Dilettanten giebt, masst sich jeder Re¬ 
dakteur das Recht an, ehrliche Schriftsteller 
totzuschweigen, muss der Künstler um das 
Recht der Aufführung und Ausstellung ringen, 
hat sich eine dicke Wand zwischen dem 
Künstler und dem Publikum geschoben. Und 


wie man zuweilen den Eindruck hat, als sei der 
ganze 'Staat nur um der Verbrecher willen 
da, so scheint es auch schliesslich, als wären 
alle sogenannten Kunstinstitutionen nur wegen 
der Dilettanten begründet. Und das ist die 
schlimmste Gefahr, welche uns von Verbrechern 
und Dilettanten droht. 


Schulmedizin und Naturheilmethode. 

Voo Dr. mcd. Paul MOller. 

(Fortsetzung). 

Nach all dem Gesagten ist es verkehrt, 
wie die Naturheilkunde es vielfach fordert, 
den S'r/w^rpunkt für die Thätigkeit des Arztes, 
der mit gegebenen unvollkommenen und nicht 
zu beseitigenden Verhältnissen zu rechnen 
hat, auf die Hygiene verlegen zu wollen, ihn 
veranlassen zu wollen, seinen ganzen Wir¬ 
kungskreis in der Verhinderung von Krank¬ 
heiten durch Empfehlung eines vernünftigen 
Lebenswandels zu erblicken. Diese Lehren 
kann sich zudem der Kranke, der Belehrung 
über diese Dinge überhaupt annehmen will, 
billiger und bequemer aus dem massenhaft 
vorhandenen, populären Büchern über .dieses 
Thema erholen! Wenn der Arzt ihm dies¬ 
bezügliche Lehren erteilt, z. B. nicht zu viel zu 
rauchen, zu trinken, sich nicht zu überarbeiten, 
den Körper durch kaltes Wasser abzuhärten 
und seinen Stoffwechsel dadurch anzuregen, 
so hört er leider zu häufig die bedauerns¬ 
werte naive, Frage: „Herr Dr., wie lange Zeit 
soll ich denn dies thun oder nicht thun ?“ 
ad. 2. Was nun das zweite Gebiet ärzt¬ 
lichen Wissens und Könnens anbelangt, die 
Krankheits/(?Ärc im engeren Sinne, die Lehre 
von dem eigentlichen Wesen einer Krankheit, 
so ist dieses Gebiet in Laienkreisen fast gänz¬ 
lich unbekannt oder doch mindestens in seinem 
Umfang, in seiner Bedeutung vielfach unter¬ 
schätzt, obwohl es eigentlich die Basis der 
gesamten ärztlichen Wissenschaft ist. „Was 
geht eigentlich in dem Organismus vor sich, 
wenn er krank ist? Wie sind die einzelnen 
kranken Organe gegenüber den gesunden ver¬ 
ändert? Wie verhält sich der 6Vsnw/organis- 
mus als Träger eines kranken Organs, in 
wieweit ist er mitbeteiligt bei der jeweiligen 
Krankheit? Inwieweit ist die Erkrankung 
eines einzelnen Organs nur der Ausdruck 
eines krankhaften Zustandes des ganzen Men¬ 
schen?“ Diese Fragen legt sich der Laie 
entweder gar nicht vor, oder er geht mit 
einem schönkli^igendcn Wort darüber hinweg, 
wie: das sind „kranke Stoffe", welche kur¬ 
sieren.; das ist „Fluss", das ist „Verschlag“, 
das ist „Erkältung“ (wobei er sich nicht be- 


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484 


Müller, Schulmedizin und Naturheilmethode. 


wusst wird, dass die Erkältung doch höchstens 
die Veranlassung zur Krankheit, nicht aber 
die Krankheit in ihrem Heesen selbst ist!) — 
In früheren Jahrhunderten waren auch in den 
ärztlichen /ac/fkreisen derartige rein deduktive 
Erklärungsversuche gang und gäbe, und die 
Krankheitslehre war mehr oder weniger eine 
spekulative Wissenschaft, ln unserem Jahr¬ 
hundert der empirischen Naturwissenschaft 
vollzog sich auch auf dem Gebiete der ärzt¬ 
lichen Gesamtwissenschafl der Umwandlungs¬ 
prozess; das Mikroskop, die Biochemie neben 
manchem Anderen trugen dazu bei, den Zu¬ 
sammenhang der Dinge mehr induktiv, durch 
sinnliche Anschauung, durch Beobachtung und 
Experiment, zu suchen. Wer wollte leugnen, 
dass uns diese Art des Erkennens gewaltig 
vorwärts gebracht hat? Ebenso wenig darf 
man sich aber darüber täuschen, dass sie auch 
ihre Nachteile gehabt hat und haben musste! 
Ich finde in den Bestrebungen der Naturheil¬ 
methode eine Reaktion gegen diese zwar mit 
Naturnotwendigkeit gewordenen, deshalb aber 
nicht berechtigten und mithin zu bekämpfenden 
Nachteile. Die induktive Forschung hat sich 
zu sehr in das Detail verloren, die einzelnen 
Zweige haben sich zu sehr spezialisiert; man 
hat, gewohnt durch seine enge Spezialbrille 
die Dinge anzusehen, verlernt, allgemeine 
Gesichtspunkte wahrzunehmen und bei seinen 
Beobachtungen zu verwerten! Um nur ein 
Beispiel anzuführen: dankbar müssen wir 
Denen sein, die durch unermüdliche Studien 
im Dienste der Wahrheit eine Lebewelt um 
und in uns entdeckt haben, die sich kein 
Mensch vordem hat träumen lassen: ich meine 
die Mikroorganismen. Und trotz der Aner¬ 
kennung, die wir der Entfaltung eben dieses 
Forschungsgebietes,, der Bakteriologie, zollen, 
müssen wir ihr ein gebieterisches Halt! Zu¬ 
rufen, da sie sich anmasst, nach und nach 
alle Geheimnisse auf dem Gebiete der Krank¬ 
heitslehre in und an Lebewesen erklären zu 
wollen! Gewiss spielen Mikroorganismen im 
Werden und im Wesen recht vieler Krank¬ 
heiten eine Rolle, aber inwieweit sie es allein 
sind, und wieweit sie allein Beachtung bei der 
Heilung verdienen, darüber gehen die An¬ 
sichten doch noch weit auseinander. Wie 
hier die Schulmedizin zu einseitig ist, so ist 
die Naturheilmethode wieder zu radikal. Ähnlich 
radikal verhält sie sich z. B. gegenüber den 
einzelnen Spezialfächern : der Augen-, Ohren-, 
Nasen- und Frauenheilkunde etc. Die Spezial¬ 
fächer haben sich hoch entwickelt, sind jedoch 
leider zu einseitig geworden und haben daher 
in der Naturheilmethode eine Reaktion herauf¬ 
beschworen. Zu weit geht diese jedoch, wenn 
sie z. B. reine WÄs/ständige Organerkrank¬ 
ungen leugnet, jede Erkrankung als eine 


Allgemeinerkrankung des gesamten Körpers 
auffasst, und auch so behandelt wissen will 
und jede organische 6 ) 5 ^s^/behandlung be¬ 
krittelt! — Ähnliche Beispiele giebt es noch 
unzählige. — 

ad. j. Es erübrigt nun noch, das dritte 
bisher schon teilweise gestreifte Gebiet: Die 
Lehre von der Heilung der Krankheiten zu 
betrachten. Die Heilkunde im engeren Sinne 
ist das letzte und praktische Ergebnis aus 
den Lehren und Anschauungen, die auf den 
oben sub i und 2 beschriebenen Gebieten 
bestehen. Nur wenn sie auf diesen basiert, 
verdient sie ein Recht auf Anerkennung; 
alles andere ist keine Heilkunde, sondern 
Humbug, Charlatenisterei, Quacksalberei, Kur¬ 
pfuschertum! Es kommt also bei der Heil¬ 
kunde zunächst nicht darauf an, mit was ich 
kuriere, ob mit Wasser oder mit Massage, 
oder mit Medizin, oder mit dem Messer, son¬ 
dern nur darauf, ob meinen Verordnungen 
eine richtige vernünftige Vorstellung von der 
wahren Ursache und dem wahren Wesen der 
jeweiligen, richtig diagnostizierten Krankheit 
zu Grunde liegt; dann merde ich auch mit 
den verschiedensten Mitteln und auf dem ver¬ 
schiedensten Wege zum Ziele gelangen können! 
Wenn die Zunftmediziner früherer Jahr¬ 
hunderte vielfach sich in Medizinaberglauben 
ergingen, so waren sie eben Kinder ihrer 
abergläubischen Zeit. Wir jetztlebenden Ärzte 
sind nicht dazu verdammt, für etwaigen wider 
besseres Wissen begangenen Hokuspokus aus 
jener Zeit verantwortlich gemacht zu werden; 
jedenfalls geht man auch zu weit, wollte man 
den ganzen damaligen Ärztestand bewusster 
Täuschung zeihen. Die Meisten werden so 
gehandelt haben, weil sie eben nichts Besseres 
wussten. Wenn die Schulmedizin der Gegen¬ 
wart vielleicht etwas zu viel Medikamente zur 
Heilung verwendet, so beruht das darauf, 
weil das Publikum infolge jahrhundertelanger 
Gewöhnung zumeist nur den für einen richtigen 
Arzt hält, der, wie ein wandelndes Lexikon, 
für jedes Krankheitss^w/>/o/« ein Mittelchen 
zu verordnen versteht, das eine unmittelbare 
Wirkung hervorruft. Auch hier darf nicht 
unterschätzt werden, welchen grossen Heil¬ 
faktor oft die durch die Medizin hervor¬ 
gerufene Suggestivwirkung, die doch keines¬ 
falls als Betrug aufgefasst werden darf, bildet, 
und steht diese Erfahrungsthatsache unwider¬ 
ruflich fest, dass z. B. mancher wohlhabender 
Mann von einer wohlfeilen Medizin von vorne 
herein nichts hält, während ihm eine Medizin, 
die dieselben wirksamen Bestandteile enthält, 
nur mit wenigem verteuerndem Beiwerk ver¬ 
ziert ist, und also mehr kostet, mehr imponiert 
und auch wirklich auf dem Wege der Auto¬ 
suggestion besser anschlägt! Wenn man das 


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Müller, Schulmedizin und Naturheilmethode. 


485 


bedenkt, so erscheint einem der auf die 
Handlungsweise der Ärzte oft angewandte 
Ausspruch: „Mundus vult decipi, ergo deci- 
piatur“, in einem anderen Lichte! Und wollten 
wir die Erfolge, die bei der Anwendung der 
sogenannten physikalischen Heilmethoden 
(Hydrotherapie, Massage, Elektrizität) erzielt 
werden, mit denen der rein medikamentösen 
Behandlung vergleichen, so würde sich heraus¬ 
steilen, dass bei den ersteren Methoden wohl 
ebensoviel ^r/t^werfolge und ebensoviel reine 
SuggestiihiVirkungen zu verzeichnen sind, als 
bei letzterer, wobei ich immer wieder betone, 
dass das nicht als bewusster Betrug, als eine 
bewusste Täuschung des kranken Publikums 
aufgefasst werden darf, da hiermit nicht nur 
vorübergehende, sondern sogar dauernde Er¬ 
folge erzielt werden können. 

Bei beiden Methoden jedoch spielt selbst¬ 
verständlich die Suggestiv-Wirkung nicht die 
Hauptrolle; das wäre ein trauriges Zeugnis, 
welches ich unserm ärztlichen Gesamtwissen 
und-Können stellte; vielmehr liegt wohl der 
Mehrzahl der angewandten w'issenschaftlichen 
Heilmethoden oder Heilmittel, den physikal¬ 
ischen wie den medikamentösen, ein wohlbe¬ 
rechneter, direkter und unmittelbarer Einfluss 
auf den kranken Organismus oder das ein¬ 
zelne kranke Organ vor. Es ist nun m. E. 
eine grosse Willkür und unpraktische Prin- 
zi{Menreiterei, wen« die Naturheilmethode eine 
so scharfe Grenze ziehen will zwischen den 
natürlichen und den unnatürlichen, naturwid¬ 
rigen Heilmitteln, und für sich beansprucht, 
dass Alles, was sie ausheckt, z. B. auch die 
70 Mittel aus der „Kneippapotheke“, als „na¬ 
türliche Heilmittel" gelten soll. Der Medizin¬ 
mann könnte wohl nicht ganz mit Unrecht 
den Spiess einmal herumdrehen und sagen: 
wir Menschen sind keine Wassertiere, folg¬ 
lich ist auch der stundenlange Aufenthalt im 
Wasser (resp. Wasserdampf oder nassem Um¬ 
schlag) naturwidrig! Man sieht, zu welch 
paradoxen Schlüssen man bei derartigen Haar¬ 
spaltereien kommen kann! 

Oder weiter: wenn ich beabsichtige, einen 
Kranken in Schweiss zu bringen und ihn 
Fliederthee trinken lasse, so sollte es einem 
Menschen doch schwer fallen, zu entscheiden, 
ob der Fliederthee, den ich eingebe, ein na¬ 
türliches oder ein naturwidriges Mittel ist. 
Die Naturheilmethode wird gegen die Ver¬ 
ordnung von Fliederthee nichts einzuwenden 
haben, sie hält ihn also demgemäss für ein 
„natürliches“ Mittel. Warum dann viel prompter 
wirksame, schweisserzeugende Bestandteile 
anderer Pflanzen, z. B. das Pilocarpin, „na¬ 
turwidrig“ sein sollen, das verstehe wer will! 
Man sieht daraus, wie inkonsequent in prin¬ 
zipiellen Fragen die Naturheilmethode leider 


selbst ist. Ihre Inkonsequenz scheint mir auch 
daraus mit hervorzugehen, dass sie beständig 
mit der Homöopathie liebäugelt. Wenn es 
einmal naturwidrig sein soll, in Gestalt eines 
Medikaments einen „fremden Stoff" in einen 
kranken Körper zu .bringen, dann ist logischer¬ 
weise die Heilweise der Homöopathie, die 
doch auch „fremde Stoffe", wenn auch in 
kleinerer Dosis, dem Körper einverleibt, 
prinzipiell genau so naturwidrig wie die der 
Allopathen, und man versteht wirklich nicht, 
warum die Naturheilmethode in der Homöo¬ 
pathie gewissermassen ihren lieben Bruder, 
in der Allopathie ihren erbittertsten Gegner 
erblickt (ich meine selbstverständlich hier nur 
in Bezug auf die Heilmethoden als solche). 

Es würde den Rahmen dieser Arbeit weit 
überschreiten, wollte ich hier bis in das Detail 
hinein nachzuweisen versuchen, wie man sich 
die Wirkungsweise der einzelnen Medikamente 
auf den Körper vorzustellen hat, zudem ist 
die Wirkungsweise vieler Medikamente wohl 
praktisch erwiesen, aber in der theoretischen 
Erklärung noch strittig. So lange dieses letz¬ 
tere noch der Fall ist, sind wir vielfach auf 
die Empirie angewiesen, können uns aber 
trotzdem schon jetzt die Heilwirkung bestimm¬ 
ter Stoffe auf einen kranken Organismus auf 
recht natürliche resp. naturgemdsse Weise vor¬ 
stellen ! Die praktische, tausendfache Erfahr¬ 
ung lässt nur eigensinnige Prinzipienreiter 
für wirkliche Erfolge der medikamentösen Be¬ 
handlung blind sein und einen unverzeihlichen 
Missbrauch mit dem Worte „Gift“ treiben. 

Gehen wir einmal von dem einfachen 
Hausmittel aus: Ein Kind hat Durchfall; wir 
geben ihm mit Erfolg gekochtes Heidelbeer- 
Kompote. Ist dieses Heidelbeer-Kompote nun 
ein Medikament oder nicht? Der wirksame 
Bestandteil ist in diesem Falle die Gerbsäure 
in den Schalen der Heidelbeere. Wenn ich 
dies nun weiss, und statt dessen direkt oder 
in anderer Form Gerbsäure eingegeben hätte, 
warum soll das dann „naturwidrig“ sein? 
Die Naturheilmethode könnte mir einwenden. 
Der Durchfall ist ein Naturheilbestreben: der 
Körper entledigt sich schädlicher Zersetzungs¬ 
stoffe im Darm, diese Entleerungen dürfen 
daher nicht unterdrückt, sondern im Gegen¬ 
teil müssen befördert werden. Wenn ich sie 
nun aber vorher schon befördert habe, und 
der Darm sich wohl beruhigen möchte, aber 
sich noch nicht beruhigen kann, darf ich dann 
Heidelbeer-Kompote, oder, was in diesem 
Falle genau dasselbe wäre, Gerbsäure ver¬ 
wenden? Ich möchte Einen sehen, der mit 
Recht behaupten wollte, das sei „naturwidrig!“ 
Denn dann müsste es auch genau so „natur¬ 
widrig sein, wenn der Naturheilkundige den 
in seiner Peristaltik gesteigerten Darm durch 


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486 


Betrachtungen und kleine Mitteilungen. 


Sitzbäder oder andere hydrotherapeutische 
Massnahmen zur Ruhe zu „zwingen" ver¬ 
sucht! 

Also das Prinzip der Naturheilmethode: 
Der Gebrauch von Medikamenten zum Zwecke 
der Heilung eines kranken Organismus sei 
ohne Weiteres „widersinnig", kann ich nicht 
gelten lassen, da ein Medikament genau so 
das „Selbstheilungsbestreben des Körpers" 
fördern und unterstützen kann, wie jede andere 
Anwendung aus dem Schatze der physikal¬ 
ischen Heilmethoden. 

Wenn ein kranker Körper sich selbst von 
den durch seine Krankheit gebildeten gefähr¬ 
lichen Giften, den sog. Toxinen, unter an¬ 
derem dadurch befreit, dass er in seinem 
Selbstheilungsstreben chemische Stoffe er¬ 
zeugt, welche jene Gifte, die Toxine neu¬ 
tralisieren oder sonstwie unwirksam machen, 
so ist es ebenfalls durchaus nicht naturwidrig, 
sondern im Gegenteil der Natur sehr ver¬ 
ständnisvoll abgelauscht, wenn man dem 
Körper solche das Gift neutralisierende Stoffe, 
z. B. in Gestalt eines Heilserums einverleibt. 

(Schluss folgt). 


Betrachtungen und kleine Mitteilungen. 

Französische Urteile Über die orientalische Frage. 

Bei der heutigen Lage der Dinge im Orient 
ist es ftlr uns Deutsche höchst interessant, die 
Stimmen unserer Nachbarn, der Franzosen, zu ver¬ 
nehmen, wie sie vor der neuerdin^ eingetretenen 
Krisis die orientalischen Verhälüüsse beurteilten. 

Fast alle Franzosen, die den Orient bereist 
haben, sehen den Zustand des türkischen Reiches 
mit der zuletzt erwähnten Ausnahme durchaus 
nicht so hofthungslos an, wie man ihn sich gewöhn¬ 
lich in Laienkreisen vorzustellen beliebt; und die 
neuesten Erfolge der türkischen Waffen haben 
diesem Urteil Recht gegeben. Ganz abweichende 
Resultate erzielen sie freilich mit ihren Be¬ 
trachtungen über die Folgen, welche die weitere 
Entwickelung der Balkanhalbinsel auf die Gestaltung 
des übrigen Europa haben wird. 

Den Grund, weshalb auf jener flalbinsel keine 
einheitliche Staatsbildung zu stände kommen kann, 
sieht R. Mi 11 et in seinen „Souvenirs des Balkans, 
de Saloniqueä Beigrade et du Danube ärAdriatique“, 
in dem Fehlen eines Mittelpunktes mit Ausnahme 
des türkischen .Konstantinopels. Allein dies scheint 
doch erst in zweiter Linie in Betracht zu ziehen 
zu sein. Die hauptsächlichste Ursache für diesen 
Zustand völliger Verwirrung findet V. Bcrard in 
seinem „LaTurquie et rHellenismc Contemporain“, 
in dem Nebeneinander so vieler Nationalitäten. 
Seitdem mit dem Anfänge unseres Jahrhunderts 
das Nationalitätsprinzip als die erste staatsbildende 
Kraft erscheint, hat auch die kleinen Völker der 
Balkanhalbinsel ein Bewusstsein ihrer Neutralität 
ergriffen, das sich Jedem einzelnen tief eingeprägt 


hat. Nicht so sehr der Gegensatz zwischen 
Christentum und Islam, also etwa ein religiöser 
Gegensatz ist es, der die Kämpfe auf der Balkan¬ 
halbinsel in unserem Jahrhundert hervorgerufen 
hat, als vielmehr der nationale. Serben und 
Griechen waren die ersten Völker, die nach Un¬ 
abhängigkeit und Selbständigkeit rangen. Anfangs 
schien es, als wenn die Griechen das Uebergewicht 
auf der Halbinsel behaupten und einst den Platz 
des türkischen Reiches als vorherrschende Macht 
einnehmen würden. Seit einiger Zeit ist jedoch in 
diesem Verhältnis eine bedenkliche Aenderung zu 
Ungunsten der Griechen vor sich gegangen: den 
Griechen stellten sich ebenbürtig, wenn nicht über¬ 
legen die Bulgaren zur Seite, nachdem sie ange¬ 
fangen hatten, sich dem russischen Einflüsse 
möglichst zu entziehen. Am heftigsten entbrennt 
der Kampf in Makedonien, wo alle kleinenJVölker- 
schäften, die hier zusammenstossen, bestrebt sind, 
den Hauptgewinn davon zu tragen. Nach dem 
letzten Misserfolge der Griechen und ihrer völligen 
militärischen Unfähigkeit dürften sie kaum noch 
auf den südlichsten Teil jenes Landes rechnen 
können; ihre Aussicht für die Zukunft wird sich 
immer mehr verschlechtern. 

Es seien noch 2 Werke angeführt, die einander 
ganz entgegengesetzte Richtungen vertreten: 
Ch. Mismer’s („Souvenirs du Monde Musulman“) 
orientalische Politik spitzt sich zu einer wirksamen 
Vereinigung und Aussöhnung der Völker der 
lateinischen Rasse gegenüber den Germanen zu. 
Daher muss Frankreich danach trachten, Spaniens 
Stellung in Marokko zu sichern und Italien, selbst 
mit eigenen Opfern, wieder auf Tunis hinzuweisen, 
um so unter allen Umständen Italien von dem 
Dreibunde zu trennen. Diese lateinischen Völker 
sollen alsdann die Ordnung der orientalischen Dinge 
vollziehen. Von der russischen Freundschaft scheint 
er nicht gerade viel zu halten. Einen völlig ent¬ 
gegengesetzten Standpunkt vertritt P. Marin in 
seinem „Autour des depouilles de Tempire ottoman“. 
Als Grundsatz seiner Arbeit kann eine völlige Ver¬ 
werfung des Bündnisses zwischen Frankreich und 
Russland gelten. Zunächst soll sich die Republik 
durch die Rückgabe von Tunis mit Italien ver¬ 
söhnen, dann aber einen Ausgleich mit Deutschland 
suchen, indem dieses aus dem Eisass einen un¬ 
abhängigen, neutralen Staat bildet, und schliesslich 
mit diesen beiden Ländern nebst England und 
Oesterreich das Protektorat und die weitere Ordnung 
der Länder des hinsinkenden türkischen Reiches 
in die Hand nehmen. In dein Verfasser tritt uns 
ein Deutschland offenbar wohlgesinnter Franzose 
entgegen; um so mehr ist es zu bedauern, dass 
man selbst in diesen Kreisen noch immer nicht 
eingesehen hat, dass die deutsciic Nation niemals 
auch nur in eine Neutralisierung von Eisass, des 
ursprünglich deutschen Landes, das sie mit ihrem 
Herzblut wiedergewonnen hat, einwilligen kann. 
Bemerkenswert bleibt, dass sich auch in Frankreich 
Stimmen zeigen, welche die gebieterische Haltung 
Russlands argwöhnisch betrachten und sich einer 
weiteren Vergrösserung dieses Reiches widersetzen. 

ür. MCsebeck. 


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Betrachtungen und kleine Mitteilungen. 


487 


Neue Funde aus dem Römerkastell Oster* 
burken. Osterburken ist ein freundliches Land¬ 
städtchen an der Linie Heidelberg-Würzburg und 
Kopfstation der Linie Osterburken-Jagstfeld-Heil¬ 
bronn. Sein Name ist in weiteren Kreisen nament¬ 
lich durch das interessante römische Doppelkastell 
bekannt, welches nur 5 Minuten vom Bahnhofe ge¬ 
legen, einen bedeutenden Anziehungspunkt für 
Freunde des Altertums bildet. Nachdem es schon 
früher durch den Mannheimer Altertumsverein teil¬ 
weise ausgegraben worden war, erfuhr es im Jahre 
1892 durch die Reichslimeskommission eine ein¬ 
gehendere Untersuchung, welche zu zahlreichen' 
neuen Aufschlüssen führte. Bei dem noch recht 
guten Erhaltungszustände der Mauern und in An¬ 
betracht des opferwilligen Entgegenkommens der 
Gemeinde entschloss sich die badische Regierung, 
die wichtigeren Partien des Kastelles durch sorg¬ 
fältige Konservierung dem Studium der Nachw^t 
für immer zu erhalten. So wurden denn seit einigen 
Jahren verschiedene Teile von der bedeckenden 
Schuttmasse befreit und durch Cementierung und 
Rasenauflage vor weiterer Verwitterung gesdiützt. 
Vollständig freigelegt ist namentlich die rechte 
Flanke des Kastellanbaus: die porta principalis dexira 
mit ihren beiden ThortOrmen, zwei EcktOrme und 
ein Zwischenturm, sowie die sie verbindende Um¬ 
fassungsmauer. Auch ist auf dieser ganzen circa 
100 m langen Strecke der vorliegende Graben nach 
seinem früheren Profil ausgehoben und der hinter 
der Kastellmauer als Wehrgang dienende Erdwall 
aufgeräumt. So bietet sich jetzt dem Besucher ein 
lehrreiches Bild einer römischen Befestigungsanlage, 
wie man es bisher nur an wenigen Orten sehen 
konnte. Bei diesen Arbeiten, besonders aber bei 
der Ausschachtung des Grabens kamen natürlich 
manigfache Fundstücke zu Tage. So wurden vor 
den genannten Türmen des Kastellanbaues drei 
Inschrifttafeln gefunden, laut welchen diese Bauten 
von der achten Legion unter Kaiser Commodus 
aufgeführt wurden. Ferner fand sich in dem Graben 
ausser vielen menschlichen Knochenresten eine 
Menge Lanzen- und Pfeilspitzen, darunter auch viele 
germanische. Von hervorragendem Interesse ist 
aber ein Massenfund eiserner Geräte, welche dieses 
Frühjahr auf der Grabensohle in einer Art Ver¬ 
steck gefunden wurden. Es sind mehrere Schwerter 
und Lanzen, 10 Äxte und Beile, 7 Sensen, 7 Glöck¬ 
chen, 3 Löffelbohrer, ein Hobel, eine Säge, eine 
Pflugschar, 2 Pflugmesser, mehrere Ketten, Schlüssel 
etc. etc. Die Schwerter weichen von der bekannten 
römischen Form ab und bilden Vorläufer des mero- 
wingischen Langschwertes. Die Werkzeuge bieten 
bieten vielfach interessanten Einblick in den da¬ 
maligen Stand des Handwerks und der Landwirt¬ 
schaft und erregten namentlich bei den Landleuten 
grosses Aufsehen, welche kaum glauben konnten, 
dass die Römer bereits Vorrichtungen besassen 
(z. B, in der Art der Befestigung der Sensen), 
welche sie selbst erst seit etwa 10 Jahren kennen. 

Prof. Schumacher. 


* Prof. D a m e s hat in den interglacialen Kiesab¬ 
lagerungen von Rixdorf bei Berlin das Schulterblatt 
eines Pferdes gefunden, welches unzweifelhafte Spu¬ 
ren der Bearbeitung durch Menschenhand auf¬ 
weist, woraus die Anwesenheit des Menschen zur 
Interglacialzeit in der Gegend des heutigen Berlin 
nachgewiesen ist. Da der Nachweis mit grosser 
Sicherheit geführt ist, so rückt der diluviale Mensch 
in der norddeutschen Tiefebene ein gutes Stück 
aufwärts, da er bisher nur aus dem Löss nachge¬ 
wiesen werden konnte. 

Neues Jahrb. für Mineralogie. 


* Die vorteilhafte Verwendung des elektrischen 
Betriebs auf Vollbahnen hat die möglichst öko¬ 
nomische Verteilung grosser Kräfte auf beträcht¬ 
liche Ausdehnungen zur Voraussetzung und stellt 
der Elektrotechnik Aufgaben, deren Lösung bisher 
noch immer nicht in vollkommen befriedigender 
Weise geglückt ist. Besonders wichtig ist es, die 
starken Verschiedenheiten im Kraftauf¬ 
wand e, welche die Beförderung schwerer Massen 
auf Bahnen mit wechselndemGefälle bedingt, 
auszugleichen, was vorteilhaft so geschieht, dass bei 
der Fahrt auf ebener Bahn oder beim Abwärtsfahren 
Energie aufgespeichert, die bei Steigungen zur 
Hilfsarbeit verwandt ■ wird. Bei Bergbahnen hat 
dieses Prinzip bereits seine Lösung in der soge¬ 
nannten Elekirotive gefunden, indem die beim Berg¬ 
abfahren der Fördermasse freiwerdende Kraft, statt 
in Bremsarbeit verzehrt zu werden, nutzbringend 
zum späteren Bergauffahren in Akkumulatoren auf¬ 
gespeichert wird. Für die Anwendung der elek¬ 
trischen Betriebskraft auf die Massenbeförderung 
auf Eisenbahnen ist nun in dieser Richtung neuer¬ 
dings ein bedeutender Schritt nach vorwärts gemacht 
worden. Der als Miterfinder der Wechselstrom- 
Transformatoren bekannte Ingenieur Max Deri hat, 
ein System konstruiert, welches die wohlfeile und ver¬ 
lässliche Wechselstrom-Fernleitung, jedoch mit Fort- 
lassung von Umformermaschinen, vereinigt mit 
transportablen Puffer- (Akkumulator-) Batterien in 
einfacher und nützlicher Anordnung verwertet. Es 
werden bei diesem System Wechselströme bezw. 
Drehströme von hoher Spannung in der elektrischen 
Erzeugungsstätte produziert, diese mittelst Kabel 
von kleinem Querschnitte längs der Bahnstrecken 
geführt und an verschiedenen Punkten in Ströme 
der gewählten niedrigen Spannung umgewandelt. 
Diese transformierten Wechselströme werden nur 
auf durchlaufenden Strecken der Bahn zugefohrt, 
während in den Stationen keine Leitungen vor¬ 
handen sind. Die zur Zugsförderung bestimmten 
Maschinen werden zugleich mit Wechselstrom- und 
mit Gleichstrom-Motoren ausgerüstet Die Wechsel¬ 
strom-Motoren sind mit den stromführenden Leit¬ 
ungen durch Kontaktvorrichtungen verbunden, wäh¬ 
rend die Gleichstrom - Motoren, welche auch als 
stromgebende Dynamo - Maschinen funktionieren 
können, mit einer Akkumulatorenbatterie zusammen¬ 
geschaltet werden. Die Funktion des elektrischen 
Antriebes vollzieht sich selbstthätig auf nach¬ 
stehende Welse: ln der Fahrt auf freier Strecke 
treiben die Wechselstrom-Motoren, welche die Elek¬ 
trizität aus den Linienleitungen empfangen, den 
Zug. Der Überschuss der aufgenommenen elek¬ 
trischen Energie wird durch Vermittlung der Gleich¬ 
stromdynamos in der Akkumulatoren-Batterie auf¬ 
gespeichert. In steilen Strecken, wo die primäre 
Stromenerme nicht hinreicht, entladet sich die Bat¬ 
terie, und fägen die Gleichstrom-Motoren somit ihre 
Kraft zu derjenigen der Wechselstrom-Motoren hin¬ 
zu. Dort endlich, wo Leitungen nicht vorhanden 
sind, speziell in den Stationen, dient der Batterie¬ 
strom allein zur Bewegung des Zuges. Diese Kom¬ 
bination erscheint sehr geeignet, das Problem, 
grosse Kräfte, namentlich entlegene und billige 
Wasserkräfte für den Betrieb langer Bahnstrecken 
ergiebig auszunutzen, mit Erfolg zu lösen. Jeden¬ 
falls muss schon die beschriebene Anordnung ver¬ 
möge ihrer erheblichen gleichmässigen Kraftentnahme 
einen höchst günstigen Einfluss auf die Zentrale in¬ 
folge Schonung der Maschinen haben, sowie ferner 
das verwickelte und damit sowohl kostspielige als 
auch unschöne Leitungsnetz über den Stationen mit 
mehrereren Gleisen entbehrlich machen. 


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488 


Betrachtungen und kleine Mitteilungen. 


Zur Rosenemte in Bulgarien. Mai und Juni 
sind, wie dies in dem Artikel über Rosenöl in 
No. i8 der Umschau bereits erw'ähnt worden ist, 
filr die bulgarischen Rosenbauern die Erntemonate, 
von denen man sich in diesem Sommer einen 

f ünstigen Ertrag versprochen hat. Wenn sich diese 
rwartungen erfüllen, so werden freilich die schon 
jetzt sehr gedrückten Preise für Rosenöl noch 
weiter sinken, denn es befanden sich, wie wir 
einem Zirkular der Handelskammer in Sophia ent¬ 
nehmen, vor der diesjährigen Destillationsperiode 
noch ungefähr 500 kg Rosenöl unverkauft in den 
Händen der Händler und Produzenten. Allerdings 
ist dies nur zum geringsten Teil wirklich reines 
Rosenöl, sondern ein mel^ oder weniger gefälschtes 
Produkt, für w’elches noch immer ungefähr 430 M. 
pro kg bezahlt werden, während das teure, reine 
Rosenöl, wie die erwaimte Handelskammer selbst 
zugiebt, auf dem europäischen Markte ein sehr 
seltener Artikel ist. Dieser Umstand wurde schon 
in No. i8 der Umschau eingehender beleuchtet. 
Dass die Bekämpfung der Rosenölfälschereien nicht 
nur von Seiten ausländischer Abnehmer und der 
bulgarischen Regierung energisch in die Hand ge¬ 
nommen wird, sondern auch durch bulgarische 
Händler kräftige Unterstützung findet, ist eine be¬ 
kannte Thatsache. So übersandte uns die Firma 
Seraphimoff & Co. in Kazanlik ein Zirkular, 
in welchem den Lieferanten dieser Firma bei der 
Destillation von Rosenöl die strengste Gewissen¬ 
haftigkeit anempfohlen und jedes etwa gefälschte 
öl von Anfang an zurückgewiesen wird. Auch 
andere Grosshändler Oben dieselbe scharfe Kontrole, 
so dass es mit der Zeit vielleicht doch gelingt, den 
für das bulgarische Volksvermögen so wichtigen 
Industriezweig der Rosenölgewinnung in reellere 
Bahnen zu lenken. a. 

• 

• • 

* Der Kautschuk spielt als vielgebrauchter Roh¬ 
stoff für die sich täglich gewaltiger entwickelnde 
elektrische Industrie eine so wichtige Rolle im 
Wirtschaftsleben, dass die Erhaltung der vorhan¬ 
denen und die Erschliessung neuer Produktions¬ 
gebiete desselben von grösster Bedeutung ist. Nach¬ 
dem an der Ausfuhr des afrikanischen Kautschuks 
nur die französischen Congogebiete beteiligt waren 
und die Befürchtung nicht grundlos erschien, dass 
durch die daselbst betriebene Raubwirtschaft bald 
eine Erschöpfung der Quellen eintreten würde, ist 
es besonders den Bemühungen englischer Gouver¬ 
neure und Konsuln in Westafrika gelungen, neue 
Quellen der Verwertung zu öffnen. Eines der wich¬ 
tigsten Kautschukgebiete ist jetzt die Lagos-Küste, 
aus der im Jahre 1895 bereits 5,1 Millionen Pfund 
Kautschuk im Werte von ca. Millionen Mark 
ausgetührt wurden. Erfreulich ist, dass auch das 
angrenzende Deutsch-Westafrika (Deutsch-Togoland 
und Kamerun) an der Ausfuhr mitbeteiligt ist. Der 
^ Lagos-Kautschuk wird aus einem der höchsten 
Waldbäume Westafrikas, der der Familie der Apo- 
cynaceen angehörigen Kickxta africana Beutb ge¬ 
wonnen, eine Gattung, von der noch zwei ost¬ 
indische Arten bekannt sind. Durch eine etwa i 
! is 1,15 cm breite in die Rinde eingeschnittene 
Rinne, welche den Baum vom Wipfel bis zum 
Grunde durchläuft, wird demselben der den Kaut¬ 
schuk enthaltende weisse Milchsaft entzogen und 
in ein Sammelgefäss geleitet. Die Ausscheidung 
des Kautschuks erfolgt gewöhnlich auf kaltemWege, 
indem man die überschüssige Flüssigkeit durch Aus¬ 
stellen in Trögen verdunsten lässt. Der Kautschuk 
koaguliert dann und wird durch Kneten und Pressen 
von dem letzten Rest des Wassers befreit. Durch 
Abdampfen über Feuer wird der durchgeseihte 


Milchsaft zwar sclmeller zum Gerinnen gebracht, 
allein ein Teil der Masse brennt leicht an den 
Kesselwänden an und giebt dem Produkt eine 
klebrige Beschaffenheit, die seinen Wert beein- 
träch^t. Für die deutschen Kolonien ist das Vor¬ 
kommen dieses Kautschukbaumes von grösster Be¬ 
deutung, da denselben aus der aufblühenden In¬ 
dustrie eine gewinnreiche Ausfuhr erwächst. 

Prometb«UB. 


Verein deutscher Chemiker. Auf der kürzlich 
in Hamburg abgehaltenen Jahresversammlu^ des 
Vereins deutscher Chemiker hielt Prof. Ferd. 
Fischer aus Göttingen einen interessanten 
Vortrag über die Anwendung der Thermochemie 
in der chemischen Industrie. Er sagt, Deutschland 
hat 14 Millionen Hektar Waldfläche, welche jähr¬ 
lich 50 Millionen Tonnen Zuwachs an Holz ent¬ 
spricht Berechnet auf i Quadratmeter Waldfläche 
entspricht dieser 1300 Wärmeeinheiten oder im 
Sommer täglich 10 Wärmeeinheiten oder auf 1 
Hektar 100,000 Wärmeeinheiten, welche die Wald¬ 
bäume von der Sonnenwärme aufspeichern. Kar¬ 
toffeln machen auf diese Weise auf i Quadratme¬ 
ter Fläche etwa 2500 Wärmeeinheiten, Roggen 
ebenfalls 2500, auf schlechtem Felde nur etwa 900 
Wärmeeinheiten. Der Pflanzenwuchs macht jQso 
eine gewaltige Menge Wärme bezw. Energie der 
Sonne nutzbar. Die Kohlenproduktion hat sich 
erst in den letzten Jahren stark entwickelt. Es ge¬ 
winnen jetzt jährlich etwa: 

Deutschland 80 Mill. Tonnen Steinkohlen, 

„ ao „ „ Braunkohlen, 

England 190 „ „ Steinkohlen, 

Vereinigte Staaten 180 „ „ « 

Frankreich 24 „ „ 

Belgien 20 „ „ „ 

Diese Kohlenvorräte sind voraussichtlich erschöpft: 
England aoo Jahre, 

Deutschland: Ruhrbecken 1000 „ 

„ Saarbecken 800 „ 

„ Aachen 800 , 

„ Oberschlesien 800 „ 

Frankreich 500 „ 

Vereinigte Staaten 600 „ 

Ersatz ist wohl nur in der Ausnutzung an Son¬ 
nenwärme in'den Tropen zu erhoffen. 

Ankn^fend an die Unglflcksftlle bei Branden 
in d^r Farbenfabrik von Beyer (Elberfeld) und 
Schering (Berlin), die sich infolge Einalnens 
giftiger Dämpfe beim Platzen von Salpetersäure- 
oallons ereigneten, machte Dir. Dr. D u i s b e r g in¬ 
teressante Mitteilungen, auf die wiv noch zurück¬ 
kommen werden. 


Verflüssigung von Fluor. Moissan ist es in 
Verbindung mit D e w a r gelungen, Fluor bei — 185® 
C. zu verflüssigen. Es bildet eine gelbe, leicht be¬ 
wegliche Flüssigkeit, die, mfolge der niederen Tem¬ 
peratur, Glas, Kieselsäure, Schwefel und Phosphor 
nicht angreift; hingegen zerlegt cs noch Kohlen- 
Wasserstoffe. b. 


No. aS der Umschaa wird enthelten: 


Jurisch, Über SchBdigung:eD crewerbticher Betriebe durch |rer- 
unreini^e Luft, - Betcke, Schwimm- and Trockeodocks. IL 
Trockeodocks (mit 4 AbbiJduDgenf. - Reh, L&stige Ineektea. — 
Müller, Schulmedizin und Naturheilkunde. (Schluu). 


G. Horatmann's Druckerei. Frankfurt a. M. 


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DIE UMSCHAU 

ÜBERSICHT ÜBER DIE FORTSCHRITTE UND BEWEGUNGEN AUF 
DEM GESAMTGEBIET DER WISSENSCHAFT, TECHNIK, 
LITTERATUR UND KUNST 

herausgrc^eben von 

DR. J. H. BECHHOLD 


Wöchentlich eine Nummer. 

Zu beziehen durch 
alle Buchhandlungen und 
Postanstaltcn. 

Postzeitungspreisliste Na 7391 a. 

Verlag von: 

H. Bechhold Verlag, Frankfurt a. M. 


Neue Krame ip/ai. 


Preis vierteljährlich 
M. a.50. 

Jahres. Abonnement 
Preis M. la—. 

Im Ausland nach Cours. 
Verantwortlicher Redakteur: 

Otto Adolf Woltera, Frankfurt a. IL 


28. I. Jahfg. 


Nachdruek aü* dem Itthali der Zeitschrif! ohne ErlanbnU 
der Redaktion verboten. 


1897. IO. Juli. 


Über Schädigungen gewerblicher Betriebe 
durch verunreinigte Luft. 

Von Dr. KonradW. Jurisch. 

In einem Vortrage vor der Deutschen Ge¬ 
sellschaft ftlr öffentliche Gesundheitspflege zu 
Berlin am 27. April 1896*) hat der Verfasser 
den Nachweis der Notwendigkeit geführt, die 
bereits vorhandenen Vorschriften über Rein¬ 
erhaltung der Luft gesetzlich zu regeln. Er 
hat damals — indem er hauptsächlich die 
hygienischen Gründe betonte — die Schaffung 
eines besonderen Luftgesetzes empfohlen. 

Seitdem haben die gesetzgebenden Faktoren 
das Bürgerliche Gesetzbuch für das Deutsche 
Reich angenommen, welches in den §§ 905 
bis 907 luftrechtliche Grundsätze enthält, an 
die man das Luftgesetz leicht anknOpfen 
könnte. 

Das Reichsluftgesetz würde hauptsächlich 
folgende Aufgaben haben: 

1) FOrdieHandhabungder §§ 16,18 u. 26 
d Jr Gewerbe-Ordnung gesetzlich festgestellte 
zphlenmässige Grundlagen zu bieten; 

2) die Erfüllung der Forderung, dass 
in gewerblichen Betrieben stets die besten 
bekannten und praktisch durchführbaren 
Mittel angewendet werden, um Verunreinig¬ 
ung der Luft nach Möglichkeit zu vermin¬ 
dern oder zu verhüten. 

Im Folgenden möchte Verfasser versuchen, 
einige weitere Gründe technischer und wirt¬ 
schaftlicher Natur nachzuweisen, welche für 
die Schaffung eines Luftgesetzes sprechen, 
und welche sich aus den Schädigungen ge¬ 
werblicher Betriebe durch verunreinigte Luft 
ergeben. 

Die Schädigung der Garten-, Feld- und 
Forstkulturen durch Rauchgase hat eine um¬ 
fangreiche Litteratur hervorgerufen; aber die 
Schädigungen, welche sich gewerbliche Be- 

*) Hygienische Rundschau 1896 No. 18. 

Umschau 1697. 


triebe gegenseitig durch Verunreinigung der 
Luft zufügen, sind verhältnismässig unbe¬ 
achtet geblieben. Das meiste Material darüber 
ist in Gutachten und Gerichtsakten vergraben. 
Deshalb dürfte es von Interesse sein, gerade 
diese Schädigungen einmal zu beleuchten. 

Wenn wir von lästigen Geräuschen und 
Erschütterungen, allerhand wirtschaftlichen 
und sozialen Beeinträchtigungen absehen, so 
wird jede Belästigung eines Betriebes durch 
einen andern verursacht durch Substamverlust 
in Gestalt fester, flüssiger, gasförmiger oder 
kometarischer Auswurfstoffe der schädigenden 
Seite. 

Diese verlorengehenden Substanzen sind 
aber in sehr vielen Fällen nutzbar zu machen. 
Wenn also der geschädigte Teil eine Ab¬ 
stellung seiner Beschwerde verlangt, so ver¬ 
langt er damit in den meisten Fällen zugleich, 
dass der schädigende Teil besser auf seinen 
eigenen Vorteil bedacht sei, indem er seine 
Auswurfstoffe verwerte und dadurch unschäd¬ 
lich mache. 

Die meisten Klagen über Schädigung eines 
Betriebes durch einen anderen laufen -auf die 
Forderung hinaus, dass der schädigende Be¬ 
trieb seine Arbeitsmethoden oder Apparate 
vervollkommne. 

Dieser Forderung gegenüber erhebt der 
schädigende Fabrikant — indem er seine Be¬ 
quemlichkeit mit dem Interesse der Industrie 
identifiziert — gern Klage über Beunruhig¬ 
ung oder Schädigung der Industrie. Es er¬ 
scheint ihm sicherer, mit den ihm vertrauten 
Apparaten in altgewohnter Weise weiter zu 
arbeiten, als sich auf Neuerungen einzulassen, 
bei deren Anw'endung er möglicher Weise 
erst Lehrgeld bezahlen muss. 

Diese Abneigung ist erklärlich, aber doch 
irrtümlich. Denn die Industrie darf nicht 
still stehen, sondern muss sich beständig ent¬ 
wickeln und vervollkommnen. Je früher er 
das Lehrgeld bezahlt, um so rascher wird 

28 


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490 


JURISCH, SCHAEDIGUNGEN GEWERBLICHER BETRIEBE DURCH VERUNREINIGTE LUFT. 


er es wieder einbringen, und seine langsameren 
Konkurrenten Überflügeln. 

In manchen Fällen aber kann er sich das 
Lehrgeld sogar ersparen, indem er sich die 
Mühe nimmt, zu studieren, welche besseren 
Arbeitsw'eisen und Apparate an anderen Orten 
benutzt werden. 

Die Klagen über Beunruhigung oder gar 
Schädigung der Industrie, wenn Verbesser¬ 
ungen von kompetenter Seite her verlangt 
werden, sind also meistens auf Mangel an 
Einsicht oder Sachkenntnis zurückzuführen, 
und stellen denjenigen ein schlechtes Zeugnis 
aus, welche seJehe Klagen erheben. Denn 
Fabrikanten, welche die besten bekannten Mittel 
bereits anwenden, beklagen sich nicht, wie Verf. 
in England zu beobachten Gelegenheit hatte, 
sondern nur diejenigen, welche, hinter ihrer 
Zeit zurückgeblieben sind. Diese letzteren 
aber müssen durch die Gesetzgebung zu ihrem 
eigenen Besten angeregt werden, das Ver¬ 
säumte nachzuholen. 

Es handelt sich um wichtigere Interessen, 
als den Schutz der Bequemlichkeit und fal¬ 
scher Autorität: es handelt sich um den 
Fortschritt der Industrie. 

Die Schädigung einzelner Gewerbebetriebe 
durch feste Auswurfstoffe anderer Gewerbe¬ 
betriebe kann stattfinden, wenn diese Aus¬ 
wurfstoffe nicht zweckentsprechend beseitigt 
werden. 

So kann z. B. unvorsichtige Ablagerung 
von Sodarückständen den Eisenbahnbetrieb¬ 
schädigen, indem der Boden ausgewaschen 
wird, versinkt oder in Brand gerät. 

Schlackenhalden von Bergwerken und 
Hüttenwerken können ebenfalls in Brand ge¬ 
raten, und durch ihre Ausdünstungen mensch¬ 
liche Ansiedelungen in ihrer Nähe verhindern. 

Schlachthäuser und Abdeckereien sind ge¬ 
fürchtet wegen der üblen Ausdünstungen 
ihrer festen (und flüssigen) Abfallstoffe. 

Arsenikhaltige Abfälle können bei un¬ 
zweckmässiger Beseitigung Menschen und Vieh 
vergiften. 

Im Allgemeinen kann man wohl sagen, 
dass die festen Auswurfstoffe hauptsächlich 
dadurch schädlich wirken, dass sie unter dem 
Einfluss der atmosphärischen Niederschläge 
das Wasser und die Luft in ihrer Nähe ver¬ 
unreinigen. Sie geben daher in ihrer Eigen¬ 
schaft als feste Abfallstoffe nur in seltenen 
Fällen zu Klagen Veranlassung.*) 

Die Schädigung einzelner Gewerbebetriebe 

’) Streng genommen sind auch Rauch und Staub 
feste Auswurfstoffe, da sie feste Materie in feiner 
Verteilung darstellcn. Indessen betrachtet man den 
Zustand der Materie in dieser Form auch wohl als 
vierten Aggregatzustand, den sogenannten kometar¬ 
ischen, welcher sich zweckmässig an den gas¬ 
förmigen anreiht (Scheffler). 


durch flüssige Auswurfstoffe anderer Gewerbe¬ 
betriebe ist in -den bekannten Werken Ober 
Verunreinigung der Gewässer (König, 
Fischer, Verfasser) bereits ausführlich be¬ 
sprochen worden. Sie harrt aber noch ihrer 
gesetzlich geregelten Beurteilung durch ein 
einheitliches deutsches Wasserrecht. 

Die Schädigung einzelner Gewerbebetriebe 
durch gasförmige Auswurfstoffe anderer Ge¬ 
werbebetriebe kann auf folgende Arten statt¬ 
finden: 

I. Die produzierenden Personen können 
physiologisch belästigt und dadurch in ihrer 
Arbeit oder ihrem Gewerbebetriebe gestört 
oder behindert werden. 

II. Die Schädigung mancher Gewerbe¬ 
betriebe kann mittelbar erfolgen, indem 
durch schädliche Gase oder üble Gerüche 
die zahlungsfähigen Kunden aus der Nach¬ 
barschaft vertrieben werden. 

III. Die Herstellung des gewerblichen 
Erzeugnisses kann behindert, oder das fer¬ 
tige Produkt kann beschädigt werden. 

Die unter 1 angeführte Möglichkeit macht 
es wahrscheinlich, dass die an der Quelle 
der schädigenden Abgase sich aufhaltenden 
Personen in viel höherem Grade zu leiden 
haben, als die entfernteren Personen in einem 
benachbarten Gewerbebetriebe. Es kann aller¬ 
dings auch Vorkommen, dass schädliche Gase 
durph hohe Essen abgeführt werden, ohne, 
dass die am Fusse der Esse, d. h. in der 
Fabrik, beschäftigten Personen irgend welche 
Belästigung verspüren, und dass solche erst 
in einiger Entfernung von der Fabrik wahr¬ 
nehmbar wird, indem die Schornsteingase sich 
zu Boden senken. 

Wie dem auch sei, alle Möglichkeiten 
dieser Art ( 1 ) werden von der Gewerbehygiene 
untersucht und bekämpft. Sie fallen in das 
Gebiet der Gefahren für die Arbeiter in che- 
mischen Fabriken, Hüttenwerken und sonstigen 
gewerblichen Betrieben. Sie sind ausführlich 
behandelt in den grossen Werken über Ge¬ 
werbehygiene (Albrecht, Weyl) und in 
drei Schriften des Verfassers mit dem eben¬ 
erwähnten Titel.*) 

Die unter II angedeuteten Schädigungen 
äussern sich gewöhnlich in einemallmählichen 
Rückgänge der Geschäfte und sind daher 
schwer zu präzisieren. Die Untersuchung ihrer 
Ursachen aber fällt ebenfalls in das Gebiet 
der Gewerbehygiene. 

Wir wollen daher an dieser Stelle nur 
die unter 111 bezeichneten Schädigungen be¬ 
leuchten. 

Behinderungen in der Herstellung gewerb¬ 
licher Erzeugnisse und Beschädigungen des 

‘) Berlin 1895, Heyfelder; Berlin 1896, Krayn; 
Frankfurt a. M. 1897, Umschau, S. 57, Bechhold. 


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JURISCH, SCHAEDIGÜNGEN GEWERBLICHER BETRIEBE DURCH VERUNREINIGTE LuFT. 


491 


fertigen Produktes dadurch, dass schädliche 
Gase in die Arbeitsräume oder in die Maga¬ 
zine dringen, sind glücklicher Weise sehr 
selten. Aber, wo immer sie eintreten, treffen 
sie den geschädigten Teil in sehr empfind- 
licherWeise. Der geschädigte Teil ist in den 
meisten Fällen ausser Stande, den schädigen¬ 
den Teil so genau zu bezeichnen und zu Ober- 
ftshren, dass er Schadenersatz erlangen kann. 
Wenn 30 grosse Fabriken dicht beieinander 
liegen, kann man nicht nachweisen, welche 
Fabrik durch Fahrlässigkeit den Schaden ver¬ 
ursacht hat. 

In den meisten Fällen hat der geschädigte 
Teil den Schaden wie ein Verhängnis zu 
tragen. Er muss seinen Gewerbebetrieb auf¬ 
geben oder an einen andern Ort verlegen. 

Wenn man auch zugeben muss, dass dies 
für den einzelnen Betroffenen hart ist, so 
hat man doch das Ziel des Kulturfortschritts 
im Ganzen im Auge zu behalten. Die Kultur 
eines Volkes drängt wie ein gewaltiger, durch 
Naturkraft getriebener Wagen vorwärts, und 
zermalmt unter ihren Rädern alles Un^eit- 
gemässe oder am Unrechten Orte Befindliche. 

Wenn grosse Fabriken entstehen, die 
Tausenden Arbeit, Verdienst und Wohlstand 
geben, und sie auf eine höhere Stufe des 
Lebenszustandes heben, so müssen die Klein¬ 
industrien der Nachbarschaft verschwinden, 
welche nur wenigen Menschen ein beschei¬ 
denes Dasein gewähren. 

Die Vorgänge, um die es sich hier han¬ 
delt, werden am Besten durch Beispiele er¬ 
läutert : 

In Appleton bei Widnes in England be¬ 
stand vor 1870 eine blühende Uhrenindustrie. 
Als aber die Sodafabriken bei Widnes immer 
zahlreicher und grösser wurden, konnte sie 
sich dort nicht mehr halten. Die sauren Gase 
(Salzsäure, schweflige Säure, Chlor), welche 
aus den chemischen Fabriken entwichen, und 
durch den Wind nach Appleton geführt wur¬ 
den, brachten die feinen Teile aus Eisen oder 
Stahl, welche die Uhrmacher gebrauchten, in 
kurzer Zeit zum Verrosten. Ausserdem moch¬ 
ten auch die Arbeiter in den chemischen 
Fabriken von Widnes eine lohnendere Be¬ 
schäftigung finden, als im Uhrmachergewerbe 
zu Appleton. Im Jahre 1881 war von der 
ganzen Uhrenindustrie nur noch eine Draht¬ 
zieherei übrigi welche Drähte mit sternförmigem 
Querschnitt für den Versandt herstellte. 

Diese Drahtzieherei konnte sich noch hal¬ 
ten, weil infolge der strengeren Handhabung 


*) Solche Drähte werden von Uhrmachern zur 
Herstelhing der kleinen Kammrädchen benutzt, in¬ 
dem man von einem Stückchen Draht an beiden 
Enden die Zähne abbricht, aber den Kern stehen 
lässt, welcher als Zapfen dient. • 


des englischen Luftgesetzes (Alkali-Act, 1863) 
die Belästigung durch schädliche Gase immer 
geringer wurde. 

Eine Glashütte, welche Sulfat verarbeitet, 
und die ganze im Sulfat enthaltene Schwefel¬ 
säuremenge in die Luft schickt, schliesst 
selbstverständlich jede feinere Metallindustrie 
in ihrer Nachbarschaft aus. 

Trotzdem ist die Glasindustrie ein Noli 
me tangere in allen Kulturstaaten. Man weiss 
bis jetzt weder in Nordamerika, noch in Eng¬ 
land, noch in Frankreich, noch in Belgien, 
noch in Deutschland, noch in Böhmen, wie man 
die Schwefelsäure, welche die Glashütten zum 
Teil als schweflige Säure in die Luft schicken, 
auf technisch durchführbare Weise konden¬ 
sieren könnte. Alle hierauf gerichteten Vor¬ 
schläge haben sich als unpraktisch erwiesen, 
weil sie unverhältnismässige Kosten verur¬ 
sachten, und dadurch die Konkurrenzfähigkeit 
mit dem Auslande in Frage stellten. Daher 
übergehen auch alle englischen Luftgesetze 
die Glasfabrikation mit beredtem Stillschwei- 
:gen. Ein Wandel könnte nur durch eine inter¬ 
nationale Konvention mit Gar^tien ihrer that- 
sächlichen Durchführung geschaffen werden. 
Daher kann die Glasfabrikation keiner ein¬ 
seitigen Gesetzgebung eines einzelnen Landes 
unterliegen, und nimmt dadurch eine Aus¬ 
nahmestellung unter allen Industriezweigen ein. 

Das Schwefelwasserstoffgas giebt, wo im¬ 
mer es in die Luft gelangt, zu vielen Klagen 
Veranlassung, weil es durch die Luftströmung 
weit weggeführt wird. 

Die Schädigung durch Schwefelwasserstoff¬ 
gas kann sowohl den Fabrikanten selbst, als 
auch andere treffen. 

In einer englischen Fabrik, welche aus 
Sodarückständen nach dem Mond’schen Ver¬ 
fahren Schwefel regenerierte, und ausserdem 
eine bedeutende Anlage zur Herstellung von 
Kaliumchlorat besass, wurde der letztere Be¬ 
trieb häufig durch Schwefelwasserstoffgas ge¬ 
schädigt, welches aus dem erstgenannten Be¬ 
triebe entwich.^) 

Wenn die Feinkrystalle auf den Drainern 
lagen, oder auf den Trockenbetten ausgebreitet 
waren, und der Wind von der Schwefel¬ 
regeneration her Schwefelwasserstoffgas in das 
Chlorathaus trug, so färbten sich alle Krystalle 
gelblich. Sie wurden dadurch unverkäuflich 
und mussten entweder von Neuem umkrystalli- 
siert oder vermahlen werden. 

Da die gelbliche Färbung durch Bildung 

•)'Die Rohkrystalle des Kaliumchlorats sind im¬ 
mer durch fein verteiltes Eisenoxyd (und Mangan- 
oxyd) gelblich bis hellbraun gefärbt. Sie werden 
durch Umkrystallisieren gereinigt. Aber in der 
Mutterlauge bleibt immer noch etwas fein verteiltes 
Eisenoxyd in Suspension, von dem sich ein kleiner 
Teil aui den Feinkrystallen ablagert 

a8* 


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492 JURISCH, SCHAEDIGUNGEN GEWERBLICHER BETRIEBE DURCH VERUNREINIGTE LuFT. 


von Schwefeleisen verursacht wurde, die ge¬ 
ringste Menge Schwefeleisen aber mit Kalium- 
chlorat ein explosibles Gemisch liefert, so 
erklärten sich dadurch einige der Explosionen 
in den Chloratmühlen, und die Explosion ein¬ 
zelner Fässer gemahlenen Chlorats, für welche 
jede augenfällige Veranlassung zu fehlen 
schien. 

Wenn solche Explosionen auch nur äusserst 
selten vorkamen, und stets sehr harmlos ver¬ 
liefen, so verursachten sie doch immer Stör¬ 
ung und Kosten im Betriebe, die der Fabrikant 
zu tragen hatte. 

Ein sehr viel grösseres, allgemeines In¬ 
teresse beanspruchen dagegen diejenigen Be¬ 
schädigungen durch Schwefelwasserstoffgas, 
welche andere Industriezweige treffen. 

Die weit ausgedehnten Schädigungen durch 
Ablagerung von SodarOckständen in der Nähe 
von Widnes, Newcastle und Glasgow werden 
durch die Handhabung des grossen englischen 
Luftgesetzes (Alkali etc. Works Regulation 
Act, i88i) erfolgreich bekämpft. 

Seitdem durch den Chance-Claus-Pro- 
zess die Möglichkeit geboten ist, die Soda¬ 
rückständevollständig aufzuarbeiten, und nahe¬ 
zu allen darin enthaltenen Schwefel wieder 
zu gewinnen, isi die Ablagerung fester Soda¬ 
rückstände auf dem Lande einfach verboten. 
Wo sie nicht vollständig aufgearbeitet werden, 
wie in Newcastle, werden sie ins Meer ver¬ 
senkt. Der 31. Jahresbericht des Oberinspek¬ 
tors der chemischen Fabriken Englands giebt 
darüber genauere Auskunft.^) 

In Deutschland sind wir noch nicht so weit. 

Eine süddeutsche Fabrik metallener Mess¬ 
apparate erhielt durch den vorherrschenden 
Südwestwind von einer kleinen Leblanc-Pot- 
asche-Fabrik her Salzsäuredämpfe undSchwefel- 
wasserstoffgas zugeweht, und wurde dadurch 
in der empfindlichsten Weise gestört. Nicht 
nur verrosteten die Werkzeuge von Eisen 
und Stahl und die Metallvorräte von Blechen, 
Drähten etc., oder wurden geschwärzt, son¬ 
dern auch die fertigen Apparate wurden in 
ähnlicher Weise beschädigt. Messingdrähte, 
welche in 200 m Abstand von den Potasche- 
Rückständen aufgehängt waren, wurden inner¬ 
halb zweier Monate durch Bildung von Schwefel¬ 
kupfer so brüchig, dass sie im Gewerbe des 
geschädigten Fabrikanten nicht mehr verwandt 
werden konnten. 

Herr Professor Lunge hat über diesen 
Fall mustergiltige Gutachten abgegeben, und 
darin in ebenso treffenden wie eindringlichen 
Worten vor der Ablagerung von Schwefel¬ 
calcium-Rückständen gewarnt; er hat ebenso, 
wie Verfasser, eine direkte und kontinuier- 


*) Auszug daraus in Chem. Ind. 1896, S. 48. 


liehe Kontrole der gasförmigen Verluste ge¬ 
fordert. 

Diese wenigen Beispiele mögen genügen, 
um zu zeigen, dass die Schädigungen dieser 
Gruppe (III) hauptsächlich durch Schwefel¬ 
wasserstoffgas und saure Gase verursacht 
werden. In England ist das Entweichenlassen 
von Schwefelwasserstoffgas gänzlich verboten; 
und die Verluste an sauren Gasen unterliegen 
einer so scharfen kontinuierlichen Kontrole, 
dass ihr Betrag minimal ist — zum Vorteil 
der Fabrikanten und Anderer. 

Die Schädigungen einzelner Gewerbe¬ 
betriebe durch kometarische Auswurfstoffe 
anderer Gewerbebetriebe kann auf dieselben 
drei Arten stattfinden, welche wir bei den 
Schädigungen durch gasförmige Auswurfstoffe 
erwähnt haben. Hier kommen jedoch nur 
Rauch und Staub aller Art in Betracht. 

Die unter I und 11 gedachten Arten, 
nämlich: 

I. dass die produzierenden Personen 
physiologisch belästigt, und dadurch in der 
Ausübung ihrer gewerblichen Verrichtungen 
gestört oder behindert werden; 

II. dass die konsumierenden Personen 
durch Rauch oder Staub irgend welcher 
Art aus der Nachbarschaft vertrieben wer¬ 
den ; — 

gehören in das Gebiet der Gewerbehygiene.^) 

Wir wollen daher an dieser Stelle nur 
die unter III gedachten Schädig^ungen be¬ 
trachten, welche in der Behinderung, gewerb¬ 
liche Erzeugnisse herzustellen, und in der 
Schädigung des fertigen Produktes bestehen. 

Die schon eingangs erwähnten Schädig¬ 
ungen der Garten-, Feld- und Forstkulturen 
wollen wir übergehen, weil darüber bereits 
eine umfangreiche Litteratur vorhanden ist, 
und nur die weniger bekannten Schädigungen 
gewerblicher Betriebe berühren. 

Die Art und Form derselben ergiebt sich 
am besten aus einigen Beispielen: 

Wer jemals einen Nebel in Salford, dem 
inneren Fabrikdistrikl von Manchester, oder 


') Herr Dr. Th. Sommerfeldt hat die durch 
Einatmung von Rauch oder Staub entstehenden 
„ S t a u b.l u n g e n " zu seinem Spezialstudium ge¬ 
wählt, und sich durch Jahrelange Untersuchungen 
und Beobachtungen grosse Verdienste um diesen 
Teil der Hygiene erworben. Er hat die Resultate 
seiner Untersuchungen in einem Vortrage in der 
Gesellschaft für öffentliche Gesundheitspflege in 
Berlin am 26. Oktober 1896, und in einem Vortrage 
im Verein zur Beförderung des Gewerbfleisses m 
Preussen am 7. Dezember 1896 zusammengestellt. 

Bei der letzten Gelegenheit teilte Herr K. Hart¬ 
mann mit, welche Schutzmasken gegen die Ein¬ 
atmung von Staub in Frankreich för die besten ge¬ 
halten werden: nämlich diejenigen von Simmel¬ 
bauer in Monügny, von Dr. D6tourbe in Paris 
und von D^troy in Limoges. 


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JURISCH, SCHAEDIGUNGEN GEWERBLICHER BETRIEBE DURCH VERUNREINIGTE LuFT. 


493 


einen der berüchtigten Nebel im Innern von 
London erlebt hat, wird es begreiflich finden, 
dass dadurch alle diejenigen Gewerbebetriebe 
zum Stillstand kommen, welche natürliches 
Sonnenlicht brauchen. Solch ein gelber bis 
brauner Nebel entsteht bei Windstille da¬ 
durch, dass der Rauch aus tausend Schloten 
sich mit dem Wassernebel vermischt und als 
lichtundurchläisige Wolke sich über dem 
Erdboden lagert. 

In England fängt man jetzt an, die Be¬ 
seitigung dieser Rauchplage energischer in 
AngrifT zu nehmen. 

In Deutschland sucht man durch Zuführ¬ 
ung erhitzter Luft hinter dem Rost eine voll¬ 
ständige Verbrennung zu bewirken,^) oder 
durch Vermischung der Kohle mit etwa 5 pCt. 
kohlensaurem Kalk nicht nur das Entweichen 
von schwefliger Säure, sondern auch von un¬ 
verbrannter Kohle zu verhüten.*) 

In trockener Luft ballt sich der R^ch zu 
kleinen Flöckchen, später zu Klümpchen zu¬ 
sammen, die sich langsam zu Boden senken. 
Eine Leinenwarenfabrik, welche eine bestimmte 
Sorte Leinwand mit Hilfe von Sonnenbleiche 
herstellte, aber von anderen Fabriken um¬ 
geben war, wurde dadurch empfindlich in 
ihrem Betriebe gestört. 

Kohlenstaubfeuerungen übersäen die Nach¬ 
barschaft mit unverbrannten Kohlenkörnchen, 
welche für viele gewerbliche Verrichtungen 
sehr lästig werden können; besonders auch, 
weil sie durch geringe Mengen Teer, die 
sich auf ihnen kondensiert haben, unange¬ 
nehme Eigenschaften zeigen. 

Zinkhütten und Arsenikhütten verhindern 
aus begreiflichen Gründen das Entstehen oder 
Bestehen anderer Betriebe in ihrer Nachbar¬ 
schaft. 

Endlich sei daran erinnert, dass Kohlen¬ 
staub oder Mehlstaub in der Luft in gewissen 
Verhältnissen explosible Gemische liefern, durch 
deren Explosion auch die Nachbarschaft in 
Mitleidenschaft gezogen wird. Kohlengruben 
können durch Explosiqn von Kohlenstaub 
gefährdet werden. R. Weber berichtete im 
Verein zur Beförderung des Gewerbfleisses 
in Preussen Ober die Staubexplosion in einem 
Kornsilo. Am 11. Mai 1897 explodierte Mehl¬ 
staub in den Brüsseler Mahlwerken. Diese 
wurden dadurch zerstört und mehrere Menschen 
verwundet. 

Alle hier angeführten Schädigungen ein¬ 
zelner gewerblicher Betriebe durch andere 
infolge von Verunreinigung der Luft erschei¬ 
nen — so hart sie auch den Einzelnen treffen 

‘) C. W. Stauss, Berlin,' N. W., Berliner Ge¬ 
werbeausstellung 1896. 

*) Stettiner Brikettfabrik, Koopmann’s D. R. 
P. 40211. 


mögen — als geringfügig oder als beklagens¬ 
werte Zufälligkeiten gegenüber den überwäl¬ 
tigenden Interessen, die jedes Volk durch 
den Fortschritt seiner Industrie gefördert 
sieht. 

Was aber ist Fortschritt der Industrie? 
Ist er bloss eine chinesische Vermehrung der 
Zahl der industriellen Produktionsgruppen, 
welche neue Werte erzeugen? -- oder blosse 
Vergrösserung der schon vorhandenen? — 
Nein, der Fortschritt besteht in der Verbessere 
ung der Methoden, Werte zu erzeugen, so dass 
ein Gedanke ausreicht, um unter Anwendung 
von mehr mechanischer Kraft grössere Werte 
als bisher dauernd zu gewinnen, und in der 
Verminderung der Gefahren oder Nachteile, 
die für Beteiligte oder Fernstehende mit der 
Werterzeugung in Gegenwart oder Zukunft 
verbunden sind. 

Wird dies erreicht, so stellt sich eine Ver¬ 
mehrung der Zahl der Produktionsgruppen, 
oder eine Vergrösserung der bereits vorhan¬ 
denen, und eine Verringerung der Gewinn¬ 
ungskosten ganz von selbst ein. 

Die meisten der hier erwähnten Schädig¬ 
ungen können durch Verbesserungen in den 
Fabrikationsmethoden gemildert, seltener ge¬ 
macht oder vermieden werden: also sollte man 
diese Verbesserungen herbeiführen! 

Um die Fabrikationsmethoden zu ver¬ 
bessern, und um die mit der Fabrikation ver¬ 
bundenen Gefahren zu vermindern, ist fort¬ 
gesetzte Arbeit erforderlich. 

Dass diese Arbeit thatsächiich geleistet 
wird, davon legt die Patentlitteratur Zeugnis 
ab. Aber, wenn die in einem Industriestaate 
erteilten Erfindungspatente ein gewisses Arbeits¬ 
quantum repräsentieren, so ist dieses Arbeits¬ 
quantum doch verschwindend klein gegenüber 
der unablässigen und unermüdlichen Gewissens¬ 
arbeit, welche alle Industrielle und ihre Or¬ 
gane bis hinunter zum letzten Arbeiter, kurz 
alle Erwerbsbeteiligte, fortdauernd verrichten 
müssen, um der Industrie zum Fortschritt zu 
verhelfen. 

Wenn ein Beamter oder Arbeiter sich 
weigert, diese Gewissensarbeit zu verrichten, 
so wird er als untauglich entlassen. 

Wenn aber ein Fabrikant die Erfüllung 
seiner Gewissenspflicht unterlässt, so veraltet 
nicht nur sein Betrieb, sondern seine Unter¬ 
lassungssünde zieht weitere Kreise in Mit¬ 
leidenschaft. 

Diese Thatsachen machten sich in Eng¬ 
land so dringend geltend, dass man dort im 
Jahre 1863 das erste Luftgesetz schuf (Alkali 
Act, 1863), um wenigstens die Hauptursache 
der Klagen; die Verunreinigung der Luft 
durch Salzsäure, gesetzlich auf ein gewisses 


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494 


JURISCH, SCHAEDIGUNGEN GEWERBLICHER BETRIEBE DURCH VERUNREINIGTE LuFT. 


Maximum zu beschränken, welches seitdem 
nicht mehr überschritten werden durfte. 

Das Gesundheitsgesetz (Public Health 
Act, 1875) und namentlich das grosse Luft¬ 
gesetz von 1881 (Alkali etc. Works Regulation 
Act, 1881) nebst dem Ausdehnungsgesetz von 
1892 (Amending Act, 1892) haben seitdem 

— mit einziger Ausnahme der Glasfabrikation 

— alle Betriebe in Bezug auf ihre gasförmigen 
und kometarischen Auswurfstoffe einer staat¬ 
lichen Kontrole unterworfen, so dass Nach¬ 
lässigkeit einzelner Fabrikanten oder ihrer 
Organe rasch ihre Sühne findet. 

Dass wir in Deutschland zum Fortschritt 
der Industrie eine ähnliche Gesetzgebung 
brauchen, erhellt aus folgenden Betrachtungen: 

Wir haben gesehen, dass Schädigungen 
einzelner Gewerbebetriebe durch gasförmige 
oder kometarische Auswurfstoffe anderer Be¬ 
triebe thatsächlich Vorkommen; dass diese 
Schädigungen entweder unvermeidlich sind, 
und daher durch die Gesetzgebung höchstens 
gemildert werden können; oder dass sie ver¬ 
meidlich sind, und daher durch die Gesetz¬ 
gebung verhindert werden sollten. 

Die Schädigungen der letzteren Art sind 
entweder unzulässig iqi Sinne des § 906 
Bürgerlichen Gesetz-Buches, oder sie sind zu¬ 
lässig, aber trotzdem für den Betroffenen 
lästig. 

Nach dem im Sommer 1896 angenommenen 
Bürgerlichen Gesetz-Buche für das deutsche 
Reich hängt aber die Entscheidung, ob eine 
Schädigung unzulässig oder zulässig sei, ganz 
von der Vorstellung ab, welche die Richter 
mit den Worten „wesentlich“ und „gewöhn¬ 
lich“ verbinden. 

Denn nach § 906 B. G. B. sind nur solche 
Schädigungen unzulässig, welche den Geschä¬ 
digten in der Benutzung seines Eigentums 
wesentlich beeinträchtigen, oder welche das 
gewöhnliche Mass derjenigen Schädigungen 
überschreiten, welche von ähnlichen Quellen 
auszugehen pflegen. 

Die Worte „wesentlich“ und „gewöhnlich“ 
stellen aber liquide Begriffe dar. 

Was für Mittel hat da ein Richter, wel¬ 
cher nach dem Buchstaben des Gesetzes 
gehen will, um zu entscheiden, wo die Grenze 
zwischen „wesentlich“ und „unwesentlich“ 
oder zwischen „gewöhnlich" und „ungewöhn¬ 
lich“ liegt? — Da der Richter ein tech¬ 
nischer Laie ist, so muss er sich auf die 
Gutachten technischer Sachverständiger ver¬ 
lassen. 

Damit berühren wir einen sehr heiklen 
Punkt unserer Rechtspflege. 

Die Sachverständigen urteilen nach ihren 
persönlichen Eindrücken und Erfahrungen, 
und daher werden die Gutachten im allge¬ 


meinen auseinander gehen. Der Richter hat 
dann mindestens noch ein drittes Gutachten 
von Seiten eines unparteiischen technischen 
Sachverständigen zu Rate zu ziehen. Wer 
bürgt aber daftlr, dass dieser dritte unpartei¬ 
ische Sachverständige wirklich genügende Er¬ 
fahrung besitzt, um eine richtige Darstellung 
des Sachverhalts zu geben? 

Dazu gehört sehr umfassende Erfahrung, 
die Verfasser z. B. in einem Streitfälle inner¬ 
halb des deutschen Reiches nicht finden konnte. 
Bei allen deutschen Sachverständigen, die 
ihm vorgeschlagen wurden, oder die er auf¬ 
suchte, genügten wenige Fragen, um zu er¬ 
kennen, dass sie nicht kompetent waren. Wenn 
Herr Prof. Lunge in Zürich sich nicht gO- 
tigst bereit erklärt hätte, als Sachverständiger 
aufzutreten, würde Verfasser den Prozess 
wahrscheinlich verloren haben. 

Die Auffassung des Inhalts der Begriffe 
„wesentlich“ und „gewöhnlich“ hängt ganz 
ab von der Erfahrung, die man in mehr oder 
weniger gut geleiteten Betrieben gemacht hat. 
Jeder Sachverständige, der vollkommenere 
Methoden kennt, und sich an ihre Wirksam¬ 
keit gewöhnt hat, wird eine Schädigung be¬ 
reits als wesentlich, und die sie verursachende 
Verunreinigung der Luft bereits als ungewöhn¬ 
lich bezeichnen, welche derjenige Sachver¬ 
ständige, der nur unvollkommenere Methoden 
kennt, noch als unwesentlich und gewöhnlich 
begutachten wird. 

Die Verfeinerung in der Auffassung der 
Begriffe „wesentlich“ und „gewöhnlich“ ist 
also abhängig von der Vervollkommnung 
der in der Industrie benutzten Apparate und 
Methoden. 

Da das Luftgesetz die Wirkung haben 
würde, in vielen Betrieben eine fortschrei¬ 
tende Vervollkommnung der Apparate und 
Methoden und ihrer Anwendung und Aus¬ 
führung herbeizuführen, so würde es auch 
die Wirkung haben, die Auffassung des Un¬ 
terschiedes zwischen zulässigen und unzuläs¬ 
sigen Schädigungen anderer Betriebe zu ver¬ 
feinern, und in der Richtung des grösseren 
Schutzes der leidenden Seite zu verschieben. 

Das Luftgesetz würde also eine wahre 
Kulturaufgabe erfüllen. 

Dass wir in Deutschland ein solches Sti¬ 
mulans in Form eines Luftgesetzes dringend 
gebrauchen, ist ein wunder Punkt, den Ver¬ 
fasser hier nur ganz flüchtig berühren will. 

Er möchte aus nationalen Gründen die 
freundlichen Überzeugungen vieler Fabrikan¬ 
ten und Laien, dass unsere deutschen che¬ 
mischen Fabriken lauter Musterstätten der 
Industrie seien, nicht gar zu sehr erschüttern, 
denn er selbst kann eine ganze Reihe solcher 
Fabriken nennen, die er nach dem, was er 


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BeTCKE, SCHWIMM- 


von ihnen weiss, auch für Musterfabriken 
hält, aber es giebt auch viele, die diesen 
Ehrennamen nicht in allen Hinsichten ver¬ 
dienen. 

Man findet häufig veraltete Apparate und 
veraltete Anschauungen, und namentlich Un¬ 
kenntnis der besten Mittel und Methoden, 
welche im Auslande benutzt werden, um mit 
Gasen umzugehen, und um Verunreinigung 
der Luft zu mildern oder zu verhüten. Diese 
letzteren Fabriken würden durch das Luft¬ 
gesetz eine erfrischende Anregung empfangen, 
um in der Vervollkommnung ihrer Betriebe 
ein rascheres Tempo einzuschlagen. 

Den sehr grossen Anstrengungen gegen¬ 
über, die man jetzt in England macht, um 
uns in denjenigen Dingen nachzukommen, in 
denen wir die Engländer überholt haben, 
müssen wir auf der Hut sein. Um uns vor 
unangenehmen Überraschungen zu sichern, 
müssen wir suchen, nicht blos den Vorrang 
in denjenigen Dingen zu behaupten, in wel¬ 
chen wir den Engländern bereits voraus sind, 
sondern wir müssen auch suchen, die Eng¬ 
länder in demjenigen Dinge einzuholen, in 
welchem sie uns seit 1863 vorausgeschritten 
sind: das ist die Lußgesetzgebung! 


Schwimm- und Trockendocks. 

Von G. B E T c K E. 

II. Trocken d ocks. 

(Mit vier Abbildungen.) 

Wenden wir uns nunmehr den Trocken- 
docks und dem Docken der Schiffe in diesen 
zu. Vergleichen wir beide Konstruktionen, 
das Schwimmdock, das leicht auf dem Wasser 




UiND Trockendocks. 495 


schwimmende Gebäude mit dem tief in die 1 

Erde eingegrabenen, in Stein und Fels massiv 1 

aufgeführten Bauwerk, dem Trockendock, so .4 

erkennen wir daraus, dass das Schwimmdock > 

im Allgemeinen den Zwecken leichtererSchiffe, ' 
das Trockendock den schwersten dienen soll. ^ 

Die Abbildung i zeigt uns den Querschnitt - 

eines Trockendocks. Über einem Pfahlrost 1 

liegt hier eine Backstein- und Betonschicht, «i 

auf dieser wiederum Mauerwerk, welches den 
Granitblöcken als Unterlage dient. Wir finden ^ 

diese Anordnung der Fundierung bei weniger j 

festem Boden. Gestatten es die Terrainver- j 

hältnisse, so fehlt der Pfahlrost, und die Tj 

Granitplattenunterlage wird nur betoniert. — l 

In Italien finden wir ein Trockendock direkt 
in den Fels gehauen. — An den Seiten ist 'S 

eine Spundwand gezogen, um beim Bau des J 

Docks unnötiges Ausschachten von Erdmassen 
zu vermeiden. An diese lehnt sich die Be- 1 

tonierung, das Mauerwerk und in dieses sind \ 

die Granitsteine stufenförmig eingesetzt. Die 
Sohle ist wagerecht, bei einigen Docks auch j 

mit einer leichten Wölbung nach oben auf- * 

geführt. Im Dockhaupt, dem offenen finde ^ 

des Dockes, sind von oben bis zur Sohle ‘1 

gehende Einschnitte vorgesehen, welche zur j 

Aufnahme des Schlusspontons dienen. Ab- ^ 

bildung 2. Soll nun ein Schiff gedockt werden, 
so lässt man zunächst das Schlussponton auf- 
schwimmen. Zu diesem Zweck werden die 
im Innern des Pontons befindlichen Wasser- 
Tanks geleert. Das Ponton hebt sich infolge ' 

seines Auftriebs nunmehr aus den in der ' 

Dockwand befindlichen Einschnitten und kann \ 

mit Hülfe von Leinen leiclit an die benach- 1 

barte Kaimauer geholt werden. Das zu 
dockende Schiff dampft nun mit eigener Kraft ^ 

langsam in die Dockmündung ein oder es ' 



. /v / ■ ’.mr //./f'm ; 













496 


Betcke, Schwimm- und Trockendocks. 



Abbildung 2. 


wird mittelst der an den Dockseiten befind- 
liehen Gangspills in dasselbe geholt. Nach¬ 
dem des Schiff genau in der Dockmitte ver¬ 
täut und das Schlussponton wieder eingesetzt 
ist, erfolgt das Lenzen des Docks. Ein 
Centrifugalpumpwerk, welches sich in der 
Nähe des Docks befindet und mit diesem durch 
unterirdische Kanäle verbunden ist, beseitigt 
die Wassermassen aus dem Dockraum. Die 
Centrifugalpumpen erfordern bei einem Dock 
mittlerer Grösse — 25,000 cbm Wasserinhalt 
— zum Lenzen desselben ungefähr 4 Stunden 
bei einem Kraftverbrauch von 90 P S. für 
jede Pumpe. Während des Auspumpens wer¬ 
den die erforderlichen Stützbalken in den Dock- 
raum hinabgelassen und vom Dockrand wie 
vom Schiff aus mittelst Taue aufgefangen und 
am Schiffskörper von oben beginnend, gleich- 
mässig an beiden Seiten des Schiffes befestigt. 
Mehr und mehr verringert sich während dieser 
Zeit der Wasserstand im Dock; in mehreren 
Reihen von Stützen ist das Schiff bereits auf¬ 
gefangen, bis auch das letzte Wasser dem 
Dock entrinnt. Die in der Docksohle nun¬ 
mehr sichtbar werdenden Kanalöffnungen 
nehmen gierig saugend das letzte Wasser 
hinweg und das Schiff steht nunmehr trocken. 
Abbildung 3. Alsbald beginnnt die Arbeit 
des Abschrapens von Muschelansatz und Schlick 


und auch der Rost wird nach Möglichkeit 
entfernt. Schon' nach einigen Tagen kann 
ein neuer Bodenanstrich erfolgen. Nachdem 
auch die sonst notwendigen Arbeiten und 
Reparaturen am Schiffskörper, das Nachsehen 
der Bodenventile, des Ruders und der Schraube 
besorgt sind, kann das Aufschwimmen des 
Schiffes stattfinden. Abbildung 4. — Die 
Ventile der Schleusen, welche mit dem ausser¬ 
halb des Docks befindlichen Wasser in Ver¬ 
bindung stehen, werden geöffnet und das 
Wasser strömt durch die Zuflusskanäle ein. 
In kurzer Zeit — ungefähr 3 Stunden — hat 
sich das Dock mit Wasser angefüllt. Sobald 
der Wasserstand innerhalb des Docks mit dem 
äusseren auf gleicher Höhe steht, muss das 
Schlussponton entfernt werden; seine Tanks 
leeren sich, es schwimmt auf, wird neben^die 
Docküffnung geholt und verbleibt hier solange, 
bis unser Schiff das Dock verlassen hat. Das 
Dock nimmt nun in der Regel gleichzeitig 
ein neues Schiff auf, che das Schlussponton 
wieder eingesetzt wird. — 

Die Trockendock-Pontons sind schiffsahn- 
liehe, aus Spanten und Platten erbaute Körper, 
die wegen ihres bei leerem Dock einseitig 
auf sie wirkenden Wasserdrucks besonders 
stark gebaut sein"müssen. J|Sie sind im Hin¬ 
blick auf ihre Schiffsähnlichkeit jedoch ausser- 


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497 


Betcke, Schwimm- und Trockendocks. 


bare Länge erhalten. Wenngleich der neue 
im Bau begriffene Panzerkreuzer I. Kl. Ersatz 
„Leipzig“ — 128 m lang — auch noch in 
dem grössten der auf der kaiserlichen Werft 
vorhandenen Docks aufgenommen werden kann, 
so wird sich doch der Bau dieses Trocken¬ 
docks mit der Zeit unbedingt notwendig 
machen. Würden wir uns noch einmal eines 
fremdherrlichen grösseren Flottenbesuches 
in Kiel erfreuen dürfen und würde bei solcher 
Gelegenheit einem grösseren Panzerschiff ein 
ähnlicher Unfall als der, welcher das italien¬ 
ische Panzerschiff „Sardegna“ betraf, zu- 
stossen, sodass das havarierte Schiff ein 
Trockendock aufsuchen müsste, so würden die 
Verhältnisse in diesem Fall der deutschen 
Gastfreundlichkeit engere Grenzen ziehen 
müssen .... wir würden unserem in Not 
geratenen Freund nicht helfen können. — 


Abbildung 3. 


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Google 


ordentlich schmal und dabei sehr tief und 
wird die ihnen aus diesem Grunde mangelnde 
Stabilität durch festen aus Cement und Back¬ 
steinen bestehenden Ballast ersetzt. — 

Mit der ständig wachsenden Grösse der 
Schiflfsbauten hat sich schon ein erheblicher 
Mangel an solchen Schwimm- und Trocken¬ 
docks, welche diese Schiffe aufnehmen könnten, 
fühlbar gemacht und man ist gezwungen, 
fortwährend grössere Docks zu erbauen. Neben 
dem schon vorher erwähnten Schwimmdock 
der Firma Blohm & Voss ist das in Bremer¬ 
haven im Bau begriffene 200 m lange Trocken¬ 
dock wohl als das grösste zu bezeichnen. Es 
existiert allerdings auf einer italienischen 
Staatswerft ein solches von 215 m Länge, 
dasselbe ist jedoch durch Anbau auf diese 
ungewöhnlich grosse Länge gebracht und 
wurde bis jetzt nur teilweise benutzt. Das 
schon seit längerer Zeit für den Kriegshafen 
Kiel projektierte Trockendock soll 175 m nutz- 





498 


Müller, Schulmedizin und Natürheilmethode. 





IlilbliDl'ilÜÜUsi.Mi'Otii 




Abbildung 4. 


Schulmedizin und Naturheilmethode. 

Von Dr. med. Paul MCller. 

(Schluss). 

Ähnlich verhält es sich mit der Impfung 
mit Kuhpockenlymphe, und die Naturheil¬ 
methode ist nicht berechtigt, sich über den 
Entdecker der Kuhpockenlymphe, Jenner, 
lustig zu machen und ihn mit Namen, wie 
,,Jauchentöflfel“, zu verspotten. Es kommt bei 
dieser Frage; „naturgemäss" — oder „natur¬ 
widrig'' — nicht darauf an, ob die hier in 
Frage kommenden Krankheiten, wie Diph- 
theritis, Pocken, noch auf andere Weise zu 


verhindern resp. zu heilen sind, sondern es 
handelt sich nur darum zu entscheiden; ist 
das Vorgehen mit Serum oder mit der Impf¬ 
ung prinzipiell widersinnig oder nicht? 

Die '^zX.MXwidrigkeit Hesse sich mit einem 
Schein von Recht höchstens nur für solche 
' Stoffe nachweisen, welche normaler Weise im 
1 menschlichen Organismus nicht vorhanden 
! sind, wie Quecksilber, Arsenik etc.; jedoch 
auch hier muss die Theorie der praktischen 
Erfahrung gegenüber schweigen. Denn mit 
; theoretischen Klügeleien könnte man sonst, 

' bei Verfechtung eben dieses Standpunktes, zu 


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Müller, Schulmedizin und Natürheilmethode. 


499 


folgendem Schlüsse kommen: der Phosphor 
ist im menschlichen Körper z. B. in Gestalt 
von phosphorsaurem Kalk in den Knochen 
enthalten, Arsenik ist hingegen nicht ent¬ 
halten, folglich ist Phosphor für den mensch¬ 
lichen Körper kein fremder Stoff, kein Gift, 
während Arsenik für ihn ein Gift ist. Nun, 
ich glaube, Arsenik und Phosphor werden 
sich bezüglich ihrer Giftigkeit wohl die Wage 
halten, und ich kann auch hier nicht uner¬ 
wähnt lassen, dass es eine ganze Reihe der 
furchtbarsten Gifte giebt, die genau aus den¬ 
selben Elementen, Kohlenstoff, Wasserstoff, 
Sauerstoff, Stickstoff, bestehen, wie unser 
menschlischer Körper und wie das Wasser 
und die Luft. Obiger Standpunkt lässt sich 
also auch nicht mit Erfolg vertreten. 

Wie schon oben angedeutet, sind wir 
Ärzte infolge der Verhältnisse (soziale Not, 
Einsichtslosigkeit und geistige Trägkeit unserer 
Klienten) sehr oft gezwungen, nur ein Flick¬ 
werk mit unserer Kunst zu vollbringen. Auch 
die Naturheilmethodler können aus denselben, 
doch auch für sie geltenden Gründen sehr 
oft nichts weiter, als eben auch nur symp¬ 
tomatisch behandeln. Ihre im Brustton der 
Überzeugung hingestellte Behauptung: der 
Schulmediziner handle nur symptomatisch (d. h. 
die störenden und in die Augen springenden 
Symptome, KTwakh^itserscheinungen bekämpf¬ 
end), ihre Behandlung hingegen sei stets eine 
kmsale (d< h. -die- Krankheit als solche selbst 
in Angriff nehmende), ist also einfach un¬ 
wahr I Wenn ein Mensch z. B. Gallenstein¬ 
kolik hat, so ist der vom Naturheilarzt ver- 
ordnete heisse Dampfumschlag (Dampfkom¬ 
presse) auf die Gallenblase genau so nur eine 
rein symptomatische, den Schmerz beseitigende 
Prozedur, wie ein Morphiumpulver, und hat 
mit der Heilung der Gd\\ev\stt\nkrankheit, die 
zunächst die Entfernung der Gallensteine aus 
der Gallenblase zu bewirken hat, nichts zu 
thun. Und wenn der Naturheilmethodler mit 
seinen Prozeduren (kalte Douche auf die 
Gallenblase u. s. w.) wirklich die Gallensteine 
durch den Gallenblasengang in den Darm ge¬ 
langen lässt, so ist auch dies schliesslich nur 
ein symptomatisches Verfahren, genau auf der 
Stufe stehend, wie die chirurgische Eröffnung 
der Gallenblase und Herausholen der Steine. 
Die fehlerhaften Stoffwechselvorgänge in der 
Leber oder alle die andern Momente, welche 
die Gallensteine haben entstehen lassen und 
die jederzeit wieder neue entstehen lassen kön¬ 
nen, beseitigt er dadurch nicht! Damit sage 
ich natürlich den ärztlich studierten Vertretern 
der Naturheilmethode nichts Neues; diese 
wissen das genau so gut wie ich und ver¬ 
stehen wenigstens vor ihrem Gewissen Kritik 
an all ihr Thun zu legen! Aber die in ihrer 


Kritiklosigkeit sich göttergleich fühlenden sog. 
„praktischen Vertreter der Natürheilmethode“ 
möchten sich solche Prüfungen, wenn sie 
sie überhaupt verstehen, hinter die Ohren 
schreiben 1 

Auf derselben Stufe steht eine ungeahnte 
Zahl von Anwendungen auf dem Gebiete der 
physikalischen Heilmethoden! 

Mit all dem Erwähnten soll nun durchaus 
nicht gesagt sein, als seien nach meiner An¬ 
sicht die physikalischen Heilmethoden minder¬ 
wertig. Ganz im Gegenteil! Ich wollte nur 
versuchen, auch den Gebrauch von Medika¬ 
menten des „Schulmediziners“ vor dem Ver¬ 
dachte des „Unvernünftigen, Naturwidrigen“ 
im Prinzip zu verteidigen. Um diese Ver¬ 
teidigung nun zu Ende zu führen, muss ich 
noch erw'ähnen, dass der Vorwurf: „Die 
Menschheit würde durch die Ärzte vergiftet 
und krank gemacht; zu der bestehenden Krank¬ 
heit füge der zu Rate gezogene Mediziner 
noch eine zweite, nämlich eine Vergiftung 
mit einem Medikament, hinzu“, zum mindesten 
sehr übertrieben ist. Auch hier kommt es auf 
das richtige Mass an. Es unterliegt keinem 
Zweifel, dass leider viel zu viel mediziniert 
wird; es darf aber auch andererseits nicht 
verkannt werden, dass mancher chronisch 
Kranke infolge übertriebener Anwendung der 
physikalischen Heilmethoden eine Naturheil¬ 
anstalt kranker verlassen hat, als er vordem 
gewesen! Also Ubermass allein kann 
schaden, weniger die Sache an sich! 

Ich habe mit eigenen Augen unter den 
Händen eines mir von der Universität her 
befreundeten Kollegen, der offen in das Lager 
der Naturheilmethode übergegangen ist, ein 
an akutem Gelenkrheumatismus erkranktes und 
regelrecht nach der Naturheilmethode behan¬ 
deltes Kind eine schwere Herzaffektion be¬ 
kommen sehen; ebenso habe ich in meiner 
Praxis reichliche Patienten mit tertiärer Sy¬ 
philis in Behandlung gehabt, die vordem von 
dem Wesen ihrer Krankheit keine Ahnung 
gehabt haben und die mithin noch kein Atom 
Quecksilber einverleibt bekommen hatten 
(darunter kleine Kinder syphilitischer Väter). 
Es muss Einem daher sehr verwundern, wenn 
man von den Naturheilmethodlern den Vor¬ 
wurf einstecken soll: die i^(?rsaffektionen bei 
Gelenkrheumatismus entstünden allein durch 
den Gebrauch der gegen dieselbe angewandten 
Salicylsäure, und: die tertiären Erscheinungen 
bei der Syphilis seien überhaupt keine syphi¬ 
litischen Affektionen mehr, sondern lediglich 
Symptome einer durch ärztliche Behandlung 
herbeigeführten Quecksilbervergiftung! Man 
sollte sich doch sehr hüten, solche Behaupt¬ 
ungen leichtfertig vor dem Publikum auszu¬ 
sprechen, da durch sie manchem in gewissen 


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500 


Müller, Schulmedizin und Naturheilmethode. 


hafter und ehrlicher Berufserfbllung ergrauten 
Arzte bitter Unrecht gethan und er sehr un¬ 
gerechter Weise womöglich für allerhand 
Erkrankungen seiner Klienten verantwortlich 
gemacht wird. 

Trotz alledem wirkt die Naturheilmethode 
höchst segensreich, indem sie eine gesunde 
Reaktion gegen das Übermass der Medika¬ 
mente hervorgerufen und u. A. die Wasser¬ 
behandlung und die übrigen physikalischen 
Heilmethoden wieder zu Ehren und Ansehen 
gebracht hat, indem durch ihre Propaganda 
sich wohl oder übel schliesslich auch unsere 
Hochschulen dazu bequemen müssen, diese 
Methoden mehr als bisher zu kultivieren und 
durch Errichtung von Professuren zu lehren. 
Sie wird auch sicherlich noch manche Haar¬ 
spalterei ablegen, womit sie erfreulicherweise 
schon jetzt den Anfang macht: Die letzte 
Versammlung der deutschen Naturheilärzte in 
Berlin (September 1896) legt dafür beredtes 
Zeugnis ab, worüber sich jeder Freund der 
Sache nur freuen kann! 

So nimmt sie auch jetzt in der Frage über 
die Berechtigung chirurgischer Eingriffe nicht 
mehr den schroffen Standpunkt ein, wie vorher. 
Sicherlich wird oft zu viel und unnötigerweise 
operiert, also auch hier ein Übermass, gegen 
welches eine Reaktion nötig war. Aber diese 
Reaktion wurde bei der Naturheilraethode ge- 
wissermassen zur Bilderstürmerei 1 Man muss 
sich wundern, wie wenig einsichtsvoll sie hier¬ 
bei zu Wege ging: ein Naturheilarzt durfte 
unbeschadet seines Rufes naturgemässer Be¬ 
handlungsweise z. B. einen Eiter-Abszess, der 
direkt unter der Haut sass, mit dem Messer 
spalten; das nannte er: „dem Naturheilbe¬ 
streben zu Hilfe kommen“; eröffnete aber ein 
Chirurg einen Abszess tief im Innern des 
Körpers oder in einem Knochen drinnen, also 
an Stellen, wo man der Natur in ihren ver¬ 
geblichen Bemühungen, dem Eiter einen Weg 
nach aussen zu bahnen, erst recht und unbe- 
dingt auf chirurgischem Wege zu Hilfe kom¬ 
men muss, so war das in den Augen der 
Naturheilmethodler eine Operation, und Ope¬ 
rationen sind „naturwidrige“ Eingriffe, mit 
denen der Mensch „mit seiner rohen Hand 
die Natur zwingen” will und „die Naturheil¬ 
kraft ertötet“. 

Gerade durch solche, man muss sagen, 
lächerliche Dinge hat sich die Naturheilmethode 
die Sympathieen vieler tüchtiger und ehren¬ 
werter Ärzte, welche gegen die Schwächen 
der Schulmedizin nicht blind sind, ver¬ 
scherzt! 

Man kann auch noch weiter gehen und 
sagen:. es ist sogar zu verwerfen, wenn ein 
studierter Arzt überhaupt den einfachen Na¬ 
men „praktischer Arzt“, wie er seinen Kol¬ 


legen gut genug ist, aufgiebt und sich dafür 
den Namen „Naturheilarzt“ oder „Spezialarzt 
für Naturheilmethod^“ oder nun gar erst 
„Kneipparzt“ beilegt! Es liegt dadurch für 
den mit dem wahren Sachverhalte näher Be¬ 
trauten der Verdacht nur zu nahe, als thue 
er das, um, in schlauer Rücksichtnahme auf 
die Mode des z. Z. für die alleinseligmachende 
Naturheilmethode schwärmenden Publikums, 
gegenüber seinen ehrlichen Kollegen ein be¬ 
sonders anziehendes Aushängeschild zu ha¬ 
ben! Denn auch unter dem Namen „praktischer 
Arzt“ könnte er, wenn es ihm wirklich nur 
um die Sache zu thun ist, sehr wohl alle die 
Behandlungsmethoden, für die er besonders 
eingenommen ist, praktisch ausüben, ebenso 
wie dies bereits eine grosse Anzahl praktischer 
Ärzte thut, die dabei dem Arziestande mit 
seinen sehr wohl berechtigten 5 /a«</rspflichten 
treu geblieben sind. Es ist kein Zeichen von 
Noblesse, wenn so ein studierter Vertreter 
der Naturheilmethode auf der Rednerbühne 
oder in der Tagespresse oder in populären 
Zeitschriften in gehässiger um Stimm¬ 

ung für sich als „Naturheilarzt“ zu machen, 
seine Kollegen, die praktischen Ärzte „Gift¬ 
mischer“ oder „rohe Operateure“ tituliert, 
und dann heimlich oder sogar noch mit un¬ 
verschämter Offenheit in den Fällen, in denen 
ihn seine „Naturheilmethode“ im Stiche lässt, 
selbst zur Morphiumspritze greift oder das 
Messer zu einer eingreifenden Operation in 
die Hand nimmt! Man muss da nur bedauern, 
dass der rücksichtslose Kampf ums Dasein 
es bewirkt hat, dass Schüler Äskulaps ihr 
Gefühl für Wahrheit und Ehre derart haben 
preisgeben können! Die Achtung ihrer Kol¬ 
legen haben sie sich verscherzt, und werden 
gewiss auch der Achtung des anständig den¬ 
kenden Publikums verlustig gehen, wenn man 
ihre Handlungsweise offen un d ehrlich ab 
und zu einmal öffentlich festnagelt! Ganz 
ähnlich verhält es sich mit den sogenannten 
„Homöopathen“! Auch sie sind sehr oft 
Leute, die recht wohl, wenn es ihnen mit der 
Sache Ernst wäre, auch unter dem Titel 
„praktischer Arzt“ homöopathische Dosen 
verwenden könnten, die aber nur dem in 
diesen Fragen unmündigen Publikum mit dem 
Schlagwort „Homöopathie“ vorschwindeln 
wollen, ihre Kunst sei nur etwas ganz Be¬ 
sonderes. 

Der studierte praktische Arzt ist kein 
blinder Nachbeter seiner 5 c/m/weisheit, er 
bekümmert sich im Gegenteil sehr wohl auch 
um die Lehren anderer sogenannter „Heil¬ 
methoden“, wie es z. B. die Naturheilmethode 
ist. Das wirklich Gute derartiger ,»moderner 
Heilmethoden“ (wasjzum grössten Teil durch¬ 
aus nicht neu, sondern uralt, nur wieder auf- 


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Die Massai. 


Die Einführung eines neuen Infanteriegewehrs. 


501 


gewärmt ist) sickert, ohne dass da eine re¬ 
klamehafte Änderung der Firma vor dem 
Forum des Publikums stattzufinden brauchte, 
unaufhörlich in die Kreise der praktischen 
Arzte hinein, und gerade nur dem einfachen 
praktischen Arzt sind die Hände frei und 
ungebunden und die Augen nicht durch Scheu¬ 
leder eingeengt, um in seiner Praxis die je¬ 
dem einzelnen Falle angepasste Heilmethode 
aus dem gesamten Schatze der allgemeinen 
Heilkunde vorurteilsfrei sich auszuwählen, an¬ 
zuwenden und zu prüfen. Gerade er ist die 
Person, an den das Publikum vertrauensvoll 
sich wenden sollte, und nicht an den mit der 
„Mode" rechnenden „Naturheilarzt" oder 
„Homöopathen". 


Die Massai 

Über diesen vie^enannten kriegerischen Volks* 
stamm’) Ostafrikas entnehmen wir einem durch 
Professor Schweinfurth in der „Voss. Ztg.“ ver¬ 
öffentlichen Briefe eines neueren Reisenden fei¬ 
enden interessanten Bericht: Das Wohngebiet 
er zur hamitischen*) Sprachgemeinschaft gehör¬ 
igen Massai ist die Nyika, jene Lavawüste, die 
südlich vom Meru in ein weites aus archäischen 
Felsarten bestehendes Tafelland übergeht Von 
hier aus unternehmen sie grosse KriegszOge 
gegen die Ufer des Viktoriasees hin, und ostwärts 
an den Tanafluss bis zur Küste des indischen Ozeans. 
Im Süden beunrjuhigen, sie das Gebiet der, Wata-- 
turu, die Landschaft Usagara und die Paneani- 
Ebene. Die Zahl der Massaikrieger wird geschätzt 
auf etwa 40000; sie mag vor einigen Jahren viel¬ 
leicht noch etwa 10000 Mann mehr betragen haben, 
denn ein grosser Teil der Massai starb an Hungers¬ 
not, als die Viehseuche ihnen ihre Heerden weg¬ 
gerafft hatte. Dass unter einem Volke, bei dem 
rohe Gewalt und Sklavenmacherei jegliches Rechts¬ 
gefühl vertritt, im Laufe der Zeiten eine starke 
Kassenmischung eintreten musste, ist selbstver¬ 
ständlich, und wir finden unter den Massai daher 
Anklänge an die verschiedensten Volksrassen, an 
die ihnen verwandtschaftlich nicht sehr ferne stehen¬ 
den Somali und Galla, an die entfernteren Niloten 
und selbst an die von ihnen ganz verschiedenen 
Bantuneger. Ursprünglich ist der Massai ein Hirte, 
aber auch diese Beschäftigung wurde imter gewis¬ 
sen Familjen durch fremden Einfluss verdrängt es 
bildeten sich Jägerstämme, Wandorobbo und Wa- 
kuafi oder Ackerbauer unter ihnen aus. Die Mas¬ 
saisprache hat mit keinem der bekannten Sprach- 
idiome Ähnlichkeit, wenn man einen Vergleich an 


t) Vergl, ,Uinsch&u* Nr. ai, S. 368. 

*) Unter dem biblischen Namen Hamiten (Nachkommen von 
Cham oder Ham) werden nach Lepsius und Mfliler eine 
Reihe afrikanischer V^er verstanden, welche die verwandten 
hunitischen Sprachen reden. Die drei Haupteruppen derselben 
sind; die ägyptisch* (dazu gehOrt die altdgyptiachc und kop¬ 
tische^ Sprache), die Hbyach* oder Gruppe der Berbersprachen 
(zu diesem Sprachstam'm, der im Altertum fast den ganzen 
Nordrand von Afrika westwärts von Ägypten einnahra, gehören 
die Berber, Tuareg, Kabylen u. a.), die kuscMisc/i* oder äthiu- 
pisfht, die von Ägypten südwärts bis zum Gebiet der Bantu- 

S rachen reicht und das Bcdscha (als Verkehrssprache auch in 
herrschend) Beien, Saho, Agan, Kalascha, Galla, 
Dankah und Somali in sich fasst. Vermutlich stammen die Ham* 
iten aus Vorderasien, wo sie sich von den Semiten schon zu 
einer Zeit trennten, als ihre gemeinsame Sprache noch sehr 
wenig entwickelt war. 


den Haaren herbeiziehen will, vielleicht am ehes¬ 
ten noch mit der Somalisprache, mit der sie einige 
Wörter gemein hat. Die Massai selbst wissen 
nichts von ihrer Herkunft, sie behaupten, dass sie 
immer in dieser Steppe gelebt hätten, ihre Lager 
hier freilich veränderten. Weil sie den südwest¬ 
lichen Verbreitungsbezirk der Hamiten einnehmen, 
und die Einwanderung dieser Rassen durch das 
afrikanische Osthorn stattgefunden hat, dürften die 
Massai die ersten hamitischen Einwanderer sein, 
die ihren Typus durch die Länge ihres Aufent¬ 
haltes am meisten eingebüsst haben. Nach ihnen 
wanderten wohl die Galla ein und später die öst¬ 
lichen (Sudan-) Nilvölker und Somal. Ein den Mas¬ 
sai verwandtes Volk fanden wir im Ber^lande von 
Sotiko, die Wasotiko und Walumbwa. Diese haben 
im allgemeinen eine hellere Hautfarbe als die Mass«, 
die Prognathie’) ist bei ihnen seltener, und auch in 
ihrer Beschäftigung unterscheiden sie sich von den 
echten Massai, indem sie das Nomadenleben ver¬ 
achten und dem Ackerbau sich widmen. Ihre Sprache 
hat mit dem Galla einige Ähnlichkeit und es ist 
daher möglich, dass diese Bevölkerung durch die 
zweite Hamitenwanderung hierher geschoben wurde. 
Sie haben Verwandte in den Wataturu, die im 
Soden des Mangarasees wohnen, und kleinere zu 
diesem hamitischen Volksstamm gehörende Familien 
findet man auch in der Landschaft Schaschi, auf 
der Insel Ukerewe und in Usukuma. Unter den 
Walumbwa findet man Anklänge an den Volksty¬ 
pus, den man mit dem Namen Niloten belehnte, 
und der im oberen Nilthale von 10 Gr. n. Br. bis 
zum Viktoriasee seinen Wohnbezirk hat Gegen 
Norden finden wir ein Vettervolk mit gleicher 
Sprache in den Wanandi. Ob auch die Suk zu 
diesem Volksstamm gehören, kann nicht beurteilt 
werden, da wir sie nur aus Beschreibungen der Einge¬ 
borenen kennen, und von ihrer Sprache nichts bekannt 
ist. Alle diese hamitischen Stämme, die Massai, Wata¬ 
turu, Wasotiko und Walumbwa haben kriegerischen 
Charakter, obenan stehen in dieser Beziehung die 
Massai, welche ihre schon erwähnten Kriegszüge 
bis an den Viktoriasee und an die Küste des Indi¬ 
schen Ozeans ausdehnen. Der Massai ist ein tap¬ 
ferer Krieger, der mit seinem verhältnismässig kur¬ 
zen Speere und mit seinem schmalen, fast eher 
zum Schmucke als zur Vertheidigungswaffe geeig¬ 
neten Schilde nicht nur seine Feinde aufsuch^ son¬ 
dern sich immer noch neue zu machen geneigt ist, 
und im Kampfe auch auf sein kurzes zweischnei¬ 
diges Schwert sein Vertrauen setzt. Als letztere 
vor einem Jahre eine mit 200 Martinigewehren be¬ 
waffnete und ungefähr 800 Mann starke Karawane 
am Naiwaschasee niedergemetzelt hatten, lieferten 
sie nach dem Siege sämüiche erbeuteten Gewehre 
an das englische Fort Smith aus und bewiesen da¬ 
durch, dass sie selbst vor Feuerwaffen keinen gros¬ 
sen Respekt haben. 


Die Einführung eines neuen Infanteriegewehrs 

in der deutschen Armee wird von der Tages¬ 
presse in die Diskussion gezogen, da von einigen 
Truppenteilen Versuche mit einer neuen Waffe vor¬ 
genommen worden sind. Wenn hierüber bei den 
Gepflogenheiten der deutschen Militärverwaltung 
zweifellos Gewisses nicht eher bekannt werden 
wird, als eine Neubewaffnung thatsächlich erfolgt, 
so dürfte doch die Frage interessieren, ob die 


M Hervorragen des Gebisses, wie den niederen Menschen¬ 
rassen eigen. 


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502 


Die Einführung eines neuen Infanteriegewehrs. 


Technik der Handfeuerwaffen seit zehn Jahren 
solche Fortschritte gemacht hat, dass es sich bei 
einer neuen Waffe um die Verwirklichung eines 
vollkommen neuen Prinzipes und um die absolute 
Überlegenheit über die bisherigen Konstruktionen 
handeln kann. 

Diese Frage ist mit einem entschiedenen Ja zu 
beantworten. Dem „Mehrlader", der bis jetzt im 
Prinzipe die Infanteriebewaffnung der Kriegsmächte 
von Bedeutung beherrschte, ist ein Nachfolger und 
Erbe erwachsen in dem „Selbstlader". 

Beim Mehrlader kann die Munition für eine 
Reihe von Schüssen auf einmal geladen werden, 
und es bedarf nur des Öffnens und Schliessenc des 
Laufes seitens des Schützen, um das Einschieben 
der Patronen automatisch vor sich gehen zu lassen; 
der Selbsilader leistet weit mehr; er benutzt den 
Druck der beim Abfeuem entstehenden Pulvergase 
nicht nur zum Austreiben des Geschosses, sondern 
auch zum öffnen des Verschlusses, zum Auswerfen 
der abgefeuerten Patronenhülse, zum Spannen der 
Schlagfeder, zum Einführen einer neuen Patrone 
in den Lauf und zum Schliessen des Verschlusses. 
Der Schütze braucht nur noch zu zielen, abzuziehen 
und das Magazin, sobald es leer ist, wieder zu 
füllen; er kann, von letzterer Veranlassung ab¬ 
gesehen, nach jedem Schuss im Anschlag bleiben 
und hat nicht erst nötig, nach dem für die Lade¬ 
griffe bisher erforderlichen Absetzen Ziel- und 
Haltepunkt neu zu suchen. Die Überlegenheit der 
Selbstlader beruht in der gleichzeitigen Erhöhung 
der Zielsicherheit und Feuergeschwindigkeit. 

Der Gedanke des Rückstossselbstladcrs und die 
Versuche zu seiner technischen Verwirklichung sind 
bereits ein halbes Jahrhundert alt, auf artillerist¬ 
ischem Gebiete fand derselbe u. a. Ausdnick in 
dem Maximgeschütz, das in verschiedenen Armeen 
eingeftihrt und praktisch erprobt w’orden ist. Die 
Übertragung des Selbstladersystems auf Handfeuer¬ 
waffen hat dagegen erst in neuester Zeit erhebliche 
Fortschritte gemacht und eine Anzahl Konstruktio¬ 
nen von Bedeutung gezeitigt. 

Denselben hat sich kürzlich eine neue Waffe 
hinzugesellt, welche von dem als hervorragenden 
Waffentechniker und Fabrikant rühmlichst bekann¬ 
ten Kommerzienralh Paul Mauser in Oberndorf 
a. N. konstruiert worden ist und die sich durch 
eigenartige und höchst sinnreiche Einrichtungen vor¬ 
teilhaft auszeichnet. Einer kürzlich darüber erschie¬ 
nenen Schrift des Generalmajors R. Wille,*) 
eines kompetenten Fachmannes auf dem Gebiete 
der Waffenlehre, enmehincn wir die nachstehen¬ 
den Daten. Der Mauser-Selbstlader, dessen Haupt¬ 
charakteristikum der unter der Einwirkung des 
ROckstosses rückwärts gleitende Lauf ist, liegt zu¬ 
nächst in fünf verschiedenen Ausftihrungen vor, 
als 7,63mm-Pistole, als 7,63mm-Karabiner, als 6mm- 
Pistole, erstere mit verschiedener Magazineinricht¬ 
ung als Sechs- und Zwanzig-Lader, letztere beiden 
als Zehn-Lader. Die Hauptteile der Waffe sind: 
der Lauf, das Verschlussgehäuse (zwischen A* und 
b*), der Verschlusskolben, der Schlosskasten, be- 

0 Das Gewehr, mit dem die deutsche Infanterie zur Zeit 
bewaffnet ist ist eine Kunstruktion des Jahres iä88. 

*1 Wille, R., Generalmajor z. D., M<titiier-Selhsll<tJer. Mit 
90 Bildern im Text und auf zwei Tafeln, ^r. 8 (VIII u. 88 S.) 
1897. Berlin, R- Ktsenschmidt. M. 3. 


grenzt von ß* m' B* D, das Schloss begrenzt von 
k d* h* D; der rückwärtige Teil des Schloss¬ 
kastens ist als Griff bezw. Kolben ausgebildet. 
Der Lau/ endigt in bekannter Weise in dem 
Verschlussgehäuse, mit dem er aus einem Stück 
gearbeitet' ist. Das Verschlussgehäuse ist als 
kastenförmige, unten und im vorderen Teil nach 
oben offenen Hülse von quadratischem Querschnitt 
gestaltet und zur Aufnahme des Verschlusses und 
dient zur Verbindung des Laufes nebst Verschluss mit 
dem Schlosskasten. Diese Verbindung ist eine be¬ 
wegliche, derart, dass der Lauf bezw. seine Ver¬ 
längerung, das Verschlussgehäuse, mit an der Innen¬ 
seite unten angeordneten Längsnuten in zwei ent¬ 
sprechenden Leisten an der oberen Aussenkante 
des Schlosskastens gleitet und so bei seiner durch 
den Schluss hervorgerufenen Rückwärtsverschieb¬ 
ung Führung erhält. Den Abschluss des Laufes be¬ 
wirkt der Verschlusskolben, dessen quadratischer 
Querschnitt sich dem inneren Hohlraum des Ver¬ 
schlussgehäuses anpasst. Er enthält in seiner Längs- 
bohrung in bekannter Weise den Schlagbolzen, 
ausserdem die den Schlagbolzen in Spirale um- 
schliessende Schliessfeder, welche beim Zurück¬ 
gehen des Verschlusskolbens gespannt wird und 
nach Aufhören des ROckstosses durch die Wirkung 
ihrer Entspannung den Verschlusskolben wieder 
zurückwirfL Der Schlosskasten bildet in seinem 
vorderen Teil das Magazin (begrenzt von B* 
m* k), welches, wie schon erwähnt, für 6, lo oder 
30 Patronen eingerichtet ist, und sich im Prinzip an 
bereits bekannte Konstruktionen anschliesst. Die 
Füllung des Magazins erfolgt unter Benutzung eines 
Ijidestreifens, der die erforderliche Patronenanzahl 
(6,10 oder 20) zu einem Bündel vereinigt, durch einen 
Druck auf die oberste Patrone. Dadurch wird der 
hohle kastenförmige Zubringer, der durch Leisten 
und Nuten im Magazin senkrechte Führung hat, her- 
imtergedrückt und die darunter liegende, aus einem 
Streifen Stahlblech gebogene achtschenklige Zu¬ 
bringerfeder m gespannt. Durch letztere werden die 
Patronen der Reihe nach einzeln bis in die Höhe 
der Verschlussbahn emporgehoben, um beim Schlies¬ 
sen von dem vorschnellenden Verschlusskolben b* b* 
erfasst und in das Patronenlager des Laufs geführt 
zu werden. Der Ladestreifen wird im Gegensatz zu 
dem Patronenrahmen beim Gewehr 88, nicht mit 
in das Magazin eingeführt, sondern zum Abstreifen 
der Patronen nur 10 mm tief eingeschoben. Der 
übrige Teil des Schlosskastens dient zur Aufnahme 
des Schlosses, das alle Teile, welche zum Abfeuern, 
sowie zur Kuppelung des Schlosses mit dem Lauf 
und zu seiner sicheren Lagerung erforderlich sind, 
vereinigt. 

Durch den Druck auf den Abzug wird der 
Hahn D aus der Spannrast gelöst, der sich um 
seine Welle drehend auf das Ende des Schlag¬ 
bolzens anschlägt, diesen mit der Spitze in die 
Ladung der Patrone treibt und so das Abfeuern 
; des Schusses bewirkt. Die Thätigkeit des Mechanis¬ 
mus beim Schuss ist folgende: 

Der Druck, welchen die beim Schuss sich ent¬ 
wickelnden Pulvergase auf den Seelenboden aus¬ 
üben, schiebt den Verschlusskolben b und durch 
diesen, mittels des Riegelblocks c, den Lauf A 
nebst Verschlus^ehäuse a längs der Führungsleisten 


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Die Einführung eines neuen Infanteriegewehrs. 


503 




o‘, die sich am oberen Rande 
des Schlosskastens B befin¬ 
den, nach rückwärts. 

Der gemeinsame Rück¬ 
gang des Laufs und der 
übrigen gleitenden Teile er¬ 
reicht nur eine Länge von 
6,0 mm. 

Der Widerstand, welchen 
der Haken der Klaue c* 
leistet, zwingt den hinteren 
Teil des Riegelblocks c zu 
einer Drehung nach abwärts. 

Dadurch werden die Riegel¬ 
warzen c» aus den Rasten ä® 
im Verschlussgehäuse ausge¬ 
löst und der Verschlusskolben 
entriegelt, während die Nase 
c* in die schräg unter ihr 
liegende Aussparung des 
Schlosses eintritt und, indem 
sie gegen dessen entsprech¬ 
end geformte Anschlagfläche 
stösst, den Rückgang des 
Laufs nebst Verschlussge¬ 
häuse begrenzt. 

Trotz des kurzen Weges, 
den der Lauf nur zurück¬ 
legt, ist die Bewegungsarbeit, welche ihm nebst 
dem Verschlussgehäuse und Verschluss auf jener i 
kleinen Strecke durch die Rückwirkung des Schusses 
erteilt wird, gross genug, um den Hahn in die 
Spnnnrast zu werfen und den vom Lauf losgelösten 
Verschlusskolben noch soweit nach rückwärts zu j 
schleudern, dass die Schliessfeder b* gespannt wird, j 

Die mit dem Verschlusskolben zurückgleitende j 
leere Patronenhülse stösst mit ihrem unteren Boden¬ 
rand gegen den in die Bahn des Verschlusskolbens 
hineinragenden Auswerfer k, erhält hierbei im vor¬ 
deren Teil eine drehende Bewegung nach aufwärts 
und w’ird daher aus dem Durchbruch des Verschluss¬ 
gehäuses Ober dem Magazin nach oben hinaus¬ 
geschnellt. Wenn die rückläufige Bewegungsarbeit 
des entriegelten Vcrschlusskolbens durch die glei¬ 
tende Reibung im Vcrschlussgehäuse und vor allem 
durch den Widerstand der gespannten Schliessfeder 
b*, die sich hinten gegen den mit dem Gehäuse 
verbundenen Schlie.ssfederhalter a* lehnt, erschöpft 
ist, wird der Verschlusskolben durch den Gegen¬ 
druck der Schliessfeder wieder nach vorn getrieben. 
Er schiebt dabei die oberste Patrone im Magazin 
B*, welche der Zubringer m inzwischen bis in die 
Verschlussbahn emporgehnben hat, in den Lauf. 

Sobald er diesen erreicht, versetzt der durch 
die gespannte Schlagfeder d betätigte Federkolben 
d‘ den Haken d‘ der Kuppelung in Drehung vor¬ 
wärts und schiebt so mittels der Klaue c® den 


Gewehr ungeladen in Ruhestellung. 


Gewehr geöflnet und gespannt. 


Riegelblock c, welcher 
gleichzeitig wieder im 
Verschlussgehäuse ver¬ 
riegelt wird, nach vorn 
bezw. den Lauf in die 
Feuerstellung vor. 

Das Verriegeln des Blocks bezw. das Eintreten 
der Riegelwarzen c‘ in die Rasten b® wird dadurch 
herbeigefuhrt, dass die Nase c* beim Vorgehen des 
Laufs auf einer schiefen Ebene im oberen Teil des 
Schlosses C gleitet, daher gehoben wird und dem¬ 
gemäss auch die Riegelwarzen anheht und sie 
in die zugehörigen Rasten des Verschlussgehäuses 
hineindrängt. 

Das Verriegeln des Verschlusses ist bereits 
vollendet, bevor der Lauf seine Schussstellung 
wieder vollständig erreicht hat. 

Die Erfüllung dieser Bedingung gewährleistet 
das normale und sichere Arbeiten der Wafle. 

So lange der Lauf nicht in die Schussstelluiig 
vorgegangen ist, kann nicht abgefeuert werden, 
weil beim Abziehen der Hahn gegen die hintere 
Unterkante des Verschlussgehäuses .«chlagcn würde, 
ohne den Schlagbolzen überhaupt zu irelVcn. 

Die abennalige Feuerbereitschaft der Waffe tritt 
erst ein. sobald sich der geladene Lauf mit tleni 
verriegelten Verschluss wieder in der Feuei Stellung 
befindet; ein Fingerdruck auf die Abzugsziingc, 
welcher den aus der Spannrast ausgelösten Halm 


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Betrachtungen und kleine Mitteilungen. 


504 


nach vorn wirft, den Schlagbolzen in das Zünd¬ 
hütchen der Patrone hineintreibt und so den Schuss 
abfeuert, lässt das vorstehend erläuterte Spiel des 
selbstthätig arbeitenden Mechanismus von neuem 
beginnen. 

Der sinnreiche Aufbau aller arbeitenden Teile 
und die ungemein praktische Art ihrer Vereinigung 
zu einem selbstthätigen Schloss- und Verschluss¬ 
mechanismus lässt den Mauser ■ Selbstlader als ein 
mechanisches Kunstwerk ersten Ranges erscheinen. 
Die völlige Kriegsbrauchbarkeit der Waffe, auf die 
es vor allem ankommt, ist aber durch die hervor¬ 
ragenden ballistischen Leistungen und die grosse 
Unempfindlichkeit des Mechanismus gewährleistet, 
ln letzter Beziehung hat der Mauser-Selbstlader die 
schärfsten Prüfungen bestanden und die grössten 
und langwierigsten Anstrengungen in mustergültiger 
Weise ausgehalten. Bei 2200 Schuss Schnellfeuer 
hintereinander ohne zu reinigen, ergab sich nicht 
ein Versager und keine sonstige Störung irgend¬ 
welcher Art, bei 10,000 Schuss aus einer Waffe 
konnte keine Beschädigung, keine merkliche Ab¬ 
nutzung festgestellt werden. 

In Bezug auf ballistische Ausgestaltung und 
Leistungsfähigkeit wird der Mauser-Selbstlader von 
keiner anderen Waffe seiner Gattung übertroffen 
und von der grossen Mehrzahl auch nicht annähernd 
erreicht. Zweifellos wird die ausgezeichnete Waffe 
in dem Wettbewerb der verschiedenen Muster von 
Selbstladern, der nunmehr inauguriert ist, eine hen’or- 
ragende Rolle spielen. w. 


Betrachtungen und kleine Mitteilungen. 

* Schnell-Telegraphie als Ersatz der brieflichen 
Korrespondenz. A. C. Crchore, Professor der 
Physik an der Comell-Universität in Ithaca (New- 
York) und Lieutenant G. O. Squier von der V. 
St.-Armee haben eine neue Art elektrischer Tele¬ 
graphie erfunden, bei der auf einem Draht 3000 
Worte in der Minute telegraphiert w’erden können, 
während derselbe Draht auch zur Beförderung ge¬ 
wöhnlicher Morse-Depeschen zu benutzen ist. Ausser¬ 
dem können die Depeschen gleichzeitig von einer 
beliebigen Anzahl Stationen aufgenommen und auto¬ 
matisch aufgezeichnet w-erden. Wie bei anderen 
automatisch arbeitenden Systemen ist es nöt^, die 
aufzugebende Depesche mechanisch in einer Punkt¬ 
schrift, deren Kombinationen dem Morse-AIphabet 
entsprechen, auf Papierstreifen zu schreiben und so 
für die Weitergabe durch den Apparat vorzube¬ 
reiten. Die grosse Geschwindigkeit der neuen Me¬ 
thode beruht im Prinzip auf der Nutzbarmachung 
der besonderen Eigenschaften des Wechselstromes, 
bei dem sich pro Sekunde 250—400 Stromwellen 
von entgegengesetzter Richtung folgen. Zwischen 
je zwei Stromwellen ist der Draht einen Augen¬ 
blick in Ruhe. Mittelst einer ganz einfachen Ein 
richtung’) können nun diese Ströme in bestimmten 
Zwischenräumen unterbrochen und eine oder mehr 
Wellenbewegungen des Stromes ausgelassen wer¬ 
den. Indem diese Unterbrechungen und ihre Reihen¬ 
folge aufgezeichnet werden, wird die Depesche 
lesbar fixiert. Diese Aufzeichnung könnte natürlich 
weder von Menschenhand, noch durch eine mechan- 

Ober die Details dieser EiorichtuDg haben die Erfinder 
bisher nichts verlauten lassen; z^rade darin aber liezt mit der 
Hauptwitz der geistvollen Erfindung. Redaktion. 


ische Vorrichtung erfolgen, da weder das Auge, 
noch irgend ein Mechanismus schnell genug folgen 
könnte. Der interessanteste Teil des neuen Ver¬ 
fahrens ist deshalb auch die Aufnahme der De¬ 
peschen. Die Erfinder haben dafür bis jetzt zwei 
verschiedene Methoden mit Erfolg angewandt. Die 
erste beruht darauf, dass die Polarisationsebene von 
Licht beim Durchgang durch ein elektrisches Feld 
gedreht wird. Man lässt einen kräftigen Lichtstrahl 
auf zwei gekreuzte Nicholsche Prismen fallen, so 
dass unter gewöhnlichen Verhältnissen kein Licht 
passiert; zwischen beiden Prismen ist eine Röhre 
mit Schwefelkohlenstoff aufgestellq um welche die 
vom Strom durchflossene Drahtwindung liegt, je¬ 
desmal, wenn nun ein Strom durchgeht, wird cias 
vom ersten Nichol polarisierte Licht in der einen 
oder anderen Richtung abgelenkt, so dass etwas 
davon durch das zweite Prisma dringen kann und 
auf ein in schneller Bew’egung befindliches licht¬ 
empfindliches Papier fällt, auf dem durch die mo¬ 
mentanen Belichtungen Punkte hervorgerufen wer¬ 
den. Der andere Depeschen-Empfänger ist ein 
chemischer. Bei ihm drückt ein Stift auf ein in 
Bewegung befindliches präpariertes Papier und 
hinterfässt jedesmal ein Zeichen, wenn ein Strom 
durchgeht. Bei diesen beiden Arten der Aufnahme 
können Apparate in beliebig viel Aufnahmestatio¬ 
nen stehen und jede Anzahl von Kopien kann auf 
einmal gewonnen werden. Zweifellos dürfte die 
neue Schnell-Telegraphie bei erfolgreicher Anwend¬ 
ung gewaltige Umwälzungen im Nachrichtenverkehr 
hervorrufen. Professor Crehore meint, dass ein 
paar Drähte genügen würden, um der Post den 
ganzen Briefverkehr abzunehmen und denselben 
telegraphisch zu besorgen. Die Geschäftsleute wür¬ 
den sich nur Schreibmaschinen anzuschaffen haben, 
welche an Stelle des Typenbriefes einen durch¬ 
lochten Papierstreifen liefern, dessen Lochkombi¬ 
nationen den Zeichen des TelegraphenschlOssels 
entsprechen. Der durchlochte Papierstreifen wird 
dann dem Telegraphenamt aufgeliefert und dort 
zum automatischen Abtelegraphieren benutzt. Pro¬ 
fessor Crehore ist der Ansicht, dass die ganze 
Korrespondenz zwischen Chicago und New-York, 
die täglich 40,000 Briefe beträgt, mit nur zwei 
Drähten bewältigt werden und dass der Austausch 
von Anfrage und Antwort an demselben Tage er¬ 
folgen könnte. Für die Einführung des neuen 
Systems ist es nur erforderlich, dass die Maschinen¬ 
schreiber und Stenographen die Zeichen des Tele- 
graphenschlüssels lesen lernen, um die Übertragung 
der eingehenden Depeschen zu besorgen. 

Populär Scieace News, Nevr-York. 

« 

• • 

* Über einen prähistorisch sehr interessanten 
Grabfund gelegentlich der Aufdeckung römischer 
Gräber bei Worms, welche Freiherr von Heyl zu 
Herrnsheim zu Gunsten des Paulusmuseums auf 
seinem Gebiete vornehmen liess, berichtet Dr. Koehl 
in Worms P'olgendes: „In einem der letzten be¬ 
raubten Steinsärge, dem eines Mädchens, wurde 
ein höchst merkwürdiger, in seiner Art ganz ein¬ 
ziger Fund erhoben, den jedenfalls die Grabräuber 
achtlos liegen liessen, der aber trotz seiner anschei¬ 
nenden Wertlosigkeit für uns von grosser kultur¬ 
historischer Bedeutung ist. Es ist dies der Fund 
zweier verschiedenfarbig bemalter Eier, ofl'enbar 
Ostereier, welche der kleinen Entschlafenen viel¬ 
leicht die letzte Freude auf Erden bereitet hatten 
und deshalb ihr noch ins Todesbett folgen sollten. 
Die Kleine, vielleicht um die Osterzeit des Jahres 
320 nach Christus verstorben — eine dabei ge¬ 
fundene Münze des Kaisers Konstantin lässt uns 
diesen Zeitraum etwa annehinen —, hat sich mög- 


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Betrachtungen und kleine Mitteilungen. 


505 


ücherweise noch der üblichen Osterspiele und der 
damit verbundenen Gebräuche des Osterfeuers, des 
Ostermärchens, des Ostereiersuchens und der Oster¬ 
kuchen erfreuen dürfen, um alsbald eine Beute des 
Todes zu werden. Dass das Osterfest, die Feier 
des Wiedererwachens der Natur, welche das Ei 
symbolisch ausdrOcken sollte, eine rein germanische, 
also heidnische Feier gewesen ist und mit der 
christlichen gar nichts gemein hat, ist bekannt und 
wird von unseren Germanisten, wie Grimm, Sim- 
rock und Anderen, bezeu«. Ja, es war sogar die 
christliche Kirche, jedenfalls sehr gegen ihren Wil¬ 
len gezwungen, die heidnische Osterfeier mit ihren 
sämuichen heidnischen Gebräuchen nicht allein zu 
dulden, sondern sogar der christlichen Anschauung 
anzupassen, und auf diese Weise blieben die rein 
germanisch-heidnischen Gebräuche bis auf den heu¬ 
tigen Tag erhalten. Ja selbst der Name „Ostern“ 
von der Ostara, der Göttin des aufsteigerulen 
Lichtes, der germanischen Frühlingsgöttin, herrüh¬ 
rend, vermochte nicht dem christlichen Passafeste, 
wie es in allen übrigen, selbst den nordgerman¬ 
ischen Sprachen heisst, den Platz einzuräumen. 
So innig war das Frühlings- oder „Ostarafest“ der 
Germanen mit dem Denken und Fühlen des Volkes 
verwoben. Wir dürfen denn auch in den beiden 
in unserem Steinsarge gefundenen bemalten Eiern 
einen direkten Zusammenhang erblicken mit den 
germanischen Ostergebräuchen, und es wird durch 
sie der Beweis erbracht, dass das noch jetzt üb¬ 
liche Färben der Ostereier ebenso einem german¬ 
isch-heidnischen Gebrauch entstammt, wie die ganze 
Osterfeier Oberhaupt. Die beiden gefundenen Eier, 
von welchen das eine zum grössten Teile, das 
andere nur in kleinen Bruchstücken erhalten ge¬ 
blieben ist, sind Gänseeier. Sie sind in der Nähe 
der beiden Spitzen mit breiten, das ganze Ej um¬ 
ziehenden schwarzen Streifen bemalt, daran schliessen 
sich nach der Mitte zu braunrote Streifen; die 
Zwischenräume erscheinen alsdann mit roten, blauen 
und grünen Tupfen ausgefüllt. Einzelne Stellen 
zeigen auch eine Vermischung verschiedener Far¬ 
ben, welches Verfahren noch jetzt häufig angewen¬ 
det wird. Derartig gefärbte Ostereier nennt man 
in der Pfalz z. B. „getätschelte“. Ungefärbte Hühner¬ 
eier werden zwar ziemlich häufig unter den den 
Leichen beigegebenen Speisen angetroffen, diese 
Eier sind aber dann nur als beigegebene Speisen 
zu betrachten, wie ja beinahe in jedem Grabe solche 
angetroffen zu werden pflegen.“ 

Prähistorische Blätter. 

• 

* Den Aufbau der Madonnenbilder Raffaels 
behandelte Dr. Heinrich Alfred Schmid in 
einem Vortrage in der Kunstgeschichtlichen Gesell¬ 
schaft in Berlin. Für die harmonische Stimmung, 
die Raffaels Kompositionen beherrscht, findet er 
den passendsten Ausdruck in dem Zusammenschluss 
aller Glieder zu einer Pyramide, so dass sich an 
den bedeutendsten Beispielen dieser Gruppe als 
Umriss der Komposition ein gleichschenkl ges Drei¬ 
eck ergiebt. Symmetrie hatte schon Raffaels Lehrer 
Perugino seinen Kompositionen verliehen, aber in 
seinen und auch den frühen Arbeiten seines grossen 
Schülers wird noch durch eine in der umbrischen 
Schule konventionelle Neigung des Kopfes zur Seite 
die Einordnung in das Dreieck durchbrochen. Da¬ 
für beherrscht schon die frühen Skizzen Raffaels 
das Schema des dreieckigen Umrisses völlig, und 
vollends in den Studien zur Madonna del Cardel- 
lino lässt sich das allmähliche Zusammendrängen 
der Kompositionen vom ersten freien Entwurf bis 
zur schliesslichen wohlerwogenen Anordnung und 
doch unwillkürlichen Einordnung in das gleichschenk¬ 


lige Dreieck klar verfolgen. Auch einige römische 
Madonnen, wie die Madonna Aldobrandini, die Ma¬ 
donna Mackintosh und die Madonna mit den Kan¬ 
delabern folgen diesem Schema, während mehr 
malerisch gedachte Kompositionen, wie die „Perle“ 
in Madrid sich in bewusster Loslösung davon zu 
gefallen scheinen. Den weihevollen Charakter des 
Andachtsbildes verdankt Raffael nicht zum wenigsten 
der regelmässigen Verteilung der Massen und ihrem 
Zusammenschluss um die Mittellinie, am reinsten 
wohl in der Madonna mit dem Fisch im Prado zu 
Madrid, während in der Sixtinischen Madonna das 
Gleichgewicht zwar scheinbar gewahrt und doch 
absichtlich geopfert ist, um hier das für das Gna- 
denbild neue Motiv des Heranschwebens zum Aus¬ 
druck zu bringen. Das Schema des gleichschenk¬ 
ligen Dreiecks mit der dominierenden Mittellinie 
findet sich kaum bei einem von Raffaels grossen 
Vorbildern, einmal nur in der berühmten Mona Lisa 
Lionardos, dem Bilde, dessen tiefen Eindruck auf 
den jungen Künstler eine kleine Skizze im Louvre 
so beredt wiedergiebt, und vereinzelt bei Barto- 
lomneo und Lorenzo di Credi. Wie sich alle diese 
Versuche um Raffaels Aufenthalt in Rom grup¬ 
pieren, so darf man sie w'ohl als Ausdruck eines 
der wichtigsten Gedanken im ersten Jahrzehnt der 
Hochrenaissance betrachten. Voss. ztg. 

• • 

• 

• Neue elektrische Glühlampe. Die Lampe be¬ 
steht nach der „Chem. Ztg.“ aus einem mit zwei 
Platindrähtchen verbundenen und in einen cylin- 
drischen evacuierten Glasballon eingeschlossenen 
Glohplättchen. Dasselbe wird aus remer nicht ge¬ 
leimter und ungepresster, hygroskopischer Asbest¬ 
pappe von 0,3 mm Dicke bereitet. Die Pappe wird in 
lange, 6 cm breite Streifen geschnitten, mit 3oproc. 
Platinchloridlösung imprägniert, durch ein gesättig¬ 
tes Saimiakbad gezogen, in heisser Luft bei einer 
Temperatur von nicht über 60" getrocknet und 
durch Glühen in einer Bunsenflamme in Pladn- 
schwamm umgewandelt, nachher mit 20proc. Mag¬ 
nesiumchloridlösung imprägniert, geglüht und dieses 
Verfahren so lange wiederholt, bis eine gleich¬ 
massige Magnesiaschicht das Plättchen bedeckt; 
schliesslich gelangt der Glühkörper in eine loproc. 
Lösung der Ceritnitrate (Lanthan und Didym). Der 
Schmelzpunkt des Platins beeinträchtigt die Ver¬ 
wendbarkeit des Glühkörpers nicht, da der Mag- 
nesiaOberzug vor den sonst schädlichen Einwirkun¬ 
gen der WeissglOhhitze auf das Leitungsvermögen 
und die Dauerhaftigkeit des Platins schützt. Da das 
Lichtstrahlvermögen der Erdalkali- und Ceritmetalle 
dasjenige der Kohle circa dreimal übertrifft, soll 
es möglich sein, bei Verwendung dieser Lampe an 
Strom zu sparen. Die Herstellung solcher Lampen 
macht die teueren Vorrichtungen zum Nieder¬ 
schlagen von Kohlenstoff aus Gasolin entbehrlich; 
da der Stromwiderstand des in dieser Lampe ver¬ 
wendeten Glühmaterials bedeutend grösser als der¬ 
jenige der Kohle ist, kann man bei den in Rede 
stehenden Lampen auch die strahlende Fläche be¬ 
deutend vergrössern. 


* Die Dampferflotte auf dem oberen Kongo. 
Gerade ao Jahre sind jetzt darüber verflossen, seit 
Stanley zum ersten Male den Kongo abwärts fuhr 
und den Riesenlauf des innerafrikanischen Stromes 
uns kennen lehrte. Er stellte den grossen Abschnitt 
in demselben, den Stanleypool und die darauf fol¬ 
genden Wasserschnellen und Katarakte fest, welche 
die Schiffbarkeit des Laufes unterbrechen. So zer¬ 
fällt der Kongo in zw’ei Ströme, die jetzt durch die 
im Bau begriffene Eisenbahn in Bezug auf den 


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5 o6 


Betrachtungen und kleine Mitteilungen. 


Verkehr zu einem zusammengefasst werden sollen. 
Der erste Dampfer, welcher den oberen Kcmgo 
befuhr, wurde .1881 an Stanleypool zusammenge* 
setzt, und heute befährt eine Flotte von 45 Dampfern 
den obern Kongo, darunter Fahrzeuge von 40 Ton¬ 
nen Gehalt. 20 gehören dem Kongostaat, ^ sind 
französische Dampfer, p gehören der belgischen 
Kongogesellchafl, 4 sind im Besitze holländischer 
Handelshäuser, ^ gehören Missionsgeseilschaften und 
einer gehört emer Kautschukgesellschaft. Jeder 
dieser Dampfer hat stückweise auf schwierigen 
Wegen vom Atlantischen Ozean, die Kongostrom¬ 
schnellen umgehend, zum Stanleypool geschleppt 
werden müssen, wo die Zusammensetzung erfolgte. 
Dort auch waren die Werften zu errichten und 
arbeiteten die meisten Ingenieure in einem gefähr¬ 
lichen Klima,. das viele von ihnen dahinraffte. 

Globus. 

• • 

* Schnapsbrennerei der Neger. Es ist gewiss 
löblich, wenn die Einfuhr europäischen Branntweins 
nach Afrika beschränkt oder verboten wird. Man 
übersieht dabei aber meistens, dass die Neger seit 
alten Zeiten sich selbst berauschende Getränke her- 
zusteUen versuchten, wie denn weisse Reisende in 
den von ihnen zuerst entdeckten Gegenden wieder¬ 
holt ganze Dörfer sinnlos betrunken antrafen. Was 
die Herstellung des alkoholischen Getränkes be¬ 
trifft, so liefert jetzt der Kompa^iefÜhrer Ramsey 
(im Deutschen Kolonialblatt) emen Beitrag dazu, 
indem er auch den Destillierapparat abbildet, 
welcher mit Blase, Helm und Vorlage ganz an die 
europ^chen Geräte dieser Art erinnert. In Udjidi- 
am Tanganikasee, wo Ramsey steht, wird der 
Schnaps aus Pombe gebraut, d. i. ein Getränk, 
welches aus gegohrenen Bananen bereitet wird, 
und an und für sich schon berauschend wirkt 
Hieraus brennen nun die Neger mit Hilfe des ee- 
dachten Apparats ihren sehr starken Schnaps, der 
wie Komoranntwein aussieht und von dem in 
Udjidji eine Weinflasche voll */4 Rupie kostet 
Ramsey schreibt; „Der Schnaps ist sehr stark und 
berauscht die Leute selbst nach verhältnismässig 
geringem Genuss, so dass sie völlig besinnungslos 
sind. In der ersten Zeit unseres Hierseins konnten 
wir uns die häufige sinnlose Betrunkenheit der 
Askaris (Truppen) nicht erklären, bis uns durch 
einen Zufall die Schnapsbrennerei, die sehr ver¬ 
breitet war, bekannt wurde und damit die Ursache. 
Ich habe darauf das Brennen von Schnaps unter 
Androhung hoher Strafen ganz verboten.“ Es fragt 
sich nun, woher die Neger diese Schnapsbrennerei 
gelernt haben. Gegen eine selbständige Erfindung 
spricht der Apparat, welcher ganz dem abendländ 
ischen gleicht, den allerdings die alten Araber schon 
kannten. Die Araber, die aber vor den Europäern 
in Innerafrika waren, werden, dem Gebote des 
Propheten folgend, schwerlich den Schwarzen 
Unterricht im Schnapsbrennen erteilt haben. Globus. 

• • 

• 

* Nachdem bereits im vorigen Jahre im Bota¬ 
nischen Garten in Berlin durch die Raupen des 
Goldafters ein bedeutender Schaden angestiftet wor¬ 
den war, hat die Plage in diesem Jahre derartige 
Ausdehnung angenommen, dass alle Eichen ver¬ 
ständig kahl gefressen und die meisten der zart- 
blätterigen Sträuchen ihres Blattschmuckes beraubt 
sind. Gleichzeitig tritt dieser Übelstand im Thier¬ 
garten und Zoologischen Garten auf. Vertilgungs¬ 
versuche blieben der ungeheueren Masse der Rau¬ 
pen gegenüber ganz wirkungslos. Jetzt hat nun 
die Natur selbst ein Heilmittel gegen die Plage er¬ 
zeugt, indem ein Pilz, der Raupen tötet, auftritL 


Dieser zur Abteilung der Entomophthoraceen ge¬ 
hörige mikroskopische Pilz, Entomophthora Aulicae 
Reidt., durchwuchert die inneren Gewebe der 
Raupe und tötet sie binnen 24 Stunden. Nach aus¬ 
sen bricht der Pilz schimmelartig aus dem Körper 
hervor und erzeugt Fortpflanzungszellen, die abge¬ 
schleudert werden und leicht andere Raupen infi¬ 
zieren. Der Pilz ist nahe mit dem verwand, der 
im Herbst die bekannte Krankheit der Stubenfliegen 
erzeugt Es ist möglich, dass auch an den übrigen 
von den Raupen verwüsteten Plätzen diese Krank¬ 
heit auftritt, andernfalls würde es sich empfehlen, 
sie dort durch Infektion zu erzeugen. Infektions¬ 
material steht im Botanischen Garten zu Berlin 
stets zur Verfügung. 

• • 

• 

.* Die Geschwindigkeit der Meereswogen. Be¬ 
obachtungen des englischen Hydrographen M. 
Schott ergaben nach einer Mitteilung der „Revue 
scientifique“ folgende Resultate: 

Atmosphärische Mittlere Schnelligkeit 

Verhältnisse: in der Sekunde: 

Schwacher Wind . . . 7 m 50 

Frische Brise . . . . 10 „ 50 

Starker Wind . . . 16 „ 50 

Starker Sturm . . . 24 m 

Cyclon.27 m. 

Die letzteren beiden Geschwindigkeiten ergeben 
86 und 96 Kilometer per Stunde. ^ Stiüen Ocean 
wurden in Folge von Erdbeben entstandene Be¬ 
wegungen der Meeresoberfläche festgestellt, deren 
Geschwindigkeit fast 600 Kilometer per Stunde, 
gleich 600 Meter per Sekunde erreichte. Nicht er¬ 
wähnt wird, welchen Einfluss die Flutwelle, welche 
in zweimal 24 Stunden um die Erde läuft, auf die 
Geschwindigkeit der Wogen ausübt. Zweifellos 
muss dieselbe doch grösser oder geringer sein, je 
nachdem die Windrichtung mit der Flutwelle oder 
gegen dieselbe geht. 


yntersuchungen über Thebain. 

Von den verschiedenen im Opium enthaltenen ba¬ 
sischen, physiologisch höchst wirksamen ^standteilen 
wie Morphin, Codeßt etc. vermutete man, dass sie 
chemisch grosse Ähnlichkeit untereinander haben. 
Es ist nun schon lange das Streben der Chemiker, 
den chemischen Bau dieser Körper klar aufzudecken, 
um sie alsdann künstlich herzustellen. — Der An¬ 
griff wird auf verschiedenen Linien gefthrt: Beson¬ 
ders eifrig hat man natürlich das Morphin untersucht. 
— Prof. M. Freund in Frankflirt a. M. hat das 
Thebain zum Gegenstand seines Studiums gemacht. 
Es ist dies wohl der giftigste Bestandteil des 
Opium; ganz geringe Dosen rufen schon Starrkrampf- 
artige Erscheinungen hervor. Freund ist es in einer 

f ross angelegten Arbeit*) gelungen, eine Formel für 
heb^n aufzustellen, welche mit aller Wahrschein¬ 
lichkeit die Konstitution desselben veranschaulicht, 
und die nahe Verwandtschaft desselben mit Mor¬ 
phin und Codeln nachzuweisen. Bechmold. 


*) B«richt d. d. chem. Ges. 1897, No. 11. 


No. ag der Umseban wird enthalten: 

Kioss, Bayreuth und die Festspiele. — Reh, Lftstife Insekten. 
— Mosebeck, Die Geschichte im vergangenen Jahre. — Russner, 
Accumulatoren. 


G. Horstmann’s Druckerei. Frankfurt a. H. 


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DIE UMSCHAU 

ÜBERSICHT ÜBER DIE FORTSCHRITTE UND BEWEGUNGEN AUF 
DEM GESAMTGEBIET DER WISSENSCHAFT, TECHNIK, 

Wöchentlich eine Nummer. LITTERATUR UND KUNST 


Zu beziehen durch 
alle Buchhandlungen und 
Postanataiten. 

Postzcitungspreisliste No. 7941 a. 

Verlag von: 

H. Bechhold Verlag, Frankfurt a. M. 


herausgegeben von 

DR. J. H. BECHHOLD 


Neue Kr.tme 19131. 


Preis vierteljährlich 
M. 2.50. 

Jahres-A bonnement 
Preis M. IO.—. 

Im Ausland nach Cours. 
Verantwortlicher Redakteur: 

Otto Adolf Wolters, 'Frankfurt a. M. 


29. 1 . Jahrg. 


Naehdruek aus «Um InhaU <Ur Ztitschrifl ohtu Erlaubnis 
tUr RtdakHon vtrbohn. 


1897. 17. Juli. 


Bayreuth 1897. 

Von Erich Kloss. 

In diesem Sommer treten die Bayreuther 
Bühnenfestspiele in das dritte Jahrzehnt ihres 
Bestehens. Ob wohl Richard Wagner in den 
sechs bangen Jahren, welche den ersten Fest¬ 
spielen (1876) folgten, es gewagt hat, die 
Triumphe seiner Kunst, die Bayreuth jetzt 
fast alle Jahre feiert, auch nur zu erhoffen? 

Man muss bedenken, wie schwer es für 
Wagner und seine Interpreten war, zunächst 
das deutsche Publikum von der Notwendig¬ 
keit und Nützlichkeit des BayreuIHe'r Werkes 
zu überzeugen. Über die in der Mitte dieses 
■Jahrhunderts herrschenden Kunstzustände 
schien die Allgemeinheit ziemlich befriedigt 
zu sein. man dachte kaum daran, wie sehr 
die Italiener dominierten, und dass die Finger¬ 
zeige, welche Gluck und Weber für die Ver¬ 
wirklichung eines deutschen Tondramas ge¬ 
geben hatten, von unsern Komponisten recht 
wenig beachtet wurden. Vielmehr tru¬ 
gen die Komponisten dem italienisierenden 
Geschmack der grossen Masse in ausgiebigster 
Weise Rechnung. Meyerbeer, der es mit raf¬ 
finiertem Geschick verstand, die Inhaltslosig¬ 
keit seiner Musik wie die geringe Tiefe der 
„Texte“ durch blendende Effekte zu über¬ 
tünchen, bildet bekanntlich den Höhepunkt 
dieser Richtung. Andererseits waren aber 
auch selbst unsere besseren deutschen Re- 
pertoiropern durch die Launen der Sänger 
verstümmelt, und die Auswüchse der gesam¬ 
ten Theaterwirtschaft selbst kennen zu lernen, 
hatte Wagner in Magdeburg, Königsberg und 
Riga und auch in Dresden leider nur zu sehr 
Gelegenheit gehabt. 

Seit langer Zeit gährte es in dem für die 
edelste Bethätigung seiner künstlerischen Ab¬ 
sichten entflammten Künstlerherzen. Wer die 
Briefe aus der damaligen Zeit liest: — diese 
sind meist an seine Freunde Röckl, Uhlig, 

Umschau 1897. 


Fischer und Heine, sowie an Franz Liszt 
gerichtet, — stösst stets auf erneute Aus¬ 
brüche seiner Unzufriedenheit, ja häufig sei¬ 
ner Empörung über das „Kunsttreiben“ der 
damaligen Zeit. Auch seine Teilnahme an der 
Dresdner Revolution war in letzter Linie nur 
dem blinden Glauben entsprossen, dass die 
Umwälzung der politischen Zustände auch der 
Kunst neues frisches Leben zuführen würde. 
Als die Jahre 1848 und 49 nach Richt¬ 

ung hin völlig resultatlos verliefen, wandte 
sich Wagner sofort von jeder weiteren po¬ 
litischen Bethätigung ab, und es hätte wahr¬ 
lich 'nicht einer sechzehnjährigen Verbannung' 
bedurft, um diesen harmlosen Revolutionär 
vom Vaterlande fernzuhalten. 

Zu immer festerer Gestaltung reiften aber 
während all dieser Jahre seine kunstreforma- 
torischen Pläne, die sich endlich zu dem so¬ 
genannten Bayreuther Werk verdichten soll¬ 
ten. „ Gegen die Herabwürdigung der Kunst 
zu einem von der internationalen Mode be¬ 
stimmten Unterhaltungsmittel stritt Wagner für 
eine nationale Ausgestaltung des Dramas als 
höchsten Ausdruck nationaler Kultur und eines 
ästhetischen Erziehungselementes im Sinne 
Schillers.“ — 

Mit diesen Worten charakterisiert der 
Breslauer Litterarhistoriker Professor Max 
Koch in ungemein präziser Weise die Idee 
der deutschen Festspiele, weiche später zu¬ 
fällig in Bayreuth verwirklicht und von da 
ab die Bayreuther Idee genannt wurde. 

Eine Idee von der Grösse und Tiefe die¬ 
ses Inhalts konnte natürlich nicht im Theater 
einer grossen Stadt, bezw. mit dem künst¬ 
lerischen Apparate verwirklicht werden, der 
zur Bewältigung des täglichen Opernrepertoirs 
gerade ausreichte. Richard Wagner stellte 
ganz andere Anforderungen. 

Schon die Wahl seiner Stoffe und die 
Art seiner Werke, die eben keine Opern im 
landläufigen Sinne waren, sondern „Tondra- 

29 


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Kloss, Bayreuth 1897. 


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men", erheischte zunächst ein anders ge¬ 
schultes Sänger-Personal und einen ganz an¬ 
deren künstlerischen Apparat, als er bei den 
Opernhäusern zur Verfügung stand. Aber 
auch das Publikum, welches Wagner im Auge 
hatte, musste ein anderes sein. Der dichter^ 
ische (dramatische) Wert jener Werke stand 
auf der selben künstlerischen Höhe, wie der 
musikalische, ja, es hängen bei Wagner be¬ 
kanntlich Dichtung und Musik so innig zu¬ 
sammen, dass man für ein solches Werk noch 
keine bestimmte Bezeichnung hatte; es Hess 
sich auch in die vorhandenen litterarischen 
oder musikalischen Rubriken gar nicht klassi¬ 
fizieren. Der Geist und Gemüt gleich tief be¬ 
wegende Inhalt dieser seiner neuen künst¬ 
lerischen Offenbarungen erforderte naturge- 
mäss eine andere Empfänglichkeit von dem 
Hörer, als dieser etwa am Schlüsse eines 
arbeilsreichen Tages für die rein äusserliche 
Zerstreuung eines Opern-Theaterabends noch 
zur Verfügung hat. Unermüdet, mit empföng- 
liehen Sinnen, frei von Alltagslasten und 
Lärmen und vor Allem vorurteilslos, gläubig, 
vertrauensvoll sollte das Publikum, welches 
dem Meister vorschwebte, seinem Kunsttempel 
nahen! Man wird verstehen, dass dies alles 
am Theater einer Gressstadt unmöglich ist. 
Man wird aber auch verstehen, welch be¬ 
denklichem Kopfschütteln die also gedachten 
Pläne Wagners begegneten. 

Und dieses „Festspielhaus", dieses „Ideal¬ 
theater“ sollte (nachdem der Meister endlich 
durch die Gnade des unvergesslichen Bayern- 
künigs in München ein neues Heim gefunden 
hatte) in oder bei der bayrischen Hauptstadt 
erstehen. Der Entwurf des Baumeisters Gott¬ 
fried Semper bezifferte sich auf sieben Mil¬ 
lionen Mark. Man wird es nicht allzu ver¬ 
wunderlich finden, wenn man liest, wie un¬ 
erhört damals die guten Münchener diese 
Summe wie das ganze Unterfangen Wagners 
erachteten. DieZivilliste lehnte die Forderung 
ohne Weiteres ab: Wagner musste sich allein 
behelfen I 

Doch dem unbeugsamen Willen des ener¬ 
gischen Mannes gelang es, seinen Willen zur 
That zu machen. Durch die Hochherzigkeit 
des Königs und durch die thätige Hülfe sei¬ 
ner Freunde gelang es seiner eisernen 
Energie nach Überwindung unendlicher Schwie¬ 
rigkeiten am 22. Mai 1872 — seinem 59. Ge¬ 
burtstage — den Grundstein des lang ge¬ 
planten Idealtheaters legen zu können. Auf 
die seinen Anforderungen in jeder Weise 
entsprechende, so günstig, fern vom Getriebe 
der Welt, im Herzen Deutschlands gelegene 
kleine Bayerstadt war des Meisters Wahl ge¬ 
fallen: sein grosser, einziger Gedanke, — 
nunmehr der Bayreuther Gedanke — war ver¬ 


wirklicht! Und der Inhalt dieses Gedankens 
begann nun, von 1876 ab, seinen Zauber 
auszuüben. Man ward der tiefen Wirkungen 
dessen mehr und mehr inne, was Wagner 
mit der Verwirklichung dieses seines künst¬ 
lerischen Ideals gewollt hatte. Man sah ein, 
zu welch einer vornehmen, hohen sittlichen 
Stellung Wagner das Theater erhoben hatte. 
Die Sprache des deutschen Volksgemüts ist 
die Musik: diese Sprache beherrschte der 
grosse Tonmeister bis auf die tiefsten Wirk¬ 
ungen, die ihr Zauberklang auf die Volks¬ 
seele ausübte, und er erhob sie zugleich zur 
Kunstsprache des Dramas. Die Gestalten der 
alten deutschen Götter-, Helden- und Volks¬ 
sagen machte er zu den Verkündern seiner 
Offenbarungen und im „Parsifal“ fand er die 
Brücke zwischen Schopenhauerischer Welt¬ 
anschauung und Christentum: 

„Ein heiliger Bezirk ist ihm die Szene, 

„Verbannt aus ihrem festlichen Gebiet 

„Sind der Natur nachlässig rohe Töne, 

„Die Sprache selbst erhebt sich ihm zum Lied!" 

Was man auch im Einzelnen gegen die 
Bayreuther Aufführungen einwenden mag: 
den ungeheuren Erfolg der Bayreuther Idee, 
welche alljährlich eine Welt in ihren Bann¬ 
kreis zwingt, kann Niemand' mehr leugnen. 
Es ist eben anders geworden mit der künst¬ 
lerischen Empfänglichkeit und Geschmacks¬ 
richtung des Publikums. Die widersinnige 
Obstruktion, welche zumal die Musik-Philister 
dem Kunstwerke Richard Wagners bereiteten, 
konnte auf die Dauer nicht verhindern, dass 
das gebildete Publikum sich durch Anhören 
dieser neuen Offenbarungen ein eigenes, 
selbständiges Urteil bildete. Man las nicht 
mehr so viel über Wagner, sondern man be¬ 
gann öfter seine Opern- und Musikdramen zu 
hören: man las ihn sogar selbst, wie er sich 
in seinen Schriften kundgab. Und vor allem: 
die immer grösser werdende Gemeinde ver¬ 
tiefte sich nicht nur in die älteren Werke 
des Meisters, sondern erweckte auch das Ver¬ 
ständnis für den Bayreuther Gedanken, für 
das neue künstlerische Erlösungs-Evangelium, 
welches der Gral von Bayreuth aus der Welt 
zu teil werden Hess. 

Aber eine neue Wahrheit dringt schwer 
durch: sie braucht nicht, wie Goethe einmal 
sagt, gleich allgemein zur Geltung zu kom¬ 
men, „wenn man sie nur wie ferne Glocken 
läuten hört." Auch heute hören noch manche 
die Kunde nur wie ferne Glocken läuten, 
aber dass sie Überhaupt gehört wird und zwar 
von unermesslich Vielen, das ist für unsere 
deutsche Kunst beglückend verheissungsvoll. 
Und wer die Botschaft gehört und seinen 
Schritt nur einmal nach Bayreuth gelenkt 


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hat, dem wird auch beim Verlassen Bayreuths 
der Glaube nicht fehlen. 

Es kommt hier gar nicht darauf an, wer 
nach Bayreuth geht, ob Deutscher, ob Aus¬ 
länder. Immer hat es ihr mich etwas Lächer¬ 
liches gehabt, wenn man der Bayreuther Leit¬ 
ung einen Vorwurf daraus schmieden wollte, 
dass übermässig viele Ausländer unter den 
Besuchern seien. Warum gehen denn die 
Deutschen nicht selbst hin und füllen das 
Haus bis auf den letzten Platz? Geldmangel 
kann in den allermeisten Fällen nicht als 
Entschuldigungsgrund dienen. Ehe die Deut¬ 
schen in grossen Schaaren nach Bayreuth 
pilgern, wird noch manches Jahr vergehen; 
aber sie werden kommen; denn 

„sollens die Deutschen mit Dank erkennen, 

„so wollen sie Zeit haben!“ — 

Bis dahin wollen wir uns damit getrosten, 
dass es das deutsche Kunstwerk ist, welches 
andauernd alljährlich in gleicher Fülle ein 
kunstverständiges Publikum aus allen Ländern 
heranzieht, worunter übrigens auch sehr viele 
ausländische Künstler und Künstlerinnen sich 
befinden. Nicht nach Italien ziehen diese 
mehr, um dort den bei conto zu lernen, son¬ 
dern nach Bayreuth, um hier Wagners Sprech¬ 
gesang, seine Kunstlehre, seinen kunststil 
sich anzueignen. 

« « 

• 

Das vergangene Jahr brachte Bayreuth 
das erste Jubiläum. Das denkwürdige Jahr 
1876 hatte mit dem „Ring des Nibelungen“ 
uns die ersten deutschen Festspiele gegeben, 
deren künstlerisches Ergebnis von ungeheurer 
Bedeutung, deren materieller Erfolg aber nicht 
ausreichend war. Bis 1882 mussten die Pfor¬ 
ten des Festspielhauses geschlossen bleiben. 
So bedauerlich das auch war, zeitigten diese 
Jahre doch ein Grosses und Gutes: Der 
Meister schuf in jener Zeit den „Parsifal“, 
der dann zum ersten Mal 1882 unter so über¬ 
wältigendem Erfolge im Festspielhause ge¬ 
geben wurde. Die Idee Richard Wagners, 
die Festspiele durch das Patronatssystem zu 
erhalten, hatte man fallen lassen müssen. So 
öffneten sich jetzt die Thüren für Geld und 
auch nach dem Tode des Meisters erschien 
in den Jahren 1883 und 84 der „Parsifal" 
auf der Festspielbohne. Emil Skarias Ver¬ 
dienst um die Verwirklichung der Spiele in 
diesen beiden Jahren soll hier nicht uner¬ 
wähnt bleiben. 1886 erschien neben „Parsi¬ 
fal* zum ersten Male der „Tristan“ im Fest¬ 
spielhaus. Seit dieser Zeit datiert ein be¬ 
merkenswerter Umschwung: Der Besuch nahm 
mehr und mehr zu und steigerte sich von 
1888 ab derart, dass bis heutigen Tages aus¬ 
verkaufte Häuser die Regel sind. Frau Cosima 


Wagner griff, nach Jahren der Trauer, von 
dieser Zeit an in die weitere Ausgestaltung 
der Festspiele ein. Nachdem 1886 mit „Tristan 
und Isolde* und 1888 mit den „Meistersin¬ 
gern* höchst stilgemässe, geradezu vollendete 
Aufführungen geschaffen, Hess man den nun 
so gewonnenen Stil auch den jüngeren Werken 
des Meisters, „Tannhäuser" (iSgijund „Lohen- 
grin“ {1894) ^ Gute kommen. 

Anfangs ward dieser Idee, selbst von ein¬ 
zelnen dem Hause Wahnfried Nahestehenden 
mit Befürchtungen begegnet. Nach dem über¬ 
raschenden Erfolge, den beide Werke erran¬ 
gen, erkannte man aber allgemein, wie not¬ 
wendig ihre Erneuerung gewesen war. 
Die wunderbare Stilisierung des Kunst¬ 
werks, nach genauester Vorschrift des Meisters 
zur Anschauung gebracht, zeigte deutlich, 
welche Irrtümer sich bei den Aufführungen 
in den Opernhäusern eingeschlichen hatten, 
wie vieles verstümmelt worden war. Und 
trotzdem z. B. der „Tannhäuser“ in Bayreuth 
mit starken Besetzungsschwierigkeiten zu 
kämpfen hatte und einige Einzelleistungen 
nicht auf der wünschenswerten Höhe standen, 
ward doch das, worauf es in Bayreuth immer 
am meisten ankommt, in glänzender Weise 
erreicht; nämlich eine absolut stilvolle Vor¬ 
stellung, nach der sich die anderen Bühnen 
richten konnten. 

Und die anderen Bühnen richten sich jetzt 
wohl in allem Wesentlichen nach dem Bay¬ 
reuther Vorbild. Die Intendanten und Direk¬ 
toren der Opernhäuser müssen sich die Bay¬ 
reuther Lehren zu Nutze machen, sie mögen 
wollen oder nicht. 

Ein stilvolles, dem Sinne des Kunstwerkes 
entsprechendes Gesamtbild mit ganz besonderer 
Herausarbeitung des dramatischen Elementes, 
— das ist es, was man im Festspielhause in 
allererster Linie zu geben sich bemüht. 
Orchester und Einzelsänger sind an vielen 
unserer Opernbühnen vortrefflich, stellenweise 
sogar bedeutend, aber bei dem wechselnden, 
mit Flotow, Meyerbeer und Nessler durch¬ 
setzten Repertoir dieser Bühnen gerät der 
ganze künstlerische Apparat oft in Gefahr, 
auch die Wagnerschen Werke im alten Sinne 
zu veropern. Dies gerade hat Wagner bei 
häufigen 7 ?^^<rr/o/V-Aufführungen seinerWerke 
befürchtet, dagegen hat er oft und viel ge¬ 
schrieben und gesprochen, und aus diesem 
Grunde fasste er die Einreihung seiner frühe¬ 
ren — opernartigen —• Werke für Bayreuth 
ins Auge. Dass „Tannhäuser“ und teilweise 
auch „Lohengrin“ selbst bewährten Musikern, 
Kapellmeistern etc. bei der Bayreuther Neu- 
Einstudierung wie neue Werke erschienen, 
dass das eminent dramatische Element dieser 
Dichtungen mit Wucht hervortrat, konnte 

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5 ^ 

niemand leugnen, der diesen beiden Neu- 
Aufführungen im Festspielhause beigewohnt 
hat. Demgegenüber waren etwaige Mängel 
der Einzelleistungen kaum von Belang. Die 
bleibenden Wirkungen dieser Inszenierungen 
machten sich in den Opernhäusern in der¬ 
selben Weise geltend, wie es t888 nach dem 
unerhörten Triumphe der Meistersinger-In¬ 
szenierung der Fall war. Ähnlich verhält es 
sich mit den Nachwirkungen, welche die Neu- 
Einstudierung des Nibelungenringes im vo¬ 
rigen Jahre auf die Bühnen ausübte. Gelingt 
bei den grossen Schwierigkeiten einer voll¬ 
endet stilgemässen Darstellung eines Wag- 
nerschen Werkes selbst in Bayreuth nicht 
alles in gewünschtem Masse, so bedenke man, 
dass etwa zu Tage tretende Fehler und Miss- 
Stände während der Festspielwochen und nach 
ihnen andauernd den Gegenstand eifrigster 
Erörterung bilden, dass man den Aufführungen 
eine stets sich erweiternde Vollkommenheit 
zu geben bemüht ist. 

Das vergangene erste Bayreuther jubi- 
läumsjahr hat aufs neue die Blicke der Welt 
auf unsere deutschen Festspiele gelenkt: 
mancher Ereignisse wäre noch zu gedenken, 
doch ist dies in dem knappen Rahmen nicht 
möglich; auch' verlieren sich solche Betracht¬ 
ungen zu leicht in die einzelnen fachmänn¬ 
ischen Gebiete, wie Musik, Regiekunst, De¬ 
korationseffekte u. s. w. Aber dessen sei 
noch gedacht, dass die BayreutKerStilbildungs- 
schule neben anderen jungen Künstlern und 
Künstlerinnen uns einen „Siegfried“ gab, der 
selbst hochgespannte Erwartungen übertraf 
und grosse künstlerische Erfolge erhoffen 
lässt: den jugendlichen Aloys Burgstaller. 
Auch dass der Sohn des Meisters, Siegfried 
Wagner, zum ersten Male einen Zyklus 
des „Ringes“ dirigierte, sei erwähnt. 

Was aber — um von der künstlerischen 
Bedeutung der Festspiele auf ihre allgemeinen 
Wirkungen überzugehen, — besonders erfreulich 
erscheint, das ist der immer wachsende Kreis 
ihrer Anhänger, die tiefer werdende Erkennt¬ 
nis von Richard Wagners Wollen und Wirken 
besonders nach der erzieherischen und ethischen 
Seite hin. Man beginnt zu fühlen, dass man, 
wenn man Bayreuth besucht, dies nicht thut, 
um blos ins Theater zu gehen, sondern dass 
die Wirkungen des Bayreuther Zaubers noch 
ganz andere sind. Von diesem Standpunkte 
aus ist es mit herzlichster Freude zu begrüssen, 
dass der von Wagner geschaffene Stipendien¬ 
fonds infolge andauernden Wachsens es er¬ 
möglicht, junge Künstler nicht nur, sondern 
auch Studenten, Akademiker jeder Art und 
zahlreiche Lehrer mit Erleichterungen zu be¬ 
denken. Hierher gehören auch die Zuwend¬ 
ungen, welche die sächsische und bayrische 


Regierung, sowie verschiedene andere ausser- 
preussische Staaten, zu diesem Zwecke ihren 
Landeskindern gemacht haben. Das ist an 
sich schon eine heilsame Folge des stillen 
Fortwirkens des Bayreuther Gedankens. Denn 
in solchem Sinne will er verstanden und be- 
thätigt sein! 

Die Gemeinde, welche sich jetzt zu dem 
Bayreuther Gedanken bekehrt, ist eine weit 
andere geworden, wie ehedem. Denn abge¬ 
sehen davon, dass sie an Zahl unendlich ge¬ 
wachsen ist, besteht sie nicht mehr nur aus 
Mitgliedern der Wagner-Vereine oder kurz 
aus sogenannten „Wagnerianern“, sondern 
sie ist vielmehr eine Gemeinschaft, welche 
sich nicht zu der „Richtung“ des „musikal¬ 
ischen Neuerers“ Richard Wagner bekennt, 
sondern welche die bayreuthische Idee sich 
zu eigen gemacht hat. Zuerst waren es engere 
Freunde des Meisters, die zum Teil propa¬ 
gandistisch für ihn und sein Werk thätig 
waren, dann ergriff die Wagner-Bewegung 
nach und nach weiteste Kreise, bis der 
„Wagnerianer“ allmählich so viele geworden 
waren, dass man — Gott sei Dank — dieses 
Wort im ursprünglichen Sinne gar nicht mehr 
anwenden kann und mag. Houston Chamber- 
lain, einer unserer tiefsinnigsten und gemüt¬ 
vollsten Wagnerforscher, sagt einmal: „Wie 
jämmerlich klingt die elende Vokabel: „Wag¬ 
nerianer"! Wie sinnlos ausserdem! Es ist, 
als ob man durch Anhängung des ,aners' 
auch etwas von dem strahlenden Glanz jenes 
Namens abzubekommen wähnte. Und soll 
hiermit etwa Ehrerbietung ausgesprochen 
werden, so kann man entgegnen, dass 
Wagner keiner solcher Lobhudelei bedarf. 
Von Aschylos bis Shakespeare, von Hafis 
bis Schiller, von Palestrina bis Beethoven, 
von Phidias bis Rafael: das ist die Welt der 
Kunst, auf die der Meister unaufhörlich in 
den glühendsten Worten uns hinweist; alle 
Engherzigkeit, alles Parteiwesen war ihm 
fremd. Wer irgend einen echten Meister ver¬ 
kennt, der gehört nicht zu Wagner. Denn 
alle zaubert er vor unsern Augen herauf, 
„diese grössten und edelsten Geister, die seit 
Jahrhunderten ihre Stimme aus der Wüste 
erhoben haben", und dann ruft er in edelster 
Entrüstung : Wir haben sie gehört und noch 
tönt ihr Ruf in unsern Ohren: aber aus unsern 
eitlen gemeinen Herzen haben wir den le¬ 
bendigen Nachklang ihres Rufes verwischt; 
wir zittern vor ihrem Ruhm, lachen aber vor 
ihrer Kunst; wir Hessen sie erhabene Künstler 
sein, verwehrten ihnen aber das Kunstwerk: 
„denn das grosse wirkliche eine Kunstwerk 
können sie nicht allein schaffen, sondern da¬ 
zu müssen wir mitwirken." Leider ist es 
Richard Wagner mit seinen künstlerischen 


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Reh, Lästige Gäste aus der Insektenwelt. 


Bestrebungen seitens der Mitlebenden nicht 
anders ergangen, wie den Künstlern, von 
denen er hier mit dem Ausdruck wehmütiger 
Teilnahme spricht. Darum eben ist es er¬ 
freulich und nicht genug zu preisen, dass die 
Erkenntnis von Wagners Wollen nunmehr 
die gebildete Welt weiter und weiter erobert. 
Bayreuth aber ist und bleibt die Hauptstätte 
der Bethätigung solcher echt Wagnerischer 
Kunst- und Lebens- und Weltanschauung. 

Zur Bethätigung der Lehren unseres grossen 
deutschen Meisters rufen in den nächsten 
Wochen wiederum die Gralsglockeli die jetzt 
so grosse künstlerische Gemeinde, jene „mit¬ 
schöpferischen Freunde", welche sich Wagner 
so oft und so sehnsüchtig gewünscht! Das 
Publikum zu neuen Thaten heranzuziehen, die 
den künstlerischen entgegcnkommen, ist ein 
wichtiger Bestandteil des „Bayreuther Ge¬ 
dankens". Hier steht also, — nach Chamber- 
lains feinem Wort, „nicht ein einzelner Mann 
obenan und wäre er ein Richard Wagner, 
sondern „rfiV heit ge deutsche Kunst', von der 
Hans Sachs in so bewegten Worten redet, und 
diese deutsche Kunst dehnt sich aus zur „rein 
ntenschlichenKxmsi". Mögen die Ausführungen 
desausgezeichnetenWagnerkenners diesen Auf¬ 
satz beschliessen: „Richard Wagner“ — sagt 
Chamberlain am Schlüsse seines grossen Wag¬ 
nerwerkes — „Richard Wagner ist ein Mensch, 
def gelebt und gelitten hat, dessen Namen 
man deswegen nicht missbrauchen, sondern 
tief in des Herzens bergenden Schrein fromm 
aufbewahren soll. Bayreuth dagegen ist sein 
Werk, das Werk, das er uns Allen geschenkt 
hat, sobald wir es uns aneignen wollen, und 
Bayreuth ist der unpersönliche, überpersön¬ 
liche, Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft 
der Kunst verbindende „sinnvolle Wahlspruch", 
welcher diejenigen einen soll, die mit Wagner 
dem Glauben leben, für die Kunst müsse erst 
ein neuer Boden gewonnen werden, und da¬ 
zu müssten wir alle mitwirken. Das war auch 
der Sinn jener schönen und so vielfach miss¬ 
verstandenen Worte, die Wagner am Schlüsse 
der ersten Aufführung des Nibelungenringes 
in Bayreuth von der Bühne aus seinen Freun¬ 
den zurief: „Sie haben jetzt gesehen, was 
wir können: wollen Sie jetzt! Und wenn Sie 
wollen, so haben wir eine Kunst!" 

Möge dieser feste, treue, begeisterungs¬ 
volle Wille einer stets sich mehrenden Ge¬ 
meinde „mitschöpferischer Freunde" dem 
Bayreuther Werke allezeit zu Gute kommen 
und auch in diesem neuen Bayreuther Jahr¬ 
zehnte Früchte treiben zum Heil unserer 
deutschen Meisterkunst! „Introite; nam et hic 
dei sunt!" 


^11 

Lästige Gäste aus der Insektenwelt. 

Von Dr. L. Re». 

Bei uns in Europa und besonders in 
Deutschland ist die Zoologie im Wesentlichen 
eine theoretische Wissenschaft. Mit Ausnahme 
der Parasitenkunde und Thierzucht wird an 
ihre praktische Verwertung kaum gedacht. 
Ganz anders in Nord-Amerika, wo grosse 
staatliche Institute, mit reichen Geldmitteln 
und grossem Personale, nur dafür gegründet 
sind, um die Zweige der Zoologie, die irgend¬ 
wie mit dem praktischen Leben in Berührung 
kommen, zu studieren und praktische Erfahr¬ 
ungen zu sammeln, die dann der grossen 
Masse zu gute kommen. Über Akklimatisation 
fremder Tiere, Nutzbarmachung einheimischer, 
Nutzen oder Schaden derselben, Parasiten von 
Menschen, Tieren und Pflanzen, die unange¬ 
nehmen Gäste von Haus, Garten und Feld 
werden dort eingehende Untersuchungen an¬ 
gestellt, nicht allein über ihre Entwickelung, 
Lebensweise und Lebensbedürfnisse, sondern 
auch über ihre Pflege, bezw. Bekämpfung. 
Aus den zahlreichen, in allerletzter Zeit ver¬ 
öffentlichten Arbeiten über die lästigen Gäste 
aus der Insektenwelt, sei eine hier im Aus¬ 
züge mitgeteilt, die der Leiter der Abteilung 
für Entomologie des United States DepartC' 
ment of A§riculture, L.O. Howard, zusam¬ 
men mit zweien seiner Assistenten, C. L. Mar- 
latt und F. H. Chittenden, herausgegeben 
hat, als Bulletin No. 4 seines Institutes. 

Sind die Untersuchungen auch in Nord¬ 
amerika angestellt, so sind sie doch meist 
ohne Weiteres auch auf europäische Verhält¬ 
nisse übertragbar, da die meisten der behan¬ 
delten-Insekten dieselben oder sehr nahe ver¬ 
wandt sind mit denjenigen, die bei uns ihre 
unangenehme und oft verderbliche Thätigkeit 
ausüben. Der Gegenstand ist jetzt, im Sommer, 
ein entschieden aktueller. 

Die Stechmücken, Schnaken oder Mosquitos 
(Culicidae) sind über die ganze Erde ver¬ 
breitet. Ebenso zahlreich wie in den Tropen 
treten sie auch im höchsten Norden auf, ') wo 
Schnee und Eis nie schmelzen. Ihre Eier 
legen sie früh morgens auf das Wasser, in 
flachen Scheiben, die so viel Luft enthalten, 
dass sie nicht einmal benetzt werden, ge- 


') Wir können dies aus eigner Erfahrung be¬ 
stätigen. Es giebt vielleicht keinen Teil der Erde, 
wo die Stechmücken eine grössere Plage sind, als 
in Lappland (v. Buch nennt es die „Mückenhölle“). 
Man kann im allgemeinen nicht ohne einen dichten 
Schleier gehen. Einreiben mit Nelkenöl schützt fast 
gar nicht. Schreiber dieses musste sich, beim Skiz¬ 
zieren von einem Mückenschwarm überfallen, in 
schnellstem Lauf flüchten. Es soll verkommen, dass 
die Sonne von solchen Schwärmen, wie von einer 
Wolke verfinstert wird. Dr. Bechhold. 


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512 


Reh, Lästige Gäste aüs der Insektenwelt. 


schweige denn untergehen. In 12—16 Stun¬ 
den kriechen die Larven aus, direkt nach 
unten in das Wasser. Bei der vierten Häut¬ 
ung, nach etwa 7 Tagen, verpuppen sie sich. 
Die Puppe hat eine höchst abenteuerliche 
Gestalt: einen unförmlichen Vorderteil, an dem 
der übrige Körper wie ein kleiner Stiel hängt. 
Wenn das Insekt ausschlOpft, benützt es 
ersteren, der sich nun mit Luft füllt, als 
Ruhepunkt, um auf ihm seine weichen Glie¬ 
der erst zu trocknen und seine Flügel zu 
entfalten. — Die Männchen sterben sehr bald, 
ohne Nahrung zu sich genommen zu haben; 
nur die länger lebenden Weibchen sind unsere 
blutdürstigen Quälgeister. Doch beschränken 
sie sich nicht nur auf warmblütige Tiere, 
sondern saugen selbst andere Insekten aus; 
ihre eigentliche Nahrung bilden sogar Pflanzen- 
säfte. Mehrere Generationen folgen sich im 
Jahre, deren Anzahl und Entwicklungsgang 
in warmen Sommern grösser, bezw. rascher 
sind, als in kühlen. Die Weibchen der letzten 
Generation überwintern z. Th. in Kellern, 
um im nächsten Frühjahre erst ftir die Er¬ 
haltung der Art zu sorgen. — Als Schutz¬ 
mittel gegen die fertigen Insekten hat sich 
sehr gut bewährt Verbrennen von Pyrethrum- 
Pulver (Insektenpulver). Doch ist es besser, 
schon gegen die Larven den Krieg zu be¬ 
ginnen. Das beste Mittel ist das Trocken¬ 
legen von Sümpfen und anderen stillestehen-* 
den Wässern. Kleine Fische, besonders Stich¬ 
linge, räumen furchtbar unter der Brut auf. 
Wo es angeht, ist ein ebenso einfaches als 
wirksames Mittel das Ausgiessen von ein 
wenig Petroleum auf das Wasser, einige 
Gramm genügen ftlr 15 Quadratfuss Wasser 
auf einen Monat. Dadurch werden nicht nur 
die Larven und Puppen getötet, weil sie 
nicht mehr zum Atmen an die Oberfläche 
kommen können, sondern auch dieWeibchen 
vom Eierlegen abgehalten. Aus San Diego, 
Texas, wird erzählt, dass man eine durch 
die Mosquitos fast unbewohnbar gemachte 
Gegend dadurch rasch und gründlich von 
ihnen säuberte, dass man überall Windmühlen 
aufstellte und durch sie ständig die Ober¬ 
fläche aller Gewässer in Bewegung setzte. 

Hunde- und Katzenßöhe (Pulex serraticeps) 
sollen nach der landläufigen Ansicht nicht 
an den Menschen gehen. Doch behauptet 
Howard nicht nur, dass er dies thue, son¬ 
dern sogar, dass sie viel häufiger seien, als 
der Menschenfloh. Auch diese Art des Un¬ 
geziefers ist, wie die meisten, kosmopolitisch. 
— Die Eier werden in das Fell der Wirts¬ 
tiere gelegt, von wo sie zu Boden fallen. 
Hier im Kehricht entwickeln sich die Larven, 
deren Lieblingsspeise getrocknetes Blut ist, das 
ihnen, wie vielfach behauptet wird, von den 


Alten gebracht werden soll, während es höchst¬ 
wahrscheinlich nur deren Exkremente dar¬ 
stellt. Nach zwei Häutungen verpuppen sie 
sich und spinnen sich einen Cocon, aus dem 
nach etwa 5 Tagen der Floh ausschlüpft. 
Auch hier begünstigt warmes Wetter die Ent¬ 
wicklung sehr und vermehrt die Zahl der 
Generationen. — Ein durchgreifendes Mittel 
zur Vertilgung der Flöhe giebt es nicht. Alle 
Insektenpulver u. s. w., selbst Scheuern mit 
heissem Wasser haben nur teilweise Erfolg. 
Trockenhalten der Böden kann sie sehr ver¬ 
mindern. Das Beste ist ständige Beunruhig¬ 
ung der Brut durch Kehren, Ausklopfen der 
Teppiche, da sie merkwürdigerweise nur bei 
grosser Ruhe sich entwickeln können, was 
auch ihr ungeheures Überhandnehmen in 
länger leerstehenden Wohnungen, in Kasernen 
während der Manöver, u. s. w., erklärt. — Ein 
originelles Mittel zu ihrer Vertilgung wandte 
Prof. Gage von der Cornell-University an, 
indem er dem Portier eines mit Flöhen er¬ 
füllten Hauses die Beine mit Fliegenpapier 
umwickeln liess, die klebrige Seite nach aussen, 
der dann einige Stunden lang in den Gängen 
langsam auf und abgehen musste, wobei die 
Flöhe, nach ihrer Gewohnheit, an seine Beine 
sprangen und am Fliegenpapier hängen 
blieben. 

Die Bettwanze (Citnex lectularius L.) ist 
unsö-eitig mit der interessanteste- aller unserer 
Plagegeister. Durch die Jahrhunderte lange 
Domestikation, wenn man es so nennen darf, 
haben ihre geistigen Fähigkeiten einen recht 
hohen Grad erreicht, und sind sie mit den 
Gewohnheiten des Menschen so bekannt ge¬ 
worden, dass sie einerseits uns auf die raf¬ 
finierteste Art belästigen können, andererseits 
sich auch unseren raffiniertesten Nachstellun¬ 
gen zu entziehen wissen. — Auch sie sind 
fast über die ganze Erde verbreitet und fin¬ 
den sich in den Tropen so gut, als im hohen 
Norden. Ihre Übertragung kann leicht durch 
den Menschen bezw. seine Kleider stattfinden. 
Aber sie wandern auch selbst, an den Röhren 
der Wasserleitungen, den Dachrinnen und an 
den Mauern. Da sie sich ferner mit Vorliebe 
in den Nestern der Hausschwalbe, in Hühner- 
und Taubenställen, an den Schlafstätten von 
Fledermäusen u. s. w. aufhalten, sind eine 
Anzahl weiterer bequemer Verbreitungs-Mög¬ 
lichkeiten gegeben. Ein Hauptverbreitungs¬ 
mittel sind auch die Schiffe. — Sie können 
sehr lange hungern, bis i Jahr und darüber, 
auch finden sie im Kehricht ihre Nahrung, 
wenn ihnen Blut mangelt. — Ihr Stich ist 
für manche Personen unzweifelhaft giftig, 
wenn auch nur in geringem Grade, während 
Andere völlig unempfindlich dagegen sind.^ 

q Doch Lann auch für sie, wie an alle Stiche 


N 


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Reh, Lästige Gäste aus der Insektenwelt. 


513 


Ihre Eier, von denen ein Weibchen 6 — 50 
auf einmal legt, haben an einem Ende eine 
Klappe, aus der die jungen Larven auskriechen. 
Diese sind den Erwachsenen sehr ähnlich 
und wandeln sich zu ihnen unter 5 —ömaliger 
Häutung um. — Ihre Vertilgung ist sehr 
schwer, da sie auch, ihres Geruches wegen, 
den ihre über den ganzen Körper zerstreuten 
Öldrüsen ausströmen, von den meisten in¬ 
sektenfressenden Tieren verschmäht werden. 
Dagegen sind allerdings die Schaben und die 
kleinen Hausameisen ihnen recht erbitterte 
und wirksame Feinde. Insektenpulver u. s.w. 
hilft wenig gegen sie. Heisses Wasser, Be¬ 
spritzen aller Ecken und Winkel mit Benzin, 
Petroleum, Terpentinöl oder Sublimat können 
helfen, aber nur wenn wochenlang. Tag für 
Tag, mit peinlichster Sorgfalt ausgeführt. Ihr 
beliebtester Zufluchtsort, aus dem sie kaum 
zu vertreiben sind, sind die hölzernen Bett¬ 
stellen. Bedeutend besser, wenn auch nicht 
absolut schützend, sind die eisernen. Ein 
Radikalmittel gegen sie, wie gegen alle Haus¬ 
insekten, ist das Ausräuchern der Zimmer mit 
Schwefel. Doch ist das leider nicht überall 
anwendbar. — Eine noch recht unangenehme 
Eigenschaft der Wanze ist, dass sie, durch 
ihre Grösse und ihr Leben an versteckten 
Orten, noch besser, wie die meisten anderen 
Insekten, zur Übertragung von Keimen an¬ 
steckender Krankheiten geeignet sind. 

'Die Stubenfliege (Musca domestica L ) 
wird nur da lästig, wo sie in grösserer Zahl 
auftritt. Auch sie ist kosmopolitisch und folgt 
dem Menschen überall hin, wo er mit Pfer¬ 
den hinzieht. Denn in Pferdekot legen sie 
am liebsten ihre Eier, jede etwa 120 Stück. 
Ihre Entwicklungsgeschichte ist erst in letzter 
Zeit näher bekannt geworden. Unter günstigen 
Umständen kann sich in 8 Tagen eine Gene¬ 
ration entwickeln, so dass sich etwa 12 — 14 
Generationen im Laufe des Jahres folgen 
können. Besondere Mittel gegen sie giebt es 
nicht. Doch haben sie eine grosse Anzahl 
Feinde, besonders auch Pilze, denen sie oft 
in ungeheurer Zahl zum Opfer fallen. Eben¬ 
so sterben sie bei sehr trockenem Wetter zu 
Tausenden. Nichts ist geeigneter zu ihrer 
Vertreibung aus Städten, als der Ersatz der 
Pferdebahnen durch elektrische. 

Die Hausgrille (Gryllus domesticus Z..‘ 
wird besonders durch ihren eintönigen uner¬ 
müdlichen Gesang, den das Männchen durch 
Reibung einer gezähneiten Leiste der Unter- 
flügel auf einer rauhen Fläche der Ober¬ 
flügel hervorbringt, lästig. Die Gehör-Organe 
haben einen etwas absonderlichen Platz, sie 


von Insekten durch Anpassung Immunisierung er¬ 
worben werden. 


liegen nämlich an den Unterschenkeln. Nicht 
überall empfinden die Menschen diese sonder¬ 
bare Werbungsmusik als unangenehm; in 
Spanien hält man z. B. die Hausgrille in 
Käfigen, wie bei uns die Singvögel. Die 
Grille liebt die Wärme und schweigt daher 
bei kaltem Wetter und im Winter. Im Som¬ 
mer verlässt sie manchmal das Haus, um 
aber bei Beginn der kalten Jahreszeit wieder 
zurückzukehren. Oft aber bringt sie ihr ganzes 
Leben innerhalb der „4 Wände“ zu, in denen 
sie geboren wurde. Die Jungen sind den 
Alten sehr ähnlich. — Im Allgemeinen nährt 
sie sich von Abfällen, geht aber auch oft an 
Kleiderstoffe, an denen sie recht beträcht¬ 
lichen Schaden thun kann. Aber auch andere 
Insekten und selbst ihres Gleichen frisst sie. 
Wenn man sie fängt, beisst sie heftig um 
sich. Infolge ihrer Vorliebe für Getränke sind 
sie leicht zu vertilgen. In Tellern oderSchüs- 
seln mit Bier u. s. w., die man aufstellt, er¬ 
trinken sie in grossen Massen. Auch das 
Streuen von ungekochten Vegetabilien, Rüben, 
Kartoffeln u. s. w., die mit Arsenik vergiftet 
sind, ist recht wirksam. 

Die Schaben (Blatta oder Periplaneta spp.), 
auch Feuerwürmer, oder, je nach den freund¬ 
nachbarlichen Gefühlen, Preussen, Russen, 
Franzosen, Schwaben u. s. w. genannt, sind 
in unzähligen Arten über die ganze Erde 
verbreitet, wenn auch ihre Hauptheimat die 
Tropen sind. Mit den Schiffen, auf denen «ie 
oft in riesigen Massen Vorkommen, wandern 
sie von Erdteil zu Erdteil. Unsere europäische 
Schabe ist in Nordamerika schon sehr ver¬ 
breitet und hat die dort einheimische ver¬ 
drängt. Dafür macht es aber die amerikanische 
Art ebenso bei uns. Auch die australische 
hat schon ihren Siegeszug über fremde Län¬ 
der angetreten.*) So häufig die Schaben sind, 
nie findet man zwei Arten zusammen: immer 
vertilgt die neu angekommene die alte. — 
Die Vermehrung ist eine recht rasche. Jedes 
Weibchen legt 5 — 6 Kapseln, jede mit 10 — 
12 und mehr Eiern. Den Jungen erleichtern 
die Alten das Auskriechen, indem sie die 
Kapsel anfressen. Auch nachher leisten sie 
ihnen noch manche Hülfe. Die Jungen ent¬ 
wickeln sich sehr langsam. Die Schaben 
fressen Alles, ob tot oder lebendig, auch 
ihresgleichen, ihre abgeworfenen Häute, die 
leeren Eierkapseln u. s. w. — In Brasilien 
fressen sie den Schläfern die Augenbraunen 
ab und die Finger- und Zehen-Nägel an. An 


') Es ist das eine fast immer beobachtete That- 
sache, dass eine irgendwo neu eingeführte Tier¬ 
oder Pflanzenart, wenn sie überhaupt günstige Be¬ 
dingungen vorfindet, sich ungeheuer vermehrt und, 
wenn eine nahe verwandte Art oder Rasse schon 
vorhanden ist, diese verdrängt 


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514 


Reh, Lästige Gäste aus der Insektenwelt. 


Büchern, Kleidern, Stiefeln u. s. w. können | 
sie sehr grossen Schaden anrichten. Es ist ! 
schon vorgekommen, dass in Schiffen der 
ganze Vorrat an Zwieback von ihnen ver¬ 
tilgt wurde. Ausserdem beschmutzen sie Alles 
mit ihren Exkrementen und einer Flüssigkeit, 
die ihnen ständig aus dem Maule tropft, und 
teilen so Allem ihren widerlichen, kaum wie¬ 
der zu entfernenden Geruch mit. Ihr einziger, 
unter Umständen recht beträchtlicher Nutzen, 
ist, dass sie geschworene Feinde der Wanzen 
sind. — Sie sind durchaus nächtlich und sehr 
lichtscheu. Zu vertilgen sind sie recht schwer, 
da sie als alte Haustiere schon viel gelernt 
haben. Insbesondere richtet man wenig mit 
vergifteten Lockmitteln aus. Nur süsser Mehl¬ 
teig mit Phosphor kann von Wirkung sein. 
Insektenvulver hilft etwas, aber nicht viel, 
wenn gestreut. Besser wirkt es schon, wenn 
es verbrannt wird. Ebenso vertreibt sie Ver¬ 
brennen von Schiesspulver. Eine halb mit 
Bier gefüllte Schüssel, in die man ihnen den 
Zugang durch einen etwas über den Rand 
nach innen gebogenen Zeugstreifen erleichtert, 
ist eine gute Falle. Das einzige Radikalmittel 
ist Räuchern mit Schwefelkohlenstoff. — Einen 
sehr erfolgreichen natürlichen Feind haben 
sie im Laubfrosch. 

Der Zuckergast oder das Silberfischchen 
(Lepisma saccharina L.) ist ebenfalls schon 
über die ganze Erde verbreitet. Auch hier 
ist die amerikanische Art (L. domestica) gegen 
unsere umgetauscht worden. Wie die Schabe 
ist es nächtlich und lichtfeindlich. Es kann 
recht beträchtlichen Schaden anrichten durch 
Benagen von Büchern, Papier, gestärkter 
Wäsche und vegetabilischen Vorräten. Da¬ 
durch, dass es unter den Tapeten den Stärke¬ 
kleister ausfrisst, macht es sie locker. Seide 
ist ihm ein besonderer Leckerbissen. Das 
beste Mittel, da wo es anwendbar ist, ist 
Streuen von Insektenpulver, bei anderen 
Sachen, wie bei Wäsche, hilft nur fleissiges 
Nachsehen und Töten der Vorgefundenen. - 
Eine Art dieser Gattung lebt in Öfen und 
Kaminen, in einer Temperatur, die anderen 
Tieren unfehlbar tötlich sein würde. 

Auch die Bücher- oder Staublaus (Atropos 
dknnatoria Fab.) lebt besonders in Büchern 
und Papier. Das Tier ist keine Laus, sondern 
ein richtiges, allerdings sehr tief stehendes 
Insekt, nahe verwandt mit den Termiten. Es 
ist eines der kleinsten Insekten, und weil 
noch fast farblos, dem unbewaffneten Auge 
fast unsichtbar. Es ist ebenfalls in mehreren 
Arten fast über die ganze Erde verbreitet 
und frisst alles, pflanzliches und tierisches, 
besonders aber auch die Stärke an Büchern 
und Tapeten, Mehl, Zucker. Sehr grossen 
Schaden kann es an Insekten-Sammlungen 


anrichten. Mit Unrecht schreibt man ihm 
häufig Geräusche zu, ähnlich denen des Toten¬ 
klopfers. Manchmal vermehren sich diese 
Tierchen so ungeheuer, dass sie ein ganzes 
Haus überziehen können. Besonders Stroh 
(in Matratzen, in der Wandbekleidung) scheint 
solche Vermehrung zu begünstigen. Dann 
hilft nichts, als vollständiges Entfernen der 
Nahrungsquelle, gründliche Reinigung mit 
Seife, Soda, Benzin u. s. w.. Räuchern mit 
Schwefel oder Schwefelkohlenstoff. Für ge¬ 
wöhnlich genügt Insektenpulver. — Auch sie 
haben einen schlimmen natürlichen Feind in 
dem Bücherskorpion {Cheli/er cancroides L.), 
der nur meistens aus Unkenntnis selbst als 
der Verbrecher angesehen und getötet wird. 

Von der Kleidermotte (Tinea pellionella L.) 
kennen die meisten Leute nur den Schmetter¬ 
ling selbst, der an sich gänzlich unschädlich 
ist, da er nicht einmal Nahrung zu sich nehmen 
kann. Die Zerstörer der Kleidungsstücke aus 
Wolle oder Pelzwerk sind vielmehr ihre 
Raupen. Während sie fressen, spinnen sie 
sich zugleich ein Gehäuse, das sie äusserlich 
mit den zerfressenen Stoffen ausstatten. Da 
die Raupe wächst, muss sie das Gehäuse, 
das sie immer mit sich trägt, vergrössern. 
Sie thut dies, indem sie, ohne es zu verlassen, 
zuerst die eine Seite halb aufbeisst und ein 
dreieckiges Stück einsetzt, dann dasselbe auf 
der andern Seite unternimmt. Wenn sie sich 
verpuppen will, hängt sie das Gehäuse mit 
Gespinnstfaden auf. Nach drei Wochen schlüpft 
der Schmetterling aus. Interessant ist, dass 
ursprünglich diese Motte nur als Verzehrer 
allerlei trockener Abfälle sich an den Menschen 
gewöhnte und erst nach und nach lernte, Wolle 
und Pelz vorzuziehen. — Die Tiere sind sehr 
schwer fernzuhalten, am besten durch häu¬ 
figes Nachsehen, Lüften und Reinigen der 
Kleider. Mit Kampfer u. s. w. kann man 
höchstens die Motten abhalten, nicht aber die 
Eier und Larven in der Entwicklung hindern. 
Diese werden nur durch Sprengen mit Benzin 
oder mit Naphtha getötet. — Vorräte, in denen 
sie naturgemäss am gefährlichsten werden, 
verwahrt man am besten in grossen Kleider¬ 
schachteln, deren Deckelrand man mit ge- 
theertem Papier, das überhaupt als Verpack¬ 
ungsmittel grossen Schutz gewährt, überklebt. 
Das beste Schutzmittel ist aber Kälte, daher 
sich in allen grösseren Städten Nordamerikas 
Gesellschaften gebildet haben, die den Sommer 
über Winterkleider gegen eine entsprechende 
Vergütung in kalten Räumen (4® C.) ver¬ 
wahren. 

Die Kabinet- und Pelzkäfer (Anthrenus spp. 
und Attagenus spp.) sind kleine schwarze 
Käfer, von denen der erstere erst im Herbste 
I auskriecht und überwintert, um im Frühjahre 


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Reh, Lästige Gäste aus der Insektenwelt. 


515 


Kier zu legen, der letztere schon im Mai oder 
Anfangs Juni fliegt. Auch bei ihnen sind es 
voi-wiegend die kleinen braunen, steifhaarigen, 
hinten mit einem langen Haarschopfe ver¬ 
sehenen Larven, die den Schaden anrichten. 
Sie fressen in Kleidern, besonders in wolle¬ 
nen, in Teppichen, Federn, gehen aber auch 
an Mehl und anderes Getreide. In Samm¬ 
lungen können sie ebenfalls grosse Verheer¬ 
ungen anrichten. Auch gegen sie sind häufiges 
Lüften und Klopfen die sichersten Vorbeuge¬ 
mittel. Spritzen mit Benzin oder Petroleum, 
besonders auch in alle Ecken, tötet die Larven. 
Die Teppiche schützt man am besten gegen 
sie, wenn man sie mit getheerter Dachpappe 
unterlegt, oder, wo sie den ganzen Boden 
bedecken, wenigstens die Ecken und Kanten 
damit auslegt, und sie öfters lüftet. Die 
Larven kann man auch, wenn man weiss, wo sie 
sitzen, töten, indem man auf den betr. Stellen 
ein nasses Tuch ausbOgelt, dessen Dampf sie 
verbrüht. 

Der Speckkäfer (Dernicstes lardarirs L.', 
ein naher Verwandter der vorigen, hat eine 
ähnliche Lebensweise, leitet aber schon über 
zu den Insekten, die die Feinde unserer Ess¬ 
vorräte sind. Auch seine Larve frisst Federn 
und Pelzwerk, nie aber Wolle, dagegen umso 
lieber an Fleisch-Vorräten, besonders in Mu¬ 
seen an ausgestopften Tieren oder an Schinken. 
Selten verzehrt sie dabei das Fleisch selbst. 
Sie bleibt mehr an der Oberfläche, im Fett 
und Bindegewebe. Erst wenn sie sich ver¬ 
puppen will, frisst sie sich ins Innere. — 
Etwa im Mai oder Juni legen die Käfer die 
Eier, in die zukünftige Nahrung, oder in 
Spalten und Risse. In etwa 6 Wochen ist 
die Entwicklung vollendet, wenn Nahrung und 
Wärme reichlich vorhanden sind, so dass 
sich also 4- 5 Generationen im Jahre folgen 
können. Ist ein Stück von ihnen infiziert, so 
muss es ausgeschnitten und die Schnittfläche 
mit verdünnter Karbolsäure-Lösung abge¬ 
waschen werden. Wo anwendbar, ist Über¬ 
ziehen mit Unschlitt (Talg) ein sehr wirk¬ 
sames Schutzmittel. Mit einem ausgelegten 
Stück Käse kann man sie leicht fangen, um 
sie dann zu töten. Aus einem Lagerraum 
kann man sie nur entfernen durch sorgfältige 
Reinigung, Räuchern mit Schwefelkohlenstoff 
oder Sprengen mit Benzin. Das sicherste 
Schutzmittel gegen sie, wie alle nächstfolgen¬ 
den ist das Verhängen der Fenster mit Gaze. 
— In Frankreich hat der Speckkäfer der 
Seidenraupenzucht grossen Schaden gethan, 
indem er seine Eier in die Schmetterlinge 
legte, so dass die auskriechenden Larven 
erst diese und dann ihre Eier frassen. — 
Ein Verwandter von ihm, D. bicolor, ist 
schon aufTaubenschlägen dadurch sehr schäd¬ 


lich geworden, dass er die jungen Tauben 
anfrass und so tötete. 

Die Käsefliege (Piophila casei L.) ist in 
ihrer Larvenform wohl allgemein bekannt, in 
den Käse- oder Springmaden, die den Käse 
„lebendig“ machen. Doch befällt sie auch 
Rauchfleisch, Schinken u. s. w. Das fertige 
Insekt ist eine kleine glänzend schwarze 
Fliege. Sie legt ihre Eier in Häufchen zu 
5 — 10 in die betr. Stoffe. Nach 36 Stunden 
kriecht die Larve aus, die nach 7 — 8 Tagen 
sich einen trockenen Ort zur Verpuppung auf¬ 
sucht. Nach weiteren ro Tagen schlüpft die 
Fliege aus. So können sich in einem Sommer 
2 — 3 Generationen folgen. Die letzte Über¬ 
wintert als Puppe. — Häufiges Nachsehen, 
Ausschneiden der infizierten Stücke, beson¬ 
ders aber Bedecken mit Netzen u. s. w. sind 
die wirksamsten Mittel gegen sie. 

Die Käse- oder Mehlmilbe (Tyroglyphus 
longior L. und siro Gerv.) sind ebenfalls 
schlimme Feinde unserer Käse-, Schinken- 
u. s. w. Vorräte, von denen schon Aristoteles 
als von den kleinsten aller Tiere sprach. Sie 
sind, wie auch die vorige, dem Menschen 
über die ganze Erde gefolgt. Überall in 
feuchten, besonders faulenden Sachen finden 
sie sich, oft in ungeheuren Massen. So be¬ 
deckten in Ohio in einem Lagerhause diese 
Tierchen sämtliche Vorräte in einer ^ Zoll 
dicken Lage, von der ein Quadratzoll unge¬ 
fähr 100,000 Individuen enthielt. — Sie 
können sehr lange hungern, und die mittleren 
Alters sich sogar in eine selbstgefertigte harte 
Umhüllung zurückziehen. So liegen sie und 
warten, bis irgend ein Tier, eine Maus, eine 
Stubenfliege oder Ähnliches in ihre Nähe 
kommt, an das sie sich sofort festklammern, 
um sich zu neuen Vorräten tragen zu lassen. 
— Nur äusserste Vorsicht hilft gegen sie, 
vor Allem häufiges Nachsehen und Vertilg¬ 
ung aller infizierten Stücke, Haben sie Besitz 
von einem Raum ergriffen, so muss er gründ¬ 
lich gereinigt, mit Schwefel ausgeräuchert 
und mit Petroleum gewaschen werden. — ln 
einer Anzahl anderer Milben haben sie na¬ 
türliche Feinde, die oft schon allein ihre Ver¬ 
tilgung herbeiführen. 

Unsere Mehh, Getreide-, Samen- u. s. w. 
Vorräte haben eine ganze Anzahl Feinde, 
Käjer, Motten und Milben, die alle hier an¬ 
zuführen zu viel Raum beanspruchen würde, 
trotzdem sie manches Interessante bieten. So 
vermögen einige selbst den Droguen-Vorräten 
erheblichen Schaden zu thun, und der Brot- 
käfer (Sitodrepa panicea) frisst sogar roten 
Pfeffer, andere Tabak u. s. w. — Welchen 
Umfang unter Umständen der durch sie ver¬ 
ursachte Schaden annehmen kann, ist daraus 
zu ersehen, dass der gewöhnliche Mehlkäfer 


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Müsebeck, Geschichtsschreibung im vergangenen Jahre. 


516 


(Triboliutn confusutn Duv.) in den Vereinigten 
Staaten von Nordamerika allein in einem 
Jahre den Müllern einen Schaden von 100,000 
Dollar zugefügt hat. — Gegen sie alle kämpft 
man mit denselben Mitteln: Verhängen der 
gefährdeten Stoffe, Aufbewahren in dichten 
Behältern in kühlen trockenen Räumen, Töten 
der Larven, wo es angeht (in Mehl z. B.) 
durch Erhitzen der Vorräte auf 50 — 65® C., 
Räuchern mit Schwefelkohlenstoff, das nur in 
geringem Massstabe nötig ist, da die Larven 
alle an der Oberfläche leben. Das Gas ver¬ 
flüchtigt sich nachher wieder sehr leicht, so 
dass dies Mittel unschädlich für die Vor¬ 
räte ist. 

Die Larven der IVein- oder Essigßiegen 
(Drosophila spp.), kleine weisse, schlanke Tier¬ 
chen, leben in süssen und eingemachten 
Früchten, besonders Trauben, die der Essig¬ 
fliege (D. cellaris) auch in gährenden Flüssig¬ 
keiten in Kellern, in Wein, Cider, Essig, Bier, 
alten Kartoffeln u. s. w., meist an der Ober¬ 
fläche, daher man, um sie zu vertilgen, nur 
diese wegzunehmen hat. Sie entwickeln sich 
sehr rasch, in etwa 20 Tagen, wobei auch 
das Puppen-Stadium in der betr, Flüssigkeit 
durchgemacht wird. Verhängen der Fenster 
hindert die Fliegen am Eindringen, Insekten¬ 
pulver verjagt sie. 

Die Haus-Ameisen (Monomorium und Te- 
tramorium) sind eigentlich nur lästig durch 
ihre Vorliebe für Süssigkeiten, in denen sie 
öfters ertrinken. Sie nützen aber auch sehr 
durch Vertilgung der Wanzen und anderer 
Plagen. Sie sind leicht mit einem mit Zucker¬ 
wasser getränkten Schwamm zu fangen, den 
man, wenn er dicht besetzt ist, in heisses 
Wasser wirft. Eine Lösung von Zucker und 
Borax (in heissem Wasser) soll ein gutes 
Gift sein. Völlige Vertilgung ist nur zu er¬ 
reichen durch Zerstören des Nestes durch 
Eingiessen von Schwefelkohlenstoff, Petroleum 
oder kochendem Wasser in die Eingänge. 


% 

Die Geschichtsschreibung im vergangenen 
Jahre. 

(Januar 1896 bis April 1897.) 

Von Dr. Ernst MCsebeck. 

1 . Das Altertum. 

Aller Fortschritt der historischen Wissen¬ 
schaft beruht auf der strengsten, eingehendsten 
Einzelforschung; nur von Zeit zu Zeit können 
Versuche gemacht werden, diese Einzelforsch¬ 
ungen zu einem grossen Gesamtbilde zusam¬ 
menzufassen und sie mit neuen Ideen zu 
durchdringen. 

Das Jahr 1896 hat keine grosse epoche¬ 


machende Leistung auf dem Gebiete dei 
Geschichte des Altertums aufzuweisen, wohl 
aber ist die Detailforschung in einer Reihe 
von Punkten wesentlich gefördert worden. 
„ Die Entwicklung der antiken Geschichts¬ 
schreibung" von Hesiod und Homer an bis 
zu den Memoiren und Tendenzgeschichten 
wird von O. S 0 e c k in einem Aufsatze der 
„Deutschen Rundschau“ behandelt [Juli- und 
Augustheft], der aus einer Reihe von Vor¬ 
trägen hervorgegangen ist. Wer sich kurz 
über die Ereignisse der griechischen und 
römischen Geschichte orientieren will, der sei 
hingewiesen auf die 2. Auflage des im Hand¬ 
buch der klassischen Altertumswissenschaft 
von Pöhlmann und Niese erschienenen 
„ Grundriss der griechischen und römischen 
Geschichte nebst Quellenkunde". Beide sind 
erheblich vergrössert worden, doch haftet 
beiden der gleiche Mangel an: es fehlt das 
Eingehen auf wirtschaftliche Fragen, obgleich 
gerade jener in seinem kurz vorher erschie¬ 
nenen Werke: „Aus Altertum und Gegenwart" 
schlagend den Nachweis geführt hatte, dass 
nur auf Grund eingehender Beschäftigung mit 
der wirtschaftlichen und sozialen Seite des 
antiken Lebens zu einem vollen Verständnis 
der griechischen und römischen Geschichte 
zu gelangen sei. Aber nicht die wirt¬ 
schaftliche Entwickelung allein beherrscht die 
Umwandlung der Kultur und ihren Fortschritt; 
über ihr steht die geistige Entwickelung) in 
sie fühii uns das glänzende Werk von A. 
Stauffer: „Zwölf Gestalten der Glanzzeit 
Athens". An der Hand der hervorragenden 
Persönlichkeiten giebt uns der Verfasser eine 
Darstellung der attischen Kultur in der Zeit 
von dem Aufschwung Athens nach den Per¬ 
serkriegen bis zum Ende des peloponnesischen 
Krieges und dem Tode des Sokrates. Er 
sucht die athenische Bildung im 5. Jahrh. in 
ihrem Zusammenhang mit der älteren Kultur¬ 
entwicklung und in ihrem mächtigen Einflüsse 
auf die gesamte Folgezeit bis zur Gegenwart 
klar zu stellen. Von neuem wird uns vor Augen 
geführt, dass Athen das vielseitigste und lebens¬ 
vollste griechische Gemeinwesen war. 

Aus der römischen Geschichte sei wenig¬ 
stens eine von den zusammenhängenden 
Darstellungen erwähnt, die Arbeit von Gardt- 
hausen über „Augustus und seine Zeit‘\ 
Band 2, die sich an einen grösseren Leser¬ 
kreis wendet und mit vielem Glück sorgfältige 
Quellenforschung mit einer guten, lesbaren 
Darstellung verbindet. 

Aus der zahllosen Menge der Einzelforsch¬ 
ungen ist es nur möglich, eine kleine An¬ 
zahl von Schriften hervorzuheben, die eine 
bedeutende Förderung unserer Kenntnis be¬ 
zeichnen. Ein Aufsatz von G. Busolt in 


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Russner, Stromsammler oder Akkumülatoren. 


517 


der Deutschen Rundschau führt uns in 
älteste Kulturepoche Griechenlands'') auf das 
evidenteste ist dargethan, dass die mykenische 
Kultur durchaus in der Kultur des Orients, 
speziell der nordsyrischen wurzele, und dass 
sie nicht etwa eine hellenische war. 

Aus der römischen Geschichte seien zwei 
Aufsätze erwähnt, die uns Aufklärung über 
wichtige Einzelfragen geben. Zunächst er¬ 
örtert W. Soltau die „Wie gelang 

es Rom J40 — 290 v. Chr. Italien zu unter- 
werfen ?" [Vortrag bei der PhilologenveKamm- 
lung in Köln, gedruckt in den neuen Jahr¬ 
büchern für Philologie]. Die innere Organi¬ 
sation der römischen Republik und ihre äussere 
Politik, die auf die Vorherrschaft in Italien 
gerichtet ist, werden uns vor Augen geführt. 
Einen Beitrag zur Geschichte Hannibals liefert 
Osiander in seinem Aufsatz: „Kleiner Bern¬ 
hard oder Mont Cenis?' [Neues Korrespon¬ 
denzblatt für die Gelehrten und Realschulen 
Württembergs]. Der Verfasser tritt für den 
Übergang über den Mont Cenis ein; er sucht 
diese Hypothese zunächst dadurch zu be¬ 
gründen, dass er die Bernhard-Hypothese einer 
eingehenden Kritik und Widerlegung unter¬ 
zieht; ein positiver Teil der Untersuchung 
wird in Aussicht gestellt. 

Zum Mittelalter hinüber führt uns L. A. 
Bernouilli's Habilitationsschrift: „ Das 

Konzil von Nicäa". Konstantins Verhalten 
gegen die beiden streitenden Parteien des 
Arius und Athanasius wird nur durch die 
Politik geleitet. Die Religion und ihre Wahr¬ 
heiten kommen dabei nicht in Frage. Anfangs 
für Arius eingenommen, geht er sofort zu 
den Athanasianern über, sowie er erkannt 
hat, dass sie die stärkere Partei und die 
Kirche der Zukunft seien, von der allein er 
Unterstützung erlangen konnte. 

Fortsetzung folgt. 


Stromsammler oder Akkumulatoren. 

Von Dr. JoH. Russner. 

Der Akkumulator ist ein Energiesammler, in 
welchem die von einem elektrischen Strome gelie¬ 
ferte Energie aufgespeichert und bei der Entladung 
wieder als Strom frei wird. Man kann besonders die 
Energie schwacher Elektrizitätsquellen ansammeln 
und zur geeigneten Zeit starke Ströme entnehmen. 
Natürlich wird in diesem Falle die Ladung lange Zeit, 
die Entladung nur kurze Zeit dauern. Es ist vor¬ 
geschlagen worden, die Kraft des Windes zu be¬ 
nutzen, um elektrische Maschinen zu treiben. Diese 
Kraftquelle hat den Vorzug, überall vorhanden zu 
sein imd wenig zu kosten; allein sie wechselt sehr 
an Stärke. Es ist daher nur dann eine Benutzung 
der Windmühle für Stromerzeugung zur Beleucht¬ 
ung und anderen technischen Zwecken möglich, 
wenn man den veränderlichen Strom der Maschine 


in Akkumulatoren sammelt. Auch bei Wasserläu- 
fen von geringer Kraft kann eine Nuubarmachung 
für starke Ströme nur dadurch erzielt werden, dass 
man ein Wasserrad oder eine Turbine dauernd 
laufen lässt, und den Strom der kleinen elektrischen 
Maschine in Akkumulatoren ansammelt. 

Es ist dies ein Gebiet, welches erst in jüngster 
Zeit von der Technik in Angriff genommen ist, 
und wenn gegenwärtig das grösste Interesse der 
Kraftübertragung grosser Wasserkräfte auf weite 
Entfernungen hin zugewandt ist, so ist doch ein 
mindestens gleichwichtiges Feld der Thätigkeit in 
der Ausnutzung schwacher Wasserkräfte, welches 
nur mit Hilfe von Akkumulatoren möglich sein wird. 

In ausgedehntem Massstabe finden die bisher 
fabrizierten Akkumulatoren Verwendung bei elek¬ 
trischen Lichtanlagen. Dieselben bilden eine Re¬ 
serve und treten in Wirksamkeit, wenn der Strom 
der elektrischen Maschinen nicht mehr zulangt oder 
die Maschinen still stehen. Wird der Strom von 
den Maschinen nicht ganz gebraucht, so werden 
die Akkumulatoren mit dem Überschuss geladen, 
die überschüssige Elektrizität angesammelt. Hier, 
wo die Akkumulatoren keinen Erschütterungen aus¬ 
gesetzt sind, ist ihre Lebensdauer eine ziemlich 
bedeutende. 

Jedermann giebt zu, dass der ideal schönste Be¬ 
trieb von Strassenbahnen, derjenige mit Akkumu¬ 
latoren wäre, da jeder Wagen seine Betriebskraft 
selbstständig mit sich führte. Zu dieser Verwend¬ 
ung werden aber an die Haltbarkeit der Akkumu¬ 
latoren die grössten Ansprüche gestellt, weil die¬ 
selben starken Erschütterungen ausgesetzt sind und 
hierbei die wirksame Masse, das Bleisuperoxyd, 
abbröckelt. In Deutschland gab es bisher nur eine 
Strassenbahn, und zwar die in Hagen, welche 
reinen Akkumulatorenbetrieb besitzt. In neuester 
Zeit ist auch eine kurze Strecke in Frankfurt a M. er¬ 
öffnet worden. Die Zukunft wird zeigen, ob der 
zu besprechende Gülcher-Akkumulator sich bewährt, 
was für den Strassenbahnbetrieb in Gressstädten 
von grosser Wichtigkeit ist. 

Das Prinzip desAkkumulators ergiebt sich aus nach¬ 
stehender Darstellung: Taucht man zwei verschie¬ 
dene Metalle in verdünnte Schwefelsäure, so werden 
die hervorragenden Enden, welche man Pole nennt, 
verschieden elektrisch. Verbindet man jetzt diese 
beiden Pole durch einen Draht, so fliesst ein elek¬ 
trischer Strom durch den Verbindungsdraht. Statt 
dem einen Metall kann man auch zu prismatischen 
oder cylinderfbrmigen Stücken geformten Koks 
nehmen, welchen man in der Elektrotechnik 
Kohle nennt. Nimmt man zu diesem Versuche zwei 
ganz gleiche Metalle, so werden beide in einer Flüs¬ 
sigkeit gleichartig elektrisch und man erhält keinen 
elektrischen Strom. 

Geht durch Wasser ein elektrischer Strom, so 
wird dasselbe in seine chemischen Bestandteile, 
Sauerstoff und Wasserstoff, zerlegt. Während nun 
der Sauerstoff sich mit dem Metall zu einem neuen 
Körper verbindet, dasselbe oxydiert, setzt sich der 
Wasserstoff nur in feinen Bläschen an dem Metall 
fest. Durch die Berührung dieses Metalles mit dem 
Wasserstoff entsteht nun ein dem ursprünglichen 
Strom entgegengesetzter, wodurch der erste Strom 
geschwächt oder ganz aufgehoben wird. Man nennt 


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5i8 


Russner, Stromsammler oder Akkumulatoren. 


diese Erscheinung Polarisation, und den neu ent¬ 
stehenden Strom Polarisationsstrom. 

Durch Anwendung von zwei verschiedenen 
Flüssigkeiten ist es möglich, das Auftreten dieses 
Polarisationsstromes zu vermeiden, und man nennt 
dann diese Elektrizitätserzeuger konstante Elemente, 
wie solche zur Telegraphie notwendig sind. Aus¬ 
ser durch Verwendung von zwei Flüssigkeiten, 
kann das Metall oder die Kohle, wo der Wasser¬ 
stoff auftritt, mit Braunstein umgeben werden, mit 
welchem der Wasserstoff sich verbindet. Da diese 
Verbindung nur langsam vor sich geht, so darf 
man ein solches Element nur von Zeit zu Zeit be¬ 
nutzen, und es werden deshalb solche Elemente 
für Haus-Telegraphie und für das Femsprechwesen 
verwendet. Die konstanten Elemente nennt man 
auch primäre Elemente, weil man aus denselben 
unmittelbar elektrischen Strom erhält. 

Jetzt stellen wir in verdünnte Schwefelsäure 
zwei Bleiplatten und leiten elektrischen Strom von 
einer Blejplatte durch die Flüssigkeit zur zweiten 
und von da zurück zur Stromquelle. Da jetzt durch 
die Flüssigkeit Elekü'izität fliesst, wird das Wasser 
wieder in Wasserstoff und Sauerstoff zerlegt. Der 
Sauerstoff tritt an der ersten, der Wasserstoff an 
der zweiten Bleiplatte auf. Der Sauerstoff ver¬ 
bindet sich mit dem Blei, es bildet sich schliesslich 
Bleisuperoxyd. 

Nun unterbrechen wir den primären Strom. In 
der verdünnten Schwefelsäure steht jetzt eine Blei¬ 
platte mit Wasserstoff bedeckt, und eine zweite 
Bleiplatte, welche an ihrer Obei^äche in Bleisuper¬ 
oxyd verwandelt ist. Mit der Flüssigkeit sind nun 
zwei verschiedene Körper in Berührung, Blei-und 
Bleisuperoxyd. Verbindet man jetzt die aus der 
verdünnten Schwefelsäure hervorragenden Enden 
durch einen Draht, so entsteht binnen kurzem ein^ 
starker elektrischer Strom. Diese Vorrichtung 
nennt man jetzt ein sekundäres Element, oder weil 
man die zuerst hineingeleitete Elektrizität wieder 
erhält und somit angesammelt hatte, Stromsammler 
oder Akkumulator. 

An der Bleiplatte, welche an ihrer Oberfläche 
in Bkisuperoxyd verwandelt wurde, entwickelt der 
sekundäre Strom Wasserstoff und an der reinen 
Bleiplatte Sauerstoff. Der Wasserstoff verbindet 
sich mit dem Bleisuperoxyd und verwandelt das¬ 
selbe in Bleioxyd; der Sauerstoff verbindet sich 
mit dem Blei und es entsteht aus demselben auch 
Bleioxyd. Der sekundäre Strom kann daher auch 
nur so lange dauern, bis alles Bleisuperoxyd sich 
im Bleioxyd verw’andelt hat, da dann beide Blei¬ 
platten an ihrer Oberfläche wieder gleich beschaf¬ 
fen sind. Will man aus diesem Element wieder Strom 
entnehmen, so muss man von Neuem Elektrizität hin¬ 
einleiten. Der Wasserstoff, welcher jetzt wieder 
auftritt, verwandelt das Bleioxyd der zweiten Blei¬ 
platte in Blei und der Sauerstoff an der ersten 
Platte das Bleioxyd zu Bleisuperoxyd. Nun ist das 
Element wieder geladen und man kann zu einer 
beliebigen Zeit Strom aus demselben entnehmen. 

Durch oft wiederholtes, abwechselndes Laden 
und Entladen, wird die Bleioberfläche mehr aufge¬ 
lockert und die Menge des Superoxydes vergrös- 
sert, was dann eine grössere Aufnahmefähigkeit 
des sekundären Elementes und eine grössere Dauer 


seines sekundären Stromes zur Folge hat. Man 
nennt dieses Herrichten des Elementes das For¬ 
mieren desselben. Der Erfinder dieses Stromsamm¬ 
lers ist Plante. Der französische Ingenieur Faure 
kam dann auf den glücklichen Gedanken, die sog. 
Formierung dieser Elemente zu beschleunigen und 
die Aufnahmefähigkeit derselben zu erhöhen, indem 
er die Bleiplatten von vornherein mit einer Schicht 
von Mennige überkleidete. Dieser rote Farbstoff 
besteht aus Bleioxyd und Bleisuperoxyd. Es bildet 
sich dann beim Hindurchleiten eines primären Stro¬ 
mes an der Eintrittsstelle eine grössere Menge von 
Bleisuperoxyd, an der Austrittsstelle eine sehr po¬ 
röse Masse von Blei mit grosser wirksamer Ober¬ 
fläche. 

Das Faure’sche Element ist seither vielfach ab¬ 
geändert worden, ohne dass das Prinzip desselben 
verlassen worden wäre. Es handelte sich immer 
darum, die Oberfläche der Platten zu vergrössem 
und die Kruste von Bleisuperoxyd, welche sich leicht 
losblättert, haltbarer zu befestigen. Man erreichte 
diese Zwecke bis zu einem gewissen Grade durch 
gitterartige Durchlöcherung oder geriffelte Ober¬ 
flächen der Bleiplatten; in den Löchern und Riffeln 
findet die Mennige grösseren Halt, als an ebenen 
Flächen. 

Ein ganz eigenartiges Verfahren, das Bleisuper¬ 
oxyd zu befestigen und möglichst fest zu halten, 
hat Gülcher in Berlin eingeschlagen. Derselbe 
stellt ein Gewebe her, bei welchem die Kette aus 
Bleidrähten und der Schuss aus äusserst feiner und 



Der Gülcher Akkumulator, 


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Betrachtungen und kleine Mitteilungen. 


519 


elastischer Glaswolle besteht. Das Gewebe wird 
auf Webstühlen von besonderer Konstruktion durch 
einfachen Tuchbund in der Breite der Platten und 
in beliebiger Länge hergestellt und dann in Teile 
von der Länge der Platten zerschnitten. Die En¬ 
den der Bleidrähte werden blossgelegt und die Platte 
in eine Giessform eingelegt, in welcher geschmol¬ 
zenes Blei um die freistehenden Bleidrahtenden 
und um die beiden Seitenkanten des Gewebes 
rahmenartig herumgegossen wird. 

Diese so hergestellten Platten kommen nun in 
eine konzentrierte Lösung von essigsaurem Blei, 
und nachdem dieselben vollkommen mit dieser Flüs¬ 
sigkeit getränkt sind, in ein Bad von verdünnter 
Schwefelsäure. Hierbei wird auf und zwischen 
den Glasfäden schwefelsaures Blei niederge¬ 
schlagen und in einer Kochsalzlösung verwandelt 
sich dann alles schwefelsaure Bleioxyd, je nach der 
Dicke des Stoffes innerhalb eines oder mehrerer 
Tage in Bleischwamm, welcher in äusserst fein ver¬ 
teiltem Zustande an den Fäden sehr fest haftet. 
Die Platten sind Jetzt zur Formierung gebrauchs¬ 
fertig und werden in die Glasgefässe mit verdünn¬ 
ter Schwefelsäure eingehängt. Damit die einge¬ 
hängten Platten sich nicht berühren, wird jede mit 
Glaswolle umwickelt, wodurch auch eine elastische 
Lagerung der Platten gegeneinander erzielt wird. 
In ein Glasgefäss oder in eine Zelle werden nicht 
nur zwei, sondern mehrere Platten eingehängt und 
je die Hälfte untereinander verbunden, so dass dann 
die vielen kleinen Platten wie zwei sehr grosse 
wirken. 

Ein solcher Akkumulator wurde in jüngster 
Zeit VOQ Professor Peuckert in Braunschweig 
einer ausführlichen Prüfung unterworfen. Nach 
Angabe- der Gülcher-Akkumulatorenfabrik in Berlin, 
soll der stärkste Lade- und Entladestrom 7,5 
Ampere nicht übersteigen. Es wurden zunächst 
eine Reihe gewöhnlicher Ladungen und Entladungen 
ausgeföhrt, dann aber auch mit aussergewöhnlichen 
Stromstärken Versuche gemacht, um die Wider¬ 
standsfähigkeit gegen ungewöhnliche Beanspruch¬ 
ung zu erproben. Bei den letzteren Versuchen 
wurde die vorgeschriebene höchste Stromstärke 
um den sechsfachen Betrag überschritten, ohne den 
guten Zustand des Akkumulators irgendwie zu be¬ 
einflussen, so dass dieser bei der normalen Behand¬ 
lung immer wieder dieselbe Aufnahmefähigkeit für 
Elektrizität besass, und weder ein Abfallen der 
Masse noch irgend eine Deformation der Platten 
eingetreten war. 

Aus der Vergleichung dieses Akkumulators mit 
anderen geht hervor, dass die Gülcher’sche Kon¬ 
struktion der Platten und die Anordnung derselben 
in der Zelle das Gewicht dieser sehr günstig be¬ 
einflusst, so dass auf diese Weise eine bedeutend 
grössere Elcktrizitätsmenge pro Gewichtseinheit an¬ 
gesammelt werden kann. Dieser Umstand wird 
namentlich für transportable Akkumulatoren eine 
hervorragende Bedeutung haben, und dies um so 
mehr, als die ganze Konstruktion eine Gewähr da¬ 
für zu bieten scheint, dass durch Stösse oder an¬ 
dere mechanische Ursachen eine Beschädigung die¬ 
ser Akkumulatoren nicht leicht eintreten kann. 

Die Konstruktion eines dauerhaften Akkumula¬ 
tors ist ausserordentlich wichtig aber auch äusserst 


schwierig. Bei der grossen Zahl der Mitarbeiter 
ist aber zu erwarten, dass auch hier, wie auf an¬ 
deren Gebieten der Elektrotechnik, mit der Zeit ein 
befriedigendes Resultat erzielt wird. 

- Da man aus den primären Elementen direkt 
Strom erhält, so entsteht die Frage, warum man 
denn eigentlich sekundäre Elemente in Verwendung 
nimmt. Die Antwort hierauf lautet: Die Kosten 
des elektrischen Stromes aus den primären Ele¬ 
menten sind bedeutend grösser als aus Akkumula¬ 
toren, wenn dieselben mit dem Strom elektrischer 
Maschinen geladen werden, ln fast allen primären 
Elementen kommt Zink und verdünnte Schwefel¬ 
säure zur Anwendung, durch die chemischen Vor¬ 
gänge bildet sich schwefelsaures Zink und Zink 
und Schwefelsäure werden somit verbraucht und 
müssen immer wieder von Zeit zu Zeit erneuert 
werden. In den Akkumulatoren ist nur das Was¬ 
ser zu ersetzen, das durch Verdunstung aus der 
verdünnten Schwefelsäure verloren geht. Wenn 
die wirksame Masse, das Bleisuperoxyd, von den 
Bleiplatten nicht abbröckelte, so würden die Akku¬ 
mulatoren eine unbegrenzte Dauer haben. 

Die Elektrizitätsmenge, welche man in die Ak¬ 
kumulatoren hineinleitet, erhält man nicht ganz 
wieder, weil ein Teil bei der Ladung und ein an¬ 
derer Teil bei der Entladung sich in Wärme ver¬ 
wandelt; im günstigsten Falle erhält man 90 pCt. 
von der aufgewendeten Elektrizität. 


Betrachtungen und kleine Mitteilungen. 

* Die Entdeckung Nordamerikas im Sommer 
des Jahres 1497 wurde dem tapferen Genuesen 
Giovanni Caboto, der durch seine Fahrten Eng¬ 
lands Ansprüche auf Nordamerika begründete, von 
König Heinrich VII. von England mit 10 Pfund 
Sterbng (M. 200) gelohnt. In den Rechnungen des 
Königs findet sich unter dem 10. August 1497 eine 
Eintragung: „To hym that founde the new isle, 
L 10". Interessant ist an der Notiz, dass der Kassen¬ 
verwalter den Namen dessen, „der die neuen Inseln 
gefunden hat“, nicht für wesentlich genug hielt, ihn 
mit einzutragen. Von dem Entdecker sind eigene 
Aufzeichnungen nicht erhalten; was über seine 
Fahrten bekannt geworden ist, findet sich in den 
Berichten der fremden Gesandten und Agenten. 
Caboto, der durch Handelsverbindungen nach Bristol 
in England gekommen war und dort eine zweite 
Heimat gefunden hatte, wollte beweisen, dass man 
von England auf westlicher, etwas nordwestlicher 
Fahrt sehr bald die OstkOste Asiens erreichen 
könnte. Er segelte im Mai 1497 mit vier Schiffen, 
begleitet von seinem Sohne Sebastian ab, entdeckte 
Ende Juni das amerikanische Festland und nahm 
es für England in Besitz. Auf einer zweiten Fahrt 
landete er vermutlich auf Neufundland und folgte 
der Ostküste des Kontinents bis vielleicht nach 
Florida. Das Datum und auch der Ort der ersten 
Landung Cabotos ist nicht genau bekannt, wahr¬ 
scheinlich stieg er am 2t. Juni an der Küste von 
Labrador, etwa unter 56—57“ nördl. Breite ans 
Land. Jedenfalls steht aber fest, dass er das Fest¬ 
land der neuen Welt eher gesehen hat als Columbus. 
Als Entdecker gebührt ihm unbedingt die zweite 
Stelle hinter seinem grossen Landsmanne. 


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Betrachtungen und kleine Mitteilungen. 


530 


* Neue Verwendung der Elektrizität im Eisen¬ 
bahnwesen. Auf kleinen Eisenbahnstationen wer* 
den die Weichen und die Signale für Einfahrt und 
Ausfahrt mit der Hand gestellt. Auf grösseren 
Bahnhöfen bewirkt man diese Arbeit von einer hoch 
gelegenen Zentrale aus, mit Anwendung von Hebeln 
und Gestängen, welche von hier aus zu den ver¬ 
schiedenen Weichen und Signalen gehen. Solche 
Zentralen sind nicht einfach, die Anlage deshalb 
auch mcht billig und zur Ausführung einer Bewe¬ 
gung ist ein ziemlich grosser Kraftaufwand erfor¬ 
derlich. ln der letzten Zeit ist es der Firma 
Siemens & Halske gelungen, die Elektrizität 
auch für den Betrieb und die Überwachung von 
Weichen- und Signalstellanlagen zu benutzen. Zu 
jeder Weiche und zu jedem Signal kommt zu diesem 
Zweck eine kleine elektrische Maschine, welche das 
Umstellen bewirkt. Diese Maschine befindet sich 


gegen froher eine grössere, Es sind bereits mehrere 
.solcher Anlagen längere Zeit im Betriebe und haben 
sich vorzüglich bewährt j während eine Anzahl 
weiterer Anlagen zur Zeit im Bau begriffen sind, 
von denen die fast vollendete Anlage auf dem 
Güterbahnhofe UntertOrkheim bei Stuttgart 130 
Weichen und 39 Signale umfasst Als Elektrizitäts- 
quelle verwendet man zweckmässig eine Akkumu- 
latoren-Batterie. Nimmt man an, dass eine Weiche 
täglich 200 mal umgestellt würde, so wäre der 
Stromverbrauch hierbei gleich dem einer 16 kerzigen 
Glühlampe für 3*/* Stunden Brennzeit r. 


Ein „Hör“-Telephon für Taubstumme. Ein 
schottischer Physiker, J. G. Mc. Kendrick, hat 
beobachtet, dass elektrische Ströme nach Art der¬ 
jenigen, welche die Telephonplatte in Schwingun- 



Elektrische Weiche von Siemens & Halske. 


in einem gusseisernen Gehäuse und ist auf diese 
Weise vor Regen und Schnee geschützt*) Von 
der Zentrale führen zu jeder dieser Maschinen zwei 
Drahtleitungen unterirdisch. Sendet man Strom 
durch die eine Leitung, so bewegt sich die Ma¬ 
schine vorwärts und im andern Fall rückwärts. 
Durch die elektrische Maschine wird eine Schraube 
in Bewegung gesetzt, die wieder mit der Weiche 
in Verbindung steht und diese entweder schliesst 
oder öffnet — Ist eine Weiche umgestellt worden, 
s_o zeigt dies ein anderer elektrischer Strom, der 
Uberwachungsstrom, in der Zentrale an. Unvoll¬ 
ständige Umstellung oder ein gewaltsames Auf- 
schneiden derselben durch eine Lokomotjve macht 
dies der Zentrale durch Ausbleiben des Überwach¬ 
ungsstromes bemerklich. Es ist für Jedermann ein¬ 
leuchtend, dass sich die elektrischen Leitungen 
unterirdisch viel besser und einfacher verlegen 
lassen, und dass ihr Unterhalt viel billiger ist als 
der der Gestänge und Hebel. Die Handhabung der 
Stellhebel in der Zentrale erfolgt ohne jede körper¬ 
liche Anstrengung und durch Einrichtung des Über¬ 
wachungsstromes ist auch die Sicherheit des Betriebes 


*> In der Abbildunz ist der Deckel dieses Gehäuses uflen, 
und man sieht in demselben die Maschine. 


gen versetzen, auch durch den Nervenapparat 
unserer Haut wahrgenommen werden können. Er 
taucht je einen Finger der rechten und der linken 
Hand in zwei Gefässe mit Salzwasser, welche durch 
Platindrähte mit einem Telephon und der sekun¬ 
dären Spirale eines Induktionsapparates verbunden 
sind. In den Stromkreis der primären Spirale dieses 
Apparates ist eine galvanische Batterie und ein 
Mikrophon eingeschaltet. Letzteres ändert bekannt¬ 
lich jedesmal, wenn es von Schallschwingungen 
getroffen wird, seinen elektrischen Leitungswider¬ 
stand bedeutend und zwar in einer der Höhe und 
Intensität des wirkenden Tones entsprechenden 
Weise. Analogen Änderungen unterliegt nun auch 
die Stromstärke in dem ganzen primären Strom¬ 
kreise und diese Änderungen rufen in dem sekun¬ 
dären Stromkreise die bekannten Induktionsströme 
wach, welche nicht allein die Platte des zu diesem 
Kreise gehörigen Telephons in Schwingungen ver¬ 
setzen und damit den ursprünglichen Ton- reprodu¬ 
zieren, sondern gleichzeitig auch in den von ihnen 
getroffenen Fingern Empfindungen von entsprechen¬ 
dem Rythmus und entsprechender Stärke erwecken. 
Bei einiger Übung können diese die direkte Gehörs¬ 
empfindung ersetzen; an Zartheit reichen sie zwar 


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Betrachtungen und Kleine Mitteilungen. 


521 


nicht an diese heran — wie ja die ganze kompli- nicht durch Metall geschützten Stellen stattfinden, 

zierte Anordnung mit dem Induktionsapparat an* weil diese auch hinter der Ebonitscheibe dem fort¬ 
statt direkter Einschaltung des Körpers in den gesetzten Einflüsse des Tageslichtes unterlagen, 

Stromkreis des Mikrophons Oberhaupt nur den während an den durch Metall geschützten Stellen 

Zweck hat, die für kräftige physiologische Wirk- die vorhergegangene Verschleierung erhalten blieb 

ungen notwendigen Induktionsströme zu erlangen— und dann bei der Entwicklung zum Vorschein kam. 

immerhin aber könnte Mc. Kendricks Beobachtung Umgekehrt aber natürlich, wenn die Platte nicht 

vielleicht die Möglichkeit eröffnen, sogar Taub- verschleiert worden war; dann blieben die Stellen 

stumme an telephonischen Unterhaltungen teüneh- hinter dem Metalle ungeschwärzt und nur ausser- 

men zu lassen. . b. d. halb derselben konnte das Licht durch die Ebonit- 

• scheibe seine Thätigkeit entfalten. Nun hat freilich 

• * Herr Le Bon sein Experiment mit einer dickeren 

Schwarzes Licht. Die Entdeckung Röntgens, Ebonitscheibe, welche gewöhnliches Licht gewiss 

welche die Existenz einer unsichtbaren und dabei nicht mehr durchlässt, wiederholt, und statt der 

mit den merkwürdigsten Eigenschaften ausgestatte- Metallfiguren optisch transparente Substanzen auf 

ten Art von Strahlen offenbarte, hatte unter anderem diese Scheibe gelegt, ohne deshalb ein anderes 

die Folge, dass nun mit einem Male noch eine ganze Resultat zu erhalten; er hat endlich die photo- 

Anzahl gleichfalls unsichtbarer und mit den Röntgen- CTaphische Platte durch einen phosphoreszierenden 

strahlen mehr oder minder verwandten Strahlen- Schirm (der freilich ganz wie-jene schon vor dem 

arten aufgefunden wurden. Ein Herr Le Bon z. B. eigentlichen Versuche ein wenig dem Lichte expo¬ 
hatte beobachtet, dass Petroleumlampen und andere niert worden sein musste) ersetzt und auch hier 

gewöhnliche Lichtquellen durch vollkommen un- ein leuchtendes Bild gerade von den bedeckten 

durchsichtige Schirme hindurch photographisch Stellen der Ebonitscheibe bekommen. Auf den in 

wirken; er schloss daraus, dass diese Lichtquellen letzterer Weise abgeänderten Versuch haben na- 

neben dem gewöhnlichen Lichte auch andere Strah- türlich die Perrigotschen Einwände keine Geltung, 

lenaussenden, welche die fraglichen Schirme durch- dafür aber kommt nun Herr H. Becquerel und 

dringen; diese Strahlen nannte er „schwarzes Licht". macht Herrn Le Bon darauf aufmerksam, dass die 

Le Bons Versuche wurden verschiedentlich wieder- ultraroten Strahlen, die sogenannten dunklen Wärme- 

holt, hier bestätigt, dort angegriffen, aber eine Ent- strahlen, welche in reichlicher Menge im Sonnen¬ 
scheidung bezü^ich der Existenz des schwarzen lichte enthalten sind und welche selbst dicke Ebonit- 

Lichtes wurde nicht erzielt. Inzwischen hat Le Bon schichten mit Leichtigkeit zu durchdringen vermögen, 

selbst seine Versuche fortgesetzt und seine Auf- zwar keine photographische Wirkung beginnen, 

fassung dahin erweitert^ dass nicht sowohl die er- wohl aber eine anderweit begonnene fortsetzen 

wähnten Lichtquellen, als solche das „schwarze können, während sie andererseits eine durch Licht 

Licht“ aussenden, sondern dass vielmehr jeder von hervorgerufene Phosphoreszenz zerstören. Auch 

gewöhnlichem Lichte getroffene Körper eine Quelle der Le Bonsche Phosphoreszenzversuch beweise 

unsichtbarer Strahlen werde, welche analog den also nichts für die Existenz des schwarzen Lichtes. 

Röntgensttahleo. Jie. F^igkeit besitzen, mit l^ek- Trotzdem hält Herr Le Bon in einer Erwiderung 

trizität geladene Körper zu entlacfen und photo- ärt seiner Aliffassung fest, da er seine Versuche 
graphisene Substanzen zu zersetzen. Uber die unter Bedingungen wiederholt habe, welche den 

letztere Eigenschaft führt Herr Le Bon z. B. fol- Einwänden seiner beiden Gegner nicht unterworfen 

genden Versuch an. Eine „leicht verschleierte“ seien. Er vermutet, dass das schwarze Licht seinen 

photographische Platte (d. i. eine Platte, welche Eigenschaften nach zwischen der Elektrizität und 

ganz kurze Zeit hindurch gleichmässig dem Lichte dem eigentlichen Lichte stehen dürfte. d. d. 

ausgesetzt gewesen war, aber die Empfindlichkeit « • 

für dasselbe noch zum Teil bewahrt hat) wird in • 

einem photographischen Rahmen hinter einer dOn- * Die unzulängliche Vorbildung des deutschen 
nen Ebonitscheibe, auf welche Metallfiguren aufge- Chemikers. Im Anfang dieses Jahres richtete man 

klebt sind, mehrere Stunden lang dem Tageslichte in England die Aufmerksamkeit auf die Überlegen- 

ausgesetzt. Bei der Entwicklung zeigt sich dann, heit der deutschen chemischen Industrie und erkannte, 

dass die photographische Schicht gerade hinter den dass der Grund in der besseren Vorbildung des 

Metallfiguren, also hinter den gegen gewöhnliches deutschen Chemikers liege, sowie in der engen 

Licht am besten geschützten Stellen, intensiver ge- Fühlung zwischen Wissenschaft und Praxis bei 

schwärzt ist als an den .Stellen, welche nur durch uns. — Nun erheben sich auch in Frankreich 

Ebonit bedeckt waren. Über dieses Experiment hat Stimmen,') die auf eine Reform des franzö- 

sich nun in den Berichten der Pariser Akademie sischen chemischen Unterrichts hinarbeiten. — Wir 

eine Diskussion entsponnen. Sein Urheber erklärt dürfen uns nicht unklar darüber sein, dass diese 

dasselbe damit, dass das vom Lichte getroffene Stimmen nicht imgehört verhallen werden und dass 

Metall unsichtbare Strahlen aussende, welche die wir in Zukunft mit einem weit schärferen Wetl- 

Ebonitscheibe passieren und die photographische bewerb werden rechnen müssen. — Um so not- 

Schicht zersetzen. Worauf ihm jedoch ein anderer wendiger ist es jetzt schon, auf Mängel aufmerksam 

Beobachter, Herr Perrigot, entgegenhält, dass zu machen, die teilweise bei uns fühlbar sind, teil- 

mit einer frischen, nicht „verschleierten“ Platte der weise sich in Zukunft noch stärker ausprägen werden. 

Versuch ganz anders ausfällt: wird eine solche — Erst kürzlich machte Dir. Dr. Böttinger (von 

hinter einer teilweise mit Metall bedeckten Ebonit- den Farbenfabriken vorm. Bayer in Elberfeld) im 

scheibe dem Tageslichte exponiert und dann ent- preussischen Landtag auf den Mangel an Vertretern 

wickelt, so fehlt gerade hinter dem Metall die der anorganischen Chemie aufmerksam. Moissan’s 

photographische Wirkung. Dieses abweichende Ver- Untersuchungen in Frankreich haben der anorga¬ 
nalten bietet nach Perrigot keinen Widerspruch, nischen Chemie und der Technik neue Wege ge- 

da es bekannt ist, dass dünne Ebonitscheiben das öffnet, die epochemachenden Entdeckungen des 

Licht in gewissem Grade durchlassen und da an- undgingen von England aus. Deutsch- 

dererseits, wie jeder Photograph weiss, das Licht, land ist auf dem Gebiet der anorganischen Chemie 
wenn es zu lange Zeit auf eine photographische ins Hintertreffen gekommen. Voran sind wir noch 
Platte fällt, sein eigenes Werk wieder zerstört. - 

Letzteres muss auf Le Bons Platte gerade an den I < Vgi. Lautb in der Revue scientifique vom 3. juii 1897. 




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522 


Betrachtungen und kleine Mitteilungen. 


in der organischen Chemie, der physikalischen und 
Elektrochemie. Um aber auf den letzten beiden 
Gebieten etwas ordentliches leisten zu können, be¬ 
darf es einer viel gründlicheren mathematischen 
Vorbildung, als sie auf der Schule erreicht wird. 
Es müsste ein Weg gefunden werden, der den jungen 
Chemiker zwingt, sich auch in der höheren Mathe¬ 
matik und Mechanik gründlich umzusehen. Das 
würde ihm die Möglichkeit gewähren, die oben ge¬ 
nannten wissenschaftlichen Disziplinen mit Erfolg zu 
betreiben, würde ihm aber auch in der Technik 
beim Zusammenarbeiten mit dem Ingenieur ganz er¬ 
hebliche Vorteile bieten. — Wenn statt dessen das 
auf vielen preussischen Universitäten zum Doktor 
erforderliche Examen in Philosophie wegfiele, so 
wäre das kein Unglück. Dies Examen ist meist 
nur ein Scheinexamen, denn von einer gründlichen 
Durchbildung in diesem Fach kann keine Rede sein, 
zumal es der ganzen Denkweise des jungen Mannes 
(es wird meist historische Philosophie verlangt), 
durchaus fern liegt. Den, der sich mit Philosophie 
beschäftigen will, wird bei der Lernfreiheit an den 
deutschen Universitäten niemand hindern. Nur 
möge man das angenehme nicht vor das durchaus 
nötige (Mathematik) stellen. Bechkold. 

* • 

# 

* Die Anlage botanischer Gärten hat in den 
französischen Kolonien eminenten Nutzen gebracht, 
dadurch, dass dieselben Stecklinge, Samen und 
Stauden von I^utzpflanzen verteilen. Ein Beispiel 
dafür ist die Einführung des Eucalyptus in Algier. 
Die Anpflanzung und I^ege dieses schnellwachsen¬ 
den und als Luftreiniger bekannten Baumes hat 
zur Verbesserung des Klimas und damit Erhöhung 
des Wohlstandes viel beigetragen. Für die deut¬ 
schen Kolonien in Afrika hat diese wichtige Ver¬ 
mittlerrolle der Botanische Garten in Berlin über¬ 
nommen. Hier werden aus den Tropen bezogene 
Samen zur Keimung gebracht und dann die jungen, 
in Warmhäusern la*äftig entwickelten Pflänzchen 
oder Ableger höherer Exemplare in zweckmässig 
gebauten Kästen nach den Kolonien versandt. Na¬ 
türlich müssen diese zarten Pflanzen auf der lan¬ 
gen Reise mit grosser Sorgfalt behandelt werden. 
Die Kisten mit den Pflanzen werden deshalb Be¬ 
amten anvertraut, die mit der Kultur bekannt sind 
und gerade nach den Kolonien übersiedeln. Auf 
diesem Wege sind schon sehr zahlreiche Arten 
nach ihrem Bestimmungsorte geschafft worden und 
dort auch zum sehr grossen Teil tadellos einge¬ 
troffen. In einem besonderen Warmhause des bo¬ 
tanischen Gartens werden eigens zu diesem Zwecke 
viele Hunderte junger Pflanzen von den für die 
Kultur vorteilhaftesten und wichtigsten Arten bereit 
gehalten, um jederzeit, wenn sich Gelegenheit bietet, 
transportfähig zu sein. Um die Kolonialbotanik zu 
fördern, d. h. um den in die Kolonien abreisenden 
Deutschen die wichtigsten Erzeugnisse jener Gegen¬ 
den und der tropischen Gebiete Oberhaupt näher 
zu bringen, werden im botanischen Garten ferner 
teils in einem grossen Warmhause, teils in einem 
offenen Glaskasten und sogar im Freien tropische 
und subtropische Kulturpflanzen in grosser Anzahl 
und ziemlicher VoUstänaigkeit gezogen, die nicht 
selten zur Blüten- und Fruchtbildung, seltener aller¬ 
dings zur Samenreife gelangen und so ein voll¬ 
ständiges Bild von der Entwicklung dieser nicht 
nur für die Tropen, sondern auch für unsere Kultur 
so hochwichtigen Pflanzenarten zu geben vermögen. 


* Eia neues Bruchstück der parischen Marmor¬ 
chronik. Schon seit 1627 ist eine umfangreiche 
Marmor-Inschrift bekannt, welche die chronologische 


Übersicht der wichtigsten Ereignisse der griech¬ 
ischen Geschichte von den ältesten Zeiten bis zum 
Jalu-e 355 enthält. Die Datierung erfolgt nach den 
attischen Archonten, und ausserdem durch Angabe 
der Jahre, w'elchejedes einzelne Ereignis vom Jahre 
264 vor Chr. trennen. Offenbar ist m jenem Jahre 
die Chronik verfasst und aufgestellt worden, und 
man hat mit Recht angenommen, dass sie auch bis 
dahin herabgefOhrt war. Dieses wertvolle Monument 
hatte gWeh anfangs, nachdem es durch Petty, den 
Agenten des Lord Arundel in Smyrna erworben, 
nach England überführt und durch den berühmten 
John Seiden veröffentlicht worden war, grosses 
Interesse erweckt. In den Zeiten des englischen 
Bürgerkrieges wurde die Arundelsche Sahimlung 
aber aufs schlimmste vernachlässigt, und es wider¬ 
fuhr der Marmorchronik, dass ihre obere Hälfte in 
einen Kamin des Schlosses vermauert wurde. Der 
Rest kam mit den anderen Überbleibseln der stol¬ 
zen Sammlung als Geschenk von Arundels 

Enkel in den Besitz der Universität Oxford, wo er 
sich seitdem befindet. Nun ist es Herni M. Krispis 
in Paros geglückt, einen kürzlich in Parikia, (fcm 
jetzigen wie antiken Hauptort der Insel, gefundenen 
Marmor als bedeutenden Teil der bisher verlore¬ 
nen Fortsetzung der Chronik nachzuweisen. Die 
Herkunft des ganzen Monumentes aus Paros ist 
damit endgiltig bewiesen; man hatte sie also mit 
Recht aus der Nennung des parischen Archonten 
erschlossen. Das neue Fragment bietet in 33 Zeilen 
die chronologische Übersicht über die Jahre 336 
bis 299 vor Chr., es setzt ein mit dem Tode Phi¬ 
lipps II. von Makedonien und erzählt die Siege 
Alexanders und die Ereignisse der ersten Diadochen- 
zeit. Leider ist die untere Hälfte des Steines ab¬ 
gerieben und deshalb hier nur Anfang und Ende 
der Zeilen erhalten. Es ist das um_so bedauer¬ 
licher, als gerade die geschichtliche Überlieferung 
der bep-effenden Jahre recht lückenhaft ist, wäh¬ 
rend die besser erhaltenen Teile Zeilen betreffen 
über die wir anderweitig gut unterrichtet sind. 
Aber trotzdem bedeutet der Fund eine erfreuliche 
Bereicherung unseres Wissens. Vor allem wird die 
kritische Beurteilung dieser durchaus nicht fehler¬ 
freien Chronik erleichtert, dann aber erfahren wir 
auch positiv mancherlei Neues, so z. B. zur Ge¬ 
schichte des Ptolemaios, des Nikrokreon von Kypros, 
des Agathokles von Syrakus, auch zur Litteratur- 
geschichte, wie denn die Siege der Komödiendichter 
Philemon und Menander verzeichnet, und das 
Todesjahr eines sonst unbekannten Dichters genannt 
wird, das eines Sosiphanes, nicht zu verwechseln 
mit dem Alexandrinischen Tragiker, dessen Geburts¬ 
jahr 306 jetzt ebenfalls durch die Chronik festge¬ 
stellt ist. Auch Naturereignisse sind verzeichnet, 
wie in dem schon bekannten Teile der Ausbruch 
des Ätna 480 und der Fall eines Meteorsteins 469 
in Aigospotamoi, so in dem neuen Bruchstück eine 
schon aus Diodor bekannte Sonnenfinsternis (310', 
Erdbeben in Jonien (304) und die Erscheinung eines 
Kometen (303). Letztere ist schon bekannt, nicht 
allerdings aus klassischer, sondern aus chinesischer 
Überlieferung. Das interessante Denkmal wird, 
vom Entdecker in Gemeinschaft mit Herrn A. Wil¬ 
helm bearbeitet, in allernächster Zeit in den Mit¬ 
teilungen des deutschen archäologischen Instituts 
zu Athen veröffentlicht werden. Rcichsaozeiper. 


Eine Sammlung deutscher Selbstbiographien 
erscheint soeben unter dem Titel ,,Ausgewählte 
Selbstbiographien aus dem 15.-18. Jahrhundert“, 
herausgegeben von dem Münchener Staatsarchivar 
Dr. Christian Meyer; vor allem dürfte der Kultur¬ 
historiker hier reiches, bisher kaum beachtetes Ma- 


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Betrachtungen und kleine Mitteilungen. 


533 


Kcboten finden, aber auch den politischen 
Histonicer wird es vielleicht interessieren, den Er* 
Zählungen des Barth. Sastrow Ober die Ereignisse des 
Sctoalkaldischen Krieges, des Lukas Geizkofler über 
die Schnecken der Pariser Bluthochzeit zu folgen; 
der Kunsthistoriker wird den Berichten des Elias 
Holl Ober die Renaissance (speziell in Augsburg) 
mit Interesse lauschen, den Freunden Fahrenden* 
Schüler*Wesens wird die Selbstbiographie des Tho* 
mas und Felix Platter Genuss bereiten; die Selbst* 
biographie des Burkhart Zink führt in <he Levante, 
nach Rhodus und Kreta. Am bedeutendsten — 
w’as das allgemeine Interesse betrifft — dürfte die 
„Chronik der Familie Dürer" erscheinen, von Al- 
brecht Dürer verfasst, u. a. auch von Joh. Janssen 
als hervorragende Quelle bezeichnet und benützt. 
Beachtung verdienen auch die Bilder „aus dem 
Lebensgang eines evangelischen Geistlichen und 
Gelehrten im 17. und 18. Jahrhundert.“ — Wir 
möchten die Erwähnung dieses sicher nicht unver* 
dienstlichen Buches nicht vorübergehen lassen, ohne 
zu rufen: Vivant sequentes! D. h. möge man sich 
endlich auch des reichen kulturgeschichtlichen Quel* 
lenmaterials in unseren Archiven erinnern, statt ein* 
seitig Urkunden oft der unbedeutendsten Art zu 
pubhzieren, und möge man besonders den meist 
zahlreichen Memoirenwerken seine Sorgfalt zu¬ 
wenden. Karl Lory. 


Ein eigentümliches Mittel zur Heilung der 
Skropheln. Hubertus Thomas Leodius (d. i. „aus 
Lüttich“), der bekannte Geschichtsschreiber des 
Bauernkrieges, erzählt in seiner Lebensbeschreibung 
Friedrichs Tl. von der Pfalz (lib. VI.), die in Frank¬ 
reich häufige Krankheitserscheinung der Skropheln 
könne von niemand anderem geheilt werden als 
vom König, der diese Macht auf Fürbitte des hl. 
Fiacrius — nach ihm sind bekanntlich noch heute 
die Fiaker benannt — erhalten habe. Zu diesem 
Zwecke müsse der König beichten, vier Tage nach¬ 
einander kommunizieren und hierauf die Kranken, 
welche sich vor ihm niederwerfen, an der Kehle 
mit dem Zeichen des Kreuzes bezeichnen. Ähnlich 
sei es in England: aber um seine grössere Macht 
zu zeigen, berühre dort der König nicht die Keh¬ 
len der Kraken; sondern weihe unter bestimmten 
Zeremonien goldene und silberne Ringe, die er 
dann entweder verschenkt, oder die man bei den 
Goldschmieden kaufen kann. Leodius selbst bekam 
von Heinrich VI. gelegentlich einer Gesandtschafts¬ 
reise 60 Stück solcher Ringe; leider ~ meint er 
— hatte er nie die Gelegenheit, ihre Kraft zu pro¬ 
bieren; etwas müsse aber doch daran sein, sonst 
würde der König nicht so oft die besagte Hand¬ 
lung vornehmen. — Schon aus der römischen Kai¬ 
serzeit wird uns berichtet, wie Vespasian und Ha¬ 
drian Kranke, vornehmlich Blinde, geheilt hätten. 
Wir möchten derartige Erzählungen als Ausfluss 
des priesterlichen Charakters betrachten, der der 
antiken wie der mittelalterlichen Monarchie bis zu 
einem gewissen Grade eigen war; anscheinend 
kindliche Märchen gewinnen dadurch einen bedeut¬ 
samen Hintergrund. Gewiss waren biblische Re- 
miniscenzen bei der Bildung von derartigen Sägen 
mitwirkend; so wird z. B. auch die bekannte Er¬ 
zählung von Ludwig dem Bayern und der Eierver¬ 
teilung nach der Schlacht bei Ampfing („Jedem 
Mann ein Ei, dem frommen Schweppermann aber 
zwei“) ihrem Kerne nach auf die Erinnerung an 
die evangelische Brodvermehrung resp. wunder¬ 
bare Speisung zurOckzuftlhren sein; die Ausgestalt¬ 
ung eines solchen meist biblischen Kernes im 
Geiste des Volkes dürfte interessante Rückschlüsse 
auf dessen Auffassung der politischen Verhältnisse 


etc. gestatten. Auch auf diesem Gebiete bleibt der 
Gescmchte, speziell der Kulturgeschichte, noch viel 
zu thun übrig. Karl Lory. 

9 

• • 

Die Schädlichkeit der Sperlinge. Welch be¬ 
deutende Summen dem Volkswohlstände alljährlich 
durch die Sperlinge entzogen werden, wurde jüngst 
durch die Enquöte recht anschaulich gemaimt, 
welche durch die Seinepräfektur veranstaltet wurde. 
Dieselbe befragte die Landwirte der Umgebung 
von Paris über ihre Meinung bezüglich des Nutzens 
resp. Schadens, welchen die Sperbnge verursachen. 
Das Ergebnis war überraschend. 17 Gemeinden 
halten den Vogel für ganz indifferent, 46 Gemeinden 
aber wünschen seine totale Ausrottung und nur 5 
nehmen unser zudringliches Strassenvölkchen in 
Schutz. Es wurde zu^eich konstatiert, dass dort, 
wo de n Sperlingen reichlich vegetabilische Nahrur^ 
(in den Getreidefeldern) zur Verfügung steht, sie 
total ihre früheren Gewohnheiten aufgeben und der 
Insektennahrung ganz entsagen. Der jährliche 
Schaden, den die Sperlinge in der Umgebung von 
Paris in den Getreidefeldern anrichten, wird auf 
ca. 200,000 Fr. geschätzt. Fr. 

• 

• • 

‘DerSandfloh (Sarcopsylla penetrans), dieser 
auch in unseren afrikanischen Kolonien so lästig 
empfundene Parasit, welcher sich nicht blos da¬ 
mit begnügt, unser Blut zu saugen, sondern dessen 
Weibchen sich mit dem vorderen Körperende in 
die Haut des Menschen, besonders der Zehen 
(übrigens auch anderer Tiere), einbohrt und da¬ 
durch Veranlassung zu bösen Entzündungen und 
Eiterungen werden kann, hat ursprünglich seine 
Heimat gar nicht in Afrika, sondern in Südamerika 
und ist aus letzterem Lande erst im September 
1872 mit einem aus Rio de Janeiro kommenden 
Schiffe durch den Ballast in Nieder-Guinea einge¬ 
schleppt worden. Die Verbreitung desselben macht 
ungeheuer schnelle Fortschritte. Stanley fand ihn 
bereits über 200 Seemeilen vom Meere landeinwärts. 

Natur, »7 Juni 1897, 

•Mistpuffer (von Mist-Nebel) nennen die 
Vlämen eigentümliche, bisher noch nicht aufgeklärte 
Schallerscheinungen, welche aus einem dumpfen 
langgedehnten Knall bestehen und iti der Nähe der 
Meeresküste wahrgenommen werden. Auf dem 
Festlande sind sie ganz besonders in Belgien wahr- 

g enommen worden und zwar bis auf 8o Seemeilen 
ntfemung von der See, ferner an der Küste, auf 
verschiedenen Feuerschiffen und auf Fahrten zwi¬ 
schen holländischen und französischen, resp. belg¬ 
ischen und französischen Häfen (Strasse von Dover). 
Der Knall tritt entweder vereinzelt oder reihen¬ 
weise auf, in letzterem Falle sind bis zu sechs auf¬ 
einander folgende Knalle, in Intervallen von H — 
2—3 Sekunden gehört. Es ist nicht ausgeschlossen, 
dass die an jenen Küsten nicht seltenen Schiess¬ 
übungen mit Küsten- und SchiffsgeschOtzen die Ur¬ 
sache der sonderbaren Erscheinung sind, deren 
weite Fortpflanzung eben durch die sehr günstigen 
atmosphärischen Verhältnisse begünstigt wird. 

T^atur, a^ Juni 1897. 

• Eine elektrische Anlage für land¬ 
wirtschaftlichen Betrieb ist auf dem Gute 
Derneburg bei Hildesheim, welches dem deutschen 
Botschafter in Paris, Grafen Münster, gehört, einge¬ 
richtet worden. Mittels Elektrizität werden die Ma¬ 
schinen der Branntweinbrennerei, die Dresch-, 
Häcksel- und Rübenschneidemaschinen, sowie sämt¬ 
liche Hilfsmaschinen in der Schmiede und Stell¬ 
macherei betrieben, ferner eine Schrotmühle, ein 
Ölkuchenbrecher und ein Getreide-Aufzug. Selbst 


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534 


Betrachtungen und kleine Mitteilungen. 


das Scha&cheeren geschieht mit elektrischen Schee* 
ren. In ZukunA soll auch mit einem elektrischen 
gepflOgt werden. Zur Erzeugimg der Elek- 
trizitftt dient das Wasser des Gutsteiches, der durch 
ein unbedeutendes Flüsschen gespeist wird. Durch 
einen Graben wird das Wasser aus dem Teiche 
wieder in den Fluss zurückgeleitet Die Kraftstation 
ist von der Firma E.-A.*G. vorm. Schuckert & Co. 
in Nürnberg hergestellt Eiektmiut. 

* Die Kraft des Niagara-Falles wird auf 
ungeftüir 2,500,000 Pferde geschätzt, von denen un- 

f eiahr 52,000 für die neuen Anlagen der National 
lectric Light Association zur Ausnutzung kommen 
sollen. Augenblicklich verwertet die elektro-chem- 
ische Industrie bereits 11,000 Pferdekräfte haupt¬ 
sächlich zur Fabrikation von Aluminium, Carborun- 
dum, Sodium und Calciumcarbid. 

Science, i8. Juni 1897. 

'Das Pferd verdaut besser, wenn es nach 
der Futtereinnahme tüchtig angestrengt wird, wie 
Untersuchungen von Prof. F. Tangl in Budapest 
ergeben haben. Im Gegensatz dazu stehen der 
Mensch und der Hund, die allerdings auch in der 
Art der Nahrung einen Unterschied bilden. 

PflOzers Archiv. 

* Gefrorenes Geflügel wird aus den V^. 
Staaten in grossen Mengen nach London verschifft 
und dort verkauft. Australische Zufuhren können 
wegen der weiteren Entfernung nicht mit dem ameri¬ 
kanischen Produkt konkurrieren. 

* Die chinesische Seifenindustrie be¬ 
reitet dem europäischen, bisher vorwiegend eng¬ 
lischen, Import auf Java eine grosse Konkurrenz, 
in der letztere unterliegen dürfte. Kürzlich sind 
auch in Batavia einige Fabriken unter europäischer 
Leitung angelegt worden, die auch Toilette-Seifen 
herstelTen. Pharmaceuticat Journal. 

* Entwicklung der Eisenbahnen in Ja- 

g an. Während im Jahre 1872 Japan blos 28,8 km 
isenbahnen besass, welche durchweg Staatsbahnen 
waren, umfasste das japanische Eisenbahnnetz im 
Jahre 1895 bereits 949,2 km Staatsbahnen und 
2640,6 km Privatbahnen. Neue grosse Kredite wur¬ 
den von dem j^apanischen Reichstag zum Baue 
weiterer sieben Staatsbahnlinien kürzlich bewilligt. 
Eine grosse Anzahl von Privatbahnuntemehmungen 
wurden ausserdem neuerdings konzessioniert. 

Rcv. gen. des chem. de fer. 

* Das Gold in der Zahntechnik. Ameri¬ 
kaner haben ausgerechnet, dass das in den Ver¬ 
einigten Staaten in Zahnplomben „angelegte“ Gold 
einen Gesamtwert von 20 Millionen Dollars reprä¬ 
sentiert. Populär Science News, JuH 1897. 

• Die Negergräber in Südamerika sind oftmals 
eingefasst mit den Medizinflaschen, welche der Ver¬ 
storbene während seiner Krankheit in Benutzung 
gehabt hat. Man kann aus ihrer Anzahl ersehen, 
welch längeres oder kürzeres Krankenlager der 
Verewigte gehabt hat. 


Sprechsaal. 

A. B. f. Die Entstehung und Entwicklung der 
Tierfabel, die bislang meist vom philologisch-aest- 
hetischen Standpunkte aus behandelt wurde, hat 
erst in jüngster Zeit eine Betrachtung von dem 
viel weitreichenderen ethnologischen Gesichtspunkt 
aus erfahren. Dazu drängte eben die Erw'eiterung 
unserer Kenntnisse von selbst, als z. B. Bleek, der 
bekannte ausgezeicluaete Forscher und Kenner 
Südafrikas, unter den Hottentotten die unzw’eidcu- 
tigsten Spuren einer Verwandtschaft mit unserer 
Sage von Reineke Fuchs entdeckte und nur vor 


die nackte Alternative geführt wurde, ob man hier 
selbständige Entstehui^ oder ubertraming annehmen 
müsse (vgl. Bleek, Reynard the Fox in South 
Africa, I^ndon 1864, sodann Dr. Callaway. NurserV 
Tales, Traditions and Histories of the Zulus VoL I. 
Natal 1866 und Max Müller, Essays, Leipzig 1869 
Bd. II, 186 ff.) Man begriff endlich, dass die her¬ 
gebrachte, in klassischer Meisterschaft durch Jacob 
Grimm in seiner Einleitung zu Reinhard Fuchs*) 
dargelegte, für den Kreis der indogermanischen 
Sprachwissenschaft völlig zutreffende Anschauung 
für die Menschheit Oberhaupt nicht mehr ausreiche, 
weil man den uns erst durch das Studium der 
Naturvölker erschlossenen Grundsatz von dir ur- 
^rünglichen Wesensgleichheit der Menschen und 
Tiere vergessen oder sich nicht klar gemacht hatte. 
Es handelt sich hier nicht, wie man voreilig an- 
. nimmt, um allegorische Anthropomorphisierungen, 
um bewusst ausgeklügelte Erzählungen, in denen die 
Tiere die Masken der Menschen tragen, sondern in 
dem naiven Realismus des Naturmenschen sind die 
Tiere'ebensogut Personen, wie wir selbst, vielfach 
sogar an Intelligenz und Sicherheit intuitiver Ent¬ 
scheidung uns überlegen. Erst später stellt sich die 
uns geläufige moralisierende Perspektive ein, wo- 
die Geschichte nur zur Veranschaulichung einer sitt¬ 
lichen Lehre dient. Deshalb auch die Thatsache, 
dass wir gerade bei primitiven Völkern, womöglich 
solchen, die wesentlich sich von der Jagd ernähren, 
die Tiersage in üppigster Entwicklung finden, man 
denke nur an die Indianer, sowohl Nord- als auch 
Süd-Amerikas! (vgl. Tylor, Anfänge der Kultur I, 
403 ff. und die anschaulichen Schilderungen uzul 
Beobachtungen, die jüngst K. v. d. Steinen gemacht 
hat in Zentral • Brasüien: Unter den Naturvölkern 
Zentr.-Bras., Berlin 1894, S. 351 ff). Diese Wesens¬ 
ähnlichkeit findet dann ihren weiteren organischen 
Ausdruck in dem bekannten, Ober die ganze Erde 
verbreiteten, wenn auch vielfach nur in verblassten 
Zögen erkennbaren Totemismus, dem Tiercultus, 
dem zu Folge der Stammvater irgend eines Ge¬ 
schlechts in Tierform verehrt wird (vgl. Post, Grund¬ 
riss der ethnol. Jurisprudenz, Oldenburg 1894 I, 
117 ff), und anderseits in den Märchen, welche 
überall auf die mehr oder minder innige Verknüpfung 
zwischen Menschen und Tieren zurückgreifen, (vgl. 
Köhler, Ur^rui^ der Melusinensage, Leipzig 18^, 
bes. S. 37 ff). Deshalb ist es auch unrichtig, nur 
den poetischen Standpunkt anmutiger Naturschil¬ 
derung und Empfindung geltend zu machen und 
dabei die Grundlagen dieser Symbolisierung, die 
religiösen und rechtlichen Anschauungen und In¬ 
stitute ausser Acht zu lassen. Eine genauere 
detaillierte Entwicklung ist hier natürlich unstatthaft, 
nur ganz im Allgemeinen mag noch darauf hinge¬ 
wiesen werden, dass die zahlreichen Sagen und 
Überlieferungen, welche die eifrig gepflegte Volks¬ 
kunde neuercSngsüberall zuTage fördert, ebenfalls wie 
Tylor sagen w’ürde, auf animistischer Basis beruhen. 
Natürlich gehören auch die bekannten Erzählungen 
über Vampyre, Werwölfe u. s. w. in diese Sphäre 
(vgl. darüber Andree, Ethnograph. Parallelen, Stuft- 

f art 1878, S, 62 ff. und W. Hertz, Der Werwolf, 
tuttgart 1862). T. A. 

*) V)?]. dazu Ch, Potvin, Romao des Renard, Paris Bobn^ 
1861 und im Allgemeinen Gubernatis, Die Tiere in der indo- 
german. Mythologie, Leipzig 1674, 44 ^ 


No. 30 der Umschaa wird enthalten; 

Mchler, Zur Badersaison. — Mflsebeefc, Die Geschichte im ver¬ 
gangenen Jahre. II. Das Mittelalter. — Thilo, Die Verwertung 
der ROntgenstrahlen bei der Nahrungsmitteluntersuchung (mit 
Abbildungen). — Below, Beobachtungen an Neugeborenen. — 
Tetzner, Zur Geschichte der deutschen Bildung im Altertum. 


G. Horstmann’s Druckerei. Frankfurt a. M. 


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DIE UMSCHAU 

ÜBERSICHT übtR DIE FORTSCHRITTE UND BEWEGUNGEN AUF 
CCM GESAMTGEBIET DER WISSENSCHAFT, TECHNIK, 
LITTERATUR UND KUNST 


Zu beziehen durch 
alle Buchhandlungen und 
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DR. J. II BECHHOLD 


Neue Krame i^ az. 


Preis vicrteljahrlicli 
M. S.50. 

Jahres-Abonnement 
Preis M. 10.—. 

Im Ausland nach Cours. 
Verantwortlicher Redakteur: 

Otto Adolf Wolters, Frankfurt a. M. 


J'ß 30. I. Jahrg. 


Nachdruck aus dem Inhalt der Zeitschrift ohne Erlaubnis 
der Redaktion verboten. 


1897. 24. Juli. 


Zur Geschichte der deutschen Bildung 
im Altertum.*) 

Von Dr. F. Tetzkeb. 

Bevor Kloster- und Domschulen gegründet 
wurden, hatten die verschiedenen germanischen 
Stämme bereits Anstalten, in denen eine fach- 
gemässe Bildung erworben werden konnte. 
Im Gebiete des heutigen deutschen Reiches 
bestanden schon in den ersten Jahrhunderten 
unserer Zeitrechnung Schulen, In denen Römer, 
Kelten und Germanen Gelegenheit hatten, 
nicht nur Lesen und Schreiben zu lernen, 
sondern auch wissenschaftliche Studien zu 
treiben. 

Die ältesten Schulen, von denen wir er- 
ahren, sind keltische gewesen. Als Cäsar 
im Rheingebiet heerte, sassen die Kelten 
diesseits des Stromes. Mit Sicherheit kann 
kein Ort namhaft gemacht werden, wo sich 
auf heutigem reichsdeutschem Gebiet keltische 
Schulen befanden, wie in Besancjon, Autun, 
Dreux, Bajeux, Bordeaux. An erster Stelle 
käme das Moselgebiet in Betracht. Auch das 
ist schwer aufzuhellen, wie weit sich ger¬ 
manische Jünglinge etwa am Druidentum be¬ 
teiligten. Der Inhalt der gereimten Lehren 
jener druidischen Professoren erstreckte sich 
auf Philosophie und Theologie und wurde 
geheim gehalten. Die Gewaltmassregeln der 
römischen Kaiser, seit Augustus und Tiberius, 
die die Ausrottung des Druidentums bezweckten, 
brachten es mit sich, dass sich die Druidenschu¬ 
len in die entlegensten Winkel Britanniens und 
der Bretagne zurückzogen, dass weiterhin die 
alten keltischen Professoren an römischen 
Schulen Anstellung suchten und fanden und 
dass zu Zeiten des Ausonius nur noch die 


*) Vgl. „Geschichte der deutschen Bildung und 
Jugenderziehung von der Urzeit bis zur Errichtung 
von Stadtschulen. Von Dr. F. Tetzner. Mit 14 Ab¬ 
bildungen. Gütersloh, Druck und Verl^ von C. Ber¬ 
telsmann, 1897.“ ^VI u. 404 Seiten. Preis M. 5.50. 

Umschau 1897. 


Namen einzelner Lehrer Kunde davon gaben, 
wie deren Urväter dereinst druidische Weis¬ 
heit verkündeten. 

Römische Schulen entstanden, sobald der 
Siegesschritt der stetig vordringenden Legio¬ 
nen in neugebauten Rhein- und Moselkastellen 
Halt machte. Es siedelten sich neben diesen 
militärischen Stationen Kaufleute an, und zahl¬ 
reiche Beamte bedurften der Grammatiker und 
Rhetoren, damit ihre Söhne nicht erst wie¬ 
der nach Rom ziehen mussten, um für den 
Verwaltungsdienst brauchbar zu werden. Die 
Blüte dieser römischen Schulen in Deutsch¬ 
land begann unter Konstantin dem Grossen 
(306 — 337), der Trier zu einer Residenz er¬ 
hob, sie erreichte ihren Höhepunkt unter 
Gratian (364 — 383), als Lehrer von Weltruf 
in Trier wirkten. Sie verging spurlos, als die 
Franken der römischen Herrschaft links vom 
Rhein ein Ende bereiteten. Aber lange vor 
Konstantin gab es schon römische Schulen 
in Deutschland. Ein in Trier erhaltenes Relief 
versetzt uns lebhaft in jene merkwürdige Zeit, 
es stellt eine solche römische Schule dar. 
In der Mitte sitzt der Lehrer mit erhobener 
Hand. Rechts und links von ihm sitzt je ein 
Knabe auf einem gleichartigen Stuhl. Beide 
haben Pergamentrollen in den Händen und 
lesen, während der Lehrer in Zwischenräumen 
erklärt. Die linke Hand des Lehrers ist der 
Thür zugewendet, durch die eben ein dritter 
Schüler, mit der Rechten grüssend, eintritt. 
In der Linken trägt dieser eine Art Tasche, 
einen zusammengelegten, mit Henkel versehe¬ 
nen Codex. Die Gleichartigkeit der langen 
Gewänder, der Riemenschuhe, der glatten 
Stühle und lockigen Köpfe einerseits, die ge¬ 
spannte Aufmerksamkeit der Schüler und die 
fast sichtbare Belebung durch den Vortrag 
des Lehrers andererseits, geben dem in sich 
abgeschlossenen Stoff eine Lebhaftigkeit, die 
den Rahmen des kleinen Gemäldes zu zer¬ 
sprengen scheint. Elementarschulen gab es 

30 


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526 


Tetzner, Zur Geschichte der deutschen Bildung im Altertum. 



Schule im römischen Germanien. Nach einem Denkmal des Trierer Museums. 

(Titelbild aus der ^Geschichte der deutschen Bildung“ von Dr. F. Tetzoer.) 


wohl in vielen Städten, höhere nur wenige, 
wahrscheinlich u. a. in Augsburg, Regens¬ 
burg, Strassburg, Xanten, Metz; mit mehr 
Sicherheit ist Mainz und Köln zu erwähnen, 
weil beides Hauptstädte waren und in beiden 
Grammatiker und Schüler namhaft gemacht 
werden. Vollständig sicher sind wir nur über 
Trier unterrichtet, wo Männer wie Eumenius, 
Laktantius und Ausonius wirkten, deren 
Schriften ihre Zeit überdauerten. In welchem 
Verhältnisse diese Grammatiker und Rhetoren 
zur kaiserlichen Palastschule standen, ist un¬ 
gewiss. Ihre Lehre erstreckte sich auf die 
Lektüre der Schriftsteller, auf die Anleitung 
zur Anfertigung von Gedichten und Urkunden, 
auf grammatische, philosophische und rhe¬ 
torische Schulung. Die Zöglinge wurden wie¬ 
der Lehrer oder Staatsbeamte. Sie mussten 
ihre Legitimation bei der Aufnahme vorzeigen, 
ihre Wohnung angeben, mussten in gezie¬ 
mender Gesellschaft verkehren und durften 
nicht zu häufig die Schauspiele besuchen. 
Die Ferien von August bis Oktober waren 
dem Ballspiel, Wettlauf, Springen gewidmet; 
w'er sich ungebührlich betrug, wurde fortge¬ 
schickt. Die Lehrer hatten dem Kaiser jähr¬ 
lich Berichte vorzulegen, wofür sich jeder ein¬ 
zelne Schüler eigne. Man las Homer, Menander, 
Horaz, Virgil, Terenz, Sallust. In Trier stu¬ 
dierten u. a. die kaiserlichen Prinzen Crispus 
und Gratian, der Kirchenvater Hieronymus 
und sein Freund Bonosus, Eusebius und 
sicher auch Ambrosius. Deutsche Namen von 
Schülern sind uns nicht erhalten. Aber die 
zahlreichen Deutschen im Heer Konstantins 
und seiner Nachfolger, nicht die gewöhnlichen 
Soldaten, sondern die Beamten mussten ja 
alle die nötige Schulung besitzen. 

Näher als keltische und römische Schulen 
standen natürlich den alten Germanen die 


deutschen Schulen. Gab es solche, und wie 
waren diese beschaffen? Zur Beantwortung 
dieser Frage macht sich erst eine Skizzier- 
ung des ganzen Bildungsinhaltes nötig. Die 
körperliche Bildung stand in hoher Blüte; 
die Leistungen im Sprung, Ritt und Waffen¬ 
kampf, wie sie beispielsweise von Teutobod, 
Aligern, Totila, Teia berichtet werden, setzen 
tüchtige Schulung voraus. Das Schulturnier 
hatte sich im 13. Jahrhundert zu einer wirk¬ 
lichen gymnastischen Hochschule entwickelt. 
Zum geistigen Bildungsrnhalt gehörte Gesang 
und Dichtkunst, Lesen und Schreiben, Latein 
und Runenkunde. Von wem gingen Gesang 
und Dichtkunst aus? Von wem die Kenningar 
der Stabreimdichtung, die Überlieferungen 
der historischen Gedichte von Hermanrich, 
Armin und Alarich? Ohne Frage führte die 
Pflege auf die Priester und Priesterinnen zu¬ 
rück; gehörte ja Krieg und Kriegsgesang zum 
Kultus der Germanen. Dass die Priester, wie 
im Keltenlande, Zöglinge hatten, die durch 
Unterricht und Übung wieder ftlr das Amt 
vorbereitet wurden, ist ohne Zweifel. 

Wenn Chlodowech um 600 sich von Theo- 
dorich einen Rhapsoden senden lässt, ist wohl 
gleichfalls neben augenblicklicher Unterhaltung 
an die pädagogische Wirksamkeit des Sän¬ 
gers gedacht worden, auch wenn sie nur in¬ 
direkt zur Geltung kam. — Lesen, Schreiben 
und Latein war nur wenigen Germanen eigen 
und zwar solchen, die mit den Römern in 
Verbindung waren; hingegen erfreute sich seit 
Alters die Runenkunde weiterer Verbreitung, 
wie man auch die Worte des Tacitus im 
16. Kapitel der Germania deuten mag. Man 
benutzte die Runenschrift aber zu nichts an¬ 
derem als zu Widmungen und Inschriften, 
keinesfalls zu zusammenhängend geschicht¬ 
lichen oder poetischen Darstellungen. Die 




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Müsebeck, Geschichtsschreibung im vergangenen Jahre. 


537 



Runen wurden in Trinkhörner, Ringe, Span¬ 
gen, Brakteaten eingeritzt, in Grabsteine ge- 
meisselt, aber nur sehr selten und nicht zu 
ursprünglichem Zwecke auch auf Pergament 
gebracht. Die deutschen Runeninschriften sind 
weniger reich an Umfang und Inhalt als die 
nordischen. Bis jetzt hat man etwa 17 deutsche 
Runendenkmäler gedeutet. Die meisten ent¬ 
halten nur Namen (Durudhild, Raninga, Waiga 
u. s. w.), Widmungen (Wada dem Mado; 
3 oso ritzte Runen und beschenkte die Da- 
thena; Gunthiuk ritzte dem Withulf Runen; 
Wonne Godahit, Segen Arsipoda u. s. w.). 
Einige aber haben bedeutenderen Wert, so die 
grössere Nordendorfer Spange mit der In¬ 
schrift: „Die Heirat hilf beim Brautlauf er- 
siegen, o Wotan, weihe Donner I Awa dem 
Leubwin.“ Ein kleines pädagogisches Denk¬ 
mal ist die burgundische Silberspange von 
Charnay aus dem Ende des 5. Jahrhunderts. 
Sie trägt die Inschrift: „Möchte erfassen 
lernen des Idda Gattin das Runenalphabet: 
F U Th A R K G W H N I J E (L, Ng, 
O, D).“ Sie liefert den Beweis, dass die Edlen 
darauf bedacht waren, den Geschenken durch 
Inschriften Wert zu leihen und die Kenntnis 
der Runen hochzuschätzen. Den Wissenskreis 
jener Zeit beschreibt eine Stelle der Edda 
aus späteren Tagen. „Der Edle wuchs auf 


in den Räumen des Heims; er lernte schwin¬ 
gen den Lindenschild und anlegen die Bogen¬ 
sehnen, er lernte spannen den Ulmenbogen 
und Pfeile schäften, Geschosse schiessen, die 
Speere werfen, auf Rossen zu reiten, auch 
Hunde zu hetzen, durchschwimmen den Sund 
und führen das Schwert. Doch Konr, der 
1 Jüngling, lernte mehr, er kannte die Runen, 
die ewigen Runen, die Runen der Zukunft. 
Er konnte bergen die Menschen, die Schwerter 
stumpfen, die Wogen beruhigen. Er war der 
Vogelsprache kund, konnte Feuer löschen, 
beruhigen den Sinn, er war 8 Männer stark. 
Er stritt in Runen mit Rigr und blieb sieg¬ 
haft in allem.“ 


Die Geschichtsschreibung im vergangenen 
Jahre. 

Von Dr. Ernst MAsebzck. 

II. Das Mittelalter. 

Anders steht es mit dem Mittelalter, wo 
eine Reihe von grösseren Erscheinungen zu 
verzeichnen sind. 

Der bekannte österreichische Historiker 
H. V. Zwiedineck-Südenhorst hat es bekannt¬ 
lich unternommen, eine Bibliothek deutscher 
Geschichte für ein grösseres 
Publikum mit einer Reihe von 
Mitarbeitern herauszugeben. 
Unsere älteste Geschichte 
liegt nunmehr bis zum Aus¬ 
gang der Karolinger im Zu¬ 
sammenhänge vor, nachdem 
Schultze seine „Deutsche 
Geschichte von der Urzeit bis 
zu den Karolingern, II. das 
nierowingische Frankenreich" 
und Mühlbacher seine 
„Deutsche Geschichte unter 
den Karolingern", vollendet 
haben. Die zweite ist bei 
weitemdie bedeutendste Leis¬ 
tung. Sie stellt eine Lebens¬ 
arbeit dar, da der Verfasser 
seit zwei Jahrzehnten mit der 
Durcharbeitung der Ge¬ 
schichte derKarolingerrühm- 
lichst beschäftigt ist. Verliert 
sich die Erzählung auch bis¬ 
weilen in Einzelheiten, so 
werden wir doch dadurch ent¬ 
schädigt, dass am Schluss 
eines jeden Abschnittes die 
hervorragenden Begebenhei¬ 
ten und die Persönlichkeiten 
in die richtige staatliche und 
weltgeschichtliche Bedeutung 


Die burgundische Silberspange von Charnay. 

(Abbildung^ aus Dr. Tetzncrs Geschichte der deutschen Bildung, Seite 14). 


30 * 


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528 


Müsebeck, Geschichtsschreibung im vergangenen Jahre. 


gerückt werden. Seine Charakterschilder¬ 
ungen tragen oft einen stark subjektiven 
Charakter, so besonders die von Ludwig dem 
Frommen. Wertvoll ist die Einleitung, die 
uns ausser einer Quellenkunde dieser Zeit 
auch eine kurze, aber glänzend geschriebene 
Gechichte der geistigen Bewegung giebt. 
Ebenso bemerkenswert ist der Schlussabschnitt, 
der uns ein Gesamtbild der staatlichen, kirch¬ 
lichen und Kulturzustände des ostfränkischen 
oder deutschen Reiches vor Augen führt. 

Eins der besten Erzeugnisse der histo¬ 
rischen Litteratur der Gegenwart ist die 
,,Kirchengeschichte Deutschlands“ von A. 
Hauck, der in einem dritten Bande in der 
zweiten Hälfte die Geschichte der deutschen 
Kirche im ii. Jahrh. behandelt und sie bis 
zum Wormser Konkordat 1122 fortführt. Ein 
Hauptvorzug des Buches ist die eingehende 
Berücksichtigung der politischen Geschichte, 
so dass wir eine genaue Schilderung des da¬ 
mals das Reich bewegenden Kampfes zwischen 
imperium und sacerdotium erhalten. Dabei 
bleibt der Verfasser nicht bei Einzelheiten 
stehen, sondern führt uns in den Kampf der 
einzelnen Individualitäten mit einander, zeigt 
uns aber zugleich, dass stärker als diese 
einzelnen Persönlichkeiten die Ideen sind, die 
die Allgemeinheit beherrschen; und die die 
Welt beherrschenden Ideen führten zu einer 
Herrschaft der Kirche über den Staat. Neben 
den bisherigen Gewalten kommt eine neue 
auf: die öffentliche Meinung infolge der wei¬ 
teren Ausbreitung der Bildung über die Klöster 
hinaus. Das rr. Jahrhundert schliesst die 
alte, enge Zeit, neue Kräfte standen auf dem 
Plan, die ganze Bewegung erweitert, vertieft, 
kompliziert sich. 

Eine wenig erfreuliche Seite des mittel¬ 
alterlichen Lebens enthüllt uns Riezler in 
seiner „Geschichte der Hexenprozesse in 
Baiern“. Die ultramontanen Historiker Janssen 
und Pastor hatten versucht, den Hexenwahn 
als ein Erbe unserer heidnischen Vorzeit hin¬ 
zustellen ; derartige Bemühungen sind nach 
dieser eingehenden Arbeit, deren Resultate 
infolge der breiten Grundlage, auf die sie auf¬ 
gebaut ist, vollkommen festslehen, abzulehnen. 
In voller Klarheit ist der kirchliche Ursprung des 
Hexenwahnes und des Prozessverfahrens er¬ 
wiesen. Kirchliche Elemente haben die Grau¬ 
samkeiten bis zu jener entsetzlichen Höhe 
getrieben, die uns in so vielen Prozessen vor 
Augen tritt und uns modernen Menschen die' 
Grenze des Möglichen oft zu überschreiten 
scheit. 

Einen wesentlichen Fortgang hat in dem 
verflossenen Jahr Karl Lamprecht’s 
„Deutsche Geschichte“ gemacht, von der der 


4. und 5. Band, 1 . Hälfte erschienen sind. 
Der 4. Band umfasst die Zeit von Rudolf 
von Habsburg an bis zum Ausgang des Mittel¬ 
alters. Den Haupteinschnitt bildet nach ihm 
die Stauferzeit in der deutschen Geschichte: 
vorher der Lehnsstaat des fränkisch-deutschen 
Reiches, ein Erzeugnis der Naturalwirtschaft, 
nachher der fürstliche Beanitenstaat, ein Pro¬ 
dukt der Geldwirtschaft. Die politische Seite 
des deutschen Staatslebens kommt natürlich 
zu kurz; von den internationalen Beziehungen, 
die doch einen der wichtigsten bestimmenden 
Faktoren auf das Leben eines jeden Volkes 
ausmachen, ist fast gar keine Rede.^ 

Weit grösser ist natürlich auch auf dem 
Gebiet der mittelalterlichen Geschichtsfor¬ 
schung die Zahl der Einzelforschungen. In 
den alten Streit um die Person Lamperts von 
Hersfeld führt uns die Studie von A. Eigen- 
b r o d t: „Lantpert von Hersfeld und die neuere 
Quellenforschung^ Er wendet sich haupt¬ 
sächlich gegen die Ansicht derjenigen, die 
Lampert als einen bewusst tendenziösen Par¬ 
teischriftsteller bezeichnen, ja er geht so weit' 
ihn von parteiischer Voreingenommenheit ge¬ 
gen Heinrich IV. grösstenteils frei zu sprechen; 
erst von 1069 an will er eine solche gelten 
lassen. 

Einem der wichtigsten Ereignisse des 
Mittelalters wendet sich ein Aufsatz von D. 
Schäfer in der historischen Zeitschrift Bd. 
76 zu: der „ Verurteilung Heinrichs des Löwen“. 
In zwei JClagesachen, Landfriedensbruch und 
Hochverrat werden dem Herzoge gerichtliche 
Termine gesetzt; dreimal erscheint er nicht, 
und so erfolgt schliesslich it8o in Würzburg 
die Verurteilung zum Verlust von Lehen 
und Eigentum auf Grund der schon gesche¬ 
henen Ächtung zu Kaina. Die Verweigerung 
der Heeresfolge spielt im Prozess keine Rolle; 
der Zusammenhang zwischen dem Verhalten 
Heinrichs des Löwen in den ersten Monaten 
des Jahres 1176 und seiner Verurteilung ist 
nur politischer, nicht auch rechtlicher Natur. 
Durch rechtzeitiges Einlenken würde er auch 
jetzt wohl Frieden und Niederschlagung der 
gegen ihn erhobenen Klagen haben erlangen 
können. 

Einen Beitrag zur deutschen Reichs¬ 
geschichte unter König Siegmund liefert uns 
die Arbeit von W. Eberhard: „Ludwig HL, 
Kurfürst von der Pfalz“; er ist der Fürst, 
dem König Siegmund seine Wahl zu ver¬ 
danken hat und der als Stellvertreter des 
Reichsoberhauptes das Konstanzer Konzil um¬ 
sichtig leitete. Bei alledem verfolgte er nur 
dynastische Interessen; sowie er zu deren 

*) Vgl, über Lamprecht den in No. 26 der Um¬ 
schau erschienenen Aufsatz: „Lory, Politische 
Historie und Kulturgeschichte.“ 


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MOsebeck, Geschichtsschreibung im vergangenen Jahre. 


529 


Befriedigung von Sigismund nichts mehr er¬ 
hoffen konnte, wandte er sich von ihm ab 
und wurde der Leiter und die Hauptstütze 
der kurfürstlichen Opposition, bis ein langes 
Siechtum ihn befiel. 

Eine für die Geschichte des Herzogtums 
wichtige Abhandlung bildet die Arbeit von 
E. Mayer in der Zeitschrift für Geschichts¬ 
wissenschaft N. F. Bd. I.: „Das Herzogtum 
des Bischofs von Würzburg und die frän^ 
kischen Landgerichte“. Es war ein regel¬ 
mässiges, verliehenes, das dann seit 1168 die 
Ernennung des Centgrafen in die Hand be¬ 
kommen hatte. Im 2. Theil werden die kaiser¬ 
lichen Landgerichte in Nürnberg, Schweinfurt 
und Rotenburg behandelt. 

In den deutschen Osten, das Kolonial¬ 
gebiet des Mittelalters, führen uns zwei Ab¬ 
handlungen, die eine von Heil: „Die Grün¬ 
dung der nordostdeutschen Kolonialstädte und 
ihre Entwicklung bis zum Ende des 1 j.Jahrh“ 
[Wiesbad. Gymn.-Programm 1896] und die 
andere von Michaelis: „Die Kirche und 
das koloniale Deutschland des Mittelalters“. 
[Zeitschrift für kath. Theologie], Diese be¬ 
trachtet die besonderen Verdienste der Kirche 
und zwar vor allem der Orden der Cister- 
zienser und Prämonstratenser und die Germani- 
sierung des Gebietes östlich der Elbe. Jene 
Arbeit betont vor allem die wirtschaftliche 
Bedeutung der germanischen Kolonisation; im 
Nordosterti sind damals mindestens 350 deutsche 
Städte planmässig aufgebaut worden. 

Von grösstem Interesse sind zwei Vorträge, 
die auf dem Historikertag in Innsbruck 1896 
gehalten worden sind, von Knapp über: 
„Die Grundherrschaft in Nordwestdeutschland“ 
und von v. Ebengreuth über: „Die An¬ 
fänge der Landstände“. Von beiden sei wegen 
ihres ungemein interessanten Stoffes hier eine 
längere Inhaltsangabe angeführt. 

Knapp schliesst sich in seinem Vortrag 
an die hervorragende Arbeit von Wittich 
gleichen Titels an. Die Grundherrschaft ist 
die älteste der bekannten Verfassungsformen; 
in Niedersachsen besteht sie bereits zur Karo¬ 
lingerzeit, der abhängige Bauer ist schon da¬ 
mals Regel; nur die grossen Grundherrschaften 
entstehen in jener Zeit durch Überweisung 
von Bauernstellen, die früher zu kleineren 
Grundherrschaften gehört hatten. Die ein¬ 
zelnen Bauernstellen liegen zerstreut; so lange 
der Bauer in seiner unfreien Lage beharrt, 
ist er zum Besitz der Stelle berechtigt; po¬ 
litische Ehren gehen ihm allerdings ab, aber 
er ist weder ehrlos noch rechtlos. 

Die bäuerliche Hufe bildet dasjenige 
Ritterland, was der Grundherr dem Bauern 
verleiht. Davon ist das übrige Land zu unter¬ 
scheiden, das dem Bauern nicht vom Grund¬ 


herrn verliehen ist. Wer keine Hufe besitzt, 
bleibt zwar noch Landwirt, aber er scheidet 
aus der Klasse der Bauern. Nun vollzieht 
sich eine tief greifende Änderung: Um sich 
von seinen Beamten loszumachen, die der 
Grundherr auf seinen Villikationen halten 
muss, legt er mehrere Bauernhöfe zusammen; 
statt vieler Bauern mit kleinem Besitz und 
ohne Freiheit tritt eine geringere Anzahl freier 
Bauern mit grösserem Besitz. Der Herr wird 
damit ein Verpächter im modernen Sinne und 
lebt von den verabredeten Pachtabgaben. Die 
Bauern besitzen ihre Stellen nach Meierrecht. 
Was wird nun aus den übrigen Bauern, die 
keine Hufen erhalten haben? Entweder sie 
bleiben sitzen, treiben gleichfalls Landwirt¬ 
schaft, aber ohne grundherrliche Hufe und 
schliessen sich zu einem neuen Stande zu¬ 
sammen : den Köttern; oder aber sie ziehen in 
die Städte und bilden einen Teil der Stadt- 
bOrger, oder aber schliesslich, sie wandern 
aus nach den ostelbischen Landen, verdrängen 
das Slaventum weiter nach Osten und bilden 
hier den Stamm der niederdeutschen Bauern, 
Im Osten unseres Vaterlandes trat dann eine 
gänzliche Umwandlung der Agrarverhältnisse 
ein durch die veränderte Heeresverfassung: 
der Ritterdienst wurde entbehrlich und an 
seine Stelle tritt das Söldnerheer. Dafür 
sind regelmässige und hohe Steuern nötig. 
Ira Osten föngt deshalb der Grundbesitzer 
einen Grossbetrieb an, er zieht die Bauern¬ 
stellen ein [Bauernlegen!], um den neuen An¬ 
forderungen Genüge zu leisten. Im Nord¬ 
westen dagegen bleibt er wesentlich Grundherr. 
Natürlich finden auf beiden Seiten Ansnahmen 
statt. Die landesherrliche Steuer wird hier 
auf das bäuerliche Meiergut gelegt und zwar 
durch die Einwirkung des Landesherm. Der 
Staat hat infolgedessen ein hohes Interesse 
daran, dass stets Meiergüter vorhanden sind. 
Infolgedessen wird im 16. Jahrhundert durch 
landesherrliche Gesetze die Erblichkeit des 
Meierbesitzes eingeführt und dem Grundherrn 
untersagt, den Meierzins zu erhöhen, damit 
der Meier leistungsfähig bleibt. 

Der dreissigjährige Krieg richtete auch in 
diesen Gegenden eine grosse Verwüstung an. 
Viele Bauernstellen waren verlassen, diese 
meierlosen Äcker an solche Landleute gefallen, 
die keine Hufe hatten, und von ihnen bewirt¬ 
schaftet. Das Meiergut war also zersplittert. 
Nach dem Kriege wurde nun nicht etwa von 
dem Landesherrn eine Grundsteuer eingeführt, 
um die Leistungen für den Unterhalt des 
Heeres zu bekommen, sondern die alten Meier¬ 
höfe wiederhergestellt, „redintegriert". Da¬ 
mit wird der Meier wiederum zum wichtigsten 
Steuerzahler und er sieht schon den Staat für 
seinen öffentlich rechtlichen Grundherrn an. 


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53«> Thilo, Verwendung der Röntgen-Strahlen in der chemisch-analyt. Praxis. 


Er hat ein Nutzungsrecht an fremdem Boden, 
und dieses Nutzungsrecht ist erblich. Die 
Hufen gehen über auf einen dem landesherr¬ 
lichen Amtmann gleichfalls genehmen Nach¬ 
kommen [Anerbenrecht!]. 

Im Zeitalter der Revolutionen schwand 
der hannoversche Staat, das grösste Staaten¬ 
gebilde im Nordwesten Deutschlands, eine 
Zeit lang. Alle Grundherrschaft und etwa 
noch vorhandene Leibeigenschaft wurde auf¬ 
gehoben. 1815 fand eine einfache Wieder¬ 
herstellung des alten Zustandes statt und erst 
1830 sind durch die revolutionären Strömungen 
die modernen Verhältnisse durch sogenannte 
Ablösungen herbeigeführt. Aber die staatliche 
Vormundschaft dauerte fort, das Anerbenrecht 
blieb bestehen; erst 1866 ist auch diese 
Vogtei des Staates verschwunden. 

V. Ebengreuth behandelt die Entstehung 
der Landstände. Sie sind ein Ergebnis spät 
mittelalterlicher Entwickelung; ihre Ausge¬ 
staltung hängt ebenso wie die des Reichstages 
eng mit der Entwickelung der Landesherrlich¬ 
keit zusammen, und ebenso wie die Reichs¬ 
tage nicht Organe des Volkes, sondern Ver¬ 
sammlungen eigenberechtigter Machthaber, 
so sind auch die Landstände weniger Organe 
des Landes, als bevorzugter Klassen der 
Bewohner. Von einem Landtage darf man 
erst dann sprechen, wenn gewissen Klassen 
der Landesbewohner in allgemeinen Landes¬ 
angelegenheiten das Beraten der Fürsten als 
ihr Recht zusteht, oder dieser gar in gewissen 
Fällen an ihre Zustimmung gebunden erscheint. 

Unter Landständen versteht man zunächst 
nur die wichtigsten Geschlechter des Land¬ 
adels; ihnen schliessen sich dann an die 
Prälaten und die Landesbischöfe, dann die 
Vasallen der geistlichen und weltlichen Gross¬ 
grundbesitzer, die Ritter und Knechte, die 
comprovinciales oder Landleute, und schliess¬ 
lich die landesfürstlichen Städte. Der Beginn 
einer ständischen Mitwirkung bei der Regierung 
lässt sich zuerst in Steiermark verfolgen, von 
1192 an; als eine der wichtigsten Aufgaben 
der Stande erscheint ihre Teilnahme an dem 
Erlass von Landfriedensordnungen. Natürlich 
bildet sich diese landständische Verfassung 
in verschiedenen Ländern zu verschiedenen 
Zeiten aus, aber: die ursprüngliche Zusam¬ 
menstellung des landständischen Körpers ist 
allenthalben gleichmässig. Die Zahl der Land¬ 
stände ist nur gering; daher finden nur selten 
Landtage statt. 

Dafür begnügte man sich in dieser Zeit 
mit einer anderen Einrichtung, die den Landes¬ 
herrn doch einen gewissen Einfluss auf die 
Landesangelegenheiten sicherte: dem „ge¬ 
schworenen Rate der Landherrn". Er ist 
eine Übergangsform, ein Vertrauensorgan 


einerseits des Landesherrn, andererseits der 
Landstände, wahrscheinlich ein blosses Ehren¬ 
amt; diese Form einer Vertretung der Land¬ 
stände findet sich zuerst ausserhalb Deutsch¬ 
lands in Ungarn; in Österreich treten sie 
dann besonders unter den Habsburgern auf. 
Bald macht sich hier das Bedürfnis geltend, 
den Einfluss des Landesherrn gegenüber der 
landständischen Gewalt zu stärken. So bildet 
sich ein doppelter Rat: ein „Geheimer Rat", 
bestehend aus den eigentlichen Vertrauens¬ 
personen und der „geschworene Rat der 
Landherrn“. Dieser hielt sich in Österreich 
bis ins 15. Jahrhundert, weil man mit ihm 
bequemer regieren konnte, als mit den Ver¬ 
sammlungen aller L.andesgrössen. Auch in 
den übrigen Territorien findet er sich. Erst 
im 15. Jahrhundert werden die Landtage zu 
bleibenden Einrichtungen infolge des Zusam¬ 
menschlusses der Landherrn mit der Ritter¬ 
schaft und den Städten. Aber auch diese 
Landtage sind nicht mehr als eine Phase in 
der Entwickelung des landständischen Lebens. 

Zum Schluss sei noch eine Abhandlung 
von E. B e r n h.e i m in der deutschen Zeitschrift 
für Geschichtswissenschaft n. F. Bd. I erwähnt: 
„Politische Begriffe des Mittelalters im Lichte 
der Anschauungen Augustins". Eine Reihe 
von Begriffsbestimmungen Augustins werden 
erörtert; dann sucht er nachzuweisen, inwie¬ 
fern die Augustinschen Begriffe im Mittelalter, 
besonders bei Gregor VII., nachgewirkt haben 
und dass sie zum Verständnis mittelalterlicher 
Geschichte und mittelalterlichen Lebens von 
der grössten Bedeutung sind. 


Ein Versuch zur praktischen Verwendung 
der Röntgen-Strahlen in der chemisch¬ 
analytischen Praxis. 

In No. 43 der „Chemiker Zeitung" von 
1897 veröffentlicht Dr. Wilhelm Thörner 
in Osnabrück einige sehr interessante Mit¬ 
teilungen über praktische Verwertung der 
X-Strahlen. 

Die Resultate, die der Verfasser bei der 
Durchstrahlung verschiedener Chemikalien er¬ 
zielte, stimmen mit den bisher veröffentlichten 
Beobachtungen überein und gehen dahin, dass 
die rein organischen, nur aus Kohlenstoff, 
Wasserstoff, Sauerstoff, Stickstoff bestehenden 
Körper für die X-Strahlen sehr leicht durch¬ 
lässig sind, viel weniger schon die organ¬ 
ischen Halogenverbindungen, Schwefelverbind¬ 
ungen und überhaupt organische Verbindun¬ 
gen mit anorganischen Resten. Einen weit 
grösseren Widerstand setzen den Strahlen 
die anorganischen Stoffe und Verbindungen 


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V 


Thilo, Verwendung der Röntgen-Strahlen in der chemisch-analyt. Praxis. 


531 


entgegen, mit Ausnahme von Borsäure, bor- 
saurem Natron, kohlensaurem Lithium und 
Diamant, welche leicht durchlässig sind. 

Von dieser Thatsache ausgehend gelangte 
der Untersucher zu der Vermutung, dass auch 
unsere Nahrungs- und Genussmittel, die ja 
vorwiegend organisch sind, die X-Strahlen 
leicht durchlassen würden und zwar um so 
leichter, je weniger Aschengehalt dieselben 
hätten. Diese Vermutung wurde durch die 
Versuche auch bestätigt. 

Eine Unterscheidung der verschiedenen 
Mehlsorten durch die X-Strahlen erwies sich 
als nicht ausführbar, da sie alle etwa gleich 
grosse Durchlässigkeit fbr dieselben zeigten. 
Ähnlich verhielten sich Honig und Zucker. 
Wurden aber diese Nahrungsmittel mit mi¬ 
neralischen Bestandteilen vermischt, so war 
diese Fälschung an der geringeren Durch¬ 
lässigkeit für die Strahlen auf dem Photo¬ 
gramm leicht zu erkennen. 

Auch die verschiedenen Fette verhielten 
sich etwa gleich; wurde aber z. B. Butter 
mit Kochsalz vermischt, so war das leicht an 
der geringeren Durchlässigkeit zu erkennen. 

Einen wesentlichen Unterschied zeigten 
die verschiedenen Brotsorten gegenüber den 
Strahlen. 

Weizenbrot erwies sich als am leichtesten 
durchlässig, dann kam Roggenbrot, dann 
Graubrot. Pumpernickel ist am schwersten 
durchlässig. Die hellen Stellen in den Photo¬ 
grammen, sind jedenfalls durch die grösseren 
Hohlräume im Innern des Brodes verursacht. 

Nach der Meinung des Verfassers hängt 
die grössere oder geringere Durchlässigkeit 
von der inneren Porosität ab, und er ver¬ 
mutet eine gewisse Beziehung zwischen der 
Durchlässigkeit für X-Strahlen und der Ver¬ 
daulichkeit, womit Obereinstimmt, dass Weizen¬ 
brot sehr leicht, Pumpernickel sehr schwer 
verdaulich ist. 

Höchst charakteristisch sind die Schatten¬ 
bilder von Kaffeebohnen. Fälschungen durch 

Zusatz von künst¬ 
lichen Bohnen, aus 
Brotteig oder Thon 
geben sich durch 
Röntgenstrahlen 
deutlich zu erkennen. 

Fig. r*) bezeich¬ 
net eine Fälschung 
mit Brotbohnen; die 
mit einem Kreuze 
bezeichneten Bohnen 
Fig- I- sind solche; die 

Durchlässigkeit derselben für die X-Strahlen 

•) Herr Dr. Thömer hat uns freundlicherweise 
seine Originalphotogramme zur Verfl^ung gestellt. 

Die Kedäction. 



Fig. 2. Fig. 3. 

ist fast die gleiche wie bei Kaffeebohnen, da¬ 
gegen ist der Schlitz gar nicht oder nur ganz un¬ 
deutlich zu erkennen. Weit klarer aber lässt sich 
eine Verfälschung mit Thonbohnen nachweisen. 
Die tief schwarzen Gebilde der Thonbohnen, 
die die Strahlen fast gar nicht durchlassen, 
heben sich scharf ab. 

Wird nun der mit künstlichen Bohnen 
verfälschte' Kaffee gebrannt, so ergiebt sich 
das folgende Bild. 

Während die Kaffeebohnen nach dem 
Brennen ihr Volum vergrössern und zweitens 
für die X-Strahlen noch leichter durchlässig 
werden, ist dies bei den Brotbohnen nicht 
der Fall. (Vgl. Fig. 2.) Die Thonbohnen 
(Fig. 3) sind ebenso leicht wie beim unge¬ 
brannten Kaflfee zu unterscheiden. 

Wird bereits einmal ausgekochter Thee 
mit organischen Färbemitteln aufgefrischt, so 
lässt sich dies durch Röntgenstrahlen leicht 
erkennen. 

Die Verfälschung von Thee besteht meist 




Fig. 6. Fig. 7. 



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532 


WiLCZEK, Eisenbahnunfälle und die Mittel zu deren Verhütung. 



Fig. 8. 

darin, dass der schon einmal benutzte, mit 
Wasser ausgezogene Thee mit organischen 
Farbmitteln, wie Graphit, Ultramarin etc. ge¬ 
färbt resp. beschwert wird. Dies erkennt man 
deutlich auf Fig. 6 (grüner Thee) und Fig. 7 
(schwarzer Thee). Fig. 4 ist reiner grüner 
und Fig. 5 reiner schwarzer Thee. 

In sehr schöner Weise lässt sich durch 
Röntgenstrahlen feststellen, ob Nässe ver¬ 
schiedener Art frisch und voll oder taub und 
verdorben sind. 

Fig. 8 zeigt Haselnüsse, unter denen die 
mit * bezeichnete taub ist. 

Auch die Anwesenheit von Doppelkernen 
(Vielliebchen) lässt sich für vorsichtige Mütter 
erkennen. Der Herr Verfasser meint bei 
dieser Gelegenheit, dass diese Beobachtungen 
für die Kaufleute von Wichtigkeit sein wür¬ 
den, indem diese nur nöthig hätten, mit einer 
Handvoll der zum Kauf angebotenen Nüsse, 
Knackmandeln etQ. zu einem mit den nötigen 
Einrichtungen versehenen öffentlichen Nahr¬ 
ungsmitteluntersuchungsamt zu gehen, um zu 
erfahren, ob die Waare gut oder schlecht 
ist. Es ist dem Herrn Verfasser aber hierbei 
der scherzhafte Lapsus passiert, zu übersehen, 
dass der Kaufmann eine Handvoll Nüsse etc., 
die eine Durchschnittsprobe darstellen, ja nur 
mit einem Nussknacker aufzubrechen nötig 
hat, um sich auch ohne Röntgenstrahlen in 
einfacher und billiger Weise zu überzeugen, 
ob die Waare etwas wert ist. 

Die hlühnereier zu durchleuchten gelang 
dem Verfasser nicht in befriedigender Weise. 
Hingegen sind die Bilder einiger Gewürze 
recht charakteristisch, so dass sich eine Fälsch¬ 
ung leicht erkennen lässt. 

Einen interessanten Unterschied zeigen 
verschiedene Nähseidesorten des Handels. 

Die Durchlässigkeit der Seide ftir X- 
Strahlen scheint in umgekehrtem Verhältnis 
zum Aschengehalt zu stehen. Eine Beschwer¬ 
ung der Seide lässt sich durch Röntgen¬ 
strahlen leicht konstatieren. 

Von Materialien, die zu Gebrauchsartikeln 
und Schmuckgegenständen Verwendung finden, 
erwies sich Horn als leicht, Hirschgeweih 


als etwas schwerer und Knochen als schwer 
durchlässig für die X-Strahlen, so dass Gegen¬ 
stände, die aus diesen Materialien bestehen, 
leicht von einander unterschieden werden 
können. 

Korallen sind schwer durchlässig, ebenso 
die aus glasartigen Stoffen hergestellten Nach¬ 
ahmungen derselben, wogegen die aus Cellu¬ 
loid oder Harzmasse verfertigten Nachbildun¬ 
gen leicht durchlässig sind. 

Der Diamant ist leicht durchlässig, wäh¬ 
rend die sogenannten Similidiamanten schwer 
passierbar für die X-Strahlen sind. 

Der Verfasser giebt noch eine Reihe von 
Einschnitten verschiedener Holzarten wieder 
und hat schliesslich seine Untersuchungen 
auch auf das Mineralreich ausgedehnt. Er 
vermutete, dass, da die Kohle leicht durch¬ 
lässig für X-Strahlen ist, man durch dieselben 
in der Kohle eingelagerte Mineralien in ihrer 
Form, Grösse und Dichte würde erkennen 
können. Diese Vermutung hat sich auch be¬ 
stätigt. 

Fig. 9 giebt 
einen Schnitt 
von Piesberger 
Anthrazitkohle 
wieder. Die 
durch die Rönt¬ 
genstrahlen er¬ 
kennbaren Ein¬ 
lagerungen 
sind bei der 
direkten Be¬ 
trachtung der 
Schnitte durchaus nicht zu erkennen. 

Der Verfasser beschreibt schliesslich die 
Apparate, deren er sich bedient hat und er¬ 
klärt sich am Schlüsse seiner interessanten 
Arbeit bereit, ihm eingesandte Gegenstände 
der Durchleuchtung mit X-Strahlen zu unter¬ 
werfen. Dr. Thilo. 


Über Eisenbahnunfälle und die Mittel 
zu deren Verhütung. 

V'on Graf Eduard Wilczek. 

Rastlos und unermüdlich verfolgt die mo¬ 
derne Eisenbahn-Technik die Aufgabe, durch 
Erfindung immer neuer, sinnreicher Apparate, 
durch ein bewundernswert ausgebildetes Sig¬ 
nal-System, durch erhöhte Sorgfalt im Bati 
der Bahnen und in der Konstruktion der Be¬ 
triebsmittel, durch gewissenhafte Verwendung 
nur des besten Materials, durch strenge 
Schulung des Personals, und ähnliche Mittel, 
dem gefahrdrohenden Momente des exekutiven 
Eisenbahndienstes entgegenzuwirken. In hohem 
Grade ist ihr die Erreichung des angestrebten 
Zweckes bereits gelungen; es ist gegenwärtig. 



Fig. 9. 


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WiLCZEK, Eisenbahnunfälle und die Mittel zu deren VERHötung. 


533 


wie die Statistik nachweist, im Eisenbahn¬ 
betriebe eine Stufe relativer Sicherheit er¬ 
reicht, welche diejenige aller anderen Be¬ 
förderungsarten um ein Beträchtliches über¬ 
ragt. Bei alledem wird das Gefühl der Gefahr¬ 
losigkeit bei der Benützung der Eisenbahnen 
besonders in der letzten Zeit relativ häufig 
durch das Vorkommen von Betriebsunfällen 
erschüttert. Erst kürzlich wieder ereigneten sich 
bei Kopenhagen und Kassel schwere Unglücks- 
fälle, die bei Berufenen und Unberufenen die 
Frage aufwarfen, ob denn thatsächlich bereits 
alle Mittel erschöpft sind, um die Wiederkehr 
derartiger Unfälle hintanzuhalten? 

Das Eisenbahnwesen ist ein gesunder 
Körper;' an diesem bilden die Eisenbahn-Un¬ 
fälle jene gelegentlichen krankhaften Erschein¬ 
ungen, denen auch der gesündeste Organis¬ 
mus ausgesetzt ist. Krankhafte Bildungen 
überhaupt zu verhindern, liegt ausserhalb der 
Möglichkeit: die Frage liegt demnach nur 
so, wie die Ursachen möglichst beschränkt 
werden können; und die Antwort wird zu¬ 
nächst von der Diagnose der Funktion der 
Organe abhängig sein. Das Erkennen der 
letzteren nach ihrer fehlerhaften Richtung 
hin wird die einzig mögliche Remedur, eine 
wirksame Prophylaxis, bestens erleichtern. 

Von diesem Gesichtspunkte ausgehend, 
hat es sich der Verfasser angelegen sein 
lassen, eine Art privater Statistik über die im 
Laufe der letzten Jahre auf den europäischen 
Bahnen (mit Ausschluss von Skandinavien 
und der Türkei) vorgekommenen grösseren 
Betriebsunftllle zu führen, soweit dieselben 
auf dem Wege der Publizistik kontrollierbar 
waren, und soweit bei denselben Beschädig¬ 
ungen von Personen stattgefunden haben; im 
Nachfolgenden seien einige der Resultate 
dieser ganz privaten und unoffiziellen Statistik, 
welche die Jahre 1891 — 1896 inkl. umfasst, 
mitgeteilt. 

Die Summe der in den Jahren 1891 —1896 
inkl. auf den europäischen Bahnen stattge¬ 
habten grösseren Unfälle ^ solche ohne vor- 
gekomraenen Verletzungen, und die endlose 
Reihe der einfachen Betriebsstörungen sind 
hier nicht berücksichtigt — sowie die Anzahl 
der hierbei vorgekommenen Tötungen und 
Verletzungen von Personen hat betragen im 

Ver- Zu- 

letzung sammen 

451 598 

364 495 

607 847 

555 ■ 685 

428 537 

391 5 J 8 

Summe 315 884 2796 3680 


Wie ersichtlich, weisen die einzelnen Jahre 
hinsichtlich der Zahl wie der Intensität der 
Unfälle keine sehr wesentlichen Unterschiede 
auf, und ist die Tendenz zur Besserung nur 
.eine geringe. 


Repartiert man die Unfälle summarisch 
auf die Eisenbahnnetze der einzelnen Länder, 
so ergiebt sich folgendes Bild: 


Eisenbahnen 

Un¬ 

Töt¬ 

Ver- 

Zu- 


fälle 

ung 

letzung sammen 

Russland . 

63 

418 

612 

1030 

Deutsches Reich 

49 

53 

250 

303 

Österreich 

47 

17 

225 

242 

Frankreich 

38 

98 

532 

630 

Ungarn . . 

29 

9 

156 

165 

Italien .... 

23 

68 

103 

171 

England . . . 

18 

82 

311 

393 

Belgien . . . 

r6 

41 

241 

282 

Spanien . . . 

14 

44 

142 

186 

Schweiz . 

4 

33 

114 

147 

Niederlande . . 

3 

8 

63 

71 

Portugal . 

3 

9 

8 

17 

Rumänien 

3 

2 

26 

28 

Serbien . . . 

2 

— 

4 

4 

Bulgarien. . 

2 

I 

8 

9 

Dänemark 

I 

I 

I 

2 

Summe 

315 

884 

2796 

3680 


Wenn man die absolute Anzahl der ge¬ 
samten Verunglückungen zum Massstabe 
annimmt, so gruppieren sich die Bahn¬ 
netze der einzelnen Länder in nachstehender 


Reihenfolge: 

Verun¬ 

Jahres- 


glückungen 

Durchschnitt 

Russland 

1030 

171 

Frankreich . 

630 

105 

England 

393 

65-5 

Deutsches Reich . 

303 

50-5 

Belgien .... 

282 

47 

Österreich . . . 

242 

40-5 

Spanien .... 

186 

31 

Italien .... 

171 

28.5 

Ungarn .... 

165 

27-5 

Schweiz . . 

147 

24 

Niederlande . 

71 

12 

Rumänien . 

28 

5 

Portugal 

17 

3 

Bulgarien . 

9 

1-5 

Serbien .... 

4 

0.7 

Dänemark . 

2 

0-3 

Summe . 

3680 

613 


Auch hier steht also Russland obenan, 
welches demnach hinsichtlich der Betriebs¬ 
sicherheit unter allen europäischen Ländern 
am ungünstigsten situiert erscheint. Anders 
hingegen gestaltet sich das Verhältnis, wenn 
die Intensität der Unfälle, d. h. ihre Bösartig¬ 
keit, oder die Anzahl der auf je einen Unfall 
kommenden Verunglückungen, und ferner. 


Jahre 

Unfälle 

Tötung 

1891 

38 

147 

1892 

47 

131 

1893 

64 

240 

1894 

56 

130 

18^5 

56 

109 

1696 

54 

127 


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534 


WiLCZEK, Eisenbahnunfälle und 

wenn die Anzahl der Unfälle im Vergleich 
mit der Ausdehnung des resp. Bahnnetzes 
zur Grundlage genommen wird. Im ersteren 
Falle gestaltet sich die Stufenleiter wie folgt: 
es entfallen auf je einen Unfall in 


Schweiz .... 

36.3 Verunglückungen 

Niederlande 

23-8 

England .... 

21.8 „ 

Belgien .... 

17-5 « 

Frankreich . . . 

16.6 „ 

Russland . . . 

16.3 „ 

Spanien .... 

13-3 

Rumänien . 

9*3 >* 

Italien .... 

7'4 *> 

Deutsches Reich . 

6.2 „ 

Ungarn .... 

5*7 >> 

Portugal .... 

5-6 

Österreich . . 

5-1 

Bulgarien 

4*5 »» 

Dänemark . 

2 „ 

Serbien .... 

2 „ 


Und im zweiten Falle, nämlich die Häufig¬ 
keit der Unfälle im Vergleich zur Ausdehn¬ 
ung des Bahnnetzes genommen, ergiebt sich 
für die genannte 6jährige Periode die Reihen¬ 
folge : 

bei einem aufjeioookm 
Bahnnetz von entfallen 


Serbien 

539 km 

4-00 

Unfälle 

Belgien . . . 

5263 „ 

3-12 

f } 

Österreich . . 

16348 „ 

2.89 


Ungarn 

13142 „ 

2.21 

» 

Russland . . . 

30957' 

2.04 


Italien . . . . 

12907 „ 

1.79 

ff 

Bulgarien. . . 

1355 M 

1.46 

ff 

Spanien . . 

9878 „ 

1.41 

ff 

Schweiz . . . 

3190 „ 

1.26 

ft 

Portugal . 

2471 » 

1.20 

)t 

Deutsches Reich 

42869 „ 

1.14 

ff 

Frankreich . 

36895 „ 

r.03 

ft 

Rumänien 

2888 „ 

1.03 

ff 

Niederlande . 

3060 „ 

0.97 

ff 

England . 

32297 » 

0-53 

ff 

Dänemark 

i960 „ 

O.50 

ff 


(Die Bahnnetze der einzelnen Länder sind 
auf den 6jährigen Durchschnitt der Periode 
1891 — 1896 reduziert.) 


Selbstredend erheben die oben mitgeteilten 
statistischen Resultate, bei ihrem durchaus 
privaten Charakter, nicht den Anspruch auf 
Exaktheit und Vollständigkeit. Es liegt in der 
Natur ihrer Beschaffung, dass dem Verfasser 
die Vorkommnisse auf den deutschen, öster¬ 
reichischen und ungarischen Bahnen viel voll¬ 
ständiger zur Kenntnis gelangt sind, als die¬ 
jenigen auf den Bahnen entlegenerer Länder, 
von welchen sozusagen nur die sensationel¬ 
len Fälle den Gegenstand journalistischer 
Berichterstattung bilden. Immerhin mögen sie 
aber im Grossen und Ganzen ein der That- 


DiE Mittel zu deren Verhütung. 

sächlichkeit entsprechendes Bild geben; und 
namentlich, unter Berücksichtigung des eben 
erwähnten Umstandes, den ziffermässigen 
Nachweis erbringen, dass die Betriebssicher¬ 
heit eben auf den deutschen, österreichischen 
und ungarischen Bahnen eine relativ günstigere 
ist, als auf denen der meisten übrigen Länder. 

Wenden wir uns nun der Art der Un¬ 
fälle und deren Ursache zu. Von den oben 
in Evidenz gehaltenen 315 Unfällen wurden 
191 (oder 6o.6"pCt.) durch Kollisionen (Zu- 
sammenstoss, Anrennen und Streifen), 109 
(oder 34.6 pCt.) durch Entgleisung, und nur 
15 (oder 4.8 pCt.) durch sonstige verschieden¬ 
artige Umstände veranlasst, oder richtiger ge¬ 
sagt, bewirkt; denn Kollision und Entgleisung 
sind nur die Wirkungen irgend einer ursäch¬ 
lichen Verschuldung. Demnach taucht bei je¬ 
dem Unfälle zuvörderst die Frage nach der 
schuldtragenden Veranlassung auf. Die Ant¬ 
wort auf diese Frage ist jedoch in der Praxis 
durchaus nicht leicht gegeben. In den oben¬ 
genannten 315 Fällen hat die eingeleitete 
Untersuchung zur Eruierung der schuldtragen¬ 
den Veranlassung, soweit dem Verfasser be¬ 
kannt geworden, nur in 107 Fällen, also 
wenig mehr als einem Drittel, zu einem un¬ 
zweifelhaft positiven Resultate geführt. Diese 
107 unzweifelhaft konstatierten Fälle verteilen 


sich wie folgt; 

Ursache: Fälle: 

Falsche Weichenstellung .... . < . 25 

Meteorologische Einflüsse (Nebel, 
Schnee, Gewitter, Sturm etc.) . . 15 

Fahrlässigkeit und instruktionswidriges 
Handeln des Dienstpersonals . . ii 

Achs- und Kuppelungsbrüche an den 

Fahrzeugen.7 

Irrtümliche Signalisierung .... 6 

Plötzliches Defektwerden d. Lokomotive 6 
Verlegung der Bahn durch Berg- und 

Erdstürze.5 

Schienenbruch.5 

Fremde Böswilligkeit (Attentate) . . 5 

Kesselexplosion der Lokomotive . . 4 

Brückeneinsturz unter fahrenden Zügen 3 

Zu rasches Fahren.3 

Hochwasser.a 

Trunkenheit des Dienstpersonals . . 2 

Übermüdung des Dienstpersonals . . i 

Durchgehen des Zuges auf starkem Gefäll i 
Plötzliche Dammrutschung .... i 
Tunneleinsturz über dem fahrenden Zuge i 
Einsturz des Hallendaches .... i 
Inbrandgeraten des Zuges .... i 

Volksexzess.i 

Okkupierung der Bahn durch Vi eh . 1 

107 


Hingegen ist in nahezu zwei Dritteln der 


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WiLczEK, Eisenbahnunfälle und die Mittel zu deren Verhütung. 


535 


Fälle, nämlich 208 mal, ein positives Resultat 
der Untersuchung nicht erreicht, resp. nicht 
verlautbart worden. Zum Teil erschwert bei 
den letzteren das Zusammenwirken verschie¬ 
dener Umstände das Kategorisieren, zum 
Teil waltet auch eine gewisse Scheu ob, das 
grosse Publikum in aufgedeckte Mängel und 
Gebrechen Einblick nehmen zu lassen; ka¬ 
meradschaftliche Vertuschung, Mitleid mit dem 
eruiertenSchuldtragenden,und ähnliche psycho¬ 
logische Momente mögen hierbei auch gar 
oft ihre Hand im Spiel haben; und so bleibt 
denn für die Feststellung der Kausalität der 
willkürlichen Annahme ein sehr weites Feld 
offen. Lässt sich doch selbst zwischen den 
scheinbar so heterogenen Gebieten der vis 
major und der persönlichen Verschuldung 
keine scharfe Grenzlinie ziehen, wie ein Blick 
auf die mitgeteilten konstatierten Fälle be¬ 
weist ; ein falsch gegebenes Signal z. B. scheint 
ein persönliches Verschulden durch Fahrlässig¬ 
keit zur notwendigen Voraussetzung zu haben; 
wie aber, wenn es durch eine unkontrollier¬ 
bare Funktionsstörung des elektrischen Ap¬ 
parates herbeigefOhrt wird? Oder ein Achsen¬ 
bruch; klagt dieser den Fabrikanten an, der 
schlechtes'Material verwendet, oder den Re¬ 
videnten, der den beginnenden Anbruch 
nicht bemerkt hat, oder eine schlecht funk¬ 
tionierende Weiche, durch welche übergrosse 
Pressung entsteht, oder irgend einem geheim¬ 
nisvollen chemischen Prozess im Innern des 
Stahles? Wer kann es immer entscheiden, 
wer sagen: Hier hört die Schuld auf, und 
hier fängt die „höhere Gewalt“ an? 

Sehr nahe liegt jedoch die Annahme, dass 
bei den nicht konstatierten Ursachen der Un¬ 
fälle ein weitaus überwiegender Anteil auf 
das persönliche, oder auch auf das systemat¬ 
ische Verschulden entfällt. Wo sich auch nur 
eine halbwegs annehmbare Handhabe bietet, 
die Verantwortung für angerichtetes Unheil 
der vis major aufzuhalsen, wird sie ganz ge¬ 
wiss nicht unbenützt gelassen. Hier wirft sich 
aber neuerdings die Frage auf: ist die per¬ 
sönliche Verschuldung, wenngleich erwiesen, 
auch unbedingt strafbar? Findet sie nicht 
zuweilen eine Entschuldigung in einem .^s- 
teme, welchem sie entspringt, ja, durch welches 
sie zuweilen geradezu grossgezogen werden 
kann? 

In dieser Frage ist, nach meiner Ansicht, 
der Punkt gekennzeichnet, an welchem der 
Hebel angesetzt werden muss, der eine Bes¬ 
serung der Verhältnisse bewirken soll; und 
es dient mir zur Befriedigung, zu konstatieren, 
dass diese Überzeugung sich in immer wei¬ 
teren Kreisen Bahn zu brechen beginnt, und 
hiermit ein vielverheissender Anfang gemacht 
ist, der, wenn auch nicht zur gänzlichen Ver¬ 


hütung, so doch zu einer sehr wesentlichen 
Beschränkung der häufigen Eisenbahnunfälle 
und ihrer verderblichen Folgen führen wird. 

Das Beispiel der vorher angeführten Sta¬ 
tistik zeigt, dass die weitaus überwiegende 
Menge der Eisenbahnunfälle aus Kollisionen 
und Entgleisungen fahrender Züge besteht 
(im konkreten Falle 95.2 pCt. der Gesamt¬ 
menge). So verschieden auch die Ursachen 
sein mögen, durch welche diese beiden Haupt- 
t3T>en der Eisenbahnunfälle veranlasst werden, 
so ist doch der Grund der verderblichen 
Wirkung Beider der gleiche: nämlich das in 
rasch bewegten sehr gewichtigen Massen auf- 
gespeicherte Beharrungsvermögen, die leben¬ 
dige Kraft. Nun bringen es die ins Masslose 
wachsenden Ansprüche des Verkehrs an die 
Leistungsfähigkeit der Eisenbahnen mit sich, 
dass die Dimensionen und somit das Ge¬ 
wicht der Fahrzeuge immer grösser, die Fahr¬ 
geschwindigkeiten immer bedeutender, die 
einzelnen Züge immer mehr belastet wer¬ 
den; im gleichen Masse wächst die in je¬ 
dem fahrenden Zuge latente lebendige 
Kraft, und mit letzterer das drohende 
Gefahrsmoment im Falle eines plötzlichen 
Widerstandes. Das Bestreben der Techniker 
ist daher rastlos, und man muss es gestehen, 
auch erfolgreich, an der Verhinderung des 
Eintretens solcher unerwarteter Widerstände 
thätrg: einmal durch höchst sinnreich er¬ 
dachte Signalsysteme, welche, zum Teil in 
automatischer und daher jedes Missverständ 
nis ausschliessender Weise, die freie Fahrbar¬ 
keit oder die Sperrung der Bahn anzeigen, 
und zugleich an frequenten Bahnpunkten die 
Stellung der Signale mit derjenigen der 
Weichen etc. unlöslich verbinden, auch die 
Stellung der sämtlichen Weichen und Signale 
in einem einzigen leitenden Willen konzen¬ 
trieren; dann zweitens durch Herstellung 
solcher Apparate, welche geeignet sind, den 
in voller Fahrt befindlichen Zug in möglichst 
kürzester Frist zum Stehen zu bringen. Der 
erstere Zweck wird erreicht: auf offener Bahn 
durch die Blocksignale, welche, in ihrer neu¬ 
esten und vollkommensten Ausführung, mit¬ 
telst elektrischen Stromes und durch den 
Kontakt des fahrenden Zuges selbstthätig in 
Bewegung versetzt und wieder abgestellt, 
funktionieren; durch diese wird die Begegnung 
von Zügen auf demselben Geleise, sowie ge¬ 
fahrdrohende Annäherung derselben in gleicher 
Fahrrichtung ausgeschlossen; auf Bahnhöfen 
hingegen durch die .Zentral- Wetchenstell- 
Apparate, welche die sämtlichen, von einem 
Zuge zu durchfahrenden Weichen und Kreuz¬ 
ungen gleichzeitig in korrespondierende 
Stellung bringen und entweder für die freie 
Fahrt öffnen oder sperren, so dass eine ver- 




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536 


WiLCZEK, Eisenbahnunfälle und die Mittel zu deren Verhütung. 


einzelte unrichtige oder gefahrdrohende Stell- 
lung gar nicht möglich wird. Diese Apparate, 
welche zugleich die entsprechende Stellung 
der Signale automatisch bewirken, werden von 
einer einzigen Stelle aus bedient, von einer 
einzigen dirigierenden Hand geleitet, wodurch 
missverständliche, einander widersprechende 
Detailanordnungen ganz ausgeschlossen sind, 
und die Sicherung der ein- und ausfahrenden 
Züge gegen Kollisionen gewährleistet ist. *) 
Den zweiten Zweck erfüllen in ausgezeichneter 
Weise die durch den ganzen Zug durchgehen¬ 
den schnellwirkenden Bremsvorrichtungen, deren 
Bedienung ausschliesslich in die Hand des 
Lokomotivführers gelegt ist, und mittelst 
welcher es möglich wird, die sämtlichen Räder¬ 
paare eines Zuges gleichzeitig zu hemmen 
oder festzustellen. Von letzteren Apparaten 
finden besonders die Luft^/r«c>febremse von 
Westinghouse und die Luft/i?«rbremse von 
Hardy verdiente Anerkennung und immer 
weitere Verbreitung. 

Von einer Beschreibung all der erwähnten 
Einrichtungen und Apparate muss hier ab¬ 
gesehen werden, es genüge daher die Bemer¬ 
kung, dass sie in solcher Vollkommenheit 
erdacht und ausgeführt sind, dass sie das 
Vorkommen des einen Hauptt3'ps der Eisen- 
bahnunfölle, der Kollisionen, zu einer theo¬ 
retischen Unmöglichkeit machen, vorausgesetzt, 
dass sie stetsrichtig funktionieren. In der Praxis 
trifft aber diese Voraussetzung nicht immer 
zu, und daher wird auch die durch sie be¬ 
wirkte, allerdings hochgradige Sicherung 
gegen Unfälle zu keiner absoluten. Im Gegen¬ 
teil — und hier komme ich auf den vorher 
angedeuteten springenden Punkt zurück —, 
gerade in der Vollkommenheit ihrer Ausfüh¬ 
rung und in dem hierdurch erweckten Ver¬ 
trauen in ihre Wirksamkeit liegt ein nicht zu 
verkennendes Gefahrsmoment. Dieses Ge¬ 
fahrsmoment ist sozusagen ein psychologisches; 
es liegt nämlich in der momentanen Konster- 
nierungund der das rasch entschlosseneHandeln 
lähmenden Verwirrung, welcher das Betriebs- 
dienstpersonai leicht anheimfällt, wenn es 
einmal durch das zufällige Versagen eines für 
unfehlbar wirksam gehaltenen Mechanismus 
unerwartet überrascht wird; und den Eintritt 
störender Zufälligkeiten absolut unmöglich zu 
machen, kann der Natur der Dinge nach nie 
gelingen. In der eilenden Hast des Fahr¬ 
dienstes bleibt wenig Zeit zur Überlegung, 
da handelt es sich oft um Sekunden. Ein 
Augenblick der Verwirrung genügt, um ein 
Unheil herbeizuführen. Hauptsächlich gilt 
dies für die Lokomotivführer, diejenigen Be¬ 
amten, die bei Herbeiführung und Vermeidung 

*) Vgl. den neuen elektrischen Weichensteller in 
„Umschau“ No. 29. 


von Unfällen in erster Linie beteiligt, und 
durch ihren Dienst in der Lage sind, als 
Erste eine drohende Gefahr zu erkennen und 
ihr entgegenzuwirken. Ein Beispiel hierfür 
bietet der Kopenhagener Unfall r der Schnell¬ 
zug nähert sich der Station, in welcher 
er ohne Aufenthalt einen anderen Zug zu 
überholen hat; beim Einfahrtswechsel bemerkt 
der Lokomotivführer die falsche Stellung des 
letzteren, so dass er sieht, sein Zug werde 
auf das Geleise geraten, auf welchem der 
haltende Zug steht; nun will er seine Vakuum¬ 
bremse in Thätigkeit setzen, diese versagt 
aber durch einen unglücklichen Zufall, und 
der Schnellzug schiesst auf das okkupierte 
Geleise. Wird es dem Führer nun nicht viel 
schwerer fallen, den drohenden Zusammen- 
stoss zu vermeiden, als wenn er, nicht im 
Besitz einer Schnellbremse, die Schnelligkeit 
seines Zuges bereits früher derart gemässigt 
hatte, um ihn im Bedarfsfälle auch mit den 
älteren Hilfsmitteln zum rechtzeitigen Still¬ 
stand bringen zu können? Gehen nicht nun 
viele entscheidende Sekunden verloren, ehe 
er nur die Signalpfiffe für die Zugsbegleiter 
erschallen lassen, und die Umdrehungen der 
Steuerungsschraube bewerkstelligen kann ? 
Wird er selbst, wenn er die volle Geistes¬ 
gegenwart behält, noch die Zeit haben, vor 
dem Hindernis zu halten, und wird nicht, 
wenn er jene auch nur für einen Augenblick 
verliert und sich erst, auf .«eine Massnahmen 
besinnen muss, der Zusammenstoss unver¬ 
meidlich sein ? Dieser Fall hat sich schon häufig 
genug wiederholt. Schreiber dieses hat selbst 
genug, während rascher Fahrt, an der Seite des 
Führers auf der Lokomotive gestanden, um ihn 
sich lebhaft vergegenwärtigen zu können, und 
um überhaupt den Gesichtswinkel zu kennen, 
unter welchem sich die Dinge von diesem -i 
Standpunkte aus betrachten. 

Allerdings ist der Standplatz des Loko¬ 
motivführers weder der einzige noch auch der 
vornehmste, von welchem aus Betriebsange¬ 
legenheiten beurteilt werden wollen; immerhin 
liegt aber die Sicherheit des Betriebes in so 
hohem Grade in der Hand eben dieses Be¬ 
diensteten, dass er in Fragen der letzteren 
wohl eine besondere Berücksichtigung bean¬ 
spruchen darf. Zudem deckt sich auch der 
von ihm eingenommene Standpunkt vielfach 
mit demjenigen der übrigen Zugsbegleiter, 
des Stations- und des Bahnbewachungs- 
Personales, also mit einem grossen Teile der 
Organe des exekutiven Betriebsdienstes; für 
alle diese gilt die frühere Bemerkung, dass 
unbedingtes Vertrauen in die Verlässlichkeit 
der mechanischen Sicherheitsmittel zu einer 
Gefahrquelle w’erden kann, indem es nur zu 
leicht die persönliche Aufmerksamkeit und das 


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WlLCZEK, EiSENBAHNUNFÄLI,E UND DIE MITTEL ZU DEREN VERHÜTUNG. 


537 


individuelle Verantwortlichkeits - Bewusstsein 
abstumpft, und, wenn dann doch einmal 
durch einen unerwarteten Zufall getäuscht, 
leicht einer lähmenden Perplexität Platz macht. 

Ich möchte nicht gerne missverstanden 
werden. Es ist keineswegs die fortschreitende 
und höchst segensreiche Vervollkommnung 
der mechanischen Sicherheitsvorrichtungen, 
gegen welche sich die Spitze der vorher¬ 
gehenden Bemerkungen richtet, sondern ledig¬ 
lich diejenige Auffassung, welche die Be¬ 
kämpfung der Unfälle ausschliesslich auf den 
Mechanismus, auf das automatische Walten 
unpersönlicher Kräfte basiert. Diese bilden 
wohl ein ausgezeichnetes Hilfsmittel, allein 
sie bedürfen, um die von ihnen erwartete 
Wirkung voll entfalten zu können, die un¬ 
ausgesetzte kontrollierende Überwachung durch 
den urteilsfähigen, fallw’eise handelnden 
menschlichen Intellekt; und zwar durch den 
Intellekt nicht nur der leitenden Oberbeamten, 
sondern auch der den exekutiven Betriebs¬ 
dienst versehenden, niederen Organe. Zu 
diesem Zwecke muss aber die geistige Spann¬ 
kraft der letzteren stets rege und reaktions¬ 
fähig erhalten werden, ln dieser Hinsicht 
wird leider auch heute noch seitens mancher 
Bahnverwaltungen viel gesündigt; die Arbeits¬ 
kraft des Stations- und des Fahrpersonales ist 
vielfach, auf rein kommerzieller Basis, bis an 
die äusserste Grenze der Zulässigkeit ausge¬ 
nützt, und hierdurch infolge Ermüdung und 
Abstumpfung eine periodische Depression des 
ontellekts herbeigeführt worden, welche gar 
Ift die Ursache von Unfällen geworden ist, 
welche sonst zu vermeiden gewesen wären. 
Der Verfasser könnte mit einer langen Reihe 
konkreter Beispiele dienen; und wenn er mit 
Befriedigung einen Umschwung zum Besseren 
konstatiert hat, so bezieht sich dies auf die 
bethätigte Erkenntnis, dass der wirksamste 
Hebel zur Verhütung der Unfälle an der 
Verbesserung der Lage des untergeordneten 
Betriebspersonales angesetzt werden müsse. 
Die materielle Lage desselben ist vom tief¬ 
greifendsten Einfluss auf die Bethätigung des 
Intellekts, und mittelbar auf den allgemeinen 
Grad der Betriebssicherheit. Hierbei wird 
nicht allein auf eine ausreichende Höhe der 
Entlohnung gezielt, sondern ganz besonders 
auf eine billige Bemessung der Arbeitszeit, 
und die systematische Gewährung ausreichen¬ 
der Ruhe- und Erholungspausen. Die Aus¬ 
nützung der Arbeitskraft bis an ihre Elastizi¬ 
tätsgrenze ist vom humanitären Standpunkte 
bei allen Arbeitsbetrieben vom Übel; beim 
Eisenbahnwesen wird sie aber überdies noch 
zu einem wirtschaftlichen Fehler, der sich auf 
das Bitterste rächt. Wird diese fundamentale 
Regel einmal allgemein und streng eingehaiten 


sein, dann ist auch die wesentlichste Vor¬ 
bedingung zur Verhütung der Eisenbahnunfälle 
erreicht. 

Selbstverständlich kann bei einem so 
komplizierten Betriebe, wie dem der Eisen¬ 
bahnen, diese Regel nicht generalisiert, nicht 
über einen allgemeinen Leisten, etwa ad nor- 
mam „Achtstundentag“ geschlagen werden; 
hiermit wäre nur ein trügerisches Schlagwort 
ohne inneren Wert geschaffen; ihre Anwen¬ 
dung muss sich unbedingt den verschiedenen 
Dienstzweigen anpassen, deren Anforderungen 
an die physische und intellektuelle Energie 
des Arbeiters höchst verschiedenartige sind. 
Auch hier wird das Maschinenpersonal eine 
besondere Berücksichtigung verdienen, da an 
dieses die höchsten Anforderungen gestellt 
werden. 

Bei dieser Gelegenheit mag noch eine 
Frage gestreift werden, die gleichfalls immer 
deutlicher als eine im System wurzelnde Ge¬ 
fahrquelle erkannt wird, gleichwohl noch immer 
nicht zu den überwundenen Standpunkten 
gehört: nämlich die der Kohlenersparnis- 
Prämien. Manche Bahnverwaltungen messen 
den Maschinisten die für eine gewisse Arbeits¬ 
leistung der Lokomotive durchschnittlich er¬ 
forderliche Kohlenmenge zu, und gewähren 
ihnen für die eventuell ersparte Kohle einen 
prozentualen Gewinnanteil. Die Massregel 
ist vom fiskalischen Standpunkte sehr wirksam, 
denn sie identifiziert das Interesse der Ma¬ 
schinisten mit demjenigen der Bahnverwaltung, 
und sichert ein sparsames Umgehen mit der 
Kohle, hat jedoch hinsichtlich der Betriebs¬ 
sicherheit sehr verderbliche Konsequenzen. 
Denn sie verleitet leicht dazu, zu schwache 
Dampfspannungen, oder mindestens niedere 
Wasserstände im Kessel zu halten; verleitet 
ferner dazu, auf Rampen sehr langsam, auf 
Gefällen hingegen, um die verlorene Zeit ein¬ 
zubringen, übermässig rasch zu fahren; eine 
gleichmässige kräftige Dampfspannung ist aber 
schon aus dem Grunde ein wichtiges Erfor¬ 
dernis der Sicherheit, um gegebenenfalls in 
energischer Gegendampfwirkung ein sicheres 
Mittel zu raschem Anhalten des Zuges in der 
Hand zu haben. 

In dasselbe Kapitel gehört auch die noch 
immer nicht spruchreife Angelegenheit der 
„double öquipe“, nämlich der Besetzung der 
Lokomotive mit doppeltem Bedienungspersonal, 
zum Zwecke der Ablösung. Der metallene 
Organismus der Maschine verträgt eine längere 
Zeitdauer ununterbrochener Inanspruchnahme 
als der aus Muskeln und Nerven zusammen¬ 
gesetzte Organismus des Bedienenden; die 
gerechtfertigte Ausnützung des ersteren muss, 
wenn nicht für Ablösung gesorgt ist, not¬ 
wendigerweise zu ungerechtfertigter Ausnütz- 


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538 


Römer, Ueber den essbaren Palolowürm des pacifischen Oceans. 


ung, zu gefahrdrohender Abspannung führen. 
Diese Erfahrung macht sich namentlich an 
Sonn- und Feiertagen geltend, die, wenigstens 
auf kontinentalen Bahnen, eine bedeutend ge¬ 
steigerte Personenfrequenz aufweisen. Es 
nehmen daher auch die Sonntage einen her¬ 
vorragenden Platz in der Unfallstatistik ein; 
von den im Vorigen ausgewiesenen 315 Un¬ 
fällen kommen 49. auf Sonntage, während auf 
je einen Wochentag nur 44 entfallen; auch 
die letzten schweren Bahnunfälle in Kasselund 
Kopenhagen ereigneten sich an einem Sonntag. 
DerKausal-nexus dieser Erscheinung, sowie die 
Nutzanwendung ist nach dem Gesagten leicht zu 
finden. 

Ich habe mich im Vorhergehenden bemüht 
klarzulegen, auf welchem Gebiete die wirk¬ 
samsten Mittel zu suchen und zu finden sind, 
um der noch immer übermässig häufigen 
Wiederkehr von Eisenbahnunfällen zu be¬ 
gegnen und namentlich vorzubeugen. Zur 
Erstellung konkreter Vorschläge fühle ich 
mich nicht berufen, umso weniger, als die 
hier vertretenen Gesichtspunkte sich zum 
grossen Teile mit der immer allgemeiner her¬ 
vortretenden Reformtendenz vieler Bahnver¬ 
waltungen decken. Der Zweck dieser Zeilen 
ist lediglich nach schwachen Kräften beizu¬ 
tragen, dass auch im grossen Publikum, und 
in dessen eigenstem Interesse, eine jener 
Reformtendenz förderliche Anschauung mehr 
und mehr an Raum gewinne. 


Über den essbaren Palolowürm des pacifischen 
Oceans. Lysidice viridis (Gray), 

einen der merkwürdigsten unter den wenigen 
Würmern, welche dem Menschen als Speise dienen, 
giebt Dr. A. C o 11 i n eine Zusammenstellung unserer 
bisherigen Kenntnis dieses eigentümlichen Tieres 
an der Hand des Materiales und der Beobachtungen, 
welche der Marinestabsarzt Dr. Augustin 
Krämer während einer zweijährigen Reise in der 
Sodsee gesammelt hat. *) 

Unsere Kenntnis von dem Bau dieses Wurmes 
ist freilich noch recht lückenhaft, was aber nicht 
wunderlich sein kann, da mit Kopf versehene 
Tiere zu den grössten Seltenheiten gehören und 
nur ganz zufällig an die Oberfläche kommen, sogar 
nur zweimal ist bisher ein Kopf dieses Wurmes be¬ 
schrieben resp. abgebildet worden und davon er¬ 
scheint es in einem Falle überhaupt noch zweifelhaft, 
ob wirklich ein Palolowürm Vorgelegen hat. 

Der Palolowürm gehört zur Gruppe der Borsten- 
wOrmer und in die Gattung Lysidice. Die Bruch¬ 
stücke, die auf der Oberfläche des Meeres gefangen 
werden, haben eine Länge von 50 cm und eine 
Breite von 2—3 mm. Sie tr^en in jedem Körper¬ 
ringel Borsten und Kiemen. Die Farbe der Männ- 


•) Übrr den Hau der und die Planktuuverteiluug 

«n den Samoauischcn KQüteu nebst vergleichenden Bemerkungen 
von Dr. Augustin Kramer, mit einem Anhang Ober den 
Palolowürm von Dr. A. Colüu. Kiel und Leipzig 1^7. Lip- 
sius und Tischer. 


chen ist hellbraun bis ockerfarbig oder weiss, die der 
Weibchen schmutzig-indigofarbig oder dunkelgrün. 

Die Verbreitung des Palolo ist nach unserer 
Jetzigen Kenntnis auf einige Inselgruppen des pa¬ 
cifischen Oceans beschränkt und zwar auf die 
Satnoay Fidschi-, Tonga- und Gilbert-Inseln. 

Er ist ein Bewohner der Korallenriffe und steigt 
nur zweimal im Jahre in den Monaten Oktober und 
November zur Ablage der Geschlechtsprodukte an 
die Oberfläche. Er erscheint nur an gewissen 
Teilen der Inseln, an der Seite der Lagune, nahe 
am äusseren Riff. Während der übrigen Zeit des 
Jahres scheinen die Würmer in den tieferen Regionen 
der Korallenriffe zu leben, doch sind sie mit Aus¬ 
nahme eines Falles noch nicht in ihren ' Schlupf¬ 
winkeln beobachtet oder dort gefangen worden. 

Die Würmer steigen in so gewaltigen Massen 
zur Oberfläche auf, dass die See an solchen Stellen 
„mehr fest als flüssig erscheint“. Sie zeigen sich 
nur am frühen Morgen an bestimmten Tagen; ein¬ 
zelne Exemplare erscheinen bei der ersten Morgen¬ 
dämmerung, dann werden sie immer häufiger und 
beleben schliesslich bei Sonnenaufgang in dichter 
Masse die Oberfläche des Meeres. Das ganze 
Schauspiel dauert nur wenige Stunden und alle 
Würmer sind einige Zeit nach Sonnenaufgang voll¬ 
ständig verschwunden. Immer sind es nun merk¬ 
würdigerweise nur Bruchstücke ohne Kopf, welche 
an die Oberfläche kommen. • Die bis % m langen 
Stücke schwimmen behende, zerbrechen allmählig 
selbständig in immer kleinere Teile, wobei eine aus¬ 
giebige Entleerung der männlichen und weiblichen 
Geschlechtsprodukte stattfindet, mit denen ihre 
Leibeshöhle vollständig vollgepfropft war. Die 
See ist dann durch die massenhafte Ausstossung 
der Eier weithin gräulich gefärbt. 

Es scheint zweifellos, dass die Tiere allein zum 
Zwecke der Ablagerung der Geschlechtsprodukte 
und zur Befruchtung der Eier an die Oberfläche 
kommen. Dieser Prozess wird durch die leichte 
Zerbrechlichkeit natürlich stark begürtstigt und be¬ 
schleunigt. Die Teilstocke, welche in der Bildung 
von Gesclilechtsprodukten gänzlich aufgegangen zu 
sein und ihren Endzweck damit erreicht zu haben 
scheinen, gehen sämtlich zu Grunde. Dass sie nach 
dem Untersinken wieder zu neuen Tieren anwachsen 
sollten, scheint gänzlich ausgeschlossen. Die in der 
Tiefe zurückgebliebenen Kopfteile dürften dagegen 
wahrscheinlich wieder neue Endstücke hervor¬ 
sprossen lassen, wie dies ja auch von manchen 
anderen Wormdrn, z. B. von unserem gemeinen 
Regenwurm, bekannt ist. 

Die merkwürdigste und rätselhafteste Erschei¬ 
nung in der Biologie des Palolowurmes ist sein ganz 
regelmässiges Auftreten in den Monaten Oktober 
und November zur Zeit des letzten Mondviertels; 
nur zu diesen zwei Zeitpunkten im Jahre erscheint 
er an der Oberfläche auf den Korallenriffen, und 
zwar ist der Novemberschvvarm meist reichlicher, als 
der im Oktober. Doch ist er auch manchmal an 
einer Stelle im Oktober in Myriaden von Exemplaren 
vertreten und einen Monat später finden sich dort 
nur wenige Exemplare und umgekehrt. Jedesmal 
erscheinen die Würmer in der Morgendämmerung 
am Tage vor und am Tage des letzten Mondviertels 
selbst, einige Nachzügler auch noch am Tage darauf. 

Die Eingeborenen benennen die Monate nach 
dem Namen Palolo; so heisst auf den Fidschi-Inseln 
der Oktober „der kleine Palolomonat“, der No¬ 
vember „der grosse Palolomonat", weil im letzteren 
der Palolo am reichlichsten auftritt. Auf einigen 
Inseln wird der Palolo auch Mbalolo oder Balolo 
genannt. Auch die Jahreszeiten werden danach 
benannt, z. B. „Zeit des Palolo“. Die Verbindung des 
Namens mit den Monaten und Jahreszeiten spricht 


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Betrachtungen und kleine Mitteilungen. 


539 


wohl sicher dafür, dass sich die Erscheinungszeit 
des Palolo im Laufe langer Zeiträume ebensowenig 
geändert hat, wie die Jahreszeiten selbst. 

Der Palolowurm ist eine sehr begehrte Lieblings¬ 
speise der Eingeborenen; auch manche dortige 
Europäer haben Geschmack daran gefunden. Sein 
Gescnmack soll an eine Auster erinnern. Das Er¬ 
scheinen der Tiere auf den Korallenriffen ist für die 
Samoancr und Fidschi-Insulaner ein Freudenfest. 
Jung und Alt rudert in der Morgendämmerung hin¬ 
aus, um die wertvolle Gabe der Natur von den 
Boten aus mit Sieben und schön gefertigten Körben, 
oder auch mit der blossen Hand einzuheimsen. Die 
Palolomasse wird entweder zum Teil gleich roh 
verzehrt oder in Broifruchtblätter gebunden und 
Ober angezOndeten Feuem gebacken. Händler kaufen 
an Ort und Stelle den Palolo auf, um andere Teile 
der Insel damit zu versehen und Bote werden mit 
Palolo als Geschenk an ferner wohnende Häuptlinge 
gesandt, in deren Gegend die Schwärme nicht er- 
erscheinen. Die ausserordentliche ökonomische 
Wichtigkeit, welche der Palolo fiir die Insulaner 
besitzt, hat es natürlich zur Folge, dass die Einge¬ 
borenen sein Erscheinen mit grösster Genauigkeit 
beachten und sogar meist mit gutem Erfolge vor¬ 
herberechnen. Sie achten zuerst auf die Blütezeit 
der scharlachroten Blumen von Erythrina indica, 
eines Strauches aus der Familie der Papilionaceen. 
Beginnt dann noch die Sisi, eine myrthenartige 
Eugenia-Pflanze, zu blühen, so sehen sie nach dem 
Stande des Mondes; wenn derselbe dann in der 
Morgendämmerung tief über dem westlichen Hori¬ 
zont steht, so erwarten sie am 10. Tage darauf den 
Palolo. Meist ist diese Berechnung richtig, doch 
irren sie sich bisweilen, werti ein Intervall von 13 
Mondmonaten seit dem vorigen Erscheinen des Palolo 
eintritt, was auch Vorkommen kann, um einen ganzen 
Monat. Von anderen wird dagegen auch auf das 
Untersinken gewisser Sternbilder unter den Horizont 
geachtet ünd daraus die Palolozeit berechnet. 

F. R fl X E R. 


Betrachtungen und kleine Mitteilungen. 

Gelöstes Acetylen. Mit der Acetylenbeleucht¬ 
ung will es bekanntlich noch immer nicht recht 
vorwärts. Das Rohmaterial derselben, das Calcium- 
carbid, wird zwar mittelst des elektrischen Ofens 
in immer grösseren Mengen fabriziert und kommt 
immer billiger auf den hwrkt; das Acetylen selbst 
besitzt alle Eigenschaften eines Leuch^ases und 
seine Darstellung aus dem Rohmaterial ist die 
denkbar einfachste, denn es entsteht ja, sobald das 
Calciumcarbid mit Wasser in Berührung kommt. 
Aber man hatte zunächst versucht, den Acetylen- 
Konsumenten von Gasanstalten und Röhrenleitun- 
en unabhängig zu machen und da zeigte es sich, 
aSsdie Gasentwickler, welche mitWasserunddem 
Carbid beschickt werden und das Gas im Moment 
des Konsums selbstthätig entwickeln sollen, doch 
nicht einfach und zuverlässig genug sind, um im 
Haushalte Platz finden zu können. Man musste 
also das Gas fabriksmässig herstellen und es dann 
unter starkem Drucke entweder als komprimiertes 
Gas oder als Flüssigkeit dem Konsumenten zuführen. 
Leider aber ist dieser Modus, wie die bekannten 
Unglücksfälle gezeigt haben, zu gefährlich, weil 
ohne recht erkennbare Ursachen das Acetylen in 
Zersetzung geraten und dann schreckliche Explo¬ 
sionen hervorrufen kann. Zwei Franzosen, Claude 
und Hess, haben deshalb versucht, das Acetylen 
durch Lösung aufzuspeichem und transportfähig 


zu machen. Dass dasselbe, wie manche andere 
Gase, z. B. die Kohlensäure, von verschiedenen 
Flüssigkeiten in reichlicher Menge absorbiert und 
beim Erwärmen oder bei Druckverminderung gröss¬ 
tenteils wieder abgegeben wird, war ja längst be¬ 
kannt, es galt nur, die für den beabsichtigtenZweck 
geeignetste Flüssigkeit ausfindig zu machen. Die 
Genannten wählten das Aceton, welches Ijei der 
trockenen Destillation von Holz, also bei der Fa¬ 
brikation von Holzkohle und Holzessig als Neben¬ 
produkt erhalten wird. Die Löslichkeit des Acetylens 
m dieser Flüssigkeit wächst mit dem Drucke; bei 
einer Temperatur von etwa 15" und einem Drucke 
von 10 Atmosphären (d. i. von ca. 10 kg auf den 
Quadratzentimeter) löst i Liter Aceton 250-300 
Liter Acetylen und man braucht nur den Hahn 
des die Flüssigkeit enthaltenden Rezipienten ein 
wenig zu öffnen, um den grössten Teil des Gases 
in Blasen aus der Flüssigkeit entweichen zu sehen. 
Und auch der noch gelöst bleibende Rest ist nicht 
verloren, da ja dieselbe Flüssigkeitsmenge immer 
von neuem als Lösungsmittel dienen kann. Bettelst 
des Acetons lassen sich also grosse Mengen Ace¬ 
tylen in kleinem Raume, und, was nicht minder 
wichtig ist, unter geringerem Drucke als ihn die 
direkte Verflüssigung des Gases erfordert, ansam¬ 
meln. Die Widerstandsfähigkeit der Behälter wird 
also viel weniger in Anspruch genommen; spon¬ 
tane Explosionen, wie sie das verflüssirte Acetylen 
so gefährlich machen, sind nach den Untersuchun¬ 
gen von Berthelot imd Vieille bei der Lösung 
in Aceton so gut wie ausgeschlossen und der ge¬ 
ringen etwa mit dem Gebrauche dieser Lösung 
noch verbundenen Gefahr kann nach der Ansicht 
der Genannten bei einiger Aufmerksamkeit voll¬ 
kommen begegnet werden. b. d. 

• • 

• 

Ein neues Telephon hat kürzlich A. Garrett 
von der Londoner physikalischen Gesellschaft de¬ 
monstriert. Dasselbe hat anstatt des Stahlmagneten 
des Bellschen Telephons einen magnetisierten Nickel¬ 
stab, welcher wie jener in einer Drahtspirale steckt; 
an einem Ende ist er fest mit dem Gehäuse des 
Apparates verbunden und auf sein anderes Ende 
ist eine dünne Holzscheibe aufgekittet. Spricht man 
gegen diese, so gerät sie in Schwingungen, welche sich 
dem Nickelstabe mitteilen und in demselben period¬ 
ische Druckschwankungen hervorrufen, die wiederum 
alternierende Verlängerungen und Verkürzungen 
des Nickelstabes zur Folge haben müssen. So ge¬ 
ringfügig diese nun auch sind — selbst die feinsten 
Messinstrumente würden sie schwerlich direkt nach- 
weisen können — so reichen sie doch hin, um im 
magnetischen Zustande des Nickelstäbes periodische 
Veränderungen zu bewirken: jede Drucksteigerung 
bedeutet eine Verstärkung, jede Druckabnahme zu¬ 
gleich eine Verminderung des Magnetismus. (Garrett 
verwendet für diesenVorgang Nickel- anstatt derStahl- 
magnete, weil jene zwar an sich viel weniger stark 
magnetisch sind als diese, dafür aber der geschil¬ 
derten Einwirkung in weit stärkerem Masse unter¬ 
liegen.) Das weitere spielt sich dann genau ebenso 
ab wie in dem Bellschen Telwhon, in welchem de 
Schwingungen einer Eisenplatte vor einem mit 
Drahtspule umgebenen Stahlmagneten den Magnetis¬ 
mus desselben periodisch verstärken und schwächen: 
in der besagten Drahtspule rufen diese Änderungen 
des Magnetismus Induktionsströme wach, welche, 
in ein gewöhnliches Bellsches Telephon geleitet, 
dort in bekannter Weise dieselben Laute, denen 
sie ihre Entstehung verdankten, wieder hervor¬ 
bringen. Als Empf^ger, d. h. als Hörtelephon, 
eignet sich der Garretrsche Apparat nicht; dafür 
soll er aber als Sprechtelephon im Verein mit 


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NV 


540 


Betrachtungen und kleine Mitteilungen. 



Die Kaiser Wilhelm- 

einem gewöhnlichen Empfänger nach der Versicher- 
ung des Erfinders eine zwar weniger laute, aber 
viel klarere Wiedergabe der Sprache ermöglichen, 
als sie mit den heutigen Systemen erzielt wird. 

B. D. 

* * 

* Die grösste Eisenbahnbrücke des Kontinents 
ist in voriger Woche dem Verkehr übergeben 
worden. Es ist dieses die Kaiser IVilheim-Briicke*) 
bei Mfotgslen, welche im Zuge der Eisenbahnlinie 
Remscheid-Solingen das Thal der Wupper durch 
einen kühn geschwungenen Bogen von 170 m Spann¬ 
weite übersetzt. Neben der Mittelöffhung, deren 
Lichtweite 160 m beträgt, hat die Brücke zu jeder 
Seite zwischen Pfeilern aus Eisenkonstruktion 3 
kleinere Öffnungen von 30 bez%^'. 45 m Lichtweite. 
Bogen und Seitenpfeiler dienen zur Stütze der Fach- 
werksträger, auf denen durch weit auskragende 
Querträger eine 8’/* m breite Plattform gebildet 
ist, über welche doppelte Schienengeleise und rechts 
und links ein Laufsteg gehen. 

Die Brücke hat eine Länge von 465 m, die Höhe 
vom mittleren W-asserspiegel der Wupper bis zur 
Schienenoberkante beträgt 106,83 t^i. Pfeiler und 
Bogen haben oben eine Breite von 5 m; zur Er¬ 
reichung genügender Festigkeit gegen seitlichen 
Winddruck vergrössert sich die Entfernung nach 

') Wir entnehmen die Paten der nachstehenden Milleilutig 
der interessanten und hübsch ausgestatteten BruschQre .Die 
Kaiser Wilhelm-BrOcke. Grösste Eisenbahnbrfleke des Konti¬ 
nents, in der Bahnlinie Sulingen-Retnscheid gelegen. Mit einer 
K.-\rtc, a Ansichten und i Skizze. (8». i6 S.) 1897. ReinschciÖ. 1 
Wüh. Witzel“. M. --Ä>. I 


Brücke bei Müngsten. 

abwärts stetig, so dass die Breite des Bogens unten 
auf den Widerlagern 25 m beträgt. Das Gewicht 
der Eisenkonstruktion der Brücke ist ungeföhr 
5100 Tö'ns.' d. i. 5,100,000 itg, die Landwiderlager 
zusammen mit den Pfeilerfundamenten und Bogen- 
widerlagern“enthalten annähernd 11,000 cbm Mauer¬ 
werk. Der Aufbau der eisernen Pfeiler erfolgte 
von Kerngerüsten aus, während der Bogen selbst 
frei montiert wurde. Fahrbare Drehkräne hoch 
oben auf den bereits montierten Trägern der Seiten¬ 
öffnungen stehend, hoben die Eisenteile, die auf 
einer in 30 m Höhe Ober das Wupperthal gebauten 
Transportbrücke zusammengestellt wurden und 
führten sie an die ihnen angewiesene Stelle, wo 
dieselben verdomt und in Gefachen von 7,5 m Länge 
vernietet wurden. 

Da die Ausladung der Bogenhälften für ein selbst¬ 
ständiges Freitragen bis zur Erreichung der Mitte 
aber viel zu bedeutend gewesen wäre, so mussten 
provisorische Verankerungen eingebaut werden, 
welche die durch das Kippmoment der vertragen¬ 
den Bogenteile erzeugten Zugkräfte aufnahmen. 
Dieselben bestanden aus Drahtseilen, die einerseits 
an den Spitzen der äusseren Pfeiler befestigt waren, 
andererseits zu beiden Seiten der Landwiderlader 
tief in den Berg führten und dort fest verankert 
waren. 

Mit dem Bogen, diesem meist um ein Feld vor¬ 
aus, w’urden auch die Parallelträger in der Bogen- 
öflhung frei auskragend vorgebaut, so dass die 
j Kräne auf diesen nach Vernietung eines Feldes zur 
1 Montage des folgenden immer wieder vorgeschoben 


's. 


Diaitizcri b'. 


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\ 











Betrachtungen und kleine Mitteilungen. 


541 


•werden konnten. Zur Erleichterung des Bogen¬ 
schlusses waren die BogenpfeUer, ehe sie mit den 
Parallelträgem der Seitenöffhungen vernietet waren, 
thabeitig mittelst hydraulischer Pressen um 35 mm 
gehoben und unterkeilt und somit um den oberen 
Fusspunkt gedreht, so dass sich das obere Ende 
der Pfeiler um 210 mm rückwärts neigte und da¬ 
mit auch die freien Enden der Bogenhälften gehoben 
und zurückgelehnt wurden. Das war erforderlich, 
weil die Bogenhälften infolge ihres Eigengewichts 
imd der während des Baues auf ihnen ruhenden 
Belastung sich nach vom je um 15 cm recken, und 
an ihren freien Enden um etwa 35 cm neigen 
mussten. Der Bogenschluss erfolgte dann derart, 
dass zwischen die bis dicht aneinander vorgebauten 
Bogenhälften hydraulische Winden eingesetzt wur¬ 
den, durch deren Anziehen die provisorischen Keile 
xmter den unteren BogenfÜssen zur Auslösung 
kamen. Nach Entfernung derselben wurden die 
Bogenhälften bis zur Berührung der unteren Gur¬ 
tungen herabgelassen und sodann vernietet. 

Unsere Abbildung zeigt den Bogen nahezu 
fertig montiert. Rechts sind die drei freistehenden 
Pfeiler der Remscheider Seite sichtbar, denen (auf 
unserem Bilde nicht sichtbar) die gleiche Anordnung 
auf der anderen Seite entspricht. Die gewaltigen 
Dimensionen des Bogens erhellen am besten aus dem 
Vergleich mit der 30 m hohen provisorischen 
Arbeitsbrücke, die im Vordergrund zu sehen ist. 

Die Kosten der Kaiser Wilhelm • Brücke, deren 
Bau vom Mai 1895 bis Ende März 1897 dauerte, 
betragen 2,750,000 M., ungefähr die Hälfte der 
Kosten für die ganze etwa 8,5 km lange Bahnlinie 
Solingen-Remscheid. Die dadurch erzielte direkte 
Verbindung der beiden bedeutenden Industrieplätze 
entspricht einem bereits lange bestandenen dring¬ 
enden Bedürfnis. 

Trotzdem die Städte nur 7,5 km in der Luftlinie 
von einander entfernt sind, war der Bahnverkehr 
bisher zu einem Umwege, der etwa das Sechsfache 
betrug, gezwungen, da das Hochplateau, auf dem 
sie liegen, zwischen ihnen von dem tief eingeschnit¬ 
tenen Thal der Wupper zerrissen wird. 

Die deutsche Industrie kann mit berechtigtem 
Stolz auf das glücklich vollendete Riesenunternehmen 
blicken, dessen Ausführung von der Nürnberger 
Maschinenbau-Aktiengesellschaft, von der auch die 
Projektbearbeitung herrührt, erfolgte. 

« 

* Die Bedeutung der Entdeckung Röntgens 
zieht immer weitere Kreise. Keine Woche vergeht, 
ohne dass neue Anwendungen der X-Strahlen, neue 
Untersuchungen und Beobachtungen über dieselben 
gemeldet werden. Ein eigenes Organ ist denselben 
in der „Zeitschrift für X-Strahlen“ entstanden, die 
vom I. Juli ab in Amerika erscheint. Eine neu- 
«egründete Röntgen-Gesellschaft hat kürzlich in 
London ihre erste Sitzung gehalten, in der Pro¬ 
fessor SilvanusThompson darauf hinwies, wie 
die Röntgenschen Strahlen in'ihrer Anwendung fast 
alle Disziplinen zu erobern begonnen haben. In 
Berlin ist ein Staatsinstitut für Untersuchungen mit 
Röntgenstrahlen eingerichtet worden, in dem Kranke 
mittet Durchleuchtung und „Aktinographie“ unter¬ 
sucht werden. In Frankreich benutzt die Zollbe¬ 
hörde die von dem Ingenieur Seguy erfundene 
X-Strahlen-Lorgnette, um sich Einblicke in ver¬ 
schlossene Postpackete zu verschaffen. Von neue¬ 


ren wissenschaftlichen Arbeiten dürften besonders 
die in der Deutschen med. Wochenschrift veröffent¬ 
lichten Untersuchungen von Dr. med. Behrendsen 
über die Entwicklung eines Teiles des menschlichen 
Skeletts Anspruch auf allgemeines Interesse erheben. 
Er veröffentlicht sechs. Röntgenbilder der Hand 
(zunächst der Hand eines Neugeborenen, dann eines 
iXjährigenj aKjährigen, 3Kjähri^en, 5jährigen, 
7jährigen, 9jährigen und lajährigen Kindes), in denen, 
wenn man sie aneinanderreiht, deutlich die Um- 
wandlungsvorg^ge am Handskelett sich verfolgen 
lassen. Das Skelett setzt sich bekanntlich aus 
Knochen und Knorpeln zusammen. Beim Neuge¬ 
borenen ist noch ein beträchtlicher Teil des Skeletts 
knorpelig. Die Umbildung der kprpeligen Teile des 
Skeletts geht allmählich vor sich. Diese Übergänge 
genauer zu verfolgen hat wissenschaftliches und 
praktisches Interesse. Das Röntgenverfahren bietet 
eine sehr günstige Handhabe ftir Untersuchungen 
dieser Art. Bei der Aufnahme von Gliedmassen 
mit dem Röntgenschen Verfahren ist nämlich die 
Möglichkeit gegeben, die knöchernen und die knor¬ 
peligen Teile des Skeletts genau von einander im 
Bilde zu unterscheiden. Die Knochen sind für 
Röntgenstrahlen undurchgängig, die Knorp>eI sind 
durchgängig. Wenn man bisher den Veiitnöcher- 
ungsgang studieren wollte, war dazu eine sehr müh¬ 
same anatomische Zurichtung und Prüfung der 
Skelettteile nötig. Im Vergleiche dazu ist die Auf¬ 
nahme im Röntgenbilde einfach und dabei leicht zu 
übersehen. In der Botanik, Mineralogie, Metallurgie 
haben die neuen Strahlen bereits die verschieden¬ 
artigste Anwendung gefunden. Grosse Aufgaben 
sind der Physik noch durch die Röntgenschen 
Strahlen gestellt, deren Lösung kaum begonnen ist 
Noch ist die Wellenlänge der Strahlen genügend 
zu bestimmen, die Art der Wellenbewegung oder 
überhaupt der Fortpflanzung, das Medium der Fort¬ 
pflanzung, die Beziehung zu anderen Strahlenarten. 


* Eine neue Methode für Projektionsbilder 
von Mondansichten beschrieb Professor William 
Hailock in der Juni-Sitzung der New-Yorker Aka¬ 
demie der Wissenschaften. Er gebraucht als Schirm 
für dieselbe eine Halbkugel von 6 oder 8 Fuss 
Durchmesser, die entsprechend hergerichtet und 
weiss überzogen ist. Die Bilder werden mit einer 
starken Bogenlicht-Lampe auf den Schirm geworfen, 
so dass die Entfernungen ausgeglichen werden und 
sich der sphärischen Gestalt der Oberfläche an- 
schliessen. Das charakteristische Bild des Mondes 
wurde auf diese Weise mit ausserordentlicher 
Deutlichkeit reproduziert, und es verschwanden 
alle verflachenden Züge, die sonst nicht zu 
vermeiden sind, wenn mit ebenen Oberflächen 
operiert wird. Der einzige Nachteil ist der Mangel 
eines scharfen Bildes an den Rändern der lunaren 
Photographien. Professor Hailock hat auch eine 
photographische Aufnahme des Projektionsblldes 
von der Seite gemacht und so eine Ansicht der 
halben sichtbaren Mondoberfläche erhalten, die so 
orientiert ist, als wenn die Aufnahme von einem 
Punkt rechtwinklig zu der Verbindungslinie zwischen 
Mond und Erde erfolgt wäre. Dieselbe giebt ein 
treues Bild eines Mondviertels von diesem Gesichts¬ 
punkt aus. Science 35. Juni 1897. 


Das Sesamöl, welches nach dem vor Kurzem 
durch den Bundesrat genehmigten Entwurf von 
AusfÜhrungsbeslimmungen zum Margarinegesetz 
dazu bestimmt ist, die Erkennbarkeit von Margarine 
und Marearinekäse zu erleichtern, und demzufolge 
bei der Fabrikation der Margarine zugesetzt werden 


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542 


Betrachtungen und kleine Mitteilungen. 


muss, ist das fette Öl der Samen von Sesamum 
orientale, einer in Indien, dem südlichen Europa, 
in Algier und Egypten kultivirten krautartigen 
Pflanze aus der Familie der Sesameae. Es ist meist 
hellgelb, geruchlos und von angenehmem Ge¬ 
schmack, wird nur schwer ranzig und trocknet nicht 
ein. Das Sesamöl findet schon lange, sowohl in der 
Technik, als auch zu Speisezwecken, ausgedehnte 
Verwendung. — Bereits in der „Umschau" No. 13 
machten wir darauf aufmerksam, dass sich Zusatz 
von Sesamöl als Erkennungsmittel für Margarine 
besonders eigne, indem wir die charakteristischen 
von Dr. Brehmer angegebenen Reaktionen 
an&hrten. a. 


J. R. Green stellt fest, dass Dlastase, jenes 
Ferment, welches Stärke in Zucker überführt, durch 
das Tageslicht und zwar wesentlich durch die 
blauen und violetten Strahlen zerstört wird. 

(Proc. of tbe Royal Society 1897, Vol. LXI No. 369). 


Viele Mineralien und Edelsteine verdanken 
ihre wunderbaren Färbungen Spuren von Bei¬ 
mengungen, deren Natur bisher nicht festzustellen 
gelang. Diese Färbungen sind sehr subtil und 
werden oft durch das blosse Tageslicht (beim 
Smaragd) oder durch schwaches Erhitzen (Amethyst) 
zerstört. Man glaubte daher, dass die Ursache 
dieser Färbungen von organischen Stoffen (Kohlen¬ 
wasserstoffe) nerrühre. Diese Ansicht bekämpft 
Weinschenk. Die Ursachen, auf welche er die 
Färbungen zurückführen will, sind aber auch nicht 

unanfechtbar. {Zeitschr. für anorg. Chemie Bd. XII, u. Zeit¬ 
schrift d. d. geolog. Geseilsch. 1896. S. 704 ) 

1 » # 

Berthelot hat gefunden, dass reiner Stickstoff 

unter Einwirkung des elektrischen Effluvium von 
Benzol absorbiert wird und gelang es ihm, eine 
charakterisierbare Verbindung (Diphenylphenylen- 
diamin) abzuscheiden. — Diese Versuche haben ein 
besonderes Interesse, da auch der Stickstoff der 
Luft kontinuierlich von Pflanzenbestandteilen (wahr¬ 
scheinlich unter Einwirkung der Luftelektrizität) 
aufgenommen wird. Die Berthelot’schen Versuche 
bringen also die erste Kunde von der Natur der 
Körper, welche sich bei Einwirkung von Stickstoff 
auf organische Verbindungen bilden. 

(Comples rtnd. 1897 T. CXXIV p. 538). 


Bei Morphinisten lokalisiert sich das Mor¬ 
phium in Gehirn, Leber und Nieren. Antheaume 
und Mouneyrat fanden in jenen Organen eines lang¬ 
jährigen Morphinisten, der eine Entwöhnungskur 
durchcemacht hatte und 14 Tage nach der letzten 
subcutanen Injection von Morphium gestorben war, 
noch Morphin und zwar am reichlichsten in der 

Leber. (Acad^mie des Sciences; Sitaun^ vom a6. Juni 1897). 


"Das Gift unserer Honigbiene ist von 
Josef Langer Untersuchungen unterzogen worden. 
Dasselbe ist seiner chemischen Natur nach eine 
organische Basis, deren nähere Eigenschaften jedoch 
noch nicht festgestellt w'erden konnten, da die ge¬ 
wonnene Menge dazu noch nicht genügte. Wenn 
man das Gift, so wie es aus dem Stachel fliesst, 
auf die unversehrte nackte Haut bringt, so bewirkt 
es keine Verletzung, jedoch ruft es Entzündung 
hervor, sobald es unter die Haut eingeführt wird. 
Wird das Gift direkt in das Blut eingespritzt, so 
erzeugt es Erscheinungen, welche der Wirkung des 


Schlangengiftes sehr ähnlich sind. Die Wirkung 
des Giftes konnte schon in einer Menge von */i«o 
Milligramm nachgewiesen werden, indem dasselbe 
auf die Bindehaut eines Kaninchenauges gebracht 
wurde. Das Bienengift ist wasserhell, zeigt deutlich 
eine saure Reaktion, schmeckt bitter und besitzt 
einen feinen aromatischen Geruch, in Wasser ist es 
leicht löslich. Das Gewicht eines Gifttröpfchens, 
wie es aus dem Bienenstachel hervordringt, ist nur 
*/io bis •fio Milligramm. 

Archiv für experimentelle Paüiologie. Bd. 38. S. 381. 

* Ein heftiger Ausbruch der Mayon- 
vulkane auf Manila hat in den Tagen vom 
26.—30. Juni grosse Verwüstungen angerichtet Der 
Mayon liegt in der Provinz Älbay auf der Insel 
Luzon und hat mehrere Spitzen mit vulkanischen 
Öffnungen, die höchste Spitze erhebt sich 2300 m 
über dem Meeresspiegel. Die Ausbrüche des Mayon, 
deren ältester aus dem Jahre 1617 bekannt ist, 
traten besonders im vorigen Jahrhundert sehr häufig 
auf, während sie in diesem Jahrhundert nur noch 
schwach und selten beobachtet wurden. Daher 
waren in dem äusserst fruchtbaren Umkreise des 
Gebirges zahlreiche Ansiedelungen mit reichen 
Pflanzungen entstanden, die aber jetzt fast völlig 
zerstört wurden. Der Ausbruch begann am 26. 
Juni, während ein furchtbarer Sturm jenen Teil der 
Insel durchtobte. Zuerst ergossen sich ungeheure 
Massen von trockener heisser Asche über die Ab¬ 
hänge und der Sturm trieb diese viele Meilen weit 
über das Land, alle Pflanzungen überschüttend. 
In der Nacht folgte ein verheerender Wolkenbruch, 
der vier Orte mit 12,000 Einwohnern unter Wasser 
setzte; doch hatten sich die Einwohner bereits auf 
höher liegende Gebiete geflüchtet. Die Felder, alles 
Vieh und fast sämtliche Häuser waren ein Raub, 
der entfesselten Elemente geworden. Am 27. Juni 
Hess der Sturm und der Ausbruch des Vulkans 
etwas nach ; jedoch am Morgen des 28. ergoss sich 
ein gewaltiger Lavastrom aus dem Hauptkrater 
und vernichtete die Stadt Laboy vollständig. Mehr 
als ein Drittel der Bewohner, gegen 600 Menschen, 
wurden von den Glutmassen erreicht und getötet. 
Die Ausbrüche setzten sich dann noch während der 
folgenden Tage fort und der Verlust an Menschen 
und Besitztum wird als ungeheuer bezeichnet.; 

"Ein Mikroorganismus, der in74grädigem 
Spiritus lebt, wurde von H. H. Veley in Oxford 
^i der Untersuchung von Rumproben entdeckt 
Bei der mikroskopischen Untersuchung des Boden¬ 
satzes fanden sich Ketten kleiner Coccen, die nach 
einigen Tagen mit einer gelatineartigen Schicht um¬ 
geben erschienen. Einige Tage später waren die 
Coccen in der ganzen Flüssigkeit verteilt und in 
rapider Entwicklung und Vermehrung begriffen. 
Nach der Einteilung von Zopf gehört der beob¬ 
achtete Mikroorganismus zu der Gruppe derCocca- 
ceen, nach dem Verhalten der Kulturen zu sthliessen, 
handelt es sich um eine neue Spezies. Veley be¬ 
hält sich weitere Mitteilungen über den Mikro¬ 
organismus vor, der durch seine Lebens- und Ver¬ 
mehrungsfähigkeit in so starkem Spiritus gewiss 
ein interessantes Original ist. Nature i.Juii 1897. 


No. 31 der Umscban wird eathalten: 

Aadcruogen und Fortschritte im Militürwesen. Frankreich. — 
Tetxner, Bei den Maldininkern. — GrafWilcsek, Die elektrische 
Untergrundbahn in Budapest. 


G. Horstmano's Druckerei. Frankfurt a. H. 


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DIE UMSCHAU 

ÜBERSICHT ÜBER DIE FORTSCHRITTE UND BEWEGUNGEN AUF 
DEM GESAMTGEBIET DER WISSENSCHAFT, TECHNIK, 
LITTERATUR UND KUNST 

herausgegeben von 

dr. j. h. bechhold 


Wöchentlich eine Nummer. 

Zu beziehen durcu 
alle Buchhandlungen und 
Postanstalten. 

Postzeitungsprcisliste No. 7031 a. 

Verlag von: 

H. Bechhold V^rla^, Frankfurt a. M. 


Neue Krame ig.'3i. 


Preis vierteljährlich 
M. a.50. 

Jahres-Abounement 
Preis M. ro.—. 

Im Ausland nach Cours. 
Verantwortlicher Redakteur: 

Otto Adolf Wolters, Frankfurt a. M. 


31. 1 . Jahrg. 


Nacltdruek aus dem Inhalt der Zeilachri/t ohne Erlaubnis 
der Redaktion verboten. 


1897. 31. Juli. 


Änderungen u. Fortschritte im Militärwesen. 

V. Frankreich. 

Frankreich ist jedenfalls derjenige euro¬ 
päische Staat, welcher durch das Wchrgesetz 
von 1889 die Militärkraft seiner Bewohner 
auf Grundlage der allgemeinen und persön¬ 
lichen Dienstpflicht am durchgreifendsten und 
rücksichtslosesten zur Geltung bringt. Jeder 
tauglich befundene Wehrpflichtige soll zur Ein¬ 
stellung kommen, die nur als bedingttauglich 
erklärten bleiben zwar ohne militärische Aus¬ 
bildung, werden aber im Mobilmachungsfall zu 
Hülfsdiensten (Büreaudienst, Handwerker etc.) 
einberufen. Dienstbefreiungen aus Familien¬ 
rücksichtensoll es nichtgeben,ebenso nichtmehr 
einenEinjährig-Freiwilligen-Dienst aufGrund ei¬ 
ner besonderen wissenschaftlichen Bildung. Die 
einzige Erleichterung der Dienstpflicht nach 
den genannten Richtungen hin besteht darin, 
dass die aktive Dienstzeit auf ein Jahr be¬ 
schränkt wird, jedoch sind auch hierbei die 
Bestimmungen weit strenger wie in Deutsch¬ 
land, so dass ein grosser Teil der besseren 
und gebildeten Stände mit wenigen Ausnah¬ 
men (Lehrer, Studierende höherer Lehran¬ 
stalten) 3 Jahre zu dienen hat. Wenn von 
denjenigen, welche die Gunst einer einjähr¬ 
igen Dienstzeit geniessen, bis zum 26. Jahre 
ein gewisser Grad von Ausbildung oder eine 
bestimmte Anstellung nicht erreicht ist, so 
müssen sie 2 Jahre nachdienen. 

Alle, welche nicht zur vollen 3jährigen 
Dienstzeit ausgehoben werden, haben eine 
Wehrsteuer von 6 Fr. pro Kopf nebst einem 
wechselnden Zuschlag zu entrichten. 

Die Dienstpflicht ist abzuleisten in 
der aktiven Armee. . . 3 Jahre (früher 5) 

der „Reserve“-Armee . .10 „ „ 4) 

der Territorial- „ . . 6 „ „ 5) 

der Reserve d.Terr.-Armee 6 „ „ 6) 

Gesamt-Dienstpflicht 25 Jahre (früher 20) 
und zwar vom 21. Lebensjahre ab. 

UmBclMU 1897. 


Der Kriegsminister hat indessen das Recht, 
einerseits schon nach ein- oder zweijähriger 
Dienstzeit Beurlaubungen eintreten zu lassen, 
andererseits, wenn es die Umstände erfordern, 
über 3 Jahre bei der Fahne zurückzubehalten. 
Die Strafbestimmungen bezüglich der sich der 
Wehrpflicht und der Kontrolle Entziehenden 
sind sehr streng. 

Die Rekruten werden meist nicht in die 
in ihrem Bezirk befindlichen Truppenteile, 
sondern über ganz Frankreich verteilt, da¬ 
gegen ergänzt sich bei der Mobilmachung 
jeder Truppenteil aus dem Bezirk, in welchem 
er steht; derselbe erhält somit Ergänzungs¬ 
mannschaften, welche nicht bei ihm gedient 
haben. Die Einstellung erfolgt Mitte No¬ 
vember. 

Die Angehörigen der Reserve werden zwei¬ 
mal zu einer Dienstleistung von 4 Wochen 
einberufen und zwar — entsprechend der Ver¬ 
wendung im Mobilmachungsfall — teils bei 
dem Truppenteil, zu dessen Ergänzung sie 
dienen, teils unter Bildung von Reser\'e-Re- 
gimentern. Bei jedem Truppenteil befindet 
sich ein mit Offizieren gut ausgerüsteter 
Stamm, wodurch es ermöglicht wird, die Offi¬ 
ziersstellen bei den Reserve-Truppen mit 
aktiven Offizieren zu besetzen, ohne den Be¬ 
stand der aktiven Truppenteile zu schwächen. 

Die Territorial-Armee soll im Allgemeinen 
nur zu Besatzungszwecken verwendet werden. 
Bekleidung und Bewaffnung ist jedoch die¬ 
selbe wie die der aktiven Armee. Es findet 
eine einmalige Übung von 2 Wochen statt. 
Für die Reserve der Territorial-Armee, sowie 
für die Mannschaften des Httlfsdienstes wer¬ 
den nur Kontroll-Versammlungen abgehalten. 
Zu der Territorial-Armee zählen auch die 
Zoll- und Forstbeamten, welche in Kompagnien 
und Bataillone formiert, im Mobilmachungs¬ 
fall berufen sind, der Armee wichtige Grenz¬ 
dienste zu leisten. Es werden regelmässige 
Exerzier- und Schiessübungen mit ihnen ab- 

31 


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544 


Aenderüngen und Fortschritte im Militärwesen. 


gehalten. Die Reserve- und Territorial-Armee 
ist bereits im Frieden vollständig formiert 
und hinsichtlich der Venvaltung, Ausbildung 
und Mobilmachung den aktiven Formationen 
angeschlossen. 

Bemerkenswert ist, dass die Rekruten ihre 
Gestellungsbefehle bei der Gendarmerie-Bri¬ 
gade abholen und sich, wie auch die zu 
Übungen eingezogenen Mannschaften des Be¬ 
urlaubtenstandes, unmittelbar bei dem Truppen¬ 
teil zu melden haben. Jeder zur Entlassung 
kommende Mann hat in seinem Militärpass 
vermerkt, bei welchem Truppenteil und an 
welchem Ort er sich bei der Mobilmachung 
zu melden hat. Jede aktive Kompagnie hat 
schon im Frieden Listen Über ihre Ergänzungs¬ 
mannschaften. 

Entsprechend der Gliederung in i8 Armee¬ 
korps ist Frankreich militärisch in i8 Regionen 
von ungefähr gleicher Einwohnerzahl einge¬ 
teilt. Jede Region zerföllt in 8 Subdivisionen, 
in deren Hauptort ein Regiment steht. In 
jeder Subdivision befinden sich ein oder 
mehrere Rekrutenbüreaus (Landwehrbezirks- 
Kommando), bei welchen sich die Aushebungs¬ 
und Gestellungslisten befinden und welche 
die Kontrolle über die in ihrem Bezirk woh¬ 
nenden Angehörigen der Territorial-Armee 
führen. In den Subdivisions-Bezirken lagert 
in Magazinen, Zeughäusern u.s. w. die ganze 
für die im Mobilmachungsfall in deren Be¬ 
reich sich ergänzenden und formierenden 
Truppenteile nötige Ausrüstung. Jedes der 
i8 Armeekorps ist fast genau gegliedert wie 
ein deutsches, besonders kommt dazu je eine 
Sektion Schreiber, Verwaltungsarbeiter und 
Krankenwärter. Niehl im Armeekorps-Verbände 
stehen die Fussartillerie, einige besonders 
formierte Kavallerie-Divisionen und i8 Re- 
gional-Infanterie-Regimenter; letztere stehen 
meist in Festungen als Besatzung oder dienen 
zur Verstärkung der Grenz-Armeekorps. Das 
sechste Armeekorps an der deutschen Grenze*) 
ist ausserdem ganz bedeutend verstärkt durch 
besonders in seinen Bezirk verlegte Truppen¬ 
teile aller Waffen mit wesentlich erhöhtem 
Friedensstand (z. B. i6o Mann per Infanterie- 
Kompagnie). An der Alpengrenze liegen 12 
besonders bekleidete und ausgerüstete „Alpen¬ 
jäger“-Bataillone zu 6 Kompagnien. Das 
Militär-Gouvernement von Paris und von Lyon 
ist von der Regional-Einteilung ausgenommen 
und wird deren Besatzung durch die Truppen 
der benachbarten Armeekorps gebildet. Zur 
Besatzung von Paris stellen drei Armeekorps 
l'ruppenteile in der Stärke von etwa 3 Di¬ 
visionen, welche alle zwei Jahre wechseln. 
In Algier steht ein 19. Armeekorps mit be- 

*) Dieses Korps soll nunmehr in 2 Korps geteilt 
werden. 


sonderer Zusammensetzung. Die in Frank¬ 
reich stehende Marine-Infanterie formiert bei 
einem europäischen Kriege ein besonderes 
Armeekorps der Landarmee (das 20.). Die 
Gensdarmerie, in Kompagnien und Legionen 
eingeteilt, und sich aus Abgaben der Truppen¬ 
teile ergänzend, wird als ein bevorzugter Teil 
der Armee betrachtet. Ihre Stärke beträgt ca. 
25,000 Mann zu Fuss und 12,000 Mann zu 
Pferde. Den Dienst in der Stadt Paris ver¬ 
sieht ein besonderes Korps: die Garde röpu- 
blicaine. Ferner befindet sich in Paris ein 
Regiment militärisch organisierter Feuerwehr: 
Sappeurs-Potnpiers, welches zur Infanterie ge¬ 
zählt wird und sich aus derselben ergänzt. 

Von den in Afrika befindlichen Truppen 
seien besonders genannt: i. Zuaven-Re- 
gimenter (rekrutieren zum grossen Teil aus 
Paris). 2. Algerische Tirailleur-Regimenter 
(Turkos, Ergänzung durch Anwerbung alger¬ 
ischer Eingeborener). 3. Leichte afrikanische 
Infanterie (Zephyrs); in dieselben werden Sol¬ 
daten mit längerer Freiheitsstrafe, oder wegen 
schwerer Vergehen schon vorbestrafte Re¬ 
kruten eingestellt. 4. Disziplinar-Strafkompag- 
nien (Soldaten von unverbesserlicher Führung 
und solche, die sich selbst verstümmelt ha¬ 
ben). 5. Sahara-Tiraiileure (Eingeborene, zur 
dauernden Besetzung von Gebieten der Sa¬ 
hara). 6. Fremdenlegion (Ausländer, vielfach 
ausElsass-Lothringen). 7. Chasseurs d’afrique 
und Spahis. 

Das jährliche Einstellungs-Kontingent be¬ 
trägt ca. 240 — 250,000 Mann, die Friedens¬ 
stärke des Heeres 560,000 Mann; letztere 
umfasst: 


145 

18 

18 

12 

79 


40 


Infanterie: 

ubdivisions-Rgt. zu 3 Bataillonen, 
egional- „ „ 4 „ 

ussjäger-Bataillone 




zu 6 Komoaern. 


Kavallerie: 

Regimenter zu 5 Eskadronen. 
Feld-Artillerie: 

'■ \ 430 fahrende Batt. \ 

Regmtr. > 52 reitende „ ! zu 6 Gesch. 

' 14 Gebirgs- „ ' 

Fuss-Artillerie: 


16 Bataillone. 

Genie (auch f. Brieftauben- u. Luftschifferdienst): 
7 Regt., darunter i Eisenbahn-Regt.; bei je¬ 
dem Regt, eine fahrende Kompagnie als 
Traintruppe. 

Train: 

20 Eskadrons zu 3 Kompagnien. 

Ausserdem: 

19 Sektionen Schreiber, 

19 „ Verw’altungsarbeiter (für Inten¬ 

dantur, Proviantamt u. s. w.), 

19 Sektionen Krankenpfleger. 


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Aenderungen und Fortschritte im Militärwesen. 


545 


Die Gesamtstärke des „Feldheeres i. und 
2. Linie“ und des „Besatzungsheeres“ beträgt 
über ca. 4 Millionen Mann. 

Bemerkenswert ist, dass dem Radfahren 
eine ganz besondere Aufmerksamkeit zuge¬ 
wendet wird und die Ausbildung, auch 
ganzer Detachements, auf Grund einer beson¬ 
deren Vorschrift erfolgt. Ferner mag hier 
erwähnt werden, dass die Hauptleute der In¬ 
fanterie beritten sind, und dass auch die 
Generale z. D., welche im Mobilmachungsfall 
verwendet werden, eine Ration beziehen. 

DieFahnen der Regimenter (eine per Regt.) 
werden nicht ins Feld mitgenommen^ 

Der Chef der Armee ist der Kriegsminister, 
die Offiziere ernennt und befördert der Prä¬ 
sident der Republik. 

Das Kriegsministerium ist in mehrere Di¬ 
rektionen eingeteilt, ausserdem besteht bei 
demselben als beratende Behörden eine grosse 
Anzahl von Kommissionen und Komitees, von 
welchen am bedeutendsten der „oberste Kriegs¬ 
rat“ ist. Dem letzteren gehören der Kriegs¬ 
minister, der Generalstabschef der Armee und 
mehrere Divisio^sgenerale an; er hat alle, 
auf die Kriegsbereitschaft sich beziehenden 
Fragen zu prüfen und dient als Rückhalt für 
den Kriegsminister. Der Präsident der Re¬ 
publik hat das Recht, den Vorsitz zu über¬ 
nehmen. Aus dem obersten Kriegsrat werden 
fiir den Kriegsfall die Armee - Kommapdeure 
ernannt, welche auf Befehl des Kriegsministers 
bereits im Frieden die ihnen im Kriege unter¬ 
stellten Armeekorps zu besichtigen haben. 

Der Chef des Generalstabs der Armee 
steht unmittelbar unter dem Kriegsminister, 
aber über den Direktionen des Kriegsmi¬ 
nisteriums. Die Offiziere des Generalstabs 
versehen auch die Geschäfte der Adjutantur 
bei den Truppenstäben, bei welchen ausser¬ 
dem Ordonnanz-Offiziere kommandiert sind. 

Die Verwaltung durch Intendanturen ist 
ähnlich organisiert wie in Deutschland. 

Militärgeistliche giebt es im Frieden nur 
in Lazarethen und in grösseren Übungslagern, 
welche von Kirchen weit entfernt sind. 

Die Rechtspflege wird ausgeübt durch: 

1. die Kriegsgerichte (in dem Hauptort jeder 

Region; 

2. das Revisions-Gericht. 

Die Mitglieder der Kriegsgerichte sind 
ständig auf 6 Monate von dem kommandieren¬ 
den General ernannt. Der Angeklagte kann 
sich einen Verteidiger aus den Militärpersonen, 
Advokaten u. s. w. wählen. Die Hauptver¬ 
handlung ist mündlich und öffentlich (mit 
einigen Ausnahmen). 

Die Strafgesetze sind von teilweise grosser 
Härte und bei weitem schärfer als in Deutsch¬ 
land. Als besondere Strafarten sind hervor¬ 


zuheben : Todesstrafe, lebenslängliche Zwangs¬ 
arbeit, Deportation; das Mindestmass ver¬ 
schiedener Strafen ist 5 Jahre, das Höchst- 
mass 10 — 20 Jahre. Die Degradation wird 
vor versammelter Mannschaft vollzogen. 

Der Pferdebestand ist in Frankreich an 
sich sehr gross, indessen kann der Bedarf 
an brauchbaren Reitpferden schon für die 
Friedenszeit nicht gedeckt werden, und muss 
deshalb Einfuhr stattfinden. Für den Mobil¬ 
machungsfall wird dies zur Folge haben, dass 
die Kavallerie zum Teil mit minderwertigen 
Pferden ausgerüstet werden muss. 

Aus der bisherigen Darstellung haben wir 
ersehen, dass die 3. Republik es verstanden 
hat, aus den Trümmern der Armee von 1870 
ein gewaltiges Heerwesen vollständig neu er¬ 
stehen zu lassen, 'trotzdem hier, noch mehr wie 
in Italien, der Kriegsminister wechselte und 
ein oberster autoritativer Wille fehlte. Allein 
dieser wurde ersetzt durch die Revanche-Idee, 
welche alle Kriegsminister und Deputierten in 
demselben Bestreben: Herstellung einer 
revanchefähigen Armee, vorwärts trieb, unter¬ 
stützt durch den Reichtum des Landes, in 
Folge dessen man vor den ungeheuren Aus¬ 
gaben nicht zurückzuschrecken brauchte. Was 
also die Zahl und äussere Macht der Armee 
anlangt, so hat Frankreich heute sein Ziel er¬ 
reicht; wie steht es aber mit dem inneren 
Wert derselben? 

Hierauf näher einzugehen, würde diese 
Betrachtung zu weit führen. Indessen mögen 
bei dem Interesse, das wohl allgemein un¬ 
serem Nachbar zugewendet wird, einige Be¬ 
merkungen hierüber noch gestattet sein. 

Es ist kein Zweifel, dass das Soldaten- 
Material ein gutes ist, dass das Kriegsmini- 
sterium bestrebt ist, dessen Ausbildung durch 
Erlass neuer zeitgemässer Reglements in allen 
Teilen möglichst zu vervollkommnen. Da 
aber gerade nach dieser Richtung hin der 
Erfolg auf der Tüchtigkeit des Offizier- und 
Unteroffizier-Korps beruht, so kann man aus 
dem Geist und Wert desselben auch einen 
Rückschluss auf den dfer Truppen ziehen. 

Was zunächst den obersten Leiter der 
Armee anlangt, so ist es gewiss ein verhäng¬ 
nisvoller Nachteil, dass derselbe als Kriegs¬ 
minister eine politische Persönlichkeit ist, nur 
getragen von einer Kammerpartei, von dieser 
abhängig, oft ohne diejenige Autorität bei der 
Truppe, die zur Durchführung von Befehlen 
und Anordnungen, zur Kräftigung und Er¬ 
haltung des soldatischen Geistes, des unbe¬ 
dingten Gehorsams, sowie des nicht minder 
notwendigen Vertrauens vorhanden sein muss. 
Es wird daher öfters über Unbotmässigkeiten 
hoher Generale gegen erlassene Bestimmungen 
und über Eigenmächtigkeiten in Auslegung 

31 * 


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546 


Aenderungen und Fortschritte im Militärwesen. 


und Ergänzung derselben berichtet. Natur¬ 
gemäss zieht dies Verhalten der höheren Offi¬ 
ziere in gleichem Sinne weitere Kreise nach 
unten. Dazu kommt ferner die so ungleich¬ 
artige Zusammensetzung des Offizierkorps, da 
fast die Hälfte desselben aus dem Unteroffi¬ 
zierstande hervorgeht. Einerseits wird hier¬ 
durch ein Strebertum gross gezogen, dem es 
mit Hülfe von Konnexionen, nicht zum 
wenigsten politischer Natur, gelingt, verhält¬ 
nismässig jung in hohe Stellungen zu gelangen, 
auf der anderen Seite bleibt ein grosser Teil 
im Avancement zurück, — in Folge zu hohen 
Alters oder zu geringer Bildung — und dient 
missmutig und ohne Schaffensfreude in seiner 
Stelle weiter, bis die erreichte Altersgrenze 
ihm durch die Pensionierung die ersehnte 
Befreiung von den lästigen Dienstverhältnissen 
bringt. Es zerfällt somit das französiche 
Offizierkorps der aktiven Armee in 2 Haupt¬ 
gruppen : die eine hervorgehend aus den 
besseren Ständen, mit guter Vorbildung und 
durch 2jährigen Besuch der Schulen von St. 
Cyr (für Infanterie und Kavall.) und der 
polytechnischen Schule (für Art. und Genie) 
wissenschaftHch ausgebildet, die andere her¬ 
vorgehend aus den unteren Bevölkerungs¬ 
klassen, vermögenslos und mangelhaft vor¬ 
gebildet, nach mindestens 4jähriger Dienstzeit 
und nach Erwerbung oberflächlicher Kennt¬ 
nisse in den Regiments-Schulen und den 
Oflfiziervorbildungs-Anstalten zu St. Maixent 
(Inf.), Saumur (Kav.) und Versailles (Art., Genie 
und Train) auf Grund eines besonderen Offi¬ 
zier-Examens befördert. Jeder Offizier hat 
das Recht, auf seiner Stelle zu verbleiben, 
bis er die Altersgrenze, bezw. eine 30jährige 
Dienstzeit erreicht hat; da die Altersgrenze 
für Obersten bis zum 60., für Hauptleutc bis 
zum 53. Jahre reicht (Divisions-Generale 65, 
Brigade-Generale 60), so ist es von vorn¬ 
herein klar, dass derartige Stellen - Besitzer 
weder im Frieden noch im Kriege die zur 
Ausfüllung ihrer anstrengenden Berufspflichten 
nötige geistige und .körperliche Elastizität 
haben. Dass in einem dergestalt ungleichartigen 
Offizierkorps ein so segensreicher kamerad¬ 
schaftlicher Korpsgeist, wie etwa bei dem 
Deutschen, nicht im entferntesten bestehen 
kann, ist ebenfalls einleuchtend; eine weitere 
schlimme Folge hiervon ist aber, dass die 
französischen Offiziere weder untereinander, 
noch bei ihren Untergebenen oder seitens 
des Bürgertums ein besonderes Ansehen und 
Vertrauen geniessen. 

Ein fernerer gewichtiger Nachteil für die 
Leistungsfähigkeit des Heeres liegt darin, dass 
von der obersten Stelle herab das Zentrali¬ 
sationssystem herrscht, dass jeder in seiner 
Stelle die grösstmöglichste Machtbefugnis zu 


vereinigen und dem Untergebenen jede Selbst¬ 
ständigkeit zu unterbinden bestrebt ist; wenn 
auch in den neueren Reglements und für die 
Manöver überall die eigene Initative eines 
jeden Führers betont wird — der von oben 
gegebene Schematismus und die von da aus¬ 
gehende, nach unten Alles bis ins Kleinste 
befehlende Einwirkung ist mit wenigen Aus¬ 
nahmen noch überall vorhanden, wie dies 
gerade noch die letzten Herbstübungen ge¬ 
zeigt haben. Das Avancement erfolgt nach 
der Tour oder „nach Wahl“ auf Grund 
einer durch eine besondere Kommission jähr¬ 
lich aufgestelltenAvancementsliste; vom Oberst¬ 
lieutenant ab erfolgt die Beförderung jedoch 
nur „nach Wahl". Die aus dem aktiven 
Dienste scheidenden Offiziere treten zur Re¬ 
serve oder Territorial-Armee über, die Ge¬ 
nerale nach 5 Jahren in die „2. Sektion" 
(etwa zur Disposition). 

Die Reserve- Offiziere, welche sich aus 
früheren aktiven Offizieren, den Zöglingen 
verschiedener Schulen, den nur zum einjäh¬ 
rigen Dienst Verpflichteten und aus früheren 
aktiven Unteroffizieren zusammen setzen, 
zeigen selbstverständlich noch grössere Unter¬ 
schiede bezüglich ihres Wertes. Am schlimmsten 
steht es jedoch mit den Offizieren der 7 >r- 
ritorial-Armee, die der grossen Mehrzahl nach 
ehemalige aktive oder Reserve-Unteroffiziere 
und Mannschaften des ehemal. aktiven Dienst- 
Standes sind, (nach isjähr. Dienstzeit kann 
jeder Unteroffizier ohne Weiteres Territorial- 
Offizier werden). Die Territorial - Offiziere 
können nach abgeleisteter Gesamtdienstpflicht 
bis zum 60. Jahre in der Territorial-Armee 
verbleiben. Diese Kategorie bildet natürlich 
auch keinen sehr brauchbaren Bestandteil, 
ebenso wie die, in Folge der Altersgrenze 
aus der aktiven Armee übertretenden Offi¬ 
ziere, die meist ebenfalls aus dem Unter¬ 
offizierstand hervorgegangen sind. Die Re¬ 
serve- und Territorial-Offiziere werden nur 
nach Wahl befördert, erstere nur bis zum 
Bataillonschef. Beide Offizier • Kategorien 
sollen alle 2 Jahre eine Dienstleistung von 
4 bezw. 2 Wochen abdienen. Ausserdem 
können sie in Uniform an allen Übungen der 
Garnisonen als Zuschauer Teil nehmen und 
werden bei dieser Gelegenheit durch besondere 
Offiziere belehrt. F'erner sind durch das Kriegs¬ 
ministerium Fortbildungsschulen eingerichtet 
worden, in denen die Reserve- und Territorial- 
Offiziere im Winter theoretisch, im Sommer 
durch praktische Übungen — zu denen die 
Garnisonen die Truppen stellen — weiter¬ 
gebildet werden sollen. Diese Unterrichts¬ 
stunden sollen jeden Vormittag durch 

einen aktiven Offizier in der nächstgelegenen 
Garnison, zu welcher sich die ausserhalb 


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Tetzner, Bei den Maldininkern. 


547 


wohnenden zu begeben haben, stattfinden; der 
Besuch ist freigestellt. Ob diese Massregel 
sich bewähren wird, muss aus verschiedenen 
Gründen sehr dahingestellt werden. 

Was nun das Unterofßzier'K.or^s anlangt, 
so wird dessen Wert naturgemäss sehr be¬ 
einträchtigt dadurch, dass die besten Elemente, 
ehrgeizig vorwärtsstrebend, zu Offizieren be¬ 
fördert werden, die aber ihrerseits, als frühere 
Kameraden, den Unteroffizieren gegenüber 
wenig Ansehen geniessen; bis zu den im Jahre 
1889 eingetretenen zahlreichen Aufbesser¬ 
ungen der Unteroffiziere (Handgeld, Prämien, 
Pension, Anstellung im Zivildienst), war ein 
grosser Mangel namentlich an älteren Unter¬ 
offizieren, doch soll dieser Übelstand auch 
heute noch nicht ganz beseitigt sein. Ins- 
besonders hatte die erst vor kurzem abgeschaffte 
Stelle eines »Adjutant“ -- Feldwebellieutenant 
mit Offiziersuniform (unser Bataillonsadjutant 
heisst »capitaine-adjutant-major“) den ZudrRng 
wieder so beeinträchtigt, dass dieselbe von 
Neuem eingeführt worden ist. Unserem Feld¬ 
webel entspricht der Sergent-major, unseren 
übrigen Unteroffizieren der Sergent, der 
Charge eines Ober-Gefreiten der Corpora!, 
während der Soldat I. Klasse etwa unserem 
Gefreiten gleichkommt. Der Feldwebel wird 
ganz durch „schriftlichen" Dienst beschäftigt, 
während die Hauptaufgabe desselben bei uns: 
Überwachung des inneren Dienstes, dem „Ad¬ 
jutant* zufällt. Als eine sehr bedenkliche 
Einrichtung erscheint es, dass jeder höhere 
Grad des Unteroffiziers über den niederen und 
die Gemeinen Strafgewalt hat, z. B. Verbot, 
das Kasernement oder die Stube zu verlassen 
bis zu 4 Tagen; die Korporale können sogar 
gegen den Gemeinen ausser Strafdienst Ka¬ 
sernenarrest bis zu 2 Tagen verfügen. Hier¬ 
durch wird der Willkür und Ungerechtigkeit 
und dem Bestreben der niederen Chargen, 
den Untergebenen seine Macht fühlen zu lassen, 
Thür und Thor geöffnet, und von einer Hand¬ 
habung der disciplinaren Strafgewalt nach ein¬ 
heitlichen Grundsätzen kann keine Rede sein. 
Die sich hierauf aber für den Geist und 
die Disziplin der Leute ergebenden üblen 
Folgen bedürfen wohl keiner weiteren 
Auseinandersetzung. 

Der Bestand an Offizieren und Unteroffi¬ 
zieren bei den Stäben und als Kadres ist ein 
ausserordentlich hoher, so dass viele derselben 
im Frieden nicht genügend beschäftigt er¬ 
scheinen, und dass einzelne Dienstzweige, auch 
innerhalb des Truppenteils, solchen Offizieren 
besonders zugeteilt werden, wodurch natürlich 
die Thätigkeit und Einwirkung des Kompagnie¬ 
chefs beeinträchtigt wird. So besteht z. B. 
der Regimentsstab eines Infanterie-Regiments 
aus: 


3 Stabsoffizieren (Oberst, Oberstlieutenant und 
Major) 

2 Kapitains: Zahlmeister u. Bekleidungsoffiz. 

3 Lieutenants: (i b. Zahlm., i Fahnenträger, 

1 Musikdirigent. 

Ausserdem als Kadre: 

2 Stabsoffiziere (Oberstüeutenant und Major) 

8 Kapitains. 

4 Lieutenants; ferner aus dem Untersiah'. 

2 Unteroffiziere, (i Tambour-Major, i Sous¬ 
chef der Musik). 

12 Gemeine (Schreiber, Scheibenarbeiter, 
Ordonnanzen) 
und ausserdem aus 

I n Ilntprnff Schreiber, Hand- 

der „Sektion ‘ ' werker, Fechtmstr. 

hors rang“ 9 Korporale ßüchsenm., Regts.- 
j 16 Gemeine Schneider,Schuhm. 
Summa des Regimentsstabs: 22 Offiziere, 

9 Unteroffiziere, 37 Mann. 

Dagegen hat die Kompagnie nur 3 Offiziere 
(einschliesslich des Chefs,) 

9 Unteroffiziere (1 Adjutant, i sergt. major, 
I sergt. fourier, 6 sergt.) 

10 Korporale; ausserdem 2 Spielleute (die 
abgeschafft gewesene Trommel ist wieder 
eingefOhrt), und 105 Gemeine. 

Um schliesslich noch ein weiteres Streif¬ 
licht auf den Grad der Ausbildung des fran¬ 
zösischen Heeres zu werfen, wollen wir auch 
der in französischen Schriften auftretenden 
Klagen Erwähnung thun, dass der gewaltige 
Friedens-Sollstand der Armee von weit über 
500,000 Mann gar nicht vorhanden sei, da 
kaum ein Drittel derselben völlig ausgebildet 
werde; jeder suche sich durch Abkomman¬ 
dierung oder Beurlaubung dem Dienste zu 
entziehen, und zu den Übungen erschienen 
die Kompagnien nach wie vor so schwach, 
dass der Wert derselben verloren gehe. 
Nachdem wir in den bisherigen Darstell¬ 
ungen die Heeresmächte derjenigen euro¬ 
päischen Mächte kennen gelernt haben, welche 
die Geschichte der Völker und Staaten her¬ 
vorragend beeinflussen und daher das all¬ 
gemeine Interesse in besonderem Masse in 
Anspruch nehmen, gehen wir nun über zu 
der speziellen Betrachtung der Änderungen 
und Fortschritte im Heerwesen, indem wir 
uns Vorbehalten, hierbei auch die Heeres- 
Einrichtungen der anderen europäischen 
Staaten eingehender zu behandeln. 


Bei den Maldininkern. 

Von Dr. F. Tetzner. 

Byrute, die polangische Fischermaid und 
spätere GrossfOrstin und Mutter des letzten 
Litauerkönigs Witold hatte dem Schiff den 


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54^ 


Tetzner, Bei den Maldininkern. 


Namen gegeben, das uns thalab den breiten 
Memelstrom dem Haff zufilhrte. Vom Zauber 
ewig jungen tragischen Heldentums umgeben, 
ersteht Keistuts Sohn vor unseren Augen, 
wenn wir die stattlichen Gestalten erblicken, 
die mit uns hinaus in die Niederung fahren 
und den fremden Gruss ihrer weichen Sprache 
den Zurückbleibenden zurufen. Wie lange 
wird es noch dauern, und der letzte Litauer 
hat sich zu seinen Vätern versammelt. In 
jener vom Herzen Deutschlands so weit ab¬ 
liegenden Gegend hat sich manches Alte 
erhalten und so vieles Eigenartige entwickelt, 
das die Aufmerksamkeit des Gastes fesselt 
und nicht wie das Einerlei der gleichen Kul¬ 
tur im Inneren des Reiches an den Augen 
vorbeirinnt. Man beachte nur die eigentüm¬ 
lichen Grabkreuze neben unseren 'nun in 
ganz Deutschland ohne Eigenart gleichen 
Kreuzen und Platten. Mit welcher Zähigkeit 
hält sich die Sondertracht der mitfahrenden 
Mädchen und der bastbeschuhten Männer aus 
Memelburgs Nähe! Wer sind aber die Leute 
daneben, die mit ihrem geistlichen Gesichts¬ 
ausdruck, der schwarzen Seidenkappe oder 
Hutform und dem Gehrock im engen Kreis 
sich zusammenschliessen? Sie ähneln wohl 
Landgeistlichen, doch weisen Äusserlichkeiten 
jene Vermutung von der Hand. Das Schiff 
hält: es steigt ein Mann in gleicher Tracht 
ein, empfangen von den anderen. Sie lispeln 
ihre litauische Begrüssung, reichen sich die 
Hände und küssen einander. Sie setzen sich 
zum Gespräche nieder, bald litauisch, bald 
deutsch; alle duzen sich, trotzdem sie unter 
sich fremd scheinen, und mitten in der Unter¬ 
haltung beginnt das Küssen nochmals. Ein 
neuer Genosse steigt ein, dasselbe Schauspiel. 

Es sind Maldininker oder Surinkimininker. 
Diese Worte sind abgeleitet von Litauisch 
malda == Gebet und surinkis — Versamm¬ 
lung. Der erste Ausdruck hat einen spötteln¬ 
den Nebensinn bekommen und wird von ihnen 
selbst nicht angewendet, ist aber sonst gang 
und gäbe. Auf deutsch nennen sie sich am 
liebsten Brüder, bez. Schwestern, auch Ge- 
betsversammler. Erweckte, Bekehrte. Die 
Fernerstehenden gebrauchen die Namen 
„Fromme“, „Heilige“, „Mucker“. In keinem 
deutschen Lande, auch nicht in Sachsen, ist 
das religiöse Vereins- und Sektenwesen so 
entwickelt als in Ostpreussen, nirgends tritt 
es so offen hervor als hier. Und gerade von 
den Maldininkern hatte ich so Widersprechen¬ 
des aus dem Leumund von allerlei Leuten 
gehört, dass ich erfreut ihr Gastgebot an¬ 
nahm, die „Missionsfahrt“ mit zu unter¬ 
nehmen. 

Die Geschichte der Maldininker war mir 
nicht unbekannt. Sie beginnt in den Tagen 


Zinzendorfs und der litauischen Besiedelung 
unter Friedrich Wilhelm 1 . Zinzendorf hatte 
nach Gründung seiner Herrnhuter Gemeinde 
bereits 1727 die ersten Missionare in alle 
Welt geschickt. Diese sollten den Christen 
und zwar den verlorensten Stämmen eine 
andere als die orthodoxe Lehre predigen, die 
bei den meisten kein christliches Leben im 
Gefolge zeitigte. Ein heiliger gottgeweihter 
Lebenswandel, thätige Liebeswerke, Busse, 
inniges Versenken ins Erlösungs- und Be¬ 
kehrungswerk, pflichtgetreue Arbeit in Acker 
und Garten, Haus und Hof, das waren ihre 
Ziele; daneben wurden die Äusserlichkeiten 
bald zu Hauptsachen: Meiden von Tanz, 
Theater, Tabak, geistigen Getränken, lust¬ 
igem Wesen, lautem Lachen u. dergl. In 
den dreissiger Jahren des vorigen Jahrhun¬ 
derts finden wir solche Herrnhuter Missionare 
bei den Kaschuben. Geistesgewaltige Priester 
gehen auf ihre Lehre ein, zumal fromme Pa¬ 
trone, Rittergutsbesitzer und deren Witwen 
und gealterte Schwestern, die Herrnhuter 
Brüder mit Freuden in ihr Schloss aufnahmen. 
Die Pastoren in Schmolsin, Garde, Glowitz, 
Zezenow, besonders Schtmanski und Beyer 
wirkten mit grossem Segen unter dem trunk¬ 
süchtigen slavischen Stamm. — Um dieselbe 
Zeit nun hatte Friedrich Wilhelm I. die Salz¬ 
burger nach dem abgelegenen, durch Krieg 
und Pest entvölkerten Litauen gerufen. Er 
siedelte 1732, nachdem schon 1724 über 3900 
Bauern und Handwerker aus der Pfalz, der 
Schweiz u. a. Ländern gekommen waren, 
15,508 Salzburger in Preussen an und ver¬ 
wendete auf ihren Anbau i a Millionen Mark. 
Die um ihres Glaubens willen Vertriebenen 
brachten schon ein lebendiges Christentum 
mit, die Herrnhuter Wanderprediger suchten 
es recht auszubauen. Bereits 1733 kamen die 
Missionare Demuth und Höhnisch und hielten 
Gebetsversammlungen ab, noch zwei andere, 
Hofer und Grenzer, werden namhaft gemacht. 
Ein Salzburger Siedeier, Namens Goffer, hatte 
solchen in der Insterburger Gegend beige¬ 
wohnt und lernte litauisch, um auch unter 
diesem Volke solche Zusammenkünfte zu ver¬ 
anstalten. Drei Lehrer: Demke und die Brü¬ 
der Jurkschat, wirkten nun, als geborene 
Litauer, um Insterburg und Tilsit. Es ent¬ 
standen, wie man damals in die Kirchen¬ 
bücher schrieb, „grosse Erweckungen weit 
und breit“. Die Litauer haben in ihrer Sprache 
noch jetzt einige heidnische Götternamen, 
ihre religiöse Gesinnung aber ist sehr streng 
christlich. Die volksverständlichen, auf ein 
inniges geistliches Leben gerichteten Reden, 
konnten deshalb grosse Erfolge erzielen. Dies 
aber umsomehr, als die predigenden Brüder, 
Lehrer, Geistlichen nicht nur mit den Worten, 


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Tetzner, Bei den Maldininkern. 


549 


sondern auch mit Werken voranleuchteten. 
„Wie kann ich unter trunksüchtiger Bevölker¬ 
ung mit Erfolg bekehren, wenn sie mich selbst 
mein Gläschen Wein trinken sehen; sie nen¬ 
nen mich Heuchler, beneiden mich und glau¬ 
ben mir nicht, darum trage ich selbst das 
Zeichen gänzlicher Enthaltsamkeit, das blaue 
Kreuz, als das treue Vermächtnis eines auf¬ 
gegebenen und doch geretteten Säufers", so 
sprach kürzlich ein den Maldininkern zuge- 
thaner Prediger im Gumbinner Kreis. Und 
was er vom Trinken sagte, übte er auch in 
Bezug aufs Rauchen, ja selbst aufä Tanzen und 
den Besuch anderer als religiöser Zusammen¬ 
künfte. „Was soll der Gustav-Adolfs-Verein, 
und die wissenschaftlichen Reden in religiösen 
Verbindungen, im Jünglings- und Hausväter¬ 
verband ; sie lenken den Sinn ab von dem 
einen, was not thut. Entweder das Wort 
Gottes hat die Kraft, selig, d. h. glücklich in 
Zeit und Ewigkeit zu machen, oder es hat 
sie nicht. Ich weiss es aber, dass das Wort 
die Kraft hat, und darum soll in allen Ver¬ 
sammlungen und allüberall einzig die Bibel vor¬ 
gelesen, ein wenig, aber nicht weitschweifend 
erklärt, und buchstäblich erfüllt und gelebt 
werden. „Was soll ein Arzt? Es steht ge¬ 
schrieben „Ich der Herr, dein Arzt", und wenn 
ich mir nicht von Gott meine Gesundheit 
herausbete oder er heilt mich freiwillig, ist 
alles ärztliche Eingreifen umsonst. Fehlt mir 
etwas, so frage ich mich selbst, ob ich den 
Glauben und die feste Zuversicht habe: Gott 
hilft. Habe ich sie nicht, dann geh ich zum 
Medizinmann — um alle Gerechtigkeit zu er¬ 
füllen —, doch ich habe sie meist und lege 
das erkrankte Glied auf die betreffende Bibel¬ 
stelle, — und es ist meist gesund geworden." 
Ebenso wörtlich wollte er die Bergpredigt 
verstanden wissen. Ich machte ihn darauf 
aufmerksam, dass seine feste Stelle ihn wohl 
der „Sorgen für den anderen Morgen“ Über¬ 
heben könnten, dass aber die meisten Menschen 
aus praktischen Gründen und des Arbeitsver¬ 
trags wegen den Tag über mehr arbeiten als 
beten müssten. Er gab dies zu, meinte aber, 
er getraue sich jederzeit auch ohne sein geist¬ 
liches Einkommen zu leben, Gott sorge schon, 
und der Arbeitsvertrag müsse eben in die 
Rumpelkammer geworfen werden. Ausserdem 
habe Christus und Johannes denen, die zween 
Röcke haben, das Verschenken des einen zur 
Pflicht gemacht. Das thue er und das müsse 
jeder thun, der sein Jünger sein wolle. Dieser 
einzelne setzte nun thatsächlich mit Über¬ 
zeugung und Kraft Christi Worte ins Leben 
um, gab seiner Gemeinde ein grosses Bei¬ 
spiel des Urchristentums, wurde aber doch 
von vielen Unwürdigen missbraucht. Die 
sozialen Verhältnisse in Deutschland sind 


eben andere, als die im alten Nazareth und 
am See Tiberias. 

Statt des alten litauischen Gesangbuches be¬ 
dienen sich die Maldininker ihres kleineren 
Buches Psalmu knygos, das 1876 in der 12. Auf¬ 
lage im Umfang von 404 Liedern erschien und 
der litauischen Sangesart durch Einführung 
der herrnhutischen hüpfenden rhythmischen 
Gesänge Vorschub leistet. Einer der mäch¬ 
tigsten Förderer ihrer Bewegung war der 
Memeler Schiffer Klimku-Grygolait, der Vi¬ 
sionen zu haben vorgab und ganz Ostlitauen 
predigend durchzog. Die Gebetsversammler 
wuchsen täglich an Zahl, in der Tilsiter 
Pflege erstand ein gewisser Preukschat, in 
der Ragniter: Albuscheit. Die Prediger waren 
und sind meist Bauern, die im Herbst nach 
Beendigung der Ackerarbeic ihre Missions- 
thätigkeit aufnahmen. Es waren gewöhnliche, 
tüchtige strebsame Ackerleute, die ihr Besitz¬ 
tum gut verwalteten. Sie nahmen nie Lohn, 
blieben bei der Bibel, und empfahlen aner¬ 
kannte Bücher, wie Arnds Christentum und 
Bogatzkis Schatzkästlein. Viele Pfarrer waren 
auf ihrer Seite, namentlich der Ragniter 
Superintendent Malkwitz. Eine Blüte erlebte 
das Maldininkertum unter Bruder Dargys, 
der sich autodidaktisch ausgebildet hatte und 
trefflich belesen war. Als alter Freiheits¬ 
kämpfer von 1813 genoss er noch besonderes 
Ansehen. Kraft seiner Autorität berief er 
die Laienprediger zu Synoden zusammen, 
setzte ab und ein und wurde von allen an¬ 
erkannt. Die 1848er Verfolgung brachte auch 
ihm Einkerkerung. Malkwitz erlangte seine 
Freilassung. Ja, König Friedrich Wilhelm IV. 
Hess ihm sogar ein Geldgeschenk wegen sei¬ 
ner Wirksamkeit und seiner Haft anbieten. 
Das nahm er nicht an, und seit der Zeit 
wuchs seine Zuhörerschar und sein Einfluss 
immer mehr. Die Verfolgungen wirkten wie 
im Urchristentum, das Martyrium wurde vor¬ 
bildlich und erweckte neue Bekenner. Das 
Oberkonsistorium that den rechten Schritt, 
und liess die Unschädlichen gewähren. Eine 
mildere Richtung unter Jarkunas gestattete 
sogar mässigen Genuss von Tabak und 
geistigen Getränken, schlimmer war Klimkats 
Schüler Petrick, der das alte Testament als 
Lehrgrundlage betrachtete, noch gefährlicher 
dessen Schüler Sonder, der folgerichtig das 
alte Testament auch ins Leben umsetzen 
wollte, seine Frau verstiess und mit seinen 
Mägden in Vielweiberei lebte. Er forderte 
auch den Zehnten von seinen Gläubigen, 
hatte drei grosse Reiseboote, auf denen die 
Prediger missionierend auszogen und liess 
sich wie einen Patriarchen verehren. 1848 
traten eine Anzahl Brüder aus der Landes¬ 
kirche aus, die meisten blieben ihr treu. 




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550 


Tetzner, Bei den Maldininkern. 


spalteten sich aber in zwei Lager. Die alte 
Richtung bewahrte ihre alte Freiheit. In der 
Versammlung, die in eines wohlhabenden 
Bruders Behausung stattfindet, singen sie 
nächst ein Lied aus Psalmu Knygos. Dann 
knieen sie nieder auf den Fussboden und der 
Verkttnder betet lang und laut. Nun steht 
man auf, der Gebetsversammler liest und er¬ 
klärt einen Bibelabschnitt. Kniegebet und 
Schlusslied folgen. Die neue Richtung trägt 
gescheiteltes Haar, ausgesucht einfache Kleid¬ 
ung in Schwarz und Weiss, verwirft mit der 
farbigen Marginne alles Bunte und hasst die 
abschweifenden volkstümlichen Erklärungen. 
Sie beten still im Versammlungszimmer beim 
Ein- und Austritt. Man singt das dreimal 
Heilig und die Predigt erstreckt sich nur auf 
Ermahnung und Spruchwiederholung. Die 
Alten tadeln an den Neuen: Starrheit der 
Lehre und Sucht äusserlich aufzufallen, diese 
umgekehrt an jenen: Menschensatzung und 
Abweichung von der Heiligen Schrift. Ge¬ 
meinsam ist beiden ein tugendhaftes Leben, 
das den Gerichten nichts zu thun giebt, ferner 
die eifrige Unterstützung des Missionswerkes, 
der häufige Genuss des Abendmahls. Die 
Verkünder dagegen predigen nur, geben an, 
Visionen zu haben und durch Handauflegung 
Kranke heilen zu können. Sie bilden sich 
selbst aus, sobald sie glauben, Gott habe 
ihnen das Predigtamt gegeben. Sie stehen in 
hohem Ansehen bei den Brüdern und wissen 
es sich auch zu erhalten. Gegenwärtig steht 
an der Spitze der bekannte Christoph Kukat, 
ein ehemaliger Besitzer in der Tilsiter Ge¬ 
gend, der mehrere Kirchen sein eigen nannte. 
Er ist schon in ganz Deutschland als Wander¬ 
lehrer thätig gewesen, ward einmal für irr¬ 
sinnig erklärt, erhielt aber schliesslich vom 
Oberkirchenrat die Erlaubnis zum Predigen. 
Er leitet die religiöse Wochenschrift „Frie¬ 
densbote" (Pakajaus Paslas), die Vereinsschrift 
des Ostpreussischen Gebetsvereins. Diese er¬ 
scheint in einer Auflage von reichlich 500 in 
Memel, hat zur Hälfte litauischen, zur Hälfte 
deutschen Text. 

Aus dem Munde der Litauer selbst hörte 
ich die widersprechendsten Urteile über das 
Thun und Treiben der Surininkimmer und 
ihrer Predigten. Die Übelgesinnten sagen 
ihnen Muckerei und Scheinheiligkeit nach, 
schlimmere Zungen sprechen im Gegensatz 
zu der gerühmten Keuschheit von „Kinder¬ 
vereinen“ und nannten die Verkünder Betrüger 
oder schlaue Schelme. Sie zögen zur Herbst¬ 
zeit aus, weil da die Gläubigen geschlachtet 
und gebacken hätten. Ihr Wirken sei nicht 
unschädlich. Dem gegenüber sagen ernste 
Männer; Die Maldininker wirken nur Gutes, 
vermeiden politische Streitigkeiten, Uneinig¬ 


keiten schlichten sie durch eigene Schieds¬ 
gerichte, sie geben den abgeschiedenen Dörfern 
mit der geistlichen geistige Nahrung und sind 
Träger der Kirchlichkeit und des Opferwillens. 

Jetzt ntm war mir das Glück günstig, sie 
in ihrem Thun und Treiben beobachten zu 
können. Als ich einen auf dem Schiff fragte, 
trat mir sogleich mit freundlicher milder 
Miene ein pastorenhaft aussehender starker 
und kräftiger Herr entgegen. Er mochte 50 
Jahre alt sein; sein blühendes Gesicht, seine 
ganze Haltung wirkten vorteilhaft: „Nein, 
wir sind nicht studierte Personen, uns hat 
Gott das Predigtamt gegeben, ich bin Kukat.“ 
Mit glaubensfreudigem Eifer und Überzeug¬ 
ung begann er nun sogleich sein Werk der 
Bekehrung und konnte anfänglich nicht glau¬ 
ben, dass ich nur lernen und sehen, aber 
nicht bekehrt sein wollte. Die Bekehrung 
war bei ihm das A und O. „Es kann eben 
niemand seine Bekehrung erzählen, weil er 
nicht bekehrt ist. Ja, bis zum 20. Jahre lebte 
ich auch so dahin, dahin. Rauchen, Tanzen, 
Biertrinken, Kirchegehn, alles that ich, gern, 
aber unbekehrt, und Gott erschien mir im 
Gesicht und berief mich zu meinem Amte, 
und er erwählte mich zum Rüstzeug und zeigte 
mir Hölle und Himmel. Ja, das sagen viele, 
der Kukat schwindelt doch, er ist nicht dort 
gewesen. Zweifelt nur, Gott thut, was er will.“ 
Wie sahs denn nun in Himmel und Hölle 
aus? „Ja, das können Worte nicht beschrei¬ 
ben, in der Hölle sah ich viel eitel Trauer 
und Herzeleid und hörte die Klagen der Ver¬ 
dammten und die Siegesfreude der Teufel, 
ira Himmel aber ist eitel Wonne und Selig¬ 
keit und Freude die Fülle, und die Engel 
singen und spielen mit den Gläubigen in Ge¬ 
meinschaft.“ Über die diesem Abstraktis zu 
Grunde liegenden Konkreta gab er jedoch 
keine Auskunft; er war erstaunt, dass man 
sich mit eitel Wissenschaft und Dichterei ab¬ 
geben und gar Litauen als Forschungsgebiet 
wählen könne, Bekehrung sei alles, was vom 
Menschen zu verlangen sei, alles andere sei 
sinnlos. Die Bibel legte er so aus, wie sie 
der Elementarlehrer verständlich gemacht 
hatte, sie w'ar ihm schlechthin Gottes Wort, 
auch der Katechismus mit seinen Erklärun¬ 
gen. Der unkritischen, oft falschen Bibelaus¬ 
legung bot indess eine volkstümliche Bered¬ 
samkeit und Versinnbildlichung die Hand, 
und so kam oft ein ganz trefflicher Gedanke 
heraus, der allerdings gar nicht in der Bibel 
stand. Derbe Worte scheute er nicht. Die 
Sünden des Volks verglich er mit dem Schweine¬ 
trog des verlorenen Sohnes. Seine Mitver¬ 
kündiger sekundierten ihm vortrefflich und 
ihre Augen glänzten, wenn er von seinen 
Missionsreisen durch ganz Deutschland sprach. 


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Die Entdeckung der ältesten babylonischen Kultur. 


551 


„Ja., warum kann ich nur deutsch und litauisch, 
die Polen verstehen mich schon nicht mehr; 
wenn ich aber Französisch und Englisch 
könnte, dann wollte ich die ganze Welt durch- 
ziehn.“ Peinlich ward mir die offene Rede 
der so liebenswürdigen Leute, wenn ich mich 
bekehre, bekäme ich Speise und Trank, Wohn- 
nung und Führung, so lange ich bei Brüdern 
sei; es könnte scheinen, als ob sie das Gottes¬ 
reich samt dem Linsengericht ftir eine neue 
Seele geben wollten. Aber das meinten sie 
gar nicht, denn der Sinn der Rede war kein 
anderer als der: Du bist hier in einem wild¬ 
fremden Lande ohne Freunde und Bekannte 
— Übrigens ein Irrtum der Maldininker — 
hier aber hast du Menschen, die dir alles in 
Fülle geben, freilich musst du ihr Bruder 
sein. Ich wies die freundliche Gastlichkeit 
und die ferneren Bekehrungsversuche zurück, 
so ungern ich ihre Enttäuschung sah. Als 
sie bei Russ das Schiff verliessen, forderten 
sie mich nochmals höflich zur Teilnahme an 
ihrer Versammlung auf. Ich erklärte offen, 
wenn sie sich mit einem ehrlichen Zuschauer 
und Beobachter begnügen könnten, wäre ich 
ihnen für ihre Einladung dankbar. Man wil¬ 
ligte allseits ein, Kukat erklärte, man könnte 
ihm ja sein gottverliehenes Predigtamt nicht 
wehren und dem möchte ich die fortgesetzten 
Bekehrungsversuche zugute halten; das glaube 
er aber, — alles Wissen sei nicht mehr im 
Vergleich liu seiner geistlichen Wirksamkeit, 
als das Schwarze seines Fingernagels. 

(Schluss folgt). 


Die Entdeckung der ältesten babylonischen 
Kultur (7000 bis 6000 vor unserer 
Zeitrechnung). 

{Globus vom 34. Juli 1897.) 

Seit 1888 war bei Nuffar — dem alten 
Nippur — in Nordbabylonien eine wissen¬ 
schaftliche Forschungs-Expedition thätig, die 
von der Universität Philadelphia ausgesandt 
worden war. Bis 1890 wurden mehr Ver¬ 
suchsgrabungen und Vermessungen unter¬ 
nommen; die Ausbeute bestand in etwa roooo 
Inschrifttäfelchen und beschriebenen Gegen¬ 
ständen, u. a. mit verschiedenen Berichten 
Sargons I. und seines Sohnes Naram-Sin (etwa 
3800 vor unserer Zeitrechnung). Erst nach 
Besiegung mancher Schwierigkeiten wurden 
die Arbeiten 1893 durch J. H. Hayn es 
wieder aufgenoramen; seitdem sind sie mit so 
ausserordentlichem Erfolge im Gange geblie¬ 
ben, dass der Beginn der Kulturgeschichte um 
Jahrtausende zurückgelegt worden ist. Dem 
Forscher J. H. Haynes gebührt der Triumph, 


die Ruinen der ältesten bekannten, mindestens 
6000 bis 7000 Jahre vor unserer Zeitrech¬ 
nung gegründeten Stadt ausgegraben zu haben, 
und dem ?deutschen? Gelehrten Professor Dr. 
Hilprecht der Ruhm, die grössten Ent¬ 
deckungen der neueren Zeit, durch seine 
mühsame Entzifferung der Inschriften, der 
Welt bekannt gemacht zu haben. 

Die grossen Erdhügel von Nuffar liegen 
am Ostufer des jetzt versiegten Schat-en-Nil, 
eines ehemaligen, Babylon mit dem Persischen 
Meerbusen verbindenden Hauptschiffahrts¬ 
kanals. Den Mittel und Hauptpunkt der Ru¬ 
inen und von Haynes Nachforschungen bildet 
ein kolossaler kegelförmiger Erdhügel — von 
den Arabern „Bint-el-Amir“ (d. h. „des Emirs 
Tochter“) genannt —, der sich fast 29 m über 
die umgebende Ebene erhebt. Dieser Hügel 
bezeichnet die Lage des grossen Ziggurat 
oder Stufenturmtempels, der von Ur-Gur 
(oder Ur-Bahu, wie er früher genannt wurde) 
um 2800 v. u. Z. •) erbaut und von späteren 
Königen wieder hergestellt und weiter aus¬ 
gebaut worden ist. 

Ür-Gurs Stufenturm in Mugajjar (dem 
alten Ur) war schon länger bekannt; der in 
Nippur ist der erste, der gründlich erforscht 
wurde. Dieser Turm steht auf einer Basis 
von 59 X 39 m, mit den Ecken (wie die 
meisten dieser Türme) nach den vier Him¬ 
melsgegenden ; er scheint, wie der in Ur, aus 
nur drei Stufen zu bestehen, (nicht aus sieben, 
wie die späteren Türme zu Babylon und 
Chorsäbäd). Jede Stufenwand war mit einer 
dicken Schicht Mörtel (Mischung von Lehm 
und Häcksel) bedeckt, die unterste zum Schutz 
gegen den Winterregen mit Brennziegeln ver¬ 
kleidet und mit einer Deckschicht aus Erd¬ 
pech versehen. Der Aufstieg war an der 
Südostseite, wo zwei 3,40 m hohe, 16,32 m 
lange und 7 m von einander entfernte Mauern 
aus Brennziegeln bis in den Tempelhof vor¬ 
gebaut waren; der Zwischenraum war mit 
Rohziegeln gefüllt, und so bildete das Ganze 
einen breiten, zum Turm hinaufführenden 
Dammweg. Der ganze Tempelbezirk ist von 
einer massiven Mauer umgeben, von der noch 
mehr als 30 Ziegelschichten zu sehen sind. 

Dieser Tempeltunn Ur-Gurs ist in seinem 
Aufbau den ältesten ägyptischen Pyramiden 
(besonders von Medum und der Stufenpyra¬ 
mide von Sakkara) sehr ähnlich, während sein 
Dammweg an den bei der zweiten Pyramide 
Chaffras erinnert, der diese mit dem soge¬ 
nannten Sphinxtempel verbindet. Die Ent¬ 
deckungen in Nippur berechtigen dazu, die 
frühere Frage der Archäologen, ob diese 
Stufenpyramiden zu den Tempeltürmen Chal- 

•) v. u. Z. - vor unserer Zeitrechnung. 


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552 


Die Entdeckung der Altesten babylonischen Kultur. 


däas in Beziehung stehen bezw. dorther ent¬ 
lehnt sind, umzukehren. 

Der Nippurer Turm steht auf einer festen 
Rohziegel-Bettung. Unter dieser Oberschicht 
förderten die Nachgrabungen einen zweiten, 
viel besser ausgeföhrten Fussboden zu Tage, 
der aus sehr grossen Brennziegeln bestand; diese 
zeigten eine Fläche von 50X50 cm, bei ent¬ 
sprechender bedeutender Dicke. Fast alle diese 
Ziegel trugen Inschriften, sowie die Stempel¬ 
zeichen Sargons I. und seines Sohnes Naram- 
Sin; ihr Alter beträgt daher gerade 1000 Jahre 
mehr als das der Gebäude Ur-Gurs, d. h. sie 
stammen aus dem Jahre 3800 v. u Z. Aus 
Sargons und Narara-Sins Ziegelinschriften 
wissen wir, dass beide je einen grossen Teil 
eines älteren Mulliltempels bauten und letz¬ 
terem eine Anzahl Vasen widmeten. Die 
Baulichkeiten dieser Könige waren vollständig 
entfernt worden, um auf der neu geebneten 
Bodenfläche die Gebäude Ur-Gurs zu errichten. 
Diese Entdeckung wird durch eine andere 
bestätigt. 1895 fand Haynes in einer einen 
Wall bildenden Reihe von Erdhügeln nord¬ 
westlich vom Tempel eins der merkwürdigsten 
Mauerwerke, dessen Fundament (ähnlich wie 
bei einigen Bauten in Hissarlik) aus einer 
Schicht strohgemischten Lettenschlags be¬ 
steht. Auf diesem erhob sich eine 15,85 m 
dicke, massive Ziegelmauer von unbekannter 
Höhe, deren Erbauer der (bisher oft für 
mythisch gehaltene) König Naram-Sin war. 
Vielleicht war dieser Wall ein breiter Fahr¬ 
weg um die Stadt. Südwestlich von dem 
Turm und dicht bei diesem Wall entdecke 
nun Haynes eine ii m lange, 3,54 m breite 
und 2,60 m hohe Kammer, ohne Thüreingang, 
also ein nur von oben zugängiges Gewölbe, 
laut der Ziegelinschriften von Ur-Gur erbaut. 
Unmittelbar darunter war eine ähnliche Kam¬ 
mer, in der nur ein Ziegeltempel Sargons, 
sowie einige Inschrifttäfelchen u. s. w. ge¬ 
funden wurden. Hier war das Tempelarchiv: 
die kleinere untere Kammer war dasjenige 
Sargons, die obere dasjenige Ur-Gurs. Zu 
irgend einer Zeit zw’ischen Uf-Gur (2800) und 
dem Emporblühen der Kassitendynastie (2200 
V. u. Z.) muss das Archiv erbrochen und der 
Inhalt zerstört oder verschleppt worden sein, 
höchst wahrscheinlich während des elami- 
tischen Einfalles (2285 v. u. Z.), als alle Haupt- 
tenipel geplündert wurden; einen Beweis hier¬ 
für liefert eine in den Ruinen gefundene kleine 
Achatscheibe, auf der einen Seite mit der 
Inschrift, dass sie von Dungi dem Gotte 
Mullil gewidmet wurde,' auf der anderen mit 
einer Widmung von Barnaburjas (t400v. u.Z.), 
wonach sie aus „dem Palaste in Susa im 
Lande Elam" genommen wurde. 

Die Höhe der Trümmer von dem Fuss¬ 


boden Naram-Sins bis zur Spitze des Erd¬ 
hügels beträgt um, und zur Ansammlung 
dieses Haufens bedurfte es, wie wir wissen, 
einer Zeit von nahezu 4000 Jahren. Die ur¬ 
sprüngliche, unbearbeitete Bodenfläche er¬ 
reichte Haynes endlich beim Weitergraben, 
unter Trümmerhaufen von Baulichkeiten, 
Töpfereigeschirr, zerbrochenen Inschriftsteinen 
und gut konstruierten Abflussrohren, in einer 
weiteren Tiefe von 9,25 m. Die genannten 
Überbleibsel erweisen, dass unter Naram-Sins 
Fussboden mindestens zwei Tempel vorhan¬ 
den gewesen sein müssen, die — bei An¬ 
nahme der raschesten Ansammlung dieser 
Trümmer — keinem späteren Zeitraum zuge¬ 
schrieben werden können, als dem zwischen 
7000 und 6000 V. u. Z. 

Aus dieser schon in ältester Zeit durch¬ 
wühlten Schicht ist genug übrig geblieben, 
um uns ältere Phasen babylonischer Kultur 
zu offenbaren, als wir sie je gekannt haben. 
Zuerst wurde ein aus Luftziegeln erbauter 
Altar (Oberfläche 4 X 2,46 m) entdeckt, dar¬ 
auf eine Menge weisser Asche; rings herum 
umgrenzte eine niedrige Mauer den heiligen 
Bezirk, ausserhalb deren zwei kolossale Ter- 
racottavasen gefunden wurden, jede 63,5 cm 
hoch und mit Schnurmuster verziert. In die¬ 
ser einfachen Einhegung haben wir den Keim, 
dem die gewaltigen chaldäischen Tempel ent¬ 
sprangen, hier den Altar mit seinem nur von 
den Priestern betretenen Temenos, dort die 
zwei grossen Gefösse für die Reinigung, die 
in späteren Zeiten durch den grösseren und 
kleineren absu vor den Tempeln ersetzt 
wurden. Südöstlich vom Altar war eine aus 
schönen Luftziegeln gemachte Plattform von 
7 qm Fläche und 3,38 m Höhe, um die Basis 
mit mehreren Wasserabzugslöchern, unter der 
Plattform ein Abzugskanal und in dessen 
Firste das älteste bekannte Schlusssteingewölbe, 
aus guten Brennziegeln 71 cm hoch und mit 
einer Spannweite von 51 cm gebaut, wobei 
steifer Thon als Mörtel diente. Die Priorität 
Chaldäas in der Anwendung des Schlussstein¬ 
gewölbes ist also erwiesen. Dieses Bauwerk 
lag mehr als 7 m unter dem Fussboden Ur- 
Gurs und 4,57 m unter dem Naram-Sins; da 
hier keine zerstörten Ziggurats in Frage kom¬ 
men, so muss die Ansammlung so beträcht¬ 
licher Trümmermassen viele Jahrhunderte ge¬ 
dauert haben, mindestens 1500 — 2000 Jahre 
vor Sargon. 

Eine reiche Ernte von Gedenksteinen und 
Inschriften wurde hier zu Tage gefördert: 
über 26,000 Inschrifttäfelchen, sowie zahl¬ 
reiche beschriebene Gefässbruchstücke und 
Stelen. Die Plünderung der Archivkammern 
Sargons und Ur-Gurs (während des erwähnten 
elamitischen Einfalles 2285 v. u. Z.) erklärt 


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Boyer, SfiGUYS X-Strahlen-Lorgi^ette. 


553 


den Umstand, dass in den untersten Schich» 
ten so wenige inschriftliche Berichte gefun¬ 
den wurden. Dass übrigens zahlreiche vor- 
sargonische Berichte in die Schatzkammer 
Sargons und später in die Ur-Gurs gekommen 
sind, beweist folgender wichtige Fund. Unter 
einer Pflasterung Ur-Ninips, eines Königs aus 
Ur-Gurs Dynastie, wurden einige Hundert 
zerbrochene Gefässe und andere Gegenstände, 
darunter solche vom allerältesten Typus, ge¬ 
funden, deren Widmungsinschriften zeigen, 
dass sie für die Altäre Mullils bestimmt waren, 
u. a. ein grosser Felsstein mit einer Linear¬ 
inschrift eines Königs Lugal-Kigub-Nidudu 
und mit einer zweiten, viel späteren Inschrift 
Sargons in Keilschrift. Unter den umherge¬ 
streuten Bruchstücken, die sich unter Ur- 
Ninips Pflasterung fanden, waren auch die 
Scherben von mehr als loo Vasen, die von 
einem Könige Lugal-zaggi-si dem Tempel 
gewidmet waren; aus ihren Inschriften hat 
Prof. Dr. Hilprecht, der dabei fast er¬ 
blindete, einen vollständigen Text von 132 
Zeilen zusammengesetzt, die in äusserst alter¬ 
tümlichen Charakteren geschrieben sind. Beim 
Vergleiche dieser Inschriften mit den ältesten* 
Denkmälern von Tello ergiebt sich eine voll¬ 
ständige geschichtliche Reihe von Thatsachen, 
deren sonst nirgends Erwähnung geschieht. 
Alle diese Berichte beziehen sich auf primi¬ 
tive Kämpfe, bilden jedoch, was immer ihr 
Alt^r sein möge, die ältesten bekannten histor¬ 
ischen Nachrichten. Die älteste Inschrift ist 
die des Königs Eschagsagana, des „Herrn 
von Kengi“ (d. i. Unterbabylonien), „dem 
Lande der Kanäle und Schiffe“. Zu seiner 
Zeit war der Hauptfeind Babylons die Stadt 
Kisch (das heutige El-Hymer), deren Priester¬ 
könig sich mit einigen grausamen Stämmen 
verbündet hatte, die „die Heerscharen aus 
dem Lande des Bogens" genannt wurden. 
Einmal waren die Babylonier siegreich, ein 
anderes Mal die „Stämme des Bogens". Die 
Inschrift, die den letzteren Fall berichtet, be¬ 
ginnt mit einer Widmung an Mullil, „den 
Herrn der Welt", von „Luggal-zaggi-si (Kö¬ 
nig von Erech), dem Sohne des Ukus, des 
Hohenpriesters im Lande des Bogens". Der 
Sieger herrschte also in der alten Hauptstadt 
Erech, und ferner erfahren wir, dass er so¬ 
wohl in Ur-Larsa als auch in Nippur herrschte; 
seine Herrschaft erstreckte sich von der 
Unteren See des Tigris und Euphrat (dem 
Persischen Meerbusen) bis zur Oberen See 
(dem Mittelmeer). Wie lange diese Herrschaft 
dauerte, wissen wir nicht; ihr folgte übrigens 
eine Dynastie, deren Hauptstadt Ur oder 
Mugajjar war. Das Schlussergebnis dieses 
ersten der Kriege war — nach der berühm¬ 
ten, von de Sarzec in Tello gefundenen 


und jetzt im Louvre befindlichen „Geier- 
Stele", die der König von Lagasch als Denk¬ 
mal errichtete —, dass dieser König einen 
siegreichen Feldzug gegen die „Horden aus 
dem Lande des Bogens" unternahm und sie 
vollständig vernichtete. Spätere Berichte über 
diese Leute besitzen wir nicht. 

Wenn auch Hilprecht die „Leute des 
Bogens" für Semiten hält, so scheinen doch 
alle Gründe daftlr zu sprechen, sie mit den 
nichtsemitischen Sumeriern für verwandt zu 
halten. Ohne Zweifel gab es unter ihnen ver¬ 
schiedenartige Stämme; aber ihre Inschriften 
sind sumerisch geschrieben und es findet 
sich darin nur ein einziges Wort, das semit¬ 
ischen Ursprungs sein könnte. Uns genügt 
es, dass sie durch das Sumerische uns die 
ältesten Kapitel der Weltgeschichte wieder¬ 
gegeben haben, die wir in den einzelnen 
Schichten der ausgegrabenen Stadt wie ein 
Buch lesen. (Auszug aus Times, 24. Juni 1897.) 


S^guys X-Strahlen-Lorgnette, 
ihre Verwendung in der Medizin und bei der 
Zollrevision. 

Von Professor Jacques Boyer. (Paris). 

Die Verwendung der Röntgenstrahlen 
nimmt von Tag zu Tag zu. Bald werden 
alle Spitäler der Welt ein radiographisches*) 
Laboratorium haben und, was niemand er- 
WeUtet hätte, auch jedes Zollamt, dank 
den neuen Verbesserungen, die der Pariser 
Ingenieur Gaston S^guy den betreffenden 
Instrumenten gegeben hat. 

Dieser geschickte Konstrukteur hatvor kurzem 
einen sehr praktischen Apparat erfunden: die 
X-Strahlen-Lorgnette, die der vielseitigsten 
Anwendung fähig ist. 

Anfangs konnte man nur ganz dünne 
Schichten, wie z.B. die Hand, photographieren. 
Nach und nach gelang es auch mit dickeren 
Partien, und heutzutage ist kein Winkel des 
menschlichen Körpers den indiskreten X-Strah- 
len unzugänglich. Tronde und Brissaud 
haben die Möglichkeit erwiesen, sie zur Erkenn¬ 
ung von Fremdkörpern im Innern der Schä- 
(jelhöhle zu verwen(jen. I m b e r t und Berlin- 
Sans (in Montpellier) ist es gelungen, mit 
vollkommener Klarheit Schulter, Rumpf und 
selbst die Lendengegend des Menschen zu 
durchleuchten. Einen besonderen Fortschritt 
aber brachte das „Kryptoskop“ von Prof. 
Salvioni, das im wesentlichen aus einem 
kleinen Papprohr von 8 cm Länge bestand 

*) Die Franzosen bezeichnen mit „Radiographie“ 
die Photographie durch X-Strahlen, mit „Radios- 
-kopie“ die Beobachtung von X-Strahlen-Bildem auf 
einem Fluoreszenzschirm. Die Redaktion. 




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Boyer, Seguys X-Strahlen*Lorgnette. 


554 



und am einen Ende iliirch ein schwarzes 
I’apier mit einerFluoreszcnzschicht verschlossen 
war; am anderen Ende war eine Linse, die 
ein klares Bild dessen gab, was auf diesem 
Fluoreszenzschirm resp. daliinter vorging. 
Man sah alsdann selbst in einem hellen Zim¬ 
mer durch Körperteile oder Metallstt'icke, die 
in einen Holzkasten eingeschlossen waren etc. 

Dieses Instrument hat Seguy vervoll¬ 
kommnet oder vielmehr ganz umgestaltet. 
Seine „Lorgnette" gestattet, ein Objekt direkt zu 
untersuchen, ohne photograpliischen Apparat 
und ohne eine lichtempfindliche Platte den X- 
Stiahlen auszusetzen. Sie ist sehr einfach, 
nimmt nur wenig Raum ein, hat ein geringes Ge¬ 
wicht und mflssigen Preis; sie wird infolgedessen 
viel zur weiteren Verbreitung der Röntgen- 
schen Untersuchungsmethode beitragen, die 
bisher auf öffentliche Laboratorien wegen ihrer 
teuren Einrichtung beschrclnkt war. M 

Seine Lorgnette (Fig. 2 ) besteht aus einem 
Kasten,(Eider eine Batterievon vier Akkumula¬ 
toren enthalt; man hat dazu einen recht wider- 
.standsfähigen Typ gewählt, um sie leicht 
transportieren zu krmnen. An Stelle eines 
RuhmkorfV aber, den man bisher benutzte, 
vei'wendet Seguv einen von ihm besonders 
konstruierten rran.sformatt'r, mit dem man 

‘1 l'iitcr iliesen wnlk-ii wir bcsninlcrs lUi'' Pa¬ 
riser radiograpliisciic InstitiU crw.'iliiiL-ii, das \'"n 
-Seguy geleitet wird unil zu den bc^ten gelu'>rl, die 
überhaupt existieren. Bei dic^c^ Gelegenheit sei 
e.s uns gestattet, Herrn Seguv l'ür die (.il•falligkcit 
zu dankcMi, mit <ler er uns seine Aijparate gezeigt 
iiat und 1111-. die für diesen Artikel crtürderüchcn 
Erklärungen gab. 


trotz seines geringen Umfangs Ströme erhält, 
die zur Erregung der Röntgenröhre voll¬ 
kommen genügen. Die eine Seite des Kastens 
ist in unserer Figur 2 offen und man sieht die 
Röhre (Cl. Diese ist auf einem beweglichen 
Fuss (D) angebracht, so dass man sie in jede 
beliebige Stellung bringen kann. 

Die Behandlung des Apparats ist sehr 
einfach : Die Batterie, der Transformator und 
die Röhre bleiben im Gehäuse, nur die „Lorg¬ 
nette" wird lierau.sgenommen; diese ähnelt 
einer [diotographi.schen Kamera mit auszieh¬ 
barem Balg. Man drückt auf den Knopf (B), 
der den Unterbrecher (Al des Tran.sformatorsin 
Bewegung setzt und der nuoreszieronde Schirm 
am Grunde der „Lorgnette“ erhellt sich; um 
den Püntritt von Seitenlicht zu verhindern, 
passt sich der Apparat dem Gesichte scharf 
an, wie man auf Fig. 1 und 3 .sieht; durch 
diese PXnrichtimg, die übrigens viel Ähnlich¬ 
keit mit dem Apparat von Edison hat, bietet 
sich die Möglichkeit, im Hellen zu operieren, 
selbst direktes Sonnenlicht ist kein Hindernis; 
ist man fertig, .so braucht man nur auf den 
Knopf zu drücken, um die Thatigkeit des 
Transformators zu unterljrechen. Will man 
eine Beobachtung vornehmen, so setzt man 
die schwarze Oberlläche de.s Fluoroskops 
gegen den zu beobachtenden Körper, setzt 
die Ixöntgenrühre in ca. 15 25 cm Entfern¬ 

ung hinter ilas Objekt, je nach dt;ssen Dicke, 
so dass ilic Strahlen liorizontal gehen; will 
man liingcgen ein Ihki pliotograi)hisch fixieren, 
-so nimmt man eine in sclnvarzes Papier ge¬ 
wickelte photographische Platte mit der em- 


I 

u%S 


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Boyer, S^guys X-Strahlen-Lorgnette. 


555 



Fig. 2. Apparat geöffnet. 


pfindlichen Schicht nach oben, legt darauf 
den zu untersuchenden Körper und lässt die 
X-Strahlen senkrecht von oben i 25 Minuten 
wirken, je nach der Natur des Gegenstandes. 

S^guy hat ftlr medizinische Zwecke sehr 
praktische Tische konstruiert, auf die man den 
Kranken seiner ganzen Länge nach legen und 
bei dem man jedes Glied in der gewünschten 
Lage bequem fixieren kann. Die Röntgenröhre 
wird hier unter dem Tisch in beliebiger 
Stellung angebracht. 

Das Neueste aber ist die Anwendung 
dieser „Lorgnette“ auf die Zollrevision; schon 
die englische Postverwaltung hatte die Photo¬ 
graphie mit Röntgenstrahlen auf Packete mit 
unrichtig deklariertem Inhalt angewandt. In 
Frankreich wur¬ 
den die letzten 
Versuche behufs 
Verwendungdes 
Seguyschen Ap¬ 
parats zur Zoll¬ 
revision am 3. 

Juli in Bercy 
(Seine) unter 
Leitung des 
Generaldirek¬ 
tors der Zölle, 

Pallain, und 
in Gegenwart 
von Tr OOS t 
und Mascart 
von der Acade- 
mie des Sciences 
ausgefOhrt. Sie 
wurden imNord¬ 


bahnhof in Paris am 10. Juli wiederholt und be¬ 
friedigten sehr. Erst wurden Postpackete und 
kleine Gepäckstücke untersucht, dann Koffer 
von Reisenden und die grössten Kisten; 
schliesslich nahm man die rasche Untersuch¬ 
ung eines ganzen Zuges vor, wie sie an 
Grenzorten stattfindet. Sobald die Methode 
definitiv angenommen ist, wird die Zollrevision 
in drei Kategorien zerfallen. Um ein Bild 
davon zu geben, wollen wir die Vorgänge, 
denen wir am 10. Juli beiwohnten, kurz 
schildern. 

Der mit der Untersuchung betraute Be¬ 
amte rief auf, während der Zoll Wächter ein 
Packet nach dem andern dem Ingenieur Obergab. 
Er meldete Fahrradteile, Stoffe, Buntpapier, 
einen Korb mit Orchideen etc. Diese Gegen¬ 
stände erwiesen sich bei der neuen Unter¬ 
suchungsmethode als richtig angegeben. Bei 
einem Kasten aber, ohne Inhaltsangabe, ent¬ 
deckte der Seguysche Apparat einen Edel¬ 
stein. Man konfiszierte also den Kasten, wo¬ 
bei die Zollwächter sich vor Freude die 
Hände rieben. Dann kam eine Reihe von 
Packeten, die teils richtig, theils falsch de¬ 
klariert waren. Man fand Cigarren und in 
einem Koffer eine vollständige Diebsausrüst¬ 
ung, falsche Schlüssel, amerikanische Tot¬ 
schläger und ähnliche nette Dinge. Die 
Untersuchung der Koffer von Reisenden er¬ 
gab unter anderen Betrügereien eine Zink¬ 
schachtel mit neuen Edelsteinen, die der Be¬ 
sitzer sorgfältig in einem Haufen schmutziger 
Wäsche verborgen hatte. 

Die dritte Untersuchung, die den Zug 
selbst betraf, war nicht weniger interessant. 
Schmuggler pflegen hoch zu verzollende 
Waren im Innern des Wagens selbst zu ver¬ 
bergen; sie trennen den Überzug der Kissen 
auf,^ nähen ihn dann wieder zu und in der 

kurzen Zeit, 
während der die 
Eilzüge an den 
Grenzstationen 
halten, ist es 
den Zollwäch¬ 
tern nicht mög¬ 
lich, den Betrug 
zu entdecken; 
denn es bedürfte 
dazu einer äus- 
serst sorgfälti¬ 
gen Prüfung. 
Der Apparat von 
Seguy’wird dem 
Übelstand ab¬ 
helfen ; denn 
neulich wurden 
mit seiner Hilfe 
binnen 10 Mi- 



Fig. 3. Eine Sitzung im Institut Seguy. 


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556 


Betrachtungen und kleine Mitteilungen. 


nuten die ganze Polsterung eines Zuges, der 
auf dem Bahnhof stand, untersucht. 

Kaum sind iVt Jahre verflossen, seit in 
Würzburg die Strahlen entdeckt wurden, — 
und schon haben sie ihren Siegeszug durch 
die Welt gemacht. Jeder Tag bringt neue 
praktische Anwendung derselben, und doch 
wagen noch Leute vom Bankerott der Wissen¬ 
schaft zu sprechen. 


Betrachtungen und kleine Mitteilungen. 

Polar - Expeditionen. ‘) Ein günstiger Wind 
hat dem kühnen Ingenieur Andree und seinen Ge¬ 
fährten Strindberg und Fränkel den Aufflug 
dem Ziele zu ermöglicht und die Expedition vor¬ 
läufig aus dem Bereiche jeder Mitteilung entführt. 
Wird dieselbe ihr Ziel erreichen, wohin wird der 
Ballon treiben, wie lange wird die Luflreise dauern ? 
Alle diese Fragen entziehen sich zunächst einer siche¬ 
ren Beantwortung, — hoffentlich nicht für immer. 
Wann eine Nachricht von dem Landen des Ballons ein- 
treffen karm, hängt ganz davon ab, welchen Weg 
der Ballon beschreibt und wo er landet. Die Luft¬ 
fahrt kann Wochen und Monate dauern, und es ist 
wahrscheinlich, dass man in diesem Jahre nichts 
mehr von der Expedition hört. Das Andröesche 
Unternehmen*) hat übrigens bereits Schule gemacht. 
Der Plan der französischen Luftschiffer G o d a r d 
und Surcouf,*) über den wir früher bereits in 
der Umschau berichteten, scheint zur Ausführung 
zu ^langen, da Godard bereits mit Anfertigung 
des Riesenballons beschäftigt ist. Über die Erfolge 
der J ackson-Harmswor th-Ex pedition nach 
Franz-Josefland*) haben wir ebenfalls bereits 
früher in der Umschau berichtet. Das Schiff der¬ 
selben, der „lViH(/uj(irä“, ist Mitte Juni zum 
drittenmal aus London ausgelaufen, um der Expe¬ 
dition neuen Proviant zu bringen oder sie zurück- 
zuführen. In Hammerfest nahm der „Windward“ eine 
Menge Au^üstungsgegenstände, darunter ein Boot, 
an Bord, die auf I^anz-Josefland fQr die Andrdesche 
Expedition niedergeleet werden und zu deren Sicher¬ 
ung dienen sollen, falls sie gezwungen wird, den 
Rückzug über Franz-Josefland anzutreten. Da sich 
die Jacksonsche Expedition jetzt fast drei Jahre 
lang auf Franz-Josefland befindet — sie fuhr im 
Juli 1894 von England ab und traf im Herbst des¬ 
selben Jahres in der Nähe des Kap Flora, wo das 
Hauptquartier aufgeschlagen wurde, ein — ist an¬ 
zunehmen, dass sie in diesem Jahr „an die Rück¬ 
kehr denkt, namentlich da die vierte Überwinterung 
in Polargebieten als bedenklich angesehen zu wer¬ 
den pflegt. Wenn sich dem „Windward“ keine un- 
gewöhnbchen Eisverhältnisse enlgegenstellen, ist 
seine Rückkehr im Spätsommer oder Herbst zu 

n Vergl, Umschaii S. 436 Eifert, Die Geographie in den 
letzten Jahren. II. Polargebiete. 

*) Die Idee einer Nordpolfahrt im Ballon, deren crstei^prak- 
tischer Versuch ein Verdien.st Andrees ist, ist flbrigens nicht 
neu. Anscheinend war der Engländer Cheyne in den 70er 
lahren der erste, der die Aufmerksamkeit auf solchen Plan 
lenkte Als Ausgangspunkt schlug er Grinnelland vor. Der 
Amerikaner Tyson machte in den 80er Jahren den Vorschlag 
zu gleichzeitigen Luftreisen zum NorH|>oi vou verschiedenen 
Stellen aus; Amerika sollte auf Grinnelland, England auf Spitz¬ 
bergen, Deutschland auf Franz-Josefland, Russland auf den Neu¬ 
sibirischen Inseln einen Ballon aufsteigen lassen. Spater plan¬ 
ten die Franzosen Hermite und Besanv'on eine Ballonfahrt von 
Spitzbergen aus, und deren Plan sollte ifiga zur AusfOhruog 
kommen, es blieb aber hier wie bei allen diesen Planen nur 
beim Projekt, 

*) Umschau S. 180. 

*) Umtch. S. 109 


erwarten. Zur Vorbereitung seiner für das nächste 
Jahr geplanten längeren Expedition wollte Lieutenant 
Peary am lo. Juli eine erste Fahrt antreten, die von 
Boston nach Sidney in den Vereinigten Staaten, von 
da durch den St. Lorenzgolf und die Belle Isle- 
Strasse nach der Resolutioninsel untj der Küste von 
Grönland, hierauf die Küste 1200 engl. Meilen ent¬ 
lang bis zur Melvillebucht gehen soll. Die wissen¬ 
schaftlichen Begleiter werden auf dem Wege bis 
dahin an Land gehen und, wenn das Schiff im 
September zurückkommt, von demselben wieder 
an Bord genommen werden. Nachdem Peary seine 
Freunde an der grönländischen Küste verlassen, 
wird er mit dem Schiff nach dem Walfisch-Sund 
und Kap York gehen und von dort aus mit sechs 
Eskimo-Familien nach Sherard Osborne-Fjord drin¬ 
gen. Dieser liegt auf dem 81. Breitengrade. Dort 
soll eine Station gegründet werden, die mittels 
Schlitten fortwährend mit dem Walfisch - Sund in 
Verbindung bleiben wird. Im März 1859 will Peary 
den Nordpol zu erreichen suchen. Er und seihe 
Begleiter werden bis ans Ende von Grönland Vor¬ 
dringen. Von da beginnt der Marsch über das Eis. 
Lieutenant Peary selbst und ein Arzt werden die 
einzigen Weissen dieses Zuges sein, denn Weisse 
brauchen nach Pearys Erfahrung zu viel Nahrung. 
Zur Ergänzung der Re.sultate der Nansenschen 
Expedition ist die neue Fahrt bestimmt, welche 
Kapitän Sverdrup im nächsten Jahr mit dem 
„Fram“ unternimmt. Sverdrup will den Smhhsund 
hinaufgehen und längs der Nordwestküste Grön¬ 
lands vorwärts zu kommen suchen. Hier gedenkt 
er zu überwintern und dann mittels Schlittenreisen 
die grönländische und amerikanische Seite des Pols 
zu erforschen, wodurch die Forschungen auf der 
asiatisch-europäischen Seite, die während der lan¬ 
gen Reise des „Fram“ in den Jahren 1893—96 aus¬ 
geführt worden sind, eine Ergänzung finden wür¬ 
den. Die Kosten der Expedition sind bereits durch 
private Beiträge gesichert, für den Umbau des 
„Fram“, der durch ein neues Verdeck noch besser 
gegen den Eisdruck gesichert werden soll, sind 
vom Storthing 20,000 Kronen bewilligt worden. 
Die dänische Regierung hat 150,000 Kronen zu 
einer Expedition bewilligt, die die Ostküste Grön¬ 
lands von Angntagsalik bis zum Scoresbysund er¬ 
forschen soll. Zunächst soll eine aus einem Marine¬ 
offizier und zwei Naturforschern bestehende Vor¬ 
expedition von Angmagsalik möglichst weit nord¬ 
wärts an der Küste Vordringen und Kenntnisse 
über diesen Küstenstrich gewinnen, auf deren 
Grundlage ein eingehender Plan ausgearbeitet wer¬ 
den soll. Die Hauptexpedition wird im Sommer 
ipoo nach Island abgehen, von wo aus sie mit 
einem Fangschiff zum Scoresbysund geht, einem 
Gebiet, das in dieser Jahreszeit immer zugänglich 
sein soll. AmScoresbysund wird das Winter^artier 
aufgeschlagen und der Winter zu lokalen Forsch¬ 
ungen benutzt, im folgenden Sommer wird die 
Küste bis herab nach Angmagsalik erforscht Die 
Heimreise wird mit einem Dampfer des „königlich 
grönländischen Handels" angetreten. Zum Leiter 
der Expedition ist der Marinelieutenant Amdrup 
ausersehen, die Hauptexpedition wird aus zwei 
Offizieren, zwei Natuiforschern und Hilfsmannschaf¬ 
ten bestehen. Hoftentlich ist diese Expedition vom 
Glück mehr begünstigt wie die, welche im vorigen 
Sommer nach Angmagsalik auf dem „Castor“ ab¬ 
gesegelt. Der „Castor“, von dem bis zur Stunde 
keine Nachricht vorliegt, hatte den kolossalen Gürtel 
des schweren Treibeises, das meistens die grön¬ 
ländische Ostküste belagert, nicht durchbrechen 
können und war nach Julianehaab, an der Süd¬ 
westküste gegangen, von wo aus das Schiff am 
7. Oktober v. J. die Rückreise angetreten hat. Es 


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Betrachtungen und kleine Mitteilungen. 


557 


ist am folgenden Tage im Eise gesehen worden, 
dann aber hat man nichts mehr vom Fahrzeug und 
der Besatzung gehört. Für das nächste Jahr trifft 
Prof. L. L. Dyche von der Universität des Staates 
Kansas, augenblicklich in Alaska Anordnungen ftireine 
Polarexpedition, für die ein Zeitraum von wenigstens 
drei Jahren in Aussicht genommen ist. Er wird 
Nahrungsmittel für fünf Jahre mitnehmen und von 
der nördlichsten WalfÜngerstation aus aufbrechen. 
Im Interesse der Andröeschen Ex^dition haben es 
einige englische und russische Dampler, die in 
Kurzem aus Tromsö zum Jenissei abgehen, über¬ 
nommen, Nachfragen nach der Expedibon unter den 
Bewohnern der von den Dampfern Wrührten Küsten¬ 
striche anzustellen. GleichzeibghatKonsul Aagard 
in Tromsö, von dem die Anregung ausgeht, auch 
noch andere Schiffe, die zum Eismeer und nach 
Jenissei gehen, ersucht, im selben Sinne zu wirken. 
Die eingangs erwähnten Dampfer gehören zu der 
von dem Kapitän Wiggins ins Leben gerufenen 
und jetzt von Francis ropham in London unter¬ 
haltenen englisch-sibirischen Handelslinie; sie beför¬ 
dern Güter zum Jenissei und als Rückfracht Weizen, 
Hafer u. s. w. Der vor Kurzem in die Gebiete am 
Karischen Meer abgereiste russische Admiral M a- 
karow wird sich wohl gleichfaUs nicht die Gelegen¬ 
heit entgehen lassen, Erkundigungen einzuziehen. 
Makarow, Chef der ersten Division der Baltischen 
Flotte, verliess am lo. Juni Petersburg und befand 
sich vor einigen Tagen in Stockholm. Zweck seiner 
Reise sind wissenschaftliche Studien von ziemlich 
langer Dauer. Er erhielt von der russischen Re¬ 
gierung den Auftrag, zu ermitteln, ob mit Hilfe von 
Eisbrechern sich die Schifffahrt im Karischen Meer, 
das wegen seiner ungünstigen Eisverhältnisse be¬ 
kannt ist, verlängern lässt, ferner 
soll er die Schimahrtsverhältnisse 
an den Mündungen des Ob und 
des Jenissei untersuchen. Von Stock¬ 
holm reiste Makarow nach Vardö, 
wo eine Flotte von sieben Dampfern 
liegt, die mit Waaren zum nörd¬ 
lichen Sibirien gehen, und von denen 
der Admiral eins för seine Reise 
benutzt Dieser Flotte schliessen 
sich drei besonders starke Dampfer 
an, die als Eisbrecher thätig sein 
sollen. Im Herbst 1898 gedenkt 
Makarow wieder in Petersburg zu 
sein. Die belgische Südpolexpedition 
des Lieutenant de Gerlache 
wird voraussichtlich Ende Juli d. J. 
auf der „Belgica“ von Antwerpen 
absegeln. Für die beabsichhgte 
Überwinterung in Viktorialand 
nimmt dieselbe verschiedene Holz¬ 
gebäude, ein Wohnhaus und ein Ob¬ 
servatorium, ferner Schlitten und 
Schneeschuhe, Jedoch keine Hunde 
mit Die „Belgica“ geht, nachdem sie 
die Expedition auf Viktorialand ab¬ 
gesetzt hat, nach Melbourne und 
holt die Expedition im darauffolgen¬ 
den Frühling wieder ab. Als Dauer 
des Unternehmens sind 20 Monate 
in Aussicht genommen. Zu den 
Kosten hat der belgische Staat einen 
Zuschuss von 100,000 Fr. geleistet, 
das übrige wird durch private 
Sammlungen aufgebracht, die gegen¬ 
wärtig noch nicht abgeschlossen 
sind. Zwei Expeditionen, die man 
nicht gerade als Polarexpeditiot^®*! 
bezeichnen kann, die aber mitallen Be¬ 
schwerden des Nordens zu kämpfen 


haben werden, haben es auf die Bezwingung des St. 

abgesehen, der auf der Grenze zwischen 
Alaska und Britisch-Nordamerika gelegen ist und 
dessen Höhe von 5200—5900 m angegeben wird. 
Die erste der beiden Expeditionen ist unter Bei¬ 
stand der Regierung der Vereinigten Staaten aus- 

g erüstet und steht imter Fülirung von Henry G. 

ryant von Philadelphia, der am 18. Mai mit 
mehreren Begleitern, von denen zwei bereits früher 
die Ersteigung des Berges versuchten, nach Alaska 
aufgebrochen ist. Die zweite Expeition ist von 
dem italienischen Prinzen Luigi Amadeo von 
Savoyen, einem Neffen des Königs von Italien, 
geplant. Er verliess in Gesellschaft mehrerer Alpen- 
rahrer am 17. Mai Rom und hoffte gegen Ende 
Juni am Fusse des St. Eliasgebirges anzukommen. 


* Auf. die Erforschung der sogenannten Be¬ 
gleithügel beziehen sich die Untersuchungen, welche 
die Herren Oberschulrat Soldan und Professor 
A n t h e s in Darmstadt an der Limesstrecke 
Kapersburg bis Kloster Arnsburg in Hessen neuer¬ 
dings ausgeführt haben. 

Lieber das Resultat der Untersuchungen brachte 
No. 23 des Limesblalt einen ausführlichen Bericht, 
dem wir nach der „Voss. Ztg. “ folgende interessante 
Mitteilungen entnehmen: 

Die Begleiihügel sind Erdhügel, die von einem 
Graben umgeben sind und eine mehr oder weniger 
flache Erhebung von meist nicht bedeutendem Um¬ 
fang darstellen. Die früheren Grabungen der Herren 
Soldan und Anthcs an den Begleithügeln der Oden¬ 
waidlinie hatten ergeben, dass alle Hügel einen zum 
Teil in Höhe von i m erhaltenen viereckigen Stein- 



Schema der Limes-Anlage. 

Aua dem LimeabUtt. 


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558 


Betrachtungen und kleine Mitteilungen. 


unterbau aus Trockenmauerwerk enhielten. Bei 
allen diesen Steinbauten waren die vier Ecken aus¬ 
gespart, darunter befanden sich i,^o m tief in den 
Boden eingeschnittenc Löcher. Beim Ausräumen 
der letzeren ergab sich, dass sie zur Aufnahme 
starker Pforten gedient haben, die jedenfalls einem 
hölzernen Oberbau angehörten. Gewöhnlich befin¬ 
den sich die Hügel in der nächsten Nähe von Stein¬ 
türmen. Die neuen Grabungen der Herren Soldan 
und Anthes am Limes zwischen Kapersburg und 
Kloster Arnsburg haben nun zu dem Ergebnis ge¬ 
führt, dass diese in verschiedenster Weise gedeu¬ 
teten Werke Teile einer selbständigen Limesanlage 
darstelien. In allen Hügeln findet sich wie auf 
anderen Strecken eine nach Art einer Tenne her- 
gestellte Plattform, die von einem nahezu kreis¬ 
förmig verlaufenden Spitzgraben umgeben ist. Eine 
Steinsetzung mit ausgesparten Ecken, wie sie sich 
im Odenwald findet, ist nicht vorhanden. Dagegen 
zeigen sich überall Löcher, in welche die 30—35 cm 
starken, vierkantig behauenen Eckpforten eines Holz¬ 
turmes 1,30 bis 1,40 m tieT senkrecht eingesetzt 
waren. An einzelnen Stellen lagen neben den Holz¬ 
türmen noch Baracken oder Blockhäuser. Vor den 
Holztürmen, 30—32 cm von ihrer Front entfernt, 
fand sich überall, wo danach gesucht wurde, ein 
besonderes Gräbchen, welches mit dem längst be¬ 
kannten, vor dem eigentlichen Pfahlgraben oder dem 
„Pfahl“ sich hinziehenden Gräbchen nicht veru'cchselt 
werden darf. Anscheinend waren in diesen neu 
aufgefundenen Gräbchen nicht dicht neben einander 
stehende Palissaden eingesetzt, sondern vielmehr 
einzelne Pfosten mit Flechtwerk dazwischen. Neben 
den Holztürmen oder doch wenigstens in der Linie 
derselben, werden stellenweise Erdschanzen aufge¬ 
funden, die noch einer genaueren Untersuchung 
harren; die in ihnen eeinachtcn Scherbenfunde sind 
wie in den ,,BegleitnOgeln" teils römischer, teils 
germanischer Herkunft und weisen auf dieselbe Zeit 
hin, in der die Holztürme errichtet wurden. Die 
Erdschanzen, Holztürme, Blockhäuser und der Palis- 
sadenzaun (das Gräbchen) bilden zusammen eine 
selbständige Limeslinic, die militärisch sehr gut ge¬ 
zogen war. In ihr vermuten Soldan und Anthes 
die älteste Limesanlage, deren Entstehung sie in die 
Zeit Domitians verlegen, ln den seither bekannten, 
den Pfahl begleitenden Palissadengräben, den Stein¬ 
türmen und dem Pfahl selbst haben wir nach ihrer 
Ansicht die Anlage der mittleren und Jüngeren 
Periode zu erblicken; der mittleren Periode dttrften 
das Palissadengräbchen und die Steintürme, und 
der jüngeren Periode der Pfahl angehören, neben 
dem die Steintürmc noch beibehalten wurden. Die 
gemauerten^ Zwischenkastelle auf dieser Linie stam¬ 
men wohl aus der zweiten und dritten Periode. Die 
Anlage ist aus der obenstehenden Figur, die uns 
von der Reichs-Limes-Koinmission frcundlichst zum 
Abdruck überlassen wurde,ohneweitcrcs verständlich. 


In London ist dem berühmten Tunnel unter der 
Themse, welchen Brunei in den Jahren 1826 bis 
1842 zur Verbindung von Wapping und Rothersiic im 
Osten Londons erbaute, jetzt ein Nachfolger er¬ 
standen; und nichts kennzeichnet schärfer den ge¬ 
waltigen Fortschritt der Technik in der letzten 
Hälfte unseres Jahrhunderts, als der Vergleich 
zwischen diesen beiden Bauwerken. Der Brunei- 
sehe Tunnel, welchen jetzt die Eisenbahn in aus¬ 
schliesslicher Benutzung hat, ist in Mauerwerk und 
Zement gebaut, besteht aus 2 nebeneinanclcrlaufen- 
den und durch offene Wölbungen verbundenen Röhren 
und war ursprünglich für ’den Fussgänger- und 
Wagenverkehr bestimmt; er stellte ein Meisterwerk 
der damaligen Ingenieurkunst dar, und seine Her¬ 


stellung war allein durch die ungeheure Energie 
des genialen Brunei und seiner Genossen möglich, 
da mehrmaliger Wassereinbruch das ganze Werk 
so gut wie vernichtete. Vergleicht man nun aber 
die Bauzeiten, Abmessungen und Kosten beider 
Tunnels mit einander! Der alte Tunnel hat eine 
Länge von etw’a 400 m und wurde mit einem Kosten- 
aufwande von mehr als 9 Millionen Mark in löjähr. 
Bauzeit fertiggestellt. Der jetzt neuerbaute ist ohne 
die offenen Anrampungen, welche zum Strassen- 
niveau einporführen, 1200 m lang und kostet nur 
I % Millionen Mark, während seine Eröffnung 5 Jahre 
nach dem Baubeginn stattfinden konnte. Es stellte 
sich ein laufendes Meter Tunnellänge bei dem 
neuen Tunnel auf 900 Mark, bei dem alten auf 
23000 Mark! Dieser gewaltige Unterschied beruht 
neben der grossen Vervollkommnung des heutigen 
Stollenballes mittels hydraulisch bewegter Schilde 
— Brunei war noch auf Schraubenpressen ange¬ 
wiesen — und dem geringeren Preise des heutigen 
vorzüglichen Baumaterials vor allem auf der da¬ 
mals noch unbekannten Druckluftanwendung. Die 
Luft in der Arbeitskammer ist komprimiert, je 
nach Bedarf bis zu der Höhe, welche erforderlich 
ist, um das eindringende Grundwasser soweit zu¬ 
rückzudrängen, dass die Pumpen den Arbeitsraum 
trocken erhalten können. Es ist so der neue Bau 
ohne jeden schweren Unfall abgelaufen. In der 
mittleren, unter der Themse bclegenen Hauptstrecke 
des Tunnels besteht seine Wandung aus gusseiser¬ 
nen Platten, von denen je 14 immer einen Ring 
bilden. Dieselben sind verschraubt und aussen wie 
innen mit einer Betonschicht verkleidet. Es mag 
interessieren, dabei auf den Spreetunnel hinzuweisen, 
welcher im vorigen Jahre zur Gewerbeausstellung 
gebaut werden sollte, jedoch nicht fertig wurde, 
weil in dem unverhältnismässig schwierigen Boden 
(Schwimmsand! der ungünstigste, den man sich den¬ 
ken kann) die Arbeiten zu langsam fortschritten. Hei 
diesem ist die im Durchmesser 4 m haltende Tun¬ 
nelröhre ausflusseisernen, gepressten und geflansch¬ 
ten Platten, somit aus soliderem Material als der 
Londoner Tunnel, zusammengesetzt, von denen 
9 einen Ring bilden, und ist ebenfalls innen und 
aussen mit Beton verkleidet, um jede Möglichkeit 
des Röstens und späteren Undichtwerdens zu ver¬ 
meiden. Die Sohle des Sprectunnels ist aus Beton 
gebildet, in welchen das Eisenbahngeleis eingebettet 
wird. Die Gesamtlänge beträgt 453 m, von denen 
200 ni unter dem Wasserspiegel der Spree verlaufen. 
Für Flösse mit starker Schifffahrt ist ja ein Tunnel 
das einzige Verkehrsmittel zwischen beiden Ufern, 
welches weder jene stört, noch durch sie selber 

gestört wird. Frever. 

« • 

* Das Schwarzwasserfieber, welches als neue 
Tropenkrankheit in letzter Zeit vielgenannt wurde, 
und besonders in den Fragebogen der von der 
deutschen Kolonialgesellschaft eingeleiteten iropen- 
hygienischen Agitation eine grosse Rolle ^iehe, 
erweist sich als ein Kunstprodukt, als eine Öiinin- 
Vergiftung. Dr. E. Below in Berlin,’ der uns 
nachstehende Mitteilungen frcundlichst zur Ver- 
feg^ng gestellt, gelang es, auf Grund eigener 
Erfahrungen und unter Hinweis auf die berühmten 
Heincmann’schen Berichte vom Golf von Mexiko, so¬ 
wie interessante Mitteilungen des Regierungs¬ 
arztes Dr. Dämpfw’olff aus Neu-Guinea den 
Nachweis zu führen, dass es sich im „Schwarz¬ 
wasserfieber“ um eine ähnliche Erscheinung handelt, 
wie sic auch in Gclbfiebergegenden vorkommt, 
eine Folge der namentlich bei Engländern und Ameri¬ 
kanern üblichen unsinnig hohen Chinindosen. Der 
Krankheitszustand ist dem Gelbfieber ähnlich, nur 
1 dass derselbe nicht übertragbar ist 


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Betrachtungen und kleine Mitteilungen. 


559 


Die Plasmodien, die Malaria-Schädlinge, welche 
sich beim Wechselfieber der Tropen in den roten 
Blutkörperchen einnisten und vermehren, machen 
diese, die sonst kein Chinin in sich aufnehmen, für 
Chinin durchgängig, nachdem sie einmal angefressen 
und brüchig geworden sind. Die Plasmodien selbst 
sterben durch das Chinin, was für sie ein Gift ist, 
in ihren wirtlichen Behausungen, wo sie sich ange¬ 
siedelt haben, ab, quellen auf, bersten und bald ge¬ 
schieht dasselbe mit ihrer Behausung: das rpte 
Blutkörperchen selbst quillt, platzt und der früher 
davon unzertrennliche rote Blutfarbstofl’ tritt aus 
dem zerstörten Blutkörperchen aus und geht in den 
Blutstrom, in das Serum, über. 

Hier verursacht der bald sich zersetzende rote 
Blutfarbstoff, das Hämoglobin, allgemeine ^Vergift- 
ungserscheinungen im Körper: Fieber, Übelkeit, 
Schwindel, Delirien, Schwäche. Zwar bemühen 
sich Leber wie Nieren alsbald, die schädlichen Zer- 
setzungsstofie des roten Blutstofles aus dem Körper 
heraus zu schaffen. Dies geschieht nicht ohne die 
bekannten Symptome der Gelbsucht, wobei Blut¬ 
farbstoff zersetzt wird und in die Haut und Schleim¬ 
häute sich ablagert; die Nieren werden oft bei 
dieser ihrer Reinigungsarbeit von der Übermasse 
zerstörten Blutmateri^s in ihren feinsten Kanälchen 
verstopft und Mancher muss an dieser Nierenver¬ 
stopfung (Anurie) zu Grunde gehen, weil er, um 
die Malaria-Plasmodien in seinem Körper abzutöten, 
soviel Chininsalze (nach englischem Muster Thee- 
löffel weise) geschluckt hat, dass dadurch zugleich 
mit den Plasmodien eine Menge Blutkörperchen, in 
denen sie sich eingenistet hatten^ zu Grunde ging, 
wobei das in der Blutflüssigkeit sich auflösende 
Gift, das aus Hämoglobin sich bildende Melanin, 
•das durch Leber und Nieren nicht vollkommen 
fortgeschafll werden kann, Unheil anrichtete. 

Das sogenannte Schwarzwasserfieber, die Chinitt' 
verpifimtg, gleicht dem Gelbfieberanfall mit Gelb¬ 
sucht, Blutabgängen, mangelnder Milzschwellung und 
mangelnden intermittierendenTemperaturkurven,wo- 
bei kein Chinin hilft, so aufs Haar, wie die Cholera 
nostras der Cholera asiatica, blos bis auf das eine 
hin, dass sie nicht übertragbar sind und nicht 
epidemisch auftreten, wie das w’irkliche Gelbfieber 
und die wirkliche asiatische Cholera. Bezeichnend 
für die Geschichte des Schwarzwasserfiebers ist, 
dass dasselbe vor Erfindung der Chtninsalze gänzlich 
unbekannt war. 


Der internationale Mathematikerkongress, 
der am 9.—ii. August 1897 jn Zürich stattfindet, 
wird sich, dem vorliegenden Prospekte zufolge, 
vorzugsweise der Behandlung von solchen Fragen 
widmen, die ein allgemeineres Interesse besitzen und 
■denen eine prinzipielle Bedeutung beiwohnt. So 
wird Herr Eneström über die neuesten mathe¬ 
matisch-bibliographischen Unternehmungen spre¬ 
chen: eine sehr zeitgemässe Frage, deren Lösung 
von der allergrössten Notwendigkeit ist und mit 
welcher sich gegenwärtig zahlreiche Fachgenossen, 
vor allem die permanente Kommission zu Paris, 
eifrig beschäftigen. Herr F. Klein hat sich als 
Thema den höheren mathematischen Unterricht 
gewählt: ein Gegenstand, der in letzter Zeit auch 
in Deutschland mehrere Versammlungen beschäftigt 
hat und über den die Meinungen sehr weit aus- 
ein'andergehen Der Vortrag des Herrn Stodola 
betrifft ein nicht weniger \yichtiges Gebiet, nämlich 
die Beziehungen der Mathematik zur Technik. Die 
beiden zuletzt genannten Fragen stehen in einem 
engen Zusammenhang, denn gegenwärtig wird von 
mehreren Seiten in Erwägung gezogen, ob die 
jungen Techniker während ihres Studiums auch 


künftig noch, wie es bisher der Fall war, mit ge¬ 
wissen Lehren der höheren Mathematik bekannt 
gemacht w’erden sollen, die sie zwar in der Praxis 
nicht direkt anwenden können, die sie jedoch zu 
einem Überblick ihres Gebiets und einer Auflassung 
ihrer Thätigkeit von einem höheren wissenschaft¬ 
lichen Standpunkt aus befähigen, oder ob sie sich 
mit einer mehr elementaren Vorbildung, gerade hin¬ 
reichend zur handwerksmässigen Ausübung ihres 
Berufs begnügen sollen. Andere Redner berichten 
Über die neuesten Fortschritte auf einzelnen Gebieten, 
so Herr H u r w i t z über die analytischen Funktionen, 
Herr Fr. Meyer über Algebra und Zahlen¬ 
theorie. Der vielseitige französische Mathematiker 
Poincare wird das interessante Thema: Bezieh¬ 
ungen der Analytis zur mathematischen Physik be¬ 
handeln, während Herr Peano über „logica mate- 
matica“ berichtet, d. h. Ober die Ausdehnung der 
mathematischen Zeichensprache auf das Gebiet 
der Logik. Unter den Spezialvorträgen in den 
Sektionssitzungen sei noch derjenige des Herrn 
Reuschle-Stuttgart über eine neue prinzipielle 
und genetische Methode zur Invariantentheorie her¬ 
vorgehoben. Es wäre zu wünschen, dass dieser 
erste internationale Mathematikerkongress sich 
eines zahlreichen Besuches erfreuen möchte und 
dass derartige Zusammenkünfte der Fachgenosssen 
von jetzt an zu den regelmässigen Erscheinungen 
gehören würden. 

Dr. E. WöLrriNG. 


Während Wasserstoff mit Leichtigkeit durch 
eine Scheidewand Von glühendem Platin-, Palladium¬ 
oder Eisenblech dringt, sei es infolge davon, dass 
er sich darin löst, oder dass er eine leicht zersetz¬ 
bare Verbindung damit eingeht, vermag Argon oder 
Helium nicht solche Bleche zu durchdringen. Prof. 
R a m s a y, der dies fand, sieht darin einen neuen 
Beweis für die chemische Trägheit dieser Körper. 

Science, 1S97, 3 Juli. 


Über Oxykampher. O. Manasse') hat durch 
Reduktion eines leicht zu beschaffenden Kampher- 
derivates, des Kampherorthochinons, ein Oxykampher 
genanntes Produkt hergestellt, das wegen seiner 
physiologischen Eigenschaften allgemeines Interesse 
verdient. Bei Tierversuchen ergab sich, dass die 
Oxykampherwirkung eine ganz andere ist als die 
Kampherwirkung. Als deutliches Symptom der 
ersteren zeigt sich verlangsamte Atmung, während 
auf Kampher stark beschleunigte Atmung erfolgt. 
Die Verlangsamung der Atmung liegt daran, dass 
Oxykar^her das nervöse Atemzentrum lähmt bezw. 
dessen Erregbarkeit herabsetzt. Nachdem die Her¬ 
absetzung der Erregbarkeit des Atemzentrums als 
hervorstechendste Wirkung massiger (subkutaner 
oder innerlicher) Oxykampherdosenkonsta .iert war, 
lag es nahe, diese Wirkung bei krankhaft gestei¬ 
gertem Reize auf das Atemzentrum am leidenden 
Menschen anzuwenden. Es hat sich dabei ergeben, 
dass Oxykampher ein wirksames Mittel bei ver¬ 
schiedenen Formen der Dispnoö (Atemnot) ist. s. 

• 

* • 

Eine neue Synthese in der Zuckergruppe. 
Ein englischer Forscher, Henry J. Horstmann 
Fenton, hat gezeigt, dass bei der Oxydation von 
Weinsäure unter bestimmten Bedingungen eine 
Dihydroxymaleinsäure genannte Verbindung entsteht. 
Diese liefert beim Eriiitzen mit Wasser ein Pro¬ 
dukt (Glykolaldehyd), aus welchem bei der Kon- 


n Ber. d. d. chem. Ges. XXX, 659. 


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560 


Betrachtungen und kleine Mitteilungen. 


densation eine Substanz entsteht, die nach ihrer 
Zusammensetzung und nach ihren Eigenschaften 
zu den Zuckerarten gehört.*) Die Beobachtung ist 
deshalb beachtenswert, weil die Bedingungen, unter 
welchen Weinsäure durch atmosphärischen Sauer¬ 
stoff in Dihydoxymalelnsäure übergeführt wird, 
auch beim Wachstum der Pflanze gegeben sind. 
Vielleicht kann also die eben beschrieoene Enteteh- 
ung eines Zuckers zur Erklärung der natürlichen 
Bildung der Kohlenhydrate beitragen. s. 


Der Kohlensäuregehalt der Luft. A n d r e e *) 
sammelte bei Ballonfahrten Luft und bestimmte 
ihren Kohlensäuregehalt. Er ist nicht verschieden 
von demjenigen der Luftschichten an der Erdober¬ 
fläche. Ordnet man dagegen den Kohlensäurege¬ 
halt der höheren, freieren Luftschichten nach den 
Windrichtungen, so findet man, dass der Kohlen¬ 
säuregehalt der Luft zu ihrer Herkunft in gewissen 
Beziehungen steht. Eine absteigende Luftmasse 
enthält mehr Kohlensäure, der Kohlensäuregehalt 
verändert sich an der Erde, so dass der aufstei¬ 
gende Luftstrom dann kohlensäureänner ist. Ver¬ 
wesungsprozesse können dabei nicht in Betracht 
kommen. Dieser höhere Kohlensäuregehalt kann 
bis Jetzt nicht befriedigend erklärt werden. s. 

• • 

• 

* Die Produktion des Platins hat infolge 

der erhöhten Anwendung desselben in der Elektro¬ 
technik in den letzten Jahren eine Steigerung er¬ 
fahren. Den Hauptteil alles produzierten Platins 
liefert Russland, dessen jährliche Produktion nach 
den statistischen Aufstellungen des russischen Finanz¬ 
ministeriums vierzigmal mehr beträgt als diejenige 
aller anderen Länder zusammengenommen. Im 
Jahre 1890 betrug dieselbe 2916 kg, 1894 bereits 
5028 kg, 1895 dagegen nur 4413 kg — eine Ver¬ 
minderung, welche der grossen Feuchtigkeit zuzu¬ 
schreiben ist, die während des ganzen Sommers 
dieses Jahres im Sodural, dem Hauptfundorte des 
Platins, herrschte. Aus dem Jahre 1896 liegen ge¬ 
naue Angaben noch nicht vor, doch dürfte die Pro¬ 
duktion in diesem Jahre diejenige von 1894 bedeu¬ 
tend übertreft'en. Die Natur. 11. juU 1897. 

* Feuersicheres Holz ist in London mit 
gutem Erfolg Brennproben unterzogen worden. Das¬ 
selbe wird so hergestellt, dass dem Holz seine 
natürlichen Säfte durch Erhitzung im Vaeuum ent¬ 
zogen und dann unter hohem Druck durch eine 
Feuerschutz gewährleistende Salzlösung ersetzt 

werden.*) „Zentralbl. d. Bauverw.“ 

* Schlittenhunde spielen eine grosse Rolle 
in den Minenbezirken des Yukon in Alaska. Wäh¬ 
rend Pferde daselbst kaum 3 Dollar wert sind, er¬ 
zielt ein kräftiger Hund 15—30, am Yukonflusse 
selbst gar 100—150 Dollars, denn, wie lür den Lap¬ 
pen das Renntier, ist für den Goldgräber am Yukon 
der Hund das nützlichste Tier. — Die .Maskahunde 
haben ein dunkles, weiches Fell, ihre Ohren sind 
spitz wie die der Eskimohunde; auffällig kurz und 
kräftig ist der Hals. Viele Eigentümer versehen 
ihre Tiere mit Buckskinmoccasins, eine Art Strümpfe, 
um ihre FOsse gegen die Kälte und die Rauhheiten 
des Bodens zu schützen. Solange die vielen Seen, 
welche die Nebenflüsse des Yukon speisen, gefroren 
sind, bilden sic den bequemsten Transportweg: die 
Hunde sausen mit ihren schwerbeladenen Schlitten 
mit überraschender Schnelligkeit auf der Eisfläche 


I) ProceedinRs Chem. Soc. 1896—97 Nr. 176, 63. 

») Wollnj's Forschungen i8, 409. 

>) Welche, giebl der Verf. natOrlich nicht »n! Red. 


dahin. Die Hauptnahrung des gutgepflegten Hundes 
bilden Fische, besonders Salmen. 

* Der Bison oder Büffel (Bison americanus) 

kommt nur noch in einem Teile Canadas, südlich 
des grossen Sklaven-Sees in der Nähe des Forts 
Chipewyan wild vor. In den Vereinigten Staaten 
ist der Büffel als wildes Tier vollkommen ausge¬ 
rottet und ist nur noch in einzelnen Parks als Ra¬ 
rität zu sehen. . Nature 8. Juli. 97. 

*Der Kautschukbaum unserer Kolo¬ 
nien, die in No. 27 unserer Wochenschrift er¬ 
wähnte Kickxia africana, wurde von Dr. Preuss an 
der ganzen Seeküste Kameruns von Bimbia bis 
Debundja hin angetroffen, meist auf trockenem 
Boden, der oft sehr steinig war; bisweilen stand 
sie nur wenige Meter vom Strande entfernt. Aber 
auch in dem ungemein regenreichen Gebiete von 
Wete-Wete, wesdich vom Kamerungebirge, wie in 
dem etwas trockneten Strich südlich von demselben 
war sie gleich verbreitet, hoch in das Gebirge hin¬ 
auf scheint sie jedoch nicht zu gehen. Die Kickxia 
ist ein echter Urwaldbaum mit geradem, drehrunden 
Stamm und grauer Rinde; die Krone beginnt erst 
in ziemlicher Höhe vom Boden. Der Baum hat 
nichts Auffallendes an sich und ist unter den vielen 
ähnlichen Urwaldbäumen nur schwer heraus zu¬ 
erkennen; nur zur Zeit der Fruchtreife (in der 
Trockenzeit: Dezember bis Februar und März), ist 
er an den aufgesprungenen Kapseln leicht zu er¬ 
kennen ; dann sind auch die Samen mit ihrem 
charakteristischen Flugapparat überall an der Erde 
zerstreut und werden durch den Wind weithin fort¬ 
getragen. Wie sich der Baum unter Kultur ent¬ 
wickeln wird, z. B. als Schattenbaum, lässt sich von 
vornherein nicht sagen. 

Notizblatt des kg;l. botan. Gartens zu Berlin. 

* Über den Pestbazillus veröffentlicht Dr. 

Rudolf Abel Untersuchungen, nach denen das 
Sonnenlicht als der stärkste natürliche Feind dieses 
Bazillus erscheint. In Fleischbrühe fein verteilte 
Bazillen im Deckglas starben ab, nachdem dieselben 
eine Stunde dem Sonnenlicht ausgesetzt waren. 
Diese Erfahrungen werden auch durch die Ver¬ 
suche von Kitasato in Hongkong und Wilm be¬ 
stätigt. Zahlreiche Untersuchungen Dr. Abels be¬ 
schäftigten sich mit wirksamen Desinfektionsmitteln. 
Seine Mitteilungen enthalten eine Menge wertvolles 
Material zur Keraitnis dieses wichtigen Mikroorga¬ 
nismus. ZcDlralblatt COr Hakteriulugie. 

* Die Torpedonetze werden in allen Kriegs¬ 

marinen, neuerdings auch in der französischen, ab- 
geschaft't. Es hat sich herausgestellt, dass dieselben 
den beabsichtigten Schutz gegen Torpedoangriffe 
nicht gewähren. La Nature, 3. Juli J897. 


No. 33 der Umeebau wird enthalten: 

Mehlcr, Zur Bädersaison. — Tetziicr. Bpi den Maldininkern. 
(Schluss.) — Popp, Ule internationale Kunsl-Ausstcllung io 
München (Illustr.) - Kalt-Rculeaux, der geplante britische Zoll¬ 
verein und die australischen Kolonien. 

Ferner wird No. 3a bringen: 

Dif urufstif! EnUietkun^en in Aigypirn und die ällesl* Gt- 
sduchlf des Landes von Prof. Dr. }ri. fd'iedetnann. Es (ist dies 
die erste zusammenfassende Publikation über das [hochwichtige 
Ergebnis der Ausgrabungen im letzten Winter und Frühjahr. 
Dieselbe dürfte um so grösseres Interesse [erwecken als Herr 
Prof. Wiedemann selbst aktiv an den Au.sgrabungen teilnahm. 

D. Redaction. 


G. Horstmann’s Druckerei. Frankfurt a. M. 


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DIE UMSCHAU 

ÜBERSICHT OBER DIE FORTSCHRITTE UND BEWEGUNGEN AUF 
DEM GESAMTGEBIET DER WISSENSCHAFT, TECHNIK, 
Wöchentlich eine Numiner. LITTERATUR UND KUNST 


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PosUeitUDgspreialiste No. TSai a. 

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R Bechhold Verlag, Frankfurt a. M. 


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DR. J. H. BECHHOLD 


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Im Ausland nach Coura. 
Verantwortlicher Redakteur: 

Otto Adolf Wolters, Frankfurt a. H. 


32. I. Jahrg. 1897. 7. August. 


Die neuesten Entdeckungen in Ägypten 

und die älteste Geschichte des Landes. 

Von Professor Dr. A. Wiedemann. 

. Bis vor etwa einem Jahre’ war die älteste 
klar fassbare Periode der ägyptischen Ge¬ 
schichte die Zeit der Erbauung der Pyra¬ 
miden, mit anderen Worten der Anfang der 
4. manethonischen Dynastie, die Regierung 
der aus Herodots Erzählungen wohlbekannten 
Könige Cheops, Chephren und Mykerinos, 
und die ihres unmittelbaren, den Griechen 
weniger gel^uhgen Vorgängers, des Königin 
Snefru. Die Zeitdauer, welche von diesem 
Könige an bis zur Regierung der Ptolemäer 
und römischen Kaiser der ägyptischen Ge¬ 
schichtsforschung zur Bearbeitung vorlag, 
umspannte, da .die Pyramiden-Erbauer spä¬ 
testens in die 2. Hälfte des 4. Jahrtausends 
V. Chr. gesetzt werden können, nahezu 4000 
Jahre. Damit konnte jedoch die ägyptische 
Geschichte nach oben hin nicht abgeschlossen 
sein. Die Zeit des Snefru war, wie aus den 
zahlreichen seiner Zeit entstammenden Denk¬ 
mälern hervorging, nicht der Ausgangspunkt 
der Entwicklung des Volkes, sie bezeichnete 
bereits einen* Höhepunkt in Kunst, Technik, 
Religion, Staatsverfassung. Ihr musste eine 
Zeit des Werdens vorangegangen sein, 
in der die Kulturerscheinungen ausgebildet 
wurden, in deren Besitz das Pharaonenreich 
in das Licht der Geschichte eintrat. 

Über diese Vorzeit lagen nur wenige No¬ 
tizen von noch dazu recht zweifelhaftem Werte 
vor. Der ägyptische Priester Manetho, der im 
3. vorchristlichen Jahrhundert eine Geschichte 
des Nilthaies in griechischer Sprache ver¬ 
fasste, liess seinem König Söris, der Snefru 
entspricht, drei menschliche Dynastien vor¬ 
angehen, welche im Ganzen 769 Jahre lang 
Ägypten beherrscht haben sollten. Vor ihnen 
nannte er vier andersartige Dynastien: zu- | 
nächst zwei, die aus Göttern, dann eine, die I 

Unucluia 1897. 


aus Halbgöttern bestand, endlich‘eine aus 10 
verstorbenen Königen oder Manen, welche 
letzteren aus This, einer Stadt in der Nähe 
des oberägyptischen Abydos gestammt haben 
sollten. Dass diese vier mehr oder weniger 
göttlichen Dynastien nicht geschichtlich sein 
konnten, war klar. Man hatte es hier mit dem 
bei den verschiedensten Völkern auftretenden 
Bestreben zu thun, die Götter als Könige 
darzustellen, die sich in historisch feststell¬ 
barer Reihe auf dem Throne des Himmels 
oder des einen oder anderen Landes gefolgt 
wareiL^...^ 

Etwas besser stand es mit den drei ersten 
menschlichen Dynastien. Für diese führte 
Manetho die Namen und die Regierungsdauer 
der Herrscher auf, und aus einer Reihe er¬ 
halten gebliebener altägyptischer Königsver¬ 
zeichnisse ergab sich, dass er dabei in allem 
Wesentlichen einer Überlieferung folgte, 
welche im Nilthale jedenfalls seit etwa der 
Mitte des zweiten Jahrtausends v. Ghr. be¬ 
standen hatte und von den Pharaonen selbst 
als richtig anerkannt worden war. Die mo¬ 
dernen Forscher haben denn auch lange zu 
der Glaubwürdigkeit und Vollständigkeit die¬ 
ser Herrscherreihe grosses Vertrauen gehegt. 
Sie wurden hierin bestärkt, als sich ge- 
legentlithe Nennungen einiger der betreffen¬ 
den Könige nicht nur auf jüngern Denkmälern 
fanden, sondern auch auf solchen, die stil¬ 
istisch etwa in die Zeit gehören mussten, bei 
welcher die Herrscherliste die Namen ver- 
zeichnete. Allmälig regte sich aber doch den 
manethonischen Angaben gegenüber die Kritik. 
Man sah ein, dass man die Namen der Herr¬ 
scher nicht ohne Weiteres von den Ereig¬ 
nissen trennen durfte, die hach dem griech¬ 
ischen Schriftsteller unter ihrer Regierung 
sich zugetragen hatten. Dabei ergab sich die 
beachtenswerte Thatsache, dass, während den 
Regierungen von der 4. Dynastie an abwärts 
historische Notizen beigeftlgt worden waren, 

32 


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562 


Wiedemann, Die neuesten Entdeckungen in Aegypten. 


die entsprechenden Angaben für die ersten 
drei Dynastien völlig sagenhaft sind. Da 
floss unter einem der Könige der Nil 11 Tage 
lang von Honig, ein zweiter war 5 Ellen 
lang und 3 Ellen breit, unter einem dritten 
geschahen viele Wunder u. s. f. Ganz ent¬ 
sprechend galt auch den Ägyptern selbst seit 
/ dem zweiten Jahrtausend v. Chr. diese Pe¬ 
riode als ein beliebter Schauplatz für Legen¬ 
den aller Art. 

Dazu kam, dass auf Denkmälern, die aus 
der fraglichen Zeit stammten, bisweilen Königs¬ 
namen auftraten, die. in den Listen fehlten, 
und endlich erwies ein Studium der Namen 
in den Verzeichnissen selbst, dass diese nach 
einem System' geordnet waren, nach dem 
freilich gelegentlich in sehr willkürlicher 
Weise konstruierten Sinne der den jeweiligen 
Namen bildenden Worte. Es begann der 
Name, welcher sich am besten für den Grün¬ 
der des Reiches eignete, Menes (ägyptisch 
Minä) „der Feststehende". Dann kamen Namen, 
die sich auf kriegerische und dann solche, 
die sich auf friedliche Thätigkeit bezogen. 
Hieran schlossen sich die, bei deren Bildung 
Götternamen Verwendung gefunden hatten; 
den Abschluss bildeten diejenigen, welche auf 
organisatorische Thaten hinwiesen. Die Na¬ 
men selbst waren dabei, wie das Vorkommen 
wenigstens einiger derselben auf uralten Denk¬ 
mälern ergab, keine freie Erfindung, nur ihre 
Anordnung war das Ergebnis kombinatorischer 
Thätigkeit der alten Ägypter. 

Aus diesen Momenten und einigen andern, 
die hier übergangen werden können, Hess 
sich der Schluss ziehen, dass die Ägypter 
selbst ihre Geschichte erst seit Snefru ge¬ 
nauer kannten. Aus der älteren Zeit besass 
man eine Reihe von Königsnamen, die teils 
auf alten Denkmälern aufgezeichnet, teils in 
Legenden erwähnt waren. Diese hat man, ver¬ 
mutlich am Anfänge des neuen Reiches, also 
um 1700 V. Chr., gesammelt, je nach der 
Bedeutung geordnet, und sich auf diesem 
Wege die Herrscherliste von der Gründung 
des Reiches durch Menes bis zum Anfang 
der streng historischen Periode unter Snefru 
gebildet. Man verfuhr hier also ebenso, wie 
später in Hellas, als man dort die Lücke, 
die in der Überlieferung zwischen der durch 
Homers Gesänge wohlbekannten Blütezeit der 
mykenäischen Kultur und dem Beginne der 
wirklich geschichtlich bekannten Zeit klaffte, 
mit Hülfe sagenhafter Erzählungen, alter 
Listen und freier Kombination zu überbrücken 
trachtete. 

Andere Forscher versuchten auf Grund 
anderer Thatsachen das Geheimnis des Ur¬ 
sprunges der ägyptischen Kultur zu ergrün¬ 
den. Nach Analogie anderer Länder ver¬ 


suchte man für das Land eine prähistorische, 
eine Steinzeit nachzuweisen. Man war dabei 
jedoch wenig glücklich. Die meisten der bei¬ 
gebrachten, im Nilthale entdeckten angeb¬ 
lichen Silex-Artefakte erwiesen sich als Er¬ 
gebnisse des durch natürliche Ursachen ver- 
anlassten Springens von Feuersteinknollen; 
und was übrig blieb, konnte sehr wohl aus 
historischer Zeit stammen, in der man bis in 
die 12. Dynastie hinein wenigstens hier und 
da Werkzeuge und Waffen aus Feuerstein 
benutzte. So gelang es denn nicht, eine 
Steinzeit im eigentlichen Sinne des Wortes 
ihr das Nilthal zu entdecken, ebenso wenig 
wie man aus den Königslisten und verein¬ 
zelten Denkmäler-Angaben ein Bild der Ent¬ 
wicklung des Landes sich zu bilden vermocht 
hatte. Unsere wissenschaftliche Kenntnis des¬ 
selben begann nach wie vor mit der Zeit der 
grossen Pyraraiden-Erbauer, mit einer fertigen 
Kultur in Schrift, Sprache, Verfassung, Kunst 
und Religion. 

So stand die Sache bis zum November 
vorigen Jahres, als ein Werk des hochverdienten 
bisherigen Leiters der Ausgrabungen derägypt- 
ischen Regierung J. deMorgan erschien,*) in 
welchem der Verfasser nicht nur die Möglich¬ 
keit zeigte, die Kenntnis der Epoche, welche 
in Ägypten der 4. Dynastie voranging, zu 
gewinnen, sondern auch eine längere Reihe 
von Denkmälerklassen, mit denen man bis 
dahin nichts rechtes anzufangen wusste, als 
hierher gehörig erwies. Es ist ein eigentüm¬ 
licher Zufall, dass um die gleiche Zeit, in 
welcher Morgan diese ältesten Überbleibsel 
der Thätigkeit der alten Ägypter erforschte, 
die Untersuchung analoger Fundstellen im 
Nilthal von zwei anderen Seiten in Angriff 
genommen wurde, von Flinders Petrie*) 
und Amölineau.*) Ersterer untersuchte ge¬ 
nau die etwa 26 km nördlich von Theben 
auf dem Westufer des Nils gelegene Nekropole 
vonTukh (von ihm nicht genau als Nekropole von 
Naqada bezeichnet), während sein Begleiter 
Q u i b e 11 entsprechende Gräber bei dem 10 km 
weiter nördlichen Ballas ausgrub. Während 
hier nur Privatgräber zu Tage traten, war 
Am6lineau mehr vom Glück begünstigt. Er 
erforschte bei Abydos eine von den Arabern 
Om-el-Ga’ab „Mutter der Töpfe" genannte 
Reihe von 6 Hügeln”, welche sich auf einer 
Gesamtlänge von etwa 800 m hintereinander 
erhoben und welche ganz von mehr oder 
weniger zerbrochenen Töpfen bedeckt waren. 

’) Recherches sur les origines de l’Egypte. L’äge 
de la pierre et des metaux. Paris, i 80 . 

*) Flinders Petrieand Quibell, Naqada and Ballas. 
London 1896. 

*) Amelineau, Les nouvelles fouilles d’Abydos. 
Angers 1896. 


V 


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Wiedemann, Die neuesten Entdeckungen in Aegypten. 


563 


In ihnen erkannte er eine alte Wallfahrts* 
Stätte und entdeckte bei näherer Untersuchung 
unter ihnen eine Reihe von leider ausge¬ 
raubten Königsgräbern derselben Zeit, der 
die bisher besprochenen Begräbnisplätze an¬ 
gehört hatten. 

Zu diesem wenigstens teilweise veröffent¬ 
lichten Materiale ist im letzten Winter weiteres 
sehr belangreiches, aber noch unediertes, ge¬ 
treten, welches in erster Linie de Morgan 
verdankt wird. Er untersuchte selbst, bezw- 
Hess durch die Herren Legrain und Lampre 
eine Reihe der Nekropolen dieser ältesten 
Zeit untersuchen, darunter die südlichste bis¬ 
her bekannte bei Gebel Silsilis und die nörd¬ 
lichste bei Kauwamil gegenüber Sohag. Es 
wurde dadurch festgestellt, dass sich der¬ 
artige Grabstätten auf einer etwa 375 km 
langen Strecke längs des Nils finden. Nörd¬ 
lich und südlich davon fehlen bisher die ent¬ 
sprechenden Gräber, wohl aber wurden hier 
von dem Katarakt bis nach Memphis und 
andererseits in der Wüste bis zur Oase Khar- 
geh hin, Feuerstein-Werkstätten und Feuer¬ 
steinmesser gleichen Typus, wie sonst in 
diesen Gräbern, entdeckt. , Ausserdem aber 
förderten die Ausgrabungen de Morgans den 
wichtigsten Punkt für die ganze Untersuchung 
zu Tage. Es wurden bei dem bereits ge¬ 
nannten Orte Naqada, 5 krii südlich von Tukh, 
nicht nur zwei grosse Nekropolen unserer 
Zeit eröffiiet, sondern auch ein unausgeraub- 
tes Königsgrab, welches die Verwertung der 
Amölineauschen Funde ermöglichte. 

Die wichtigsten Ergebnisse aller der er¬ 
wähnten Nachgrabungen — an denen zu 
Naqada hat der Verfasser dieser Zeilen per¬ 
sönlich teilgenommen — sind kurz zusammen¬ 
gefasst die folgenden: 

In Naqada waren in einer der Nekropolen 
die nicht tief unter der Erdoberfläche befind¬ 
lichen Gräber alle nach einem Schema ange¬ 
legt. In dem ovalen Grabe ruhten die Leichen 
mit wenigen Ausnahmen, die auf dem Rücken 
lagen, als Skelett in der sog. Embryonalstell¬ 
ung auf der linken Seite, die Beine hoch an 
den Bauch emporgezogen, die Arme geknickt, 
so dass die Hände an das Gesicht kamen, 
oder auch etwa rechtwinklig vorstanden. Der 
Kopf lag nach Süden hin, das Gesicht blickte 
nach Westen. Als Beigabe fanden sich rot 
und rot-schwarz gebrannte Töpfe in grosser 
Zahl. — In der zweiten Nekropole finden 
sich die Toten, bisweilen zu mehreren zu¬ 
sammen, in tiefer in den Boden eingesenkten 
rechteckigen Gruben in Gestalt unvollkom- 

Eine grosse Nekropole der gleichen Zeit ward 
in diesem 'hinter von Quibell bei El -Kab ausge- 

g aben, während Am6lineau bei Abydos ein neues 
Onigsgrab, das des Dua-ba-u, erschloss. 


mener Skelette. Die beigegebenen Thonwaren 
sind in roher Arbeit aus rötlichem oder braun¬ 
gelbem Thon gefertigt, rote und rot-schwarz 
gebrannte Töpfe kommen nur ganz vereinzelt 
vor, dagegen tritt als charakteristische Form 
in diesen Gräbern eine zylindrische auf. 

Die gleichen beiden Grabtypen finden 
sich an den übrigen bisher untersuchten Orten 
wieder, nur scheinen dort gelegentlich beide 
Typen neben einander in derselben Nekropole 
aufzutreten. Ausserdem sind die Toten der 
ersten Klasse bisweilen, auch in Naqada, 
nicht einfach in die Erde gesenkt, sondern 
in zusammengebundenen Schilf oder in Ga¬ 
zellenhäute eingehüllt worden. In Kauwamil 
und El Kab wird diese Umhüllung gelegent¬ 
lich durch Thon-Särge ersetzt. Diese haben ent¬ 
weder rechteckige Form und sind nicht ganz i m 
lang und deckellos, oder sie haben die Form 
eines kreisrunden nach der Mitte zu gewölb¬ 
ten Deckels von nicht ganz i m Durchmesser. 
In ersteren lag der Tote ganz zusaramen- 
gekrümmt, während letztere über das ebenso 
liegende Skelett gestülpt wurden. In Abydos 
scheinen diese Särge nicht beliebt gewesen 
zu sein, dagegen wird hier das Grab etwas 
reicher gestaltet. Man zerlegt die Grube durch 
kleine Mauern aus ungebrannten Lehmziegeln 
in mehrere Gemächer, deren eines den Toten 
zu bergen hatte, während die andern die ihm 
mitgegebenen Opfergaben enthielten. 

Die Königsgräber unterscheiden sich von 
den Privatgräbern nur durch ihre Grösse. 
In ihrer einfachsten Form sind sie tiefe vier¬ 
eckige Gruben von bis zu 20 m Länge und 
8 m Breite. Bei andern Anlagen wird das 
rechteckige Grabgemach von mehr oder we¬ 
niger zahlreichen kleinen, gleichfalls recht¬ 
eckigen Kammern umgeben, welche’ ausser 
Beigaben gelegentlich auch Gräber von Privat¬ 
personen enthielten, welche wohl dem Toten 
zur Unterhaltung und Bedienung in das Jen¬ 
seits folgen sollten. Etwas abweichend er¬ 
scheint auf den ersten Blick das grosse Königs¬ 
grab von Naqada dadurch, dass es über der 
Erde als ein aus ungebrannten Ziegeln er¬ 
richteter Monumentalbau sich erhebt. Der 
Plan ist jedoch nicht wesentlich verschieden 
von dem der unterirdischen Anlagen. In der 
Mitte befindet sich ein rechteckiges Gemach, 
dessen Mittelpunkt ein kreisrundes Loch von 
etwa I m Durchmesser bildet, welches Asche, 
wohl die des hier verbrannten Königs, ent¬ 
hielt. Rings umher liegen viereckige Räume 
mit Gaben oder auch ohne Inhalt, welche 
einst durch Thüren mit einander und mit der 
Grabkammer in Verbindung standen; diese 
Thüren hat man dann aber vor der Verbren¬ 
nung des Herrschers mit ungebrannten Ziegeln 
wieder zugebaut. Die Aussenseite w«u' durch 

3a* 


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564 Popp, Deutsche Malerei auf der VII. intern. Künstausstellung in München. 


Systeme von viereckig vorspringenden Halb¬ 
pfeilern reich gegliedert; eine Thüre, die 
Einlass in das Innere gewährt hätte, fehlte, 
so dass der Zugang in die Anlage nur von 
oben her stattgefunden haben kann, ohne dass 
man es für nötig gehalten hätte, dies, wie es 
bei unterirdischen Königsgräbern zu Abydos 
geschehen ist, durch Errichtung einer Treppe 
zu erleichtern. 

Diese Grabanlagen unterscheiden sich zwar 
in der Durchführung,'aber nicht in der Grund¬ 
lage ihrer Pläne von den sonst im Nilthal 
üblichen; dagegen findet sich eine prinzipielle 
Verschiedenheit zwischen der Art der Leichen- 
behandlung hier und in der Zeit des uns ge¬ 
läufigen Ägyptertums. Letzteres sucht dem 
Toten die Unsterblichkeit dadurch zu sichern, 
dass es seine Leiche in möglichster Voll¬ 
ständigkeit erhält, dafür sorgt, dass Knochen 
und Haut an ihrer richtigen Stelle bleiben 
und das Fleisch durch die Einbalsamierung 
gegen die Verwesung geschützt wird. Die 
Mumie legt man dann auf dem Rücken aus¬ 
gestreckt in den Sarg. — Hier ist dies anders. 
Der Tote liegt in Embryonal-Stellung auf der 
Seite, eine Lagerung, die sich nur am An¬ 
fänge der 4. Dynastie bei Leichen niederer 
Stände zu Meidüm bei Memphis wiederfindet. 
In anderen Gräbern ist derselbe zerstückelt 
beigesetzt worden, wobei man besonders auf 
die Enthauptung grosses Gewicht gelegt hat. 
Und endlich ward der König verbrannt, um 
ihn so in das Jenseits oder genauer gesagt, in 
den Himmel zu den Göttern einziehen zu 
lassen. 

Diese Erscheinungen waren so auffallend, 
dass man zunächst vernmtete, man habe in den 
Toten überhaupt gar keine Ägypter vor sich, 
sondern ein fremdes Volk mit abweichender 
Kultur und andersartigen Religionsanschau¬ 
ungen. Ein genaueres Studium der ägyptischen 
Texte hat dem gegenüber ergeben, dass zwar 
diese Bestattungsarten später nicht mehr die 
üblichen waren, dass sich aber in mancher¬ 
lei Sitten und religiösen Formeln noch Er- 
rinnerungen an sie vorfinden. Sie sind von 
der Mumifizierung thatsächlich verdrängt wor¬ 
den, haben aber einst neben dieser und auch 
allein im Kreise des Volkes oder der Völker 
geherrscht, aus denen das ägyptische hervor¬ 
gegangen ist. Die Unvollständigkeit der zer¬ 
stückelten Skelette andererseits erklärte sich 
nicht daraus, dass die Hinterbliebenen die 
Toten verzehrt hätten und dabei Knochen 
zerschlugen und verloren, sondern aus der 
auch im späteren Ägypten sich findenden Sitte 
der sekundären Bestattung. Man hat die zer¬ 
stückelte Leiche zunächst bei der Wohnung 
des Verstorbenen beerdigt, sie aber nach Ver¬ 
wesung der Fleischteile wieder ausgegraben. 


die übrig gebliebenen Knochen gereinigt und 
mit ihren Beigaben in der Nekropole ftlr alle 
Zeit beigesetzt. *) 

Unter den Beigaben waren besonders auf¬ 
fallend flache Platten aus einem ziemlich 
weichen, aus den Bergen östlich vom Nile her¬ 
stammenden Talgschiefer. Sie hatten entweder 
geometrische Umrisse und bildeten Quadrate, 
lang gezogene Rhomben und Dreiecke, oder 
sie besassen die Gestalt von Tierbildern, von 
Vögeln, Doppelvögeln, Fischen, Schildkröten, 
Steinböcken, Elefanten. Viele von ihnen waren 
durchbohrt, so dass sie in Gleichgewichtslage 
aufgehängt werden konnten. Man hat in ihnen 
Schachteldeckel, Waffen, Reibplatten erkennen 
wollen; weit richtiger ist es, sie für Amulette 
zu erklären, die dem Toten mit in das Grab 
gegeben wurden, in ähnlicher Weise wie auch 
ein jeder Je einen gelben oder braunen Roll¬ 
kiesel als Amulett miterhalten hat. Die bis¬ 
weilen auf den Platten sich findenden Farb¬ 
spuren werden ungeschickte Versuche sein, 
denselben malerischen Schmuck zu verleihen. 
Sie gehen dann Hand in Hand mit einer 
Reihe entsprechender Platten, auf welchen in 
erhabenem Relief Bilder von Tieren, Pflanzen, 
Menschen, besonders Kriegern, Namen von 
Ortschaften^ und ähnliches angebracht worden 
sind. Die Sitte derartiger Platten als Amulett 
kennt das sonstige Ägypten nicht, dagegen 
scheinen die reliefierten Platten noch später 
vorgekommen zu sein. Eine unter ihnen, 
welche einen Kriegszug bezw. Kriegstanz dar¬ 
stellt, *) zeigt eine so auffallende Ähnlichkeit 
mit Werken der 12. Dynastie, dass es schwer 
halten wird, dieselbe völlig von der Verbin¬ 
dung mit deren Arbeiten loszulösen. 

(Schluss folgt). 


Die deutsche Malerei auf der VII. inter¬ 
nationalen Kunstausstellung in München. 

yoD Hermann Fopp. 

Die grossen internationalen Kunstausstel¬ 
lungen konnten niemals so befriedigend für 
Künstler und Publikum sein, wie jene kleinen 
intimen „expositions", welche die peinlichste 
Auswahl der Kunstwerke gestatten, und ver¬ 
möge ihrer kleineren Quantität eine Über¬ 
sichtlichkeit ermöglichen, welche den Kunst¬ 
genuss ganz bedeutend steigert. Wenn 
die diesjährige Ausstellung im Münchener 
Glaspalast trotz ihres erdrückenden Materials 
diesen Vorzug der Übersichtlichkeit im vollsten 

•) Die Belege für die oben angedeuteten That- 
sachen werde ich in der im August dieses Jahres 
erscheinenden Publikation’ de Morgan’s über das 
Königsgrab von Naqada veröffentlichen. 

*) publ. u. a. Maspero, Histoire ancienne II p. 767. 


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Popp, Deutsche Malerei auf der VII. intern. Kunstausstellung in München. 565 


Masse besitzt, so ist dies das Verdienst 
Lenbachs, der mit bewundernswertem 
Geschick die schon längst geplante Reform 
des Ausstellungswesens hier verwirklichte. 
Noch die vorjährige Ausstellung bildete ein 
unentwirrbares Chaos von Form und Farbe, 
das ermüdend auf den Beschauer wirkte, der 
heute in vollen Zügen, ruhig geniessend, ohne 
Ermatten die langen Säle durchwandert und 
stets, wohin sein Blick auch fällt, neue An¬ 
regung empfängt. Neben den in wirksamer 
Beleuchtung und bequemer Höhe aufgehängten 
Bildern prangen kostbare Gobelins, die in 
warmen Farbentönen und milder Ruhe be¬ 
sänftigend auf das Auge wirken. Griechische 
Portale, Friese und Säulenhallen, in deren 
Mitte in klassischer Schönheit und Ruhe die 
hehre Pallas thront und Narziss seine herrliche 
Gestalt in der krystallenen Quelle spiegelt, 
Sculpturen, ein Vorraum im Empire-Stil, ein 
im Märchendämmer liegendes arabisches 
Zimmer, bunte Gläser, kostbare Schmuck¬ 
sachen, und andere kunstgewerbliche Gegen¬ 
stände wechseln in bunter Pracht miteinan¬ 
der ab. 

Hocherfreulich ist es, zu sehen, wie das 
Kunstgewerbe, das am Anfang des Jahrhun¬ 
derts durch die Interesselosigkeit der Künstler 
zur Schablone herabsank, nun wieder herrlich 
aufsteht, Hand in Hand mit der hohen Kunst. 

Die einstige sogenannte neue Richtung, 
die eigentlich nur eine neue Bewegung, ein 
Nachdrängen junger, schäumender Säfte ins 
alte, morsche Geäste der traditionellen Kunst 
und noch vor einigen Jahren in ihrem letzten 
dem Sieg zuführenden Aufquellen zu bemerken 
war, ist heute, nachdem sie sich von ihren 
Auswüchsen und — „ismen“ befreit hat, in 
einer Harmonie aufgelöst welche kaum noch 
Differenzierungen bemerkbar macht. Von der 
Vollständigkeit dieser Harmonie überzeugt uns 
besonders die diesjährige Ausstellung, welche 
durch die Vereinigung der ehemals soge¬ 
nannten „Richtungen“ auch in der äusseren 
Form jeden Verhältnisunterschied und jene 
schrecklichen Schlagworte mit denen einst 
das Künstlerproletariat zu kämpfen versuchte, 
beseitigt. 

Mit dem Sieg der Jungen brachen die 
morschen Stützen der Tradition und Kon¬ 
vention zusammen und ein neuer Bau erhob 
sich auf den starken Säulen der „Persönlich¬ 
keitsrechte“, die das Bleibende in der Kunst 
bedeuten. Mit Inbrunst warf man sich an die 
Brust der Allmutter Natur. Sonnenlicht strahlte 
allüberall und durchflutete Wald und Wiese, 
huschte über Parquet und Stoppelfeld, leuchtete 
Arm und Reich, Hoch und Niedrig in die 
Seele, und schrieb ein Gesetz hinein: Wahr¬ 
heit und Natur! 


„Schafft wahr und ihr habt meinen Beifall, 
schafft insbesondere individuell und lebendig 
und ihr habt meine Bewunderung“. 

Mit diesen Zola’schen Worten ist die 
„neue Bewegung" am treffendsten charak¬ 
terisiert. — Leider hat sie ihr Charakteristikum 
nahezu verloren. 

Unter das Streben nach Realismus mischt 
sich das Sehnen nach Frieden und Ruhe, fern 
dieser Welt. Die Phantasie erringt die Herr¬ 
schaft über den Verstand und schwelgt in un¬ 
ergründlichen Träumereien. Der Realismus 
wird zurückgedrängt durch den Neu- Idealis¬ 
mus, welcher weltflüchtig von der Erde und 
dem Leben in jene Gegenden flieht, wo durch 
mystische Schleier das Übersinnliche, das Un¬ 
aussprechliche dämmert, das sich nur. in 
allegorischer Form von der Seele des Künstlers 
losringt, um Gestalt zu gewinnen. 

Die Kunstbewegung von heute bedeutet 
einen Rückschritt zur Symbolkunst eines 
Cornelius, zum englischen Praeraffaelitentum 
das Rätsel auf Rätsel bietet, ohne deren 
Lösung zu geben. Zu dieser phantastischen 
Ideenmalerei sich noch die Stimmungs- 

malerci, welche ungeachtet des dargestellten 
Objektes durch die Anordnung der Farben¬ 
töne Akkorde anschlägt, die beinahe musi¬ 
kalisch wirken sollen, — „dieser Morphinismus 
moderner Malerei und Musik ist das letzte 
Wort, das bis jetzt gesprochen ist. Es ist 
die jüngste Phase“. *) Aus femininer Weich¬ 
lichkeit und nervöser Empfindung sind ihre 
Jünger zusammengesetzt, welche die Berech¬ 
tigung zu haben glauben, den Giganten 
Boecklin zu den ihrigen zu zählen. Von 
ihm sagt Bierbaum, dürfe man nur in Versen 
reden. 

In ihm erwuchs aus dem Naturalismus die 
neue Romantik. 

Auch diesmal entzückt unser grösster Land¬ 
schafter (Boecklin), dem es wie keinem Anderen 
gelang, eine solch harmonische Verschmelzung 
des Landschaftlichen mit dem Figürlichen zu 
erzielen, mit 7 zum Teil schon ausgestellt ge¬ 
wesenen Gemälden. 

„Cott Vater zeigt Adam das Paradies";- 
aufblühende Blumen, knospende Bäume, von 
der Sonne beschienen, entsenden paradiesische 
Düfte und atmen Glück und Frieden. Inmitten 
steht Gott Vater in langem blonden Bart, 
mild und gütig lächelnd, den einen Arm um den 
staunenden Knaben Adam geschlungen, zeigt 
mit der Linken auf all die Wunder, die er 
ihm übergiebt. Ein liebliches Idyll voll Schön¬ 
heit und Ruhe, eine Farbenharmonie, unend¬ 
lich gross und tiei. 

Daneben eihe machtvolle Elegie „Meeres- 


*) Neumann. Kampf um die neue Kunst 


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566 Popp, Deutsche Malerei auf der VII. intern. Kunstausstellung in München. 


brandung''. In einem riesigen Felsspalt am 
Ufer des brausenden Meeres steht ein Weib, 
eine Harfe haltend, durch deren Saiten der 
Sturmwind heult und in tonrauschenden Ur- 
lauten das gewaltige Lied singt vom Werden 
und Vergehen. 

Eine grandiose Naturstimmung offenbart 
sich in der Komposition „der Abenteurer'*. 

Auf fremdem, unbekanntem Inselboden, 
inmitten des blauleuchtenden Meeres trabt 
ein Ritter in schwarzer Rüstung, kühn und 
stolz erhobenen Hauptes dahin in heller Mit¬ 
tagsschwüle und sucht das Unbekannte. Hier 
blühen keine Blumen, keine Düfte schwängern 
die Luft, monotone Einsamkeit und der Mo¬ 
der vergangener Zeiten erfüllen den unend¬ 
lichen Raum, durch den sich des Reiters 
Pferd schleppt, müde und schwer. 

Boecklin’s Geist, zeit- und wesenverwandt 
mit Schwind, ist erfüllt von jener olympischen 
Ruhe, die Goethe eigen war, und mit ihm 
verschwunden ist. Stets Er selbst schreitet er 
hinweg über die Kämpfe und Stürme der Zeit, 
über die er in lächelnder Ruhe und Macht 
triumphiert. 

Ebensowenig wie Boecklin darf die junge 
Schule den Seelenmaler, den idealen Natur¬ 
alisten Fritz von Uhde zu den ihren 
rechnen. 

Welch innigen Zauber üben seine Christus¬ 
bilder mit ihrer Milde und Ruhe, welch idyl¬ 
lischen Duft strömen seine prunklosen Land¬ 
schaften aus. Die jetzt ausgestellte 
fahrt ChristC* zeigt wieder des Meisters 
Bemühen, ftlr die tausendjährige Frage „seine“ 
Lösung zu finden. Auch hier wieder ist der 
stille Heiland mit dem mitleidsvollen Blick 
und den weichen, sanften Händen — Uhde’s 
ureigenste Schöpfung. Auf Wolken schwebt 
der Gott-Mensch den himmlischen Höhen zu, 
ein Volk zurücklassend, dass ihm schmerzlich 
in stummer Anbetung nachblickt. Es sind 
keine Juden aus der damaligen Zeit, es sind 
moderne Bauern in groben Kitteln und Rök- 
ken, — eine wundersame Verschmelzung vom 
alten Glauben mit der neuen Zeit. 

Uhde gab der religiösen Malerei neuen 
Gehalt, an den man sich jedoch noch nicht 
vollständig gewöhnt hat. Seine Auffassung 
der Evangelien ist die des Albrecht Dürer — 
eine weltlich-christliche. 

Die künstlerische Ruhe, die auf den 
Werken Boecklin’s und Uhde’s liegt, wird ge¬ 
stört, sobald man Ludwig von Hofmann 
gegenüber tritt, dessen Farben- und Form 
chaos, wie es sich auf seiner „Blütenphantasie" 
darstellt, wohl dekorativ und äusserst bunt, 
aber nicht künstlerisch wirkt. Nichtsdesto- 
w'eniger hat uns einstHofmann in seiner„Z)«//r«j!s 
und Chloe" in helles Entzücken versetzt. Eine 


rein persönliche Ausdrucksweise hat er noch 
nicht gefunden wie Julius Exter, dessen 
„Urteil des Paris" unangenehm durch den 
braungelben Fleischton wirkt und seiner 
Paradies-Trilogie nachsteht. 

„Der jüngste Meister deutscher Kunst“ — 
Franz Stuck; vom Kunstgewerbe, das ihm 
ein feines Formgefühl mitgab, herkommend, 
wie Boecklin kraftstrotzend und kerngesund, 
so schreitet er unbekümmert um die Andern, 
sicher, selbstbewusst und lachend einher. 

Innerlich ist er mit Boecklin, äusserlich 
mit der markigen Form Thoma’s verwandt. 

Ausser einigen von ihm ausgestellten 
PorträtsMnd einem weinseligen Bacchantenzug, 
fesselt vor allem sein „Verlorenes Paradies**. 
Strang blickend, steht der herkulische Para¬ 
dieswächter vom Licht der Wahrheit umstrahlt 
auf sein Schwert gestützt und blickt auf jene, 
die im Gefühl der Schuld, an Leib und Seele 
gebrochen davonschleichen. Die furchtbare 
Tragödie, wie ist sie hier herrlich und klas¬ 
sisch einfach dargestellt in Form und Farbe. 

Der Gegenwartsmode Eduard von Geb¬ 
hardt, dessen Geist in den vergangenen Zeiten 
der Eyck’s Dürer, Holbein und Roger van 
der Weyden wurzelt, dem das deutsche Mittel- 
alter als Inbegriff höchster Einfachheit, Innig¬ 
keit und Schönheit gilt, erfreut und ergreift wie¬ 
der durch die „Auferweckung von Jairi Töchter- 
lein" und den „Einzug Christi in Jerusalem." 
Einfach, gefühlsinnig und urdeutsch transpo¬ 
niert er die biblische Geschichte mit realist¬ 
ischer Kraft ins alte Nürnberg und nach 
Flandern, in jene Zeit, in der an der Spitze 
der Kulturwelt das deutsche Wesen stand. 

Während Fritz von Uhde mit seinem Geist 
in den seiner Figuren eindringt, und dadurch 
seinen Schöpfungen jenen fesselnden, indi¬ 
viduellen Reiz verleiht/kann Walter Firle 
nur als „geschickter Anempfinder“ Interesse 
erwecken. Seine „heilige Nacht", obgleich 
schön in Komposition und Farbe, lässt denn 
auch das persönliche Gepräge allzusehr gegen 
Uhde’s Vorbild in den Hintergrund treten. 
Ernst Pfannschmidt zeigt sich auf seinem 
Bilde „Christus predigt in Bethanien'* als 
tüchtiger Maler und Psychologe, der mit feinem 
Verständnis die Wirkung der heiligen Worte 
Christi auf die verschiedenen Gemüter seiner 
Zuhörer in deren Physiognomien zum Aus¬ 
druck bringt. Seine Christen sind nicht wie 
die Uhdes moderne Bauern, sondern sie sind 
aus allen Gesellschaftsschichten einer mittel¬ 
alterlichen deutschen Stadt gewählt. Auch 
er verlegt diese biblische Scene wie Gebhardt 
in jene Zeit, die er sowohl in den Typen, 
wie im ganzen Milieu fein charakterisiert. Nur 
wenige moderne Meister verstehen es, den 
inneren Kern biblischer Bilder, die Andacht 


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Popp, Deutsche Malerei auf der VII. intern. Kunstausstellung in München. 567 


voll und ganz in naturalistischer Behandlung 
auszudrücken. Zu diesen aber gehört Pfann* 
Schmidt. Die Empfindung die aus seinen 
Typen spricht, ist jene wirkliche Andacht, 
welche von so vielen Künstlern, die von der na¬ 
turalistischen Behandlung derartiger Stoffe 
absahen, durch eine Art Hypnose ersetzt ist. 
Karl Gebhardt und J. Leonhard stellen 
ebenfalls eine biblische Szene „Kain’s Bruder¬ 
mord“ dar. Ersterer theatralisch, letzterer 
realistisch. Bei Gebhardt wird auch daher die 
Wirkung durch das vorwiegend äusserlich 
dramatische abgeschwächt, während Leonhard 
durch die Verinnerlichung des Schuldgefühls 
die Wirkung ungemein steigert. Dort scheint 
sich Kain vor Entsetzen mit der Schulter in 
einen Felsblock einwühlen zu wollen, wobei 
das Muskelspiel des starken und gut gezeich¬ 
neten Körpers deutlich hervortritt; hier aber 
steht er von der Leiche des Bruders abge¬ 
wendet da, mit krampfhaft geballter Faust und 
finsterem Blick. Die Wut über sein von 
Gott verschmähtes Opfer unterdrückt noch 
das volle Bewusstsein der furchtbaren That 
und dieser seelische Konflikt, der mit wenig 
Mitteln dargestellt ist, kennzeichnet den Tot¬ 
schläger in jeder Faser besser, als jene tech¬ 
nisch brillante Äusserlichkeit. — Wer 
Boecklin’s gewaltige Darstellung des Trauer¬ 
spiels auf Golgatha kennt, stellt hohe Ansprüche 
an jede weitere Behandlung. Otto Schaefer’s 
,,Kreuzabnahme“ ist in Ton und Form weniger 
gedanklich kombiniert als die Boecklin’s, lässt 
aber die Hauptsache, den Ausdruck des 
Schmerzes, den gewaltigen Seelenaufruhr der 


Personen, welche den Leichnam bergen, 
vermissen. 

Einen sanften Übergang vom Religiösen 
zum rein Weltlichen bilden die sogenannten 
poetischen Bilder, an denen die freie Phanta¬ 
sie des Künstlers den Hauptanteil hat. Sie 
fliehen die Prosa des Lebens, dessen un¬ 
künstlerische Eintönigkeit den Wanderer er¬ 
mattet, um die äussere Umgebung durch eine 
innerlich geschaute, in der Hoflfen und Sehnen 
in Erfüllung gehen, zu ersetzen. Der Künstler 
baut Luftschlösser! Ich möchte jedem etwas 
von dieser herrlichen Gabe gönnen. Man 
braucht darum noch lange nicht in jene hyper¬ 
phantastischen, chaotischen Färb- und Form¬ 
welten Hofmann’s zu eilen. Ein Stück wirk¬ 
licher Natur, dessen charakteristische Seiten 
in individueller Weise zum Ausdruck gebracht 
sind, thuts viel besser. „In Arkadien“ von 
R. Riemerschmid zeigt uns ein hendiches 
Fleckchen frischer, froher Erde. Eine an¬ 
steigende Wiese mit hohem Gras und Blumen, 
eine Pappel und grosses Buschwerk. Über 
allem liegt w'armes Sonnenlicht, ergiesst sich 
die blaue Unendlichkeit des Himmels und in 
den Wiesengräsern freuen sich zwei winzige 
Menschlein in holder Nacktheit ihres Daseins. 
Aus diesem Bilde spricht ein Naturgefühl, das 
kraft seiner Individualität keinem Motiv ge¬ 
genüber in Verlegenheit gerät und sich nicht 
mit der Nachbildung des Geschauten allein be¬ 
gnügt, sondern durch individuelle Ummodelung 
und Korrektur der Motive denselben seinen 
persönlichen Geist, sein ureigenes Empfinden 
einimpft. Raff. Schuster-Woldan führt uns in 



Richard Riemerschmid. In Arkadien. 


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568 Popp, Deutsche Malerei auf der VII, intern.' Kunstausstellung in München. 



Raffael Schustcr-Woldan. Auf freier Höhe. 


seinem Bild „Auf freier Höhe**, in eine Ge¬ 
gend, in der über lachende sonnige Auen 
milde erquickende Düfte ziehen. Auf einem 
Fels inmitten der herrlichen Natur sitzen zwei 
Menschen. Ein Weib in reiner Nacktheit und 
ein schwarz gekleideter Mann, der ihre schnee¬ 
igen Schultern küsst. Wie Heinrich der 
Glockengiesser kam er vom Thal herauf auf 
die freie Höhe. Aber kein elbisches Rau¬ 
tendelein empfängt ihn da oben mit offenen 
Armen, sondern in hehrer Ruhe zeigt ihm 
die Göttin der Kunst die Wunder der Natur 
und in heisser Dankbarkeit berührt er mit 
keuschen Lippen ihren Leib. Ad. Hengeler 
erfreut uns durch seinen „Ahenif*. Einen 
Wiesenhang hinauf schleppt sich ein Greis, 
Arm in Arm mit Freund Hein, der ihn zur 
nahen letzten Ruhestätte geleitet. Der Lebens¬ 
abend des Alten geht zur Neige, wie der 
Abend des Tages. Gleich Riemerschmid’s 
„Arkadien“, ist auch Hengeler’s „Abend“ 
ein Stückchen individuell geschauter und ver¬ 
arbeiteter Natur, voll ernster Poesie und tiefer 
Stimmung, die noch durch die vom Abend¬ 
himmelscharfsich abhebenden Silhouetten des 
Alten und seines Begleiters wirksam gehoben 
wird. Georg-Schuster-Wo 1 da n führt uns 
ins Märchenreich, in jene Zeiten, von denen 
Grossmutter an langen Winterabenden erzählt. 
— Durch den finstern Tann trägt der „Men¬ 
schenfresser** seine junge Beute, die sich 
ängstlich in seinen Riesenarmen zusammen¬ 
kauert. — Durchdrungen von geheimnisvoller 
Märchenstimmung erinnert uns der Künstler 


an den köstlichen Romantiker Schwind, dem 
auch C. Schultheiss in seinem die Beeren¬ 
sammler erschreckenden „Rübezahl“ nach¬ 
fühlt. Jedoch keiner der Beiden kommt ihm, 
dessen Welt, in der er seinen Künstlertraum 
träumte, die Legende und das Märchen war, 
auch nur annähernd gleich. 

Schon in der Ausstellung von 1896 konnte 
man eine stattliche Anzahl junger Künstler 
bemerken, deren Entwicklung nicht mehr an 
das direkte Schäften nach der Natur gebunden, 
sondern beim Stadium der freien und eigenen 
Empfindung angelangt w'ar. Unter ihnen fiel 
damals K. Hartmann’s „Erntezeit**, eine 
„Pieta** und „Adam und Eva** auf. Dieses 
Jahr stellt er die „Waldfrau** und die „Hel¬ 
denlieder** aus. Beide Bilder zeigen des Künst¬ 
lers Bestreben, mit der Harmonie der Farben¬ 
werte und feinster koloristischer Durchbildung 
das Typische der Gesamtstimmung zum Aus¬ 
druck zu bringen. In der „Waldfrau“ ist 
dies Problem vorzüglich gelungen. Hier sind 
alle starken Kontraste vermieden und wo 
Gegensätze auftreten, dienen sie nur zur He¬ 
bung der mystischen Stimmung, die durch 
das eigentümliche Violett des Hintergrundes, 
durch den von hohen Bäumen verdunkelten 
Waldboden mit den rot leuchtenden Fliegen¬ 
pilzen, nach denen die fleischlosen Finger der 
Waldfrau greifen, prächtig erreicht wird. 

August Splitgerber, lässt in seinem 
„Fichtemvald** ebenfalls den Unterschied 
zwischen sogenannter getreuer Naturnachbil¬ 
dung und individuellem Schaffen erkennen. 


N 


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Tetzner, Bei den Maldininkern. 


569 


Technisches Können, in Verbindung mit dem | 
scharfen Blick fhr das Cliaraktcristische und 
feiner Form- und Farb-Empfindlichkeit, führcMi 
auch hier die Harmonie lierbci, welche heim 
Beschauer die in der Gesanitstimniung auf- 
gehenden Gefühle löst. Unsere modernen 
Landschafter brauchen den Vergleich mit den 
alten Niederländern, mit den Meistern Claude 
Lorrain und Poussin nicht mehr zu scheuen. 
Was jene so anziehend und bewundernswert 
macht, linden wir jetzt bei den Lebenden 
wieder und zwar noch um eine Nuance i'eicher, 
indem sich mit grösster Deutlichkeit das per¬ 
sönliche EmpHnden in all seinen Schwankungen 
in den Werken dokumentiert. Die Natur gilt 
nicht mehr als Vorlage- und Musterbuch, son¬ 
dern lügt sich <Ier künstlerischen Sensibilität, 
welche, je feiner sie ausgebildet ist, desto 
herrlichere Harmonien schafft. Unter den 
Künstlern, die nach diesem Prinzip an die 
Schönheiten der Natur herantreten, sind vor 
allem Keller-Reutlingen, Dill. Poetzelberger, 
Kalkreuth, Bürgel, Böhme, Willroider, v. d. 
Weyden, Eichfeld und Scliultze-Naumburg zu 
nennen, an die sich noch eine Menge junger 
Talente anschliesst, die das Beste für die 
Zukunft versprechen. (Schluss folgt). 


Bei den Maldinin¬ 
kern. 

Von Dr. F, Th r/NKit. 

(Schluss), 

(Mit 3 At)bildiingen.) 

In Russ bezog 
ich meinen Gasthol, 
geführt von frei¬ 
willig nacheileiulen 
Maldininkern und 
lernte dabei zu¬ 
gleich ihr anständig 
ritterliches Beneh¬ 
men Damen gegen¬ 
über kennen, an 
dem ich vorher ge- 
zwelfelt hatte, als 
Frau Kukat unbe¬ 
teiligt am allge¬ 
meinen CiesiJi'äch 
beiseite sass. Ge¬ 
gen 8 Uhr wan- 
derten wir mitsam¬ 
men durch Sand 
nach Calbcrg. Zu¬ 
vor waren die \’cr- 
künder aus Füsit 
Gumbinnen Scliina- 
leninkenaufWagen 
des Calberger 


„Bruders“ in dessen Gehöft gefahren. Nach 
einstündigeni Marscli gelangten wir an das 
erleuchtete grosse Wohnhaus. Lauter Choral- 
gesang tönte uns entgegen. Beim Eintritt ins 
innere war rechts ein Doppelzimmer mit etwa 
50 Frauen und 20 Männern gefüllt, die erst 
im Gebet knieend, dann auf Bänken und 
Stühlen sitzend, die eigentümlichen litauischen 
Choräle sangen. Die Melodie „Liebster Jesu 
wir sind hier" war so verändert, dass man 
sie kaum wiedererkennen konnte. Die in 
einander verschwimmenden Töne schlugen 
zitternd leis immer noch eine Quarte nach oben 
nach, die (.Übergänge zu den nächsten Noten 
schwankten in kleinsten ronzwischenräumen 
selbst über die kurzen Verspausen, gleichzeitig 
sangen die Deutschen den deutschen, die 
Litauer den litauischen Text. Die Männer 
waren cinfacli und gewöhnlich in Bauerntracht 
gekleidet, die von der allerorts üblichen nur 
durch das breite russische Mützenschild ab¬ 
weicht. Maiginnen und Paresken sah ich 
nicht. Die Frauen trugen dieselben einfachen ge¬ 
streiften Bauernröcke, wie alierwärts; nur die 
weissen blumenrandigen Kopftücher, die am 
Hals oder meist im Nacken zuammengebunden 
waren, stachen hervor; zumal die drückende 
Hitze dps 1. August nicht die Abnahme jenes 
Kopfschmucks zu bewerkstelligen vermochte. 

Der Raum war 
ziemlich hell durch 
Deckenlampen er¬ 
leuchtet, nur auf 
dem Predigttisch 
bi annte eine Setz¬ 
lampe. Ich wurde 
vorderliand ins 
linke Zimmer ge¬ 
führt, man wartete 
auf mein Kommen. 

Da sassen denn 
M-hon mehrere Ver¬ 
künder und Freun¬ 
de beisammen, der 
Hausherr begrüsste 
uns und lud uns 
zum Abendmahl 
■ ‘in, da gab es 
Bier, Kaffee und 
Milch, Brot, Fleisch 
und Früchte vor¬ 
züglich und in 
Hülle und Fülle. 
Galant gewährte 
man meiner Frau 
■ inen Ehrenplatz 
und nach kurzem 
Imbiss gingen wir 
in die Versamm¬ 
lung und erhielten 



Adolt Hengeler. Abend. 




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570 


Tetzner, Bei den Maldininkern. 


unseren Sitz, trotz Sträubens, auf der 
Bank der Prediger, Über das lange und 
harte Knieen auf Holzdiele oder Stein 
sehen die Brüder ebenso leicht hinweg, wie 
Ober die Filzpantoffeln des einen Verkünders. 
Kukat sass am Tische, neben ihm je ein 
Bauernpriester. Nach dem Gesang des 
Chorales betete der Linke ein deutsches Gebet 
von der Sündhaftigkeit und Busse der Men¬ 
schen, worin sich ein fortwährendes Stöhnen 
sündenbeladener Gemüter mischte. Es folgte 
ein neuer Choral, der mit derselben Inbrunst 
und in Gott versenkter Miene zu Ende ge¬ 
sungen ward und dann eine litauische Pre¬ 
digt und der Gesang des Liedes: „Herr Jesu 
Christ, dich zu uns wend". Nun erhob sich 
Kukat, las die Geschichte von Pauli Bekehr¬ 
ung aus der Bibel vor, wie sie jeder tüchtige 
Pastor vorlesen kann und ergriff dann das 
Wort zur Predigt. Kukat ist ein bedeutender 
Redner. Es fliesst aus seinem Munde ohne 
Anstoss und Versprechen. 

Die Kraft und Volkstümlichkeit seiner 
Rede wird durch eine wohlklingende Stimme 
unterstützt; Eifer und Stärke des Vortrags 
sind aber für den beschränkten Raum viel z\i 
gross, und würden eher nach St, Peter passen. 
Er eiferte gegen die Namenchristen, die Re¬ 
ligionslehrer, die Religion nur als Fach lehren, 
er erhob sich gegen die studierten Pastoren, 
die den geistlichen Beruf nicht von Gott 
empfangen hatten, sondern von ihren Eltern 
auf die sichere Pfründe aufmerksam gemacht 
worden wären. Diese predigten in der Kirche 
Bekehrung und bekehrten wohl auch und seien 
doch selbst nicht bekehrt. Ja, des Vaters 
Geld verstudieren, sich gemütlich erhalten 
lassen und mit allen Mitteln einem ernähren¬ 
den Amte zustreben, das sei nicht der Boden, 
der einen w'ahrhaften Priester hervorbringe. 
Sie können auch gar nicht frei predigen, 
müssen erst aus Büchern lesen und auswendig 
lernen oder vorlesen, Gottes Wort ist ihrem 
inneren Wesen fremd. Und was thut ihr? 
Ja, wie viele hab ich gesehen, beten ganz 
andächtig in der Kirche, singen und hören 
der Predigt zu. Und ist die Kirche aus, — 
gehen sie in ein Geschäft und kaufen für die 
Woche ein. Die haben alle der Stimme des 
Herrn nicht Folge geleistet, der überall schreit 
und überall erscheint, aber verstopfte Ohren 
findet. Und da haben wir die Gelehrten, die 
grossen Professoren, die in Leipzig und Ber¬ 
lin das Wort verworfen haben „wahrhaftiger 
Gott vom Vater in Ewigkeit geboren und 
auch w’ahrhaftiger Mensch von der Jungfrau 
Maria geboren“. Am jüngsten Tage, mit den 
Sozialdemokraten und Säufern zusammen, ha, 
wie freut sich der Teufel, dass er sie mit 
seinen Klauen zwacken kann. 


Mit der Gewalt eines Busspredigers er¬ 
tönen immer wieder die Worte, die dem 
Saulus vor Damaskus zugerufen wurden, die 
Stimme schlug einmal über und wurde heiser. 
Die Farben waren grell, die erwähnten Er¬ 
örterungen im Einzelnen oft unzutreffend, im 
Ganzen aber wahr und wirksam. — 

Es folgten der Reihe nach von Seiten der 
anderen Verkünder ein langes seufzerreiches 
litauisches, dann ein deutsches Gebet und 
das Vaterunser, zum Schluss sang man: 
„Unsern Ausgang segne Gott“ und zerstreute 
sich nach einem stillen Gebet. Und da wir 
die Gastfreundschaft der braven Leute nicht 
annehmen zu dürfen glaubten, gab uns ein 
Bruder das Geleit nach unserer eine Stunde 
entfernten Wohnung. Eine abermalige Ein¬ 
ladung zur Gebetsversammlung andern Tags 
früh 6 Uhr konnten wir nicht annehmen, weil 
wir Russ und seine Umgegend kennen lernen 
mussten. Auf dem Nachhauseweg Nachts 
II Uhr erklangen von den Bänken vor der 
Hausthür die schwermütigen Dainos, einzeln 
und im Wechselsang, hier und da beim Klang 
der Ziehharmonika: *) 

I. 

Einst hatt’ ich ein Rösslein, zierlich und schön 
Das trug mich durchs Feld, Ober Hügel und Höh’n, 
Das setzte über des Baches Rand 
Und schwamm zu des Haffes anderen Strand. 
Ich nahm mir eine schmucke Maid, 

Der machte die Arbeit Herzeleid. ^ 

Sie spann nicht fein, sie wob nicht dicht, 
Spinnen und weben mochte sie nicht 
Da sucht ich das Karbätschelein, 

Es waren die Riemen so zierlich und fein 
Es spinnt und webt seit jener Zeit 
Aufs allerbeste meine liebe Maid. 

II. 

Sprach die Gerste einst in der Banse drin: 
Wisst, dass Schrot und Korn, Kraft u. Mut ich bin, 
Hopfen gleich erhob auf der Stange sich, 

Sprach: gewandt und schlau bin doch wohl nur ich 
Und die Hefe drauf schäumt im Fass und spricht: 
Nichts seid beide ihr, hilft die Hefe nicht! 

Riefen alle drei: Lasst uns dVum im Krug 
Brüderlich vereint machen blöd und klug. 

Reiche prahlt euch aus. Alte dreht euch noch. 
Junge, herzt euch nur. Starke, waget doch. 

III . 

Spute dich Knappe, sattle das Rösslein, ich reite 
zu meiner Braut — 

Kaum aber war ich halben Weges, da wiehrte das 
Rösslein laut. 

Nimmer noch sass ich am Tische, kam sie, Thränen 
im Angesicht, 

Mein holdes Mädchen, lass doch das Weinen und 
acht das Gerede nicht. 

Sprach ich doch selbst so, als du des Andern, nicht 
meine, solltest sein 

„Schelmbursch, du lügst und willst mich verlocken, 
ein thörichtes Mägdelein“. 


•) Vgl. „Dainos“, Litauische Volkslieder, ver¬ 
deutscht von F. u. H. Tetzner. Mit Einleitung, 
Erklärungen, Abbildungen und Notenbeilagen. Leip¬ 
zig, Ph. Kedam. 20 rfg. 


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Tetzner, Bei den Maldininrern. 


571 


Hinter des Vaters schimmerndem Haushof rauschet 
ein Fluss dahin, 

Und drinnen webt es, und drinnen lebt es, viel 
Enten schwimmen darin. 

Und an des Vaters, Väterchens Haushof rinnt trüb 
ein Bach vorbei, 

Im Bache webt es, im Bache lebt es, als ob es 
Goldseide sei. 

Niemand doch schaut es, niemand versteht es, als 
Gott, der einzige nur. 

Grollt mir mein Lieb, so giilnet der Klee, verwischt 
ist des Steges Spur. 

IV. 

Wunderkräutlein, grünes Wunderkräutlein, 

Sag, wer hat die Krone dir genommen? 

Ist ein böser Nordwind hergekommen, 

Und der hat die Krone mir genommen. 

Möchte mir ein schwarzbraun Rösslein kaufen 
In das Städtchen der Bojaren traben. 

Wieh’re nicht, mein schmuckes braunes Rösslein 
Will dich stets mit reinem Hafer laben. 

In das Dörfchen Stimbom möcht ich reiten. 

Und ein feines Liebchen mir erkören. 

Weine nicht, mein holdes, liebes Mädchen, 

Will dich gern zum Jugendtanzplatz führen. 

Andre Mädchen tanzen auf dem Tanzplatz, 

Ich nur muss zu Haus die Wiege wiegen; 

Andre tragens Ringlein stolz am Finger, 

Meins nur muss im Kasten rostend liegen. 

Andre haben an dem Gurt die Schlüssel 
Einzig meiner muss am Nagel hangen, 

Kränzlein tragen alle auf dem Haupte, 

Elinzig meines ist verloren gangen. 

V. 

Trinkt, ihr Brüder, alle drei, 

Mütterchen bringt mehr herbei, 

Trinkt, ihr Brüder, alle vier, 

Mütterchen hat ja noch Bier. 

Eigenartig sind die Begleitungsinstrumente 
in früherer Zeit gewesen. Während jetzt 
neben der Pfeife die Geige und Ziehharmonika 
Alleinherrschaft erlangt haben, nahmen früher 
Zimbel und Kauklys diesen Rang ein. 

Ich entnehme die Bil¬ 
der dieser Musikinstru¬ 
mente dem oben ange¬ 
führten Werke Dainos, 
das sich über die Lit- 
teratur der Litauer, über 
ihren Nationaldichter Do- 
nalitiusund Ober die Volks¬ 
gesänge verbreitet und 
ausser lo jener charakter¬ 
istischen Melodien 70 Dai¬ 
nos in deutschem Reim¬ 
gewand wiedergiebt. 

Die Kauklys gleicht 
in Form und Grösse un¬ 
serer Zither, wurde ge¬ 
griffen oder auch ge¬ 
schlagen, und kommt 
jetzt nur noch sehr selten 
im russischen Litau vor, 
die preussischen Litauer 


kennen sie selbst dem Namen nach nicht 
mehr. Das prächtige Exemplar No. i (Prunk- 
kauklys) scheint sehr vornehmen Leuten 
gehört zu haben, die wenigen noch vorhan¬ 
denen Exemplare, die litauischen Bojaren 



Abbildung 2, 


entstammen, sind, wie Fig. 2 zeigt, sehr ein¬ 
fach und gleichen sich alle, doch schwankt die 
Saitenzahl. 

Ebenso selten ist die Zimbel (Fig, 3), die 
zur Begleitung mit Stäbchen geschlagen wird 
und bei Zigeunern, Juden, Polen noch mehr 
im Gebrauch ist. Unser Exemplar hat 144 
Saiten, die ich der Deutlichkeit halber nur 
einmal angedeutet habe. 

Früh IO Uhr sollte die Missionsfahrt der 
Maldininker nach Schwarzort stattfinden. Schon 
in der Frühe kamen von allen Himmelsrich¬ 
tungen zu Fuss und Floss, Wagen und Boot 
die Litauer, um am Fest teil zu nehmen. 
M12 Uhr kam der gemietete Dampfer aus 
Tilsit an, war aber bereits so mit Anhängern 
überladen, das Niemand mehr mitbefördert 
werden sollte. Nun zogen die stundenweit 
Herbeigeeilten ergeben in ihr Los nach Hause. 
Ich aber drängte mich vor, die seltene Ge¬ 
legenheit nicht zu versäumen. Kein Mensch 
konnte sitzen und sich bewegen, so war das 
Schiff vollgestopft. Heute waren viele Litauer¬ 
innen ausMinge undKinten, Skirwith und Inse, 
Heydekrug und Loye in ihrer Tracht er¬ 
schienen. Über den 10 — 20 gebauschten, 
reichgefaltetcn kurzen Unterröcken befand sich 
der selbstgewebte vierzigfaltige Oberrock, bunt¬ 
farbig, die drei Hauptfarben bevorzugend, 
langgestreift, neu. Einzelne hatten aus der 
Klete den grünseidenen Rock geholt und da¬ 
rüber gezogen. An der rechten Seite hing 
das seiden- und perlengestickte Handtäschchen. 
Die Schürze ähnelte dem Oberrock, war aber 
meist noch flimmerdurchwirkt und wies ein 
reichgesticktes oder blumig gewebtes lang¬ 
wallendes Band auf. Der Oberkörper war 
von einem weitärmlichen Hemd bekleidet, das 
am Hals- und Ärmelbund, wie am Lätzchen 
seidene Stickerei aufwies. An der Brust 
prangte eine grosse Brosche aus Bernstein¬ 
perlen. Ein ärmelloses sammtnes Schnür¬ 
leibchen schloss sich über dem Oberrock an. 
Auf dem Kopf der Jungfrauen befand sich 
über dem kranzartig gewundenen Zopf ein 
grüner oder blumiger Kranz und bei den 
Frauen noch ein eigen gefaltetes Tuch. In der 







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572 


Mehler, Zur Bädersaison. 



Abbildung 3. 


Hand ruhte Gesangbuch, Taschentuch und 
Majoranstrauss, die Verlobte trug am Mittel» 
finger den Goldring. Die lettischen Mädchen 
Schwarzorts undNiddens haben dieselbe Tracht, 
nur ist der Oberrock nicht bunt, sondern 
schwarz. Ini Gespräch mit ihnen stellte sich 
nun bald heraus, dass so mancher und manche 
nicht der Bekehrung, sondern des schönen 
Ausflugs wegen, mitfuhr. Sie hatten einen 
guten Grund, um sich von zu Hause loszu- 
reissen, hörten dem Missionsgottesdienst einige 
Minuten zu und gingen dann, befreundet oder 
verliebt, in die schönen Anlagen Schwarzorts, 
die vom Haff bis zum baltischen Meer die 
Düne durchqueren. Der Missionsgottesdienst 
fand auf einer prachtvollen Waldwiese, inmitten 
alter Föhren und Fichten statt. 

Gegen 800 Männer und Frauen hatten 
sich versammelt. Inmitten stand der Predigt¬ 
tisch; Verlauf und Inhalt boten nichts, was 
von dem am vorigen Tage gehörten beson¬ 
ders abwich. Einige der Bauernpriester fuhren 
Abends 8 Uhr mit nach TUsit zurück, andere 
zogen zu den Brüdern der nächsten Dörfer, 
Kukat blieb vorläufig in Russ. 

Ich nahm den Eindruck mit, dass die Leute 
trotz mancher Absonderlichkeiten tüchtige und 
brauchbare Menschen sind, der Nutzen, den 
sie bringen, jedenfalls grösser als der Schaden 
ist und üble Nachreden wohl einmal von 
einem, aber sicher nicht angesichts der Ge¬ 
samtheit der Wahrheit entsprechen, über die 
Aufgabe und den Zweck des Lebens freilich 
haben sie eine verkehrte Ansicht. Früh 
5 Uhr erreichten wir Tilsit. Die ganze Nacht 
hindurch aber erklang der schmelzende Gesang 
der Burschen und Mädchen, bald deutsch, 
bald litauisch. Und noch lange tönten mir 
die Lieder im Ohr: 

I. 

„Mein Herz ist ein Schränkchen 
Kein Schlüssel hängt dran, 

Doch in Tiise wohnt einer. 

Der allein herein kann"’ 

II. 

Herr Stanz geht aus dem Häuslein fein 
Steckt einen halben Thaler ein, 

Löst seinen Schimmel aus, 

Langt Strafgebühr heraus 
Für den Kohl! 


III. 

Wie sehmachtet doch mein Hälselein! 

Die Zähne trocknen wie Gebein. 

Bringt frisches Bier mir, klar wie Gold, 

Uanu werd ich blütenfrisch und hold. 

Und bin ich hold und "blühend dann, 

Nehm ich mir einen feinen Mann. 

Er muss ein gutes Schätzcl sein. 

Des Vaters liebstes Söhnelein, 

Den seine schmucke Mutter brav 
ln grüner Wieg gewiegt zum Schlaf, 

Der mit dem Goldring schon gespielt 
Als man in weichem Arm ihn hielt. 

IV. 

Litauisches Mädchen, süsses Liebchen 
Bleib, bei Gott, doch stehn. 

Ich und mein Pferdchen möchten zu Dir 
Ins Quartier heut gehn. 

Weisst du, dass fürs Vaterland der 
Krieger kämpfen muss. 

Mädchen, es ist ja keine Sttnde, 

Gieb mir einen Kuss! 

V. 

O sieh lieb Mädchen, was kommt dort näher und 
ist iin Hofe schon? 

Das sind Soldaten, sind Offiziere, zu werben 
Vaters Sohn. 

Goldgelbe Haare, kirschrote Wangen, hat Vaters 
Söhnelein 

Als er ins Feld zog, erschallten lustig der Vögel 
Melodein. 

Wer steht zur Seite ihm? das Junge Mädchen. Es 
weint und s^luchzet laut. 

O, weine nimmer, ich schreib ein Briefiein an dich, 
geliebte Braut. 

Ich schreib den Namen, du trautes Mädchen, in 
deinen Brief hinein, 

Kehr ich nicht wieder, bringt dir das_ Brieflein 
mein ledig Rösselein. 

Den klebst vielleicht du in deine Truhe, mein Lieb 
und denkst an mich. 

Und wenn du wieder erschliesst den Deckel, so 
weinst du bitterlich! 


Zur Bädersaison. 

Von Dr. nied. L. Mehlkb. 

Alljährlich, wenn der Sommer herannaht, 
wird in allen Kreisen, besonders aber in den 
bessser situierten, die Frage eifrig besprochen, 
in welches Bad man reisen solle. Nicht am 
wenigsten zeigt sich hier der bewährte Haus¬ 
arzt als richtiger Berater, w'enn er utile cum 
dulci vereinigt, indem er ein Bad vorschlägt, 
das, abgesehen von seinen medizinischen 
Heilfaktoren, auch sonst der um Rat nach¬ 
fragenden Familie zusagt. — Vom rein medi¬ 
zinischen Standpunkt aus muss sicherlich ohne 
Weiteres zugegeben werden, dass ein richtig 
ausgesLicliter Badeaufenthalt von eminentem 
Nutzen sein kann, womit aber nicht gesagt 
ist, dass ein unrichtiges Bad immer schaden 
muss. Fragt man nun, worin besteht eigent¬ 
lich der grosse Nutzen der Bäder, so muss 
man vor allem zwei Hauptkategorien von 


N 


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Mehler, Zur Bädersaison. 


573 


Bädern unterscheiden; einmal die Orte mit 
therapeutisch wirkenden oder wirken sollenden 
Quellen, und zweitens die sogenannten 
Luftkurorte. In den meisten Fällen wollen 
die Bäder erster Art auch als Luftkurorte 
gelten, während in den letzteren wieder die 
fehlenden „Heilquellen“ oft durch Anstalten 
mit „physikalisch-diätischen Heilmitteln" er¬ 
setzt werden. 

Die Heilquellen vieler Bäder erfreuen sich 
von Alters her des guten Rufes, auf die oder 
jene Krankheit in hervorragender Weise 
wirken zu können und jeder Laie weiss, dass 
Karlsbad gegen Leberleiden, Nauheim bei 
Herzaffektionen, Schwalbach bei Bleichsucht 
und Kissingen bei Fettleibigkeit „gut" ist. 
Das, was die Empirie schon seit langem ge¬ 
zeigt hat, hat die Theorie auch zu beweisen 
versucht und auch gefunden, dass überall ein 
durchaus richtiger Kern in dem altbewährten 
Glauben an die Heilkraft der Quellen steckt. 
Es ist hier nicht der Ort, näher darauf ein¬ 
zugehen, warum und wieso die Quellen als 
Getränk oder als Bad wirken, nur soviel muss 
hervorgehoben werden, dass die Wirkungen 
keineswegs einfach zu erklären sind. So 
dringt z. B. das Kochsalz der Kochsalzbrunnen 
keinesweg im Bad durch die Haut und ent¬ 
faltet dann im Körper seine Heilkraft, son¬ 
dern nur der Reiz, der durch das Bad auf 
den Körper ausgeübt wird, erhöht den Blut¬ 
druck, vermehrt die Blutzirkulation und nützt 
auf diese Weise dem Gesamtorganismus. 
Ebenso lässt sich der günstige Einfluss der 
Schwefelbäder nachweisen und die Trinkkuren 
des stahlhaltigen oder alkalischen Wassers 
erklären. 

Aber damit ist nicht die Heilkraft der 
Bäder erschöpft. Im Gegenteil, eine Reihe 
anderer Faktoren spielen da noch mit. In 
erster Linie muss die Erholung von der 
Arbeit des täglichen Lebens genannt werden. 
Der erschöpfte, abgearbeitete oder nur nervös 
überreizte Körper kann sich ausruhen und 
neue Kräfte sammeln. Ferner der lange 
Aufenthalt in der freien Luft. Grade solche 
Kranke, die sonst viel sitzen oder in ge¬ 
schlossenen Räumen arbeiten müssen, blühen 
rasch im Bade auf, wenn sie auch weiter 
nichts thun, als spazieren gehen. 

Die richtige Diät, die sogen, kurgemässe 
Diät, ist dann mit der wichtigste Punkt, be¬ 
sonders in solchen Bädern, die von Magen-, 
Darm- oder Leberkranken aufgesucht werden. 
Hierher gehören auch die Gichtiker und 
Zuckerkranke. Wenn diese Kranken alle das 
ganze Jahr über sich so nährten, wie die 
wenigen Wochen im Bade, so stünde es bei 
weitem besser um sie. Aber zu Hause können 
sie der Versuchung' nicht widerstehen, wenn 


sie irgend ein Gericht erblicken, das sie gerne 
essen, trotzdem sie genau wissen, das es ihnen 
schädlich ist. Im Bade werden derartige Pa¬ 
tienten gar nicht in Versuchung geführt, denn 
da giebt es keine kurwidrige Nahrung. Neben 
der kurgemässen Ernährung steht die kurge¬ 
mässe Lebensweise in Bezug auf Bewegung 
und — bei sehr vielen die Hauptsache — 
kurgemässe Verdauung, einerlei ob das Agens 
hierbei Karlsbader Sprudel oder sonst ein 
ähnlich wirkendes Wasser ist. — Rechnet 
man zu alledem noch die meist sehr gesunde, 
gegen Winde geschützte, staubfreie Lage der 
meisten Kurplätzd, so hat man etwa alle 
Faktoren, die, zusammen wirkend, sicherlich 
einen günstigen Erfolg erzielen müssen. 

Der so ausserordentlich gute Erfolg vieler 
sogenannter Luftkurorte zeigt eben, dass nicht 
irgend eine Quelle oder ein Bad unbedingt 
notwendig ist, um einen Heileffekt zu erzielen. 
Ebensowenig, wie bei irgend einer Krankheit 
nur ein chemisches oder pflanzliches Mittel 
zur Heilung führt, wenn nicht auch die Er¬ 
nährung, Hautpflege u. s. w. geregelt wird, 
ebensowenig wird Karlsbader oder Emser 
Wasser zu Hause getrunken den gleichen 
Effekt erzielen, wie dasselbe Wasser im Bade¬ 
ort selbst bei richtiger Regelung auch der 
anderen Heilfaktoren. 

Es erübrigt noch, etwas Über alpine Kur^ 
orte und Seebäder zu sagen. — Alpine Orte 
(900 m und höher) zeichnen sich durch er¬ 
heblich verminderten Druck der nur wenig 
feuchten Luft aus. Infolge der starken Be¬ 
strahlung herrscht schneller und intensiver 
Temperaturwechsel. Das Hochgebirgsklima 
bewirkt gesteigerte Blutzufuhr zur Haut und 
zu den Lungen, erhöhte Herzenergie und ver¬ 
mehrte Blutbildung infolge des meist sehr 
gesteigerten Appetits, im ganzen also ener¬ 
gische Anregung der wichtigsten vitalen 
Funktionen. Da das Höhenklima somit eine 
gewisse Widerstandsfähigkeit des Organismus 
verlangt, werden nur solche es aufsuchen, die 
zwar im allgemeinen gesund, nur energischer 
Anregung ihres Gesamtorganismus bedürfen. 

Im Gegensatz zum alpinen Klima steht 
das Seeklima, das durch hohen Druck der 
feuchten, etwas salzhaltigen Luft charakterisiert 
ist. Zugleich herrscht eine gewisse Gleich- 
mässigkeit der Temperatur. — Auch das 
Seeklima verlangt einen widerstandsfähigen 
Organismus. Schwache, reizbare Konstitu¬ 
tionen gehören nicht an die See. — 

Aus allen diesen Betrachtungen wird man 
unschwer erkennen, dass die Wahl eines 
richtigen Badeortes stets vom ärztlichen Rat 
abhängig zu machen ist, wenn anders der 
Patient einen guten und dauernden Erfolg 
erlangen will. — 




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574 Kalt-Reuleaux, Der geplante britische Zollverein und die austr. Kolonien. 


Der geplante britische Zollverein und die 
australischen Kolonien. 

Von O. Kalt-ReuleauX. 

Anlässlich des 60jährigen Regierungs¬ 
jubiläums der Königin von England hat der 
Statistiker M u 1 h a 11 unter dem Titel „National 
Progress in the Queen’s reign" ein Werk ver¬ 
öffentlicht, das- den ungeheuren Aufschwung 
britischer Macht nachweist. Was die Handels¬ 
beziehungen Grossbritanniens speziell betrifft, 
so stellt sich die Ein- und Ausfuhr von und 
nach den verschiedenen Teilen der Erde fllr 
drei Perioden der Regiewng der Königin 
wie folgt: 

Mill. £■ Sterl. Prozent 


seit 1840 

1875 

1895 

1840 

1875 1895 

Koloiuen 

34 

161 

172 

30 

24 

24 

Ver. Staaten 

33 

95 

131 

20 

15 

19 

Frankreich 

6 

74 

68 

6 

II 

IO 

Deutschland 

5 

56 

60 

5 

8 

8 

Sonst. Länder 

45 

270 

272 

39 

42 

39 


Die Geschichte der Welt kennt kein Reich 
von dem Riesenumfange Grossbritanniens und 
der Stolz, ein Weltreich zu sein, ist in Eng¬ 
land grösser als jemals, und er kommt da¬ 
durch zum Ausdruck, dass sowohl einzelne 
Kolonien als auch das Mutterland das Be¬ 
dürfnis empfinden, die lockeren Bande, welche 
die einzelnen Besitzungen zusammenknüpfen, 
enger zu schürzen. England ist noch immer 
der Bankier der Welt, der Grosskaufmann, 
der seine ungeheuren Geldmittel in die Wag¬ 
schale legt. Es produziert 40 pCt. aller Schaf- 
wollwaaren, 53 pCt aller Eisenwaaren, 
53 pCt der Maschinen, 73 pCt. Baumwolle 
und 84 pCt. aller Baumwollwaaren. Die Hälfte 
der Handelsflotte der Welt ist englisch und 
seine Kolonialmacht ist über alle Weltteile 
verbreitet. Dennoch hat das britische Reich, 
wie ehemals jenes der Phönizier, seinen wun¬ 
den Fleck; Irland ist eine stete Gefahr, das 
Parteiwesen ist verfahren, seine Herrschaft 
in Asien wird mehr und mehr von dem rast¬ 
los vordringenden Russland bedroht, das mit 
ihm in Afghanistan, dann in Korea und end¬ 
lich am Stillen Ozean, der die dichtbevöl¬ 
kertsten und fruchtbarsten Länder umspOlt, 
um die Herrschaft ringt. In der Kolonial¬ 
politik und im Handelsverkehr erwächst ihm 
in Deutschland ein stets erstarkender Rivale, 
und deshalb sucht es engeren Anschluss der 
Kolonien an das Mutterland, vorläufig in Ge¬ 
stalt eines Zollvereins. Werden die Tochter¬ 
staaten sich zu diesem Schritte geneigt zei¬ 
gen? Kanada scheint einzuwilligen, aberKap- 
land und besonders Australien werden sich 
ablehnend verhalten gegenüber den Schlag- 
worton Fusion, Union und Föderation. 

Der Premierminister von Kanada, Sir 
George Fielding, hat ja schon im Parlament 


den Kolonien vorgeschlagen, den jetzt be¬ 
stehenden MeistbegOnstigungs- durch einen 
Reziprozitätsvertrag zu ersetzen, was entschie¬ 
den gegen die im Jahre 1860 bezw. 1864 
von England in seinem und seiner Kolonien 
Namen abgeschlossenen Meistbegünstigungs¬ 
verträge mit Belgien und Deutschland wider¬ 
spricht. Sir George Fielding hat diesen Vor¬ 
schlag sicherlich blos im Einvernehmen mit 
Chamberlain vorgebracht, der etwaige diplo¬ 
matische Einwendungen mit der Erklärung 
erwidern wird, Kanada habe sich politisch 
schon längst selbständig gemacht und thue 
das Gleiche jetzt auch zollpolitisch. Die heute 
am Ruder befindliche Tory-Regierung, die 
zum grossen Teil ländliche Interessen ver¬ 
tritt, möchte schon längst, wie ja auch Lord 
Salisbury es im April 1896 einer Deputation 
erklärte, eine Bresche in das Freihandels¬ 
system brechen, um der Landwirtschaft unter 
die Arme zu greifen. Diese allein von allen 
Gewerben Englands hat innerhalb der sechzig 
Jahre einen Rückgang zu verzeichnen. Unter 
Kultur waren: 

Acker = 40 Ar 
1846 1895 

in England 13,300,000 12,550,000 

in Schottland 3,390,000 3,510,000 

in Irland 5,240,000 3,9 90,000 

Grossbritannien 21,930,000 20,050^000 

Der Verlust an KapHat in landwirtsduft- 
lidien Betrieben seit 1880 beträgt, nach Mai¬ 
hall, 30,000 & Sterl, pro Jahr. Am 10. April 
d. J. erklärte Lord Balfour im Unterhause, 
es sei bedauernswert, dass die Regierung 
durch Meistbegünstigungsverträge gebunden 
sei und bei Verhandlungen mit anderen Mäch¬ 
ten in Form eines Zolltarifes keine Handhabe 
zur Besserung der Lage der Landwirtschaft 
besitze, ln dieser Richtung soll nun Kanada 
bahnbrechend Vorgehen, wie ebenso in der 
kolonialen Zollpolitik, die dahin abgeändert 
werden soll, dass englische Produkte mit 
niedrigerem Zollsätze belegt werden, als solche 
ausländischer Herkunft. Alle diese Vorschläge 
sind Zukunftsmusik, unrealisierbare Wünsche, 
da die australischen Kolonien, wie der Pre¬ 
mierminister von Neusüdwales, Sir George 
Houston Reid beim Bankett in Birmingham 
erklärte, bei Freihandel beharren würden. 
Dieses Freihandelsprinzip ist einer der Glau¬ 
bensartikel der australischen Arbeiterschaft, 
die gegenwärtig die Regierung in Händen 
hat. Die Sympathien der Arbeiter und der 
jüngeren Generation sind für England durch¬ 
aus nicht überschwänglich, vielmehr schwärmt 
man auf dem fünften Erdteile blos für selbständ¬ 
ige Vereinigte Staaten von Australasien. Die 
Geschichte der letzten sieben Jahre ist durch 
das Emporkommen der Arbeiterpartei sehr 
interessant. 


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Betrachtungen und kleine Mitteilungen. 


575 


Im Jahre 1890 unterdrückten die austral¬ 
ischen Regierungen mit Waffengewalt den 
Ausstand der Seeleute und Dampferangestellten, 
die höhere Entlohnung forderten. Diese An¬ 
wendung von Zwangsmassregeln rief in allen 
Kolonien einen Zusammenschluss der Gewerk¬ 
schaften hervor, die von ihrem Grundsätze, 
sich in die Politik nicht einzumischen, abzu¬ 
weichen beschlossen. NeusOdwales ging füh¬ 
rend voran und die dort sich abspielenden 
Vorgänge sind typisch für die übrigen Ko¬ 
lonien. In jedem Wahlbezirke wurde zum 
ersten Male ein Arbeiterkandidat aufgestellt, 
und sechzehn der letzteren gelangten ins 
Parlament. Alle einigten sich, geschlossen 
gemäss des Parteibeschlusses zu stimmen und 
sie wurden dadurch das Zünglein an der 
Wagschale bei den Abstimmungen. Damals 
war Sir Henry Parkes Premierminister und 
erlitt eine Niederlage, als er sich weigerte, 
den achtstündigen Arbeitstag obligatorisch zu 
machen. An die Regierung kamen nunmehr 
die Schutzzöllner unter Sir George Wibbs, 
die sich den Arbeitern durch einen Gesetz¬ 
erlass dankbar erwiesen, der mit Gefängnis 
denjenigen Arbeitgeber bestraft, welcher seine 
Angestellten länger als acht Stunden schaffen 
lässt. Wibbs glaubte aber für diesen Dienst 
auf die' Unterstützung der Arbeiter rechnen 
zu können bei Erhöhung des Einfuhrzolles. 
Die Arbeiterpartei von Neusüdwales machte 
dieses Zugeständnis, insofern man die Grund- 
miethe der Grossviehzüchter steigere. Wibbs 
verweigerte letztere Bedingung und zugleich 
brach unter der Arbeiterbevölkerung der 
übrigen Kolonien ein solcher Sturm ob des 
Schutzzolles aus, dass sich die Arbeiter 
mit der Opposition vereinigten und das Wibbs- 
ministerium stürzten. Dessen Erbe trat der 
gegenwärtige Premierminister Sir George 
Houston Reid an, der allen Waaren, gleichviel 
welcher Herkunft, mit Ausnahme von Spiri¬ 
tuosen und Tabak Zollfreiheit zubilligte, und 
zugleich eine Steuer von i d für jedes Pfund 
Sterl. der Wertsumme des Landes festsetzte, 
die £ 575 übersteigt. Desgleichen wird jetzt 
eine Einkommensteuer von 6 d für jedes Pfund 
Sterl. erhoben von allen Einkünften grösser als 
£ 250 pro Jahr. Seit dem Jahre 1894 herrscht 
die Arbeiterpartei in allen Kolonien unum¬ 
schränkt, hat den Frauen das Wahlrecht er¬ 
teilt, das Oberhaus abgeschafft und viele andere 
umwälzende Gesetzmassregeln ergriffen, welche 
■ den anderen Klassen der Bevölkerung schlecht 
behagen. Obschon der Mangel an billiger 
Arbeitskraft die Entwickelung des Landes und 
seiner Resourcen hemmt, ist das Einwander¬ 
ungsverbot der Chinesen auf alle Farbige 
ausgedehnt worden. Die Organisation der 
Arbeiterschaft ist eine so vorzügliche, dass 


gegen sie anzukämpfen für absehbare Zeit 
fruchtlos ist. Selbst wenn also die austral¬ 
ischen Staatsmänner für ihre eigene. Person 
dem Abschluss eines Zollvereins geneigt seien, 
sie würden niemals wagen dürfen, ihn mit 
gewissem schutzzöllnerischen Anhängsel dem 
Volke zu empfehlen, ln allen Kolonien ist 
bezüglich der Föderationsfrage der Referen¬ 
dum-Grundsatz angenommen, und des Volkes 
Wille muss eingeholt werden, bevor man in 
Beratungen eintritt. Der „Leader", die mass¬ 
gebende Tageszeitung von Melbourne schrieb 
bei Besprechung des britischen Zollvereins: 
„When it comes to a question between the 
wishes of the Australian people and the po- 
licy of the imperial government, then it will 
require very little, indeed, to sever the 
„Silken bonds", which British politicians are 
so proud of boasting about as connecting the 
colonies and the mother country."') 

Je mehr sich die einzelnen britischen Ko¬ 
lonien wirtschaftlich entwickeln, desto stärker 
werden die Eigeninteressen, die sich selten 
mit jenen des Mutterlandes decken. Der Vor¬ 
schlag des Kolonialministers Chamberlain, die 
Kolonien möchten ohne Gegenleistung dessen 
Waaren Ausnahmetarife gewähren, ist daher 
undurchführbar und verdankt wohl nur dem 
Jubiläumsrausche den Umstand, nicht sofort 
von den Kolonialministern verworfen worden 
zu sein. 


Betrachtungen und kleine Mitteilungen. 

Babylonische und altmexikanische Pyramiden¬ 
türme. 

Die epochemachenden Entdeckungen der ältesten 
babylonischen Kultur mit den Stufen-Pyramiden, die 
dem Sonnenkultus, wie die altmexikanischen Son¬ 
nen- und Mond - Pyramiden, geweiht gewesen zu 
sein scheinen, lenken wieder die Aufmerksamkeit 
auf die Ähnlichkeiten zwischen östlicher und west¬ 
licher vorgeschichtlicher Kultur. 

Acht Meilen westlich von Puebla in Mexico ist die 
merkwürdige Pyramide von Cholula gelegen, auf 
welcher der Tempel des Quetzalcoatl, des Gottes 
der Lüfte, stand. Dies war das indianische Mekka, 
als die Spanier nach der fälschlich sogenannten 
„Neuen Welt“ kamen. 

Noch bewundernswerter als die Pyramide von 
Cholula, welche durch die Zeit viel gelitten hat, 
sind die beiden Stufentempel, oder Pyramiden der 
Sonne und des Mondes bei San Juan Teotihuacan, 
an der Mexiko-Vera-Cruz-Bahn, etwa 30 engl. Meilen 
nordwestlich von der Stadt Mexiko. 


*) Wenn es zu einem Konflikt zwischen den 
Wünschen des australischen Volkes und der Politik 
der kaiserlichen Regierung käme, dann würde es 
in der That wenig bedürfen, um die „seidenen 
Bande“ zu zerreissen, die die Kolonien mit dem 
Mutterlande verbinden und deren Bedeutung die 
britischen Politiker so überschwänglich rühmen. 


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576 


Betrachtungen und kleine Mitteilungen. 


In der Hauptstadt befand sich früher, da wo jetzt 
die Kathedrale steht, ebenfalls ein solcher Stufen- 
tiirm-Tempel zum Zwecke von Opfern und astro¬ 
nomischen wie meteorologischen Beobachtungen. 

In Qiiapas und Yucatan sind ebenfalls derartige 
alte Bauten aufgefunden worden, unw’eit der alten 
König-^aläste vor Uxmal und Palenque. Sehr hat 
seine Funde von derartigen Pyramidenbauten mit 
eingemauerten unterirdischen Behausungen ausführ¬ 
lich beschrieben. Diu’ch amerikanische Forscher 
sind neuerdings Ausgrabungen in den alten Maya¬ 
distrikten gemacht worden, w’o an die 50 vergra¬ 
benen Städte entdeckt worden sind, die überall 
dieselben Stufenbauwerke wie der Huitzliputzli- 
Tempel der Hauptstadt Mexico aufweisen, welche 
sehr an die neuerdin^ (1893) durch den Amerikaner 
H a y n e s und den Deutschen H i 1 p r e c h t aufge¬ 
fundenen babylonischen Altertümer gemahnen, die 
auf 7000 Jahre vor unserer Zeitrechnung zurück¬ 
zuführen sind, wie neuerdings ini „Globus" (24. Juli 
1897) ‘^nd in der „Umschau“ (31. Juli 1897) ange¬ 
geben wurde. 

Während man mit Zweck und Bauart der ba¬ 
bylonischen Altertümer von Nippur vorläufig noch 
nichts Rechtes anzufangen weiss, liegen über die 
Benutzung der mexikanischen Heiligtümer schon 
mehr Daten vor. 

Vielleicht führen sie auf ähnliche Vermutungen 
bei den babylonischen Stufenturm-Teinpeln. 

Garostizagu, der mexikanische Chronist, berichtet 
darüber: Nach Erfüllung des Orakelspnichs, der 
die Tolteken auf ihrer Wanderung nach dem 
Orte führte, wo der heilige Adler sich auf einer 
Insel zwischen Felsen niederliess, wurde dem .Son¬ 
nengotte der versprochene Tempel gebaut, um dort 
die Gottheit, die sie geleitet, zu verehren und die 
Idole aufzubewahren, welche sic aller Orten mit 
sich geführt hatten und um in denselben Felsen, 
auf welche der sie führende Adler sich niederliess, 
jene merkwürdigen Hieroglyphen cinzumeisseln, 
welche wir ihren aslronomischen Kalender nennen 
müssen. Hier finden sich eingemeissclt die Figuren 
von vielen ihrer zahllosen Gottheiten. Es scheinen 
Symbole zu sein, welche ihre vier sagenhaften Zeit¬ 
alter repräsentieren: „das Zeitalter oder die Sonnen- 
Periode der Riesen, des Feuers, der Winde und 
des Wassers, ln ihren Hieroglyphen nennen sie dies 
die vier Sonnen, die vor der jetzigen fünften Sonne 
das Leben beherrscht haben“. 

Es ist schwer, dabei nicht an gewisse Kenntnisse 
von der veränderten Neigung, der Hirdachse zur 
Sonne zu denken, w'o es Zeiten gab, in denen die 
jetzt kalten Zonen der Sonne mehr zugekehrt und 
erwärmt, vielleicht tropisch erhitzt waren und tro¬ 
pische Vegetation hervorbrachten, w’o tropische 
Tiere vielleicht über den Nordpol als Brücke von 
einer Hemisphäre zur anderen wanderten, Tier¬ 
sorten, die längst ausgestorben sind und auf die 
jene bekannten Funde der südlichen Fauna und 
Flora auf Grincll-Island bei Grönland Hinweisen, 
wie von Bülsohe neuerdings wieder erwähnt wurde. 

Der Sekretär des archäologischen Museums der 
Hauptstadt Mexiko leitet von der Benutzung und 
richtigen Deutung der Schattenkreuze auf dem 
Aztekenkalender, der auf der Höhe der Pyramide 
aufgestellt war, die ganze Jahreseinteilung ab, die 
Feste, die Zahl der Menschenopfer je nach der Be¬ 
rechnung der Ernten, der Dürren, der meteorolo¬ 
gischen vTThältnisse, kurz der ganzen Lebensführung 
des V'olkes. 

Um dies zu verstehen, muss man diese Pyra- 
midentürine mit ihrer Lago und ihren Kalender- 
Steinen, von denen uns noch einer in Mexiko erhal¬ 
ten ist, etwas näher in Augenschein nehmen. 


Wie die babylonischen grossen ErdhOgel von 
Nuffar, erheben sie sich etwa 29--30 m Über die um¬ 
gebende Ebene, jüinlich wie der Turm von Ur- 
Gur und der von Nippur beträgt die Basis dieser 
Pyramiden 60x40 in, ganz wie in Babylon mit den 
Ecken nach den vier Himmelsrichtungen weisend. 
Auch die mexikanischen Pyramidenhügel haben 
drei bis vier Abstufungen und sind mit Mörtel be¬ 
kleidet (Mischung von Lehm und Häcksel, Adobe, 
unter Zuhilfenahme von Dünger, gerade wie die 
Indianer in Mexiko jezt noch ihre Hütten bauen). 
Auch Ziegelbau kam ausser Lana zur Verwendung 
wie in Babylon. Auch in Mexiko weist die Südost¬ 
seite Spuren des Aufstieges, wo zwei 7 m von ein¬ 
ander abstehende Mauern zunächst zu einer Art 
Nische oder Tempelhof führen. 

Hier wurde der Kriegsgefangene geschmückt, 
um dann von da unter Prozessionen und Gesängen 
(ähnlich der Stationen bei den Passionsprozessionen) 
nach verschiedenen Haltepunkten auf die Spitze der 
Pyramide geleitet zu werden, wo der Opferaltar 
mit den Wasser- und Blut-Rinnen und der grosse 
Kalenderstein, oder besser das Kalenderstein-Paar 
ausgestellt war. 

Die vorher an^edeuteten Schattenkreuzungen aut 
dem Kalenderstein rührten her yon Fäden, die über 
sechs in den Stein gesteckte Stäbe gespannt waren. 
Ein solcher Stein ist noch jetzt im Nationalmuseum 
von Mexiko zu sehen. Früher war er an der West¬ 
wand der Kathedrale in die Mauer eingefügt zu 
sehen, so wie man ihn vom Grunde des Sees von 
Texcoco, wo man 4 hn fand, emporgewunden hatte. 
Er wiegt 24,400 kg und stellt eine 14 m dicke un¬ 
regelmässig quadratische Platte von über Manns¬ 
höhe aus schwarzem Lavastein dar. 

Um die vier symbolischen Figuren im Zentrum, 
die das Sonnenbildnis umgeben und die selbst die 
vier früheren Sonnen-Perioden, die oben genannt 
sind, darstelien, ziehen sich in mehreren konzen¬ 
trischen Kreisen die symbolischen Figuren der 18 
Monate und der zwei Schaltmonate, von strahlen¬ 
förmigen Linien getrennt. Sechs Löcher .zeigen die 
Stellen, in welche die Pflöcke gesteckt waren, über 
die die Fäden zur Schattenbeobachtung gespannt 
wurden. An der Rückseite des Steins deuten Lücken 
und Bänder darauf hin, dass ein anderer ähnlicher 
Stein dort eingefügt gewesen sein muss, von dem 
Abbilder in den Hieroglyphen des Museums exis¬ 
tieren. Dieser letztere, der Mondstein, war mit der 
Bildflächc gegen Norden, der Sonnenstein mit der 
Bildflächc gegen Süden gerichtet und aus den 
astronomischen und meteorologischen Berechnungen, 
die die Priester an die Verschiebungen der Faden- 
Schatten-Kreuzungen auf den darunter befindlichen 
Figuren knüpften, folgerten sie die Vorhersa^ng 
der Dürren und Regengüsse, der Ernten und Hun¬ 
gersnöte, die event. eine Bevölkerungsverminderung 
nötig erscheinen Hessen. Daraus ergab sich die 
Zahl der in jedem .Staate jährlich zu opfernden 
Krieg-Sgefangenen. Die von den Priestern in Aus¬ 
sicht genommenen Kriege zwischen den benach¬ 
barten Stämmen waren demnach national-ökonom¬ 
ische Einrichtungen, wie es scheint, zum Zwecke 
der Venninderung der Konkurrenz im Kampfe ums 
Dasein. 

Auf die hohe astronomische Bildung jener Priester 
des Sonnenkultus und der Naturreligion deuten be¬ 
sonders die Tabellen i2- und i3-steUiger Zahlen, 
die man in Yucatan fand, wobei sich auch eine 
eigene Zahlenschrift offenbarte. (Näheres über diese 
Sachen findet sich in den Forschungsberichten des 
Reisenden Stephens, auch der Deutschen Schel- 
haas und Sehr. Weitere Ausgrabungen werden 
gegenwärtig in Yucatan und in Chiapas von Seiten 
nordamerikanischer wie mexikanischer Forscher 


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Betrachtungen und kleine Mitteilungen. 


577 


unter MithOlfe der betreffenden Regierungen fort- 
geAlhrt.) 

Von grossem Wert wäre es, wenn sich nun die 
babylonischen Forscher mit den mexikanischen dar- 
Ober einigten, inwiefern die einen für die andern 
Aufklärungen bieten könnten. 

Es wäre nicht unmöglich, dass diese Vergleiche 
dazu beitrögen, uns Ober das Wesen einer viel 
älteren Kultur, als wir sie bis jetzt Annahmen, auf¬ 
zuklären. Dr. Below, 

• * 

Neuerscheinungen zur Geschichte des neun¬ 
zehnten Jahrhunderts. Die Geschichtsforschung 
wendet sich gegenwärtig mit grossem Interesse auch 
der allemeuesten Zeit, speziell dem Abschnitt von 
der Auflösung des alten bis zur Gründung des neuen 
Reiches zu, einem Gebiet der historischen Forsch¬ 
ung, dessen Kultivierung man bekanntlich auch in 
allerhöchsten Kreisen gerne sieht. Hauptsächlich 
ist es die politische Schule, die sich damit beschäf¬ 
tigt; da aber die Archive für Benutzung von Ma¬ 
terial aus dieser allerjüngsten Epoche meist ver¬ 
schlossen bleiben, indem man sich ferner hierdurch 
genötigt sieht, vorwiegend biographisches Material 
zu verarbeiten, kommt ein gewisses kulturgeschicht¬ 
liches Element hinzu, dessen Verschmelzung mit 
dem politischen zu verfolgen manchmal nicht unin¬ 
teressant ist. — Als Geschichtsschreibung CTösseren 
Stiles ist vor allem zu erwähnen das Werk von 
Friedjung: „Der Kampf um die Vorherrschaft in 
Deutschland“, wovon der erste Band soeben er¬ 
schienen ; zur Darstellung ist bestimmt die Zeit von 
1859—18^, freilich nur ein kleines Bruchstück des 
ganzen „Kampfes um die Vorherrschaft“. Biogra¬ 
phischer Natur ist das Werk von Ottokar Lorenz: 
-Staatsmänner und Geschichtsschreiber des 19. Jahr¬ 
hunderts“, ebenso der erste Band der von der Re¬ 
daktion der Sybelschen Zeitschrift herausg^ebenen 
„historischen Bibliothek“, „Heinrich von Treitsch- 
kes Lehr- und Wanderjahre“ behandelnd. Die po¬ 
litischen Historiker werden allmählich ihre eigenen 
Geschichtsschreiber! — Auch unsere wesUichen 
Nachbarn sind sehr rührig, w'as die Erforschung 
ihrer neuesten Geschichte betrifft. Von dem unge-' 
heueren Material zur Geschichte des ersten Napo¬ 
leon, welches in letzterer Zeit herbeigeschafft wurde, 
wollen wir hier gar nicht reden; erwähnen dage¬ 
gen wollen wir das Werk von Thirria, „Napoldon 
ni. avant l’Enmire“, davon nunmehr der Schluss¬ 
band (1848—1851) vorliegt; etwaige deutsche Leser 
möchten wir jedoch ersuchen, Napoleon III. nicht 
für ganz so menschenfreundlich zu halten, wie er 
hier geschildert wird. Um so mehr Glaubwürdig¬ 
keit verdient dagegen die „Histoire de la troisieme 
R.epublique", von Edgar Zevort verfasst, wovon 
die Präsidentschaft Thiers’ bereits erschienen ist, 
während Grdvy und Carnot noch ausstehen; der 
Vollendung des Werkes wird auch in deutschen 
Fachkreisen mit grossem Interesse entgegengesehen. 

Karl Lory. 

* • 

über das Alter der älteren tind jüngeren 
Steinzeit. Unter dem Titel „Das Schweizerbild, 
eine Niederlassung aus paläolithischer und neolith- 
ischer Zeit“ hat Dr. Jakob Nüesch in Schaff¬ 
hausen unter Mitwirkung der namhaftesten Gelehrten 
und auf Kosten der Allgemeinen Schweizerischen 
Gesellschaft für die gesamten Naturwissenschaften 
und mit Subvention der Bundesregierung ein Pracht¬ 
werk herausgegeben. Das eingehende Studium der 
oft genannten prähistorischen Niederlassung hat 
folgendes festzustellen vermocht: i) Eine von keiner 
anderen Stelle erreichte Vollständigkeit in der Auf¬ 
einanderfolge einer Tundren-, Steppen- und Wald¬ 


fauna (iio Arten); a) alle diese Faunen, die Step- 
enfauna eingeschlossen, sind postglacial und da- 
er postglaciale Klimaschwankungen vorhanden ge¬ 
wesen; 3) der paläolithische Mensch hat mit den 
beiden älteren dieser nacheiszeitlichen Faunen zu¬ 
sammen gelebt; 4) zum ersten Male für die jüngere 
Steinzeit ist auf dem Lande eine grössere Begräbnis¬ 
stätte (von 27 Individuen) von waldbewohnenden 
Neolithikern, einer etwas älteren Bevölkerung als 
die eigentlichen Pfahlbauem der schweizerischen 
Seen gefunden worden; 5) zum ersten Mal ist für 
die jüngere Steinzeit Europas eine klein gewachsene 
Menschenrasse (Pygmäen) nachgewiesen; 6) die 
Schichten am Schweizersbild fcJgen so klar auf¬ 
einander, dass sich nicht nur für das relative, son¬ 
dern auch für das absolute Alter der ganzen Nie¬ 
derlassung und ihrer einzelnen Horizonte annähernde 
Zahlen werte ermitteln Hessen ; es entfallen auf die 
historische Bronze- und Eisenzeit 4000 Jahre, 
ebensoviel auf die jüngere Steinzeit, auf den (bisher 
ungeahnten) grossen Zeitraum zwischen ihr und 
der älteren SteinzeitS—12,000 Jahre, auf die letztere 
endlich 8000 Jahre. Rk. 

« 

• • 

Photographie bei Nacht. Prof. Zenger in 
Prag erzeugt photographische Bilder bei Nacht, in¬ 
dem er eine mit der bekannten phosphoreszieren¬ 
den Balmainschen Leuchtfarbe überzogene Platte 
wie eine gewöhnliche photographische Platte in der 
Kamera für einige Sekunden exponiert und dann 
die Phosphoreszenzplatte längere Zeit im Dunkel¬ 
zimmer mit einer Trockenplatte in Berührung bringt. 
Auf dieser entsteht dann ein klares Bild der wie 
von einer unsichtbaren Sonne beleuchteten Nacht¬ 
landschaft. Zenger schreibt diese Bilder einem von 
allen Gegenständen ausgehenden unsichtbaren Licht 
zu, das auf die Baimainsche Farbe erregend wirkt. 
Schon 1886 machte er der Pariser Akademie Mit¬ 
teilung von diesen Versuchen. Neuerdings soll die 
Aufnahme solcher Bilder auch mit gewöhnlichen 
hotographischen Platten gelungen sein, die für alle 
trahlen des Spektrums empfindlich gemacht sind. 
Zenger glaubt jetzt ihre Entstehung durch elektrische 
Ausströmungen aus den Bergspitzen erklären zu 
körmen. Das negätive Licht, welches von diesen aus¬ 
geht, soll die umliegenden Teile der Landschaft zu 
einer dem Auge unsichtbaren Phosphoreszenz er¬ 
regen. Die Entstehung dieser angeblich bei völlig 
dunkler Nacht erhaltenen Bilder scheint einstweilen 
ebenso rätselhaft, wie die Od-Ausstrahlungen des 
Freiherrn von Reichenbach. Denn gehen die Strah¬ 
len von den Bergspitzen aus, so muss die Verteil¬ 
ung von Licht und Schatten im Bilde in irgend 
einer Beziehung zu diesen stehen. Man hat aber 
auch „Durchstrahlungsphotographien“ einzelner Ge¬ 
bäude veröffentlicht, bei denen keine Bergspitzen 
in der Nähe waren. Senden alle Körper Nachts 
diese Strahlen aus, so kann nie eine regelmässige 
Verteilung von Licht und Schatten zu Stande kom¬ 
men; es wären nur Bilder, die aus hellen Flecken 
bestehen, oder allenfalls solche mit ganz unnatür¬ 
lichen Schatten möglich, da jeder hervortretende 
Gegenstand selbst die Strahlen aussenden soll. Die 
veröffentlichten Bilder machen dagegen einen ganz 
natürlichen Eindruck wie eine flach von vom mit 
Sonne beleuchtete Landschaft. Mit Recht tritt man 
daher diesen angeblichen Fluorographien mit sehr 
viel Vorsicht und starken Zweifeln gegenüber und 
muss jedenfalls die Resultate der Versuche anderer 
Beobachter abwarten. p. 

« 

• • 

* Instrument zur Messtmg winziger Bruch¬ 
teile einer Sekunde. Zur Messung der kürzesten 
Zeitabstände, besonders geeignet für experimentelle 


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578 


Betrachtungen und kleine Mitteilungen. 


Arbeiten in Laboratorien etc., hat M.Tissandier 
einen sogenannten Photochronograph erfunden. Das 
betreffende Instrument besteht aus einer metallenen 
Scheibe, die an einer durch ihren Mittelpunkt 
gehenden Achse lose läuft, während das frei be¬ 
wegliche Ende einer Feder, die 500 Schwingungen 
in der Sekunde macht, eine Nadelspitze trägt, 
welche gegen die Scheibe drückt. Diese Schwing¬ 
ungszahl der Feder ist in der Weise festgesteUt 
worden, dass man dieselbe mit Körpern verglich, 
welche erwiesenermassen 493 und 522 Schwingun¬ 
gen in der Sekunde machen. Eine etwaige Ab¬ 
schwächung der grossen Genauigkeit durch kleine 
Abweichungen von der Mitte zwischen diesen Zah¬ 
len ist unerheblich, da dadurch höchstens die fünfte 
Dezimalstelle der Sekunde beeinflusst werden kann. 
Natürlich wird die Schwingun^zahl der Feder da¬ 
durch nicht verändert, ob die Scheibe sich schneller 
oder langsamer bewegt. Durch Magnesiumlicht 
wird veranlasst, dass auf der äusserst empfindlichen 
Platte, die an der Scheibe befestigt ist, der Weg 
verzeichnet wird, den die Platte genommen hat. 

Handels«Zeitung' f. d. g« Uhreü-Industrie» 

• # 

* Der Chemiker Friedel untersuchte eine An¬ 
zahl von Fettstoffen und andern organischen 
Substanzen, die Amdlineauin den ägyptischen 
Gräbern von Abydos gefunden hatte. Von den 
untersuchten Proben erwies sich die eine als Ro¬ 
sinenkuchen. Es Hessen sich noch Rosinenkeme 
und Stärkekörner deutlich erkennen. Ein Stück 
einer Substanz, die aus einer Masse von mehreren 
Kilogramm stammte, wurde als Palmöl erkannt, 
das m ein grosses Gefäss geschottet worden war; 
um das Aussickern des Öls zii verhindern, hatte 
man die Wand mit Harz ausgepicht. Eine weitere 
Fettmasse erwies sich als Rinds-oder Hammeltalg. 
- Höchst interessant ist es zu beobachten, welchen 
Einfluss die Zeit auf diese organischen Körper 
hatte; die Objekte reichen nämlich in die Periode 
vor der ersten Dynastie (ca. 4000 v. Christus) zu¬ 
rück : die Fette waren zum Teil, offenbar durch 
den Luftsauerstoff verseift (d. h. in Fettsäuren und 
Glyzerin gespalten) worden. Während aber die 
einesteils gebildeten Fettsäuren die vielen Jahr¬ 
tausende durch unverändert geblieben, war das 
Glyzerin durch den Luftsauerstoff langsam zu Kör¬ 
pern (Bemsteinsäure, Azelafhsäure, Pimelinsäure) 
oxydiert, die man sonst durch Einwirkung eines 
kräftigen Oxydationsmittels, wie Salpetersäure auf 

Fettkörper erhält. (Compt, rend. 1897. T. cxxiV) 

• • 

• 

• Nachstehenfies „höchst wertvolles" Patent fin¬ 
den wir verzeichnet: 

Masse für Sammler. Um das Bleioxydpulver 
zu einer bindenden Masse zu formen, wird es mit 
einem der sog. Bitterstoffe Aloin, Cantharidin, 
Cardol, Santonin, Quassiin in mässig konzen¬ 
trierter Lösung gemischt. 

Wir bemerken dazu, dass von Cantharidin das 
Gramm ca. M. 2, von Quassiin ca. M. 3 kostet. 
Es sei noch er^^'ähnt, dass es kaum eine Klasse von 
Körpern giebt, in die man verschiedenartigere Sub¬ 
stanzen unterbringen kann, als in die Klasse der 
„Bitterstoffe“; was bitter schmeckt, ist eben ein 
Bitterstoff. Über den Grund, gerade diese als 
Bindemittel zu wählen, sind wir uns nicht ganz 
klar. Ob es wohl dem Patentnehmer gerade so 
geht? — Vielleicht wählt er demnächst als Binde¬ 
mittel Tuberculin oder Antidiphterin, die sind noch 
teurer und sicher gerade so wirksam. b. 

ft 

’ Prof. Chroustchoff hat aus den Monazit¬ 
sanden von Nord-Karolina ein neues Element sepa¬ 


riert, das er „Russium“ nennt. — Nach seiner An¬ 
gabe lässt sich auch Cer in Fraktionen von ver¬ 
schiedenen physikalischen Eigenschaften trennen 
und im Didym will er noch einen dritten Bestand¬ 
teil gefunden haben. 

(Journal d. russ. ehern. Gea. XXIX. 

* Ein schnellwirkendes Heilmittel bei 
Vergiftungen durch Kohlenoxydgas ist 
reiner Sauerstoff. Da bei der beständig zunehmen¬ 
den Ausdehnung des Gasfeuerungsbetriebes in 
Fabriken durch Benutzung von Hochofen-, Generator¬ 
und Leuchtgas die Vergiftungsfälle sich mehren, so 
sollten Fähigen nach einem Vorschlag von Sieg¬ 
fried Stein stets einen Stahlzylinder mit kom¬ 
primiertem Sauerstoff und einen Inhalationssack 
mit Schlauch und Mundstück vorrätig halten. 

Stahl und Eisen. 

*Die Telegraphie ohne Drähte dürfte 
jedenfaUs bei Gewittern versagen. Frederick 
J. Jervis-Smith fand, dass bei einem ziemüch 
entfernten Gewitter das Galvanometer seines Em¬ 
pfängers öfters abgelenkt wurde, ohne dass der 
Zeichengeber hierzu Veranlassung gegeben. 

Nature 8 Juli 1897. 


Sprechsaal. 

Herrn G. in B. Für die freundliche Anerkenn¬ 
ung unserer Bestrebungen sind wir Ihnen dankbar 
verbunden. Das für Ihren Zweck geeignetste Blatt 
dürfte die „Westdeutsche Zeitschrift für Geschichte 
und Kunst“, Herausg. Direktor Dr. Hettner in 
Trier sein. 

Frau S. in J. Uns scheinen zwei Klavierkompo¬ 
sitionen von Leverkühn geeigfnet für Sie. Die eme 
„Die Träumerei“ ist recht stimmungsvoll, die an¬ 
dere „Coucher de Soleil“ ist ein sehr hübscher 
Konzertwalzer, der Ihnen viel Freude machen wird. 
Beide sind eben erst erschienen. 

Herrn K. M. in P. Gewiss gehört die Entziffer¬ 
ung der etruskischen Sprachdenkmäler zu den inter¬ 
essantesten Fragen der Wissenschaft. Wir werden 
' auf dieselbe bei Gelegenheit zurückkommen. 

Herrn E. G. in 5 . Sie werden bei der Fabrikation 
von Branntweinen und Likören kaum in die'Lage kom¬ 
men, die dazu erforderlichen ätherischen öle und 
Essenzen selbst herzustellen; man erhält dieselben 
käuflich. — Für Sie dürfte wesentlich die Destil¬ 
lation, das Mischen und die Nachbehandlung von 
Interesse sein. Als Anleitung empfehlen wir Ihnen: 

Gaber, Liqueur-Fabrikation, 

„ Rum, Arrak, Cognac (beides in Hart¬ 
lebens chem.-techn. Bibliothek); 

G rego riö, Originalvorschriften berühmter Liköre 
und Spezialitäten (Braunschweig bei Limbach); 

Hermann Riegels Kunstlehre ist für gedach¬ 
ten Zweck durchaus zu empfehlen. Ausserdem 
kommt in Betracht: Schultz, Kunst- und Kunst¬ 
geschichte (Prag bei Tempslw, auch in einer kleinen 
Ausgaben im „Wissen der Gegenwart“ erschienen», 
ferner die vorzügliche Einleitung in Dr. G. Hirths, 
„Cicerone in den grösseren Kunstsammlungen“ 
(München, G. Hirths Verlag). 


No. 33 <l«r Umseban wird eothalten: 

Dessau, Marconi's Telegraphie ohne Draht. — Reh, Anleitung 
zu zoologischen und biologischen Beobachtungen. — Wiedemano, 
Die neuesten Entdeckungen in Ägypten (Schluss.) — Popp, Die 
deutsche Malerei auf der Mflnchener Ausstellung (Schluss). 


G. Horstmann’s Druckerei. Frankfurt a. M. 


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DIE UMSCHAU 


ÜBERSICHT ÜBER DIE FORTSCHRITTE UND BEWEGUNGEN AUF 
DEM GESAMTGEBIET DER WISSENSCHAFT, TECHNIK, 
LITTERATUR UND KUNST 

hcrausg«gebcn von 

DR. J. H. BECHHOLD. 


Wöchentlich eine Nummer. 

Zu beziehen durch 
alle Buchhandlungen und 
Postaastalten. 

Postzeitungspreialiste No. 7021 a. 

Verlag von: 

H. Bechhold Verlag, Frankfurt a. M. 


Neue Krame 19 21. 


Preis vierteljährlich 
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Jahres-Abonnement 
Preis M. 10.— 

Im Ausland nach Cours. 
Verantwortlicher Redakteur: 

Otto Adolf Wolters, Frankfurt a. BL 


I ToVit-re Naehdruek ms tUm- Inhalt tUr Zeitsehrifi ohn* Erlaubtä» -rOr-yi-i t a A nmiof- 

• d»r Rtäaktion varbottn. IÖ97* AUgUSt. 



Telegraphie ohne Draht. 

Von Dr. Bernhard Dessau. 


Aus den Tageszeitungen und auch aus' 
der „Umschau“ wissen unsere Leser bereits 
von der Erfindung eines jungen Italieners, 
des 22jährigen Guglielmo Marconi, welche 
die Übertragung elektrischer Signale selbst 
auf bedeutende Entfernungen ohne Zuhilfe¬ 
nahme eines Leitungsdrahtes ermöglichen soll. 
Die Reklame und das geheimnisvolle Dunkel 
der ersten Mitteilungen Hessen freilich nicht 
erkennen, ob man es hier mit etwas wirklich 
Neuem oder lediglich mit der Wiederauf¬ 
nahme. älterer ^estrÄbungen» zu thun habe. 
Versuche einer Telegraphie ohne Draht waren 
Ja in Amerika bereits vor anderthalb Jahr¬ 
zehnten gemacht worden. Dort erstrebte man 
namentlich die Möglichkeit eines Nachrichten¬ 
austausches zwischen fahrenden Eisenbahn¬ 
zügen und den Stationen. Zu diesem Zwecke 
wurde längs der ganzen Linie zwischen den 
Schienen, sowie unter einem Wagen jedes 
Zuges ein isolierter Draht ausgespannt; die 
Herstellung oder Unterbrechung eines elek¬ 
trischen Stromes in dem einen dieser Drähte 
musste dann jedesmal in dem benachbarten 
Drahte einen kurzandauemden sogenannten 
Induktionsstrom wachrufen und man brauchte 
also nur die beiden Drähte mit galvanischen 
Batterien, mit Stromunterbrechern und einem 
Telegraphen oder Telephon auszurüsten, um 
nach Belieben zwischen den Zügen und den 
Stationen Signale austauschen zu können. 
Edison verbesserte dieses System so weit, 
dass der Draht zwischen den Schienen durch 
einen der gewöhnlichen Telegraphendrähte 
längs der Bahn ersetzt werden konnte; in 
einer Zuschrift an die „North American Re¬ 
view“ bezeichnete er damals diese seine Er¬ 
findung als „eine der wichtigsten und folgen¬ 
reichsten unseres Jahrhunderts“ — es ist aber 
von dem Edisonschen „Telegraphen ohne 

UaucliAu 1897. 


ununterbrochenen Draht“ wieder ganz stille 
geworden. Erst in den letzten Jahren wur* 
den die Versuche in England wieder aufge¬ 
nommen und das System soweit vervollkomm¬ 
net, dass die Entfernung zwischen den bei¬ 
den Leitungsdrähten, zwischen welchen eine 
Übertragung stattfinden sollte, sich schon nach 
Hünderten von Metern, ja nach einigen Kilo¬ 
metern beziffern konnte > aber freilich nur, 
wenn jeder der beiden Drähte sich auch über 
eine beträchtliche Länge erstreckte; und dar¬ 
um konnte dieses System gerade fllr den 
Zweck, welchem die Versuche galten — näm¬ 
lich für den Nachrichtenaustausch von Schiffen 
untereinander oder mit def- nahen Küste — 
keine rechte Verwendung finden. Zu dem 
gleichen Zwecke unternahmen dann vor drei 
Jahren die Herren W. und E. Rathenau 
und’H. Rubens in Berlin auf Anregung 
des Reichsmarineamts Versuche nach einem 
anderen Verfahren. Demselben liegt folgende 
Erscheinung zu Grunde. Bekanntlich besteht 
eine gewöhnliche Telegraphenleitung nur aus 
einem einzigen Drahte; für den Stromschluss 
dient ihr das feuchte Erdreich, in welches 
von den Enden des Drahtes zwei Metall¬ 
platten versenkt sind. Die Beobachtung zeigt 
nun, dass der Strom im Boden nicht auf den 
kürzesten Weg zwischen den beiden Platten 
beschränkt, sondern nach allen Richtungen, 
wenn auch mit geringerer Stärke, verzweigt 
ist; es gelingt deshalb, wenn man abseits 
von jenem kürzesten Wege zwei andere Plat¬ 
ten in den Boden versenkt, einen Teil des 
Stromes gewissermassen abzufangen und durch 
einen die beiden Platten ausserhalb verbin¬ 
denden Draht zu senden; noch besser ver¬ 
mag man dies, wenn der Versuch im Wasser 
anstatt im Erdreich angestellt wird. Von dem 
Drahte, welcher die primären Platten mit ein¬ 
ander verbindet, kann man also nach dem¬ 
jenigen, welcher die sekundären Platten ver¬ 
bindet, Signale senden; bei den Versuchen, 

33 




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58 o 


Dessau, Telegraphie ohne Draht. 


die damals im Wannsee bei Potsdam an¬ 
gestellt wurden, war eine deutliche Übertrag¬ 
ung noch bis auf eine Entfernung von 4K 
Kilometern zwischen den beiden Plattenpaaren 
möglich — freilich auch wieder nur, wenn 
der Abstand zwischen den Platten jedes ein¬ 
zelnen Paares ebenfalls ein beträchtlicher 
war. Und das ist eine Bedingung, welche 
sich auf hoher See nur schwer realisieren 
lässt. 

Wohl Manchem aber — und Rubens selbst 
erwähnte dies ~ mag angesichts dieser Ver¬ 
suche der Gedanke gekommen sein, ob es 
nicht möglich sei, die Hertzschen elektrischen 
Wellen, die ja ihren Weg von einem Leiter 
zum anderen durch die Luft hindurch, .ohne 
Vermittelung eines Drahtes, finden, in irgend 
einer Weise zur Nachrichtenübertragung zu 
verwenden. Die Zeit zur Ausführung dieses 
Gedankens war damals noch nicht gekommen; 
heute hat ihn Marconi verwirklicht. Auf 
welche Weise, das wollen wir unseren Lesern 
nunmehr darlegen; zu diesem Zwecke aber 
wird es nötig sein, zunächst einiges, die 
elektrischen Schwingungen im allgemeinen 
Betreffende kurz zusammenzufassen. 

Die wissenschaftliche That unseres zu frühe 
verstorbenen Heinrich Hertz, welche 
einer neuen Auffassung der elektrischen Er¬ 
scheinungen zum Siege verhalf, bestand be¬ 
kanntlich in dem Nachweise, dass die elek- 
trischea und magnetischen Wirkungen keine 
sogenannten Fernwirkungen sind, welche in 
demselben Augenblicke, in welchem sie an 
einer Stelle erregt werden, sich an jeder 
anderen Stelle des Raumes kundgeben, son¬ 
dern dass sie zu ihrer Ausbreitung eines den 
Raum erfüllenden Mediums bedürfen und sich 
mit einer allerdings sehr grossen, aber immer¬ 
hin endlichen Geschwindigkeit — derjenigen 
des Lichtes — von ihrer Quelle aus durch 
das Medium hindurch fortpflanzen. Eine Mess¬ 
ung dieser Geschwindigkeit aus dem Zeit¬ 
unterschied des Auftretens einer elektrischen 
Wirkung an verschiedenen Orten war nicht 
denkbar; sie war nur dann möglich, wenn 
man über periodisch veränderliche elektrische 
Wirkungen, mit anderen Worten über elektrische 
Schwingungen, verfügen konnte, welche 
sich wellenartig im Raume ausbreiten. Denn 
wie man z.B. die Geschwndigkeit des Schalles 
aus der Wellenlänge eines bestimmten Tones, 
d. i. aus der Entfernung, auf welche sich der 
Bewegungszustand während einer Schwing¬ 
ung eines Teilchens fortpflanzt, und der Dauer 
dieser Schwingung bestimmen kann, so 
musste auch die Ausbreitungsgeschwindigkeit 
elektrischer Wellen aus deren Länge und 
Schwingungsdauer zu ermitteln sein. Nun 
war schon vor Hertz bekannt, dass die Ent¬ 


ladungen einer elektrischen Maschine oder 
eines Induktionsapparates unter gewissen Be¬ 
dingungen oszillatorischer Natur sjnd, d. h. 
dass sie elektrische Schwingungen darstellen; 
aber erst Hertz ersann einen Apparat, den 
Erreger, der elektrische Schwingungen von 
bestimmbarer Periode lieferte, und einen an¬ 
deren Apparat, den Resonator, in welchem, 
wenn er von elektrischen Schwingungen ge¬ 
troffen wurde, sichtbare Funken auftraten und 
welcher sonach das Vorhandensein oder Feh¬ 
len solcher Schwingungen an irgend einer 
Stelle des Raumes nachzuweisen gestattete. 
Mit diesen beiden Apparaten konnte Hertz 
die Aufgabe, die er sich gestellt hatte, lösen. 

Auf die Einzelheiten des Verfahrens und 
der Apparate brauchen wir hier nicht näher 
einzugehen. Es darf uns nicht wundern, dass 
die Hertzschen Apparate, die ja ihrem Er¬ 
finder nur zum Nachweise gewisser Grund- 
thatsachen dienen sollten, in gewissem Sinne 
einen primitiven Charakter hatten und in der 
Folge mehrfach abgeändert und damit zu ver¬ 
schiedenen Zwecken geeigneter gemacht wur¬ 
den. Dem Hertzschen Erreger gab A. Righi 
in Bologna eine kompendiösere Form, welche 
raschere Schwingungen, also kürzere Wellen, 
liefert und dementsprechend auch in kleineren 
Räumen und mit beschränkteren Materialien 
zu experimentieren gestattet: zwei grössere, 
zur Hälfte in eine mit öl gefüllte Kammer 
eingebettete Kugeln bilden die Leiter, zwi¬ 
schen welchen die . oszillatorischen Entladun¬ 
gen stattfinden; ihre Elektrizitäten erhalten 
sie von zwei kleineren, in geringem Abstande 
von ihnen befindlichen Kugeln, welche mit 
den Polen einer Influenzmaschine oder eines 
Induktionsapparates verbunden sind. Zum 
Nachweise der Schwingungen dienen heute 
verschiedene Mittel; eines der einfachsten und 
doch zugleich wirksamsten ist der von Var- 
ley erfundene, von Lodge aber zuerst zu 
diesem Zwecke benützte „coherer“,^) eine mit 
Metallpulver gefüllte Glasröhre, welche durch 
zwei in sie hineinragende Drähte in den 
Stromkreis einer galvanischen Batterie einge¬ 
schaltet ist. Das Metallpulver, dessen ein¬ 
zelne Teile nur in loser Berührung mit ein¬ 
ander sind, bietet dem Strome einen sehr 
hohen Widerstand und jener kann infolge¬ 
dessen keine merkliche Stärke erlangen; so¬ 
bald aber elektrische Schwingungen das Pulver 
treffen, so tritt die merkwürdige Erscheinung 
ein, dass dessen Widerstand sich ausseror¬ 
dentlich erniedrigt und dass somit der Strom 
eine Stärke erlangt, welche ihn befähigt, 
irgend eine merkbare Wirkung hervorzubrin¬ 
gen, also z. B. eine elektrische Klingel in 


*) to cohere = Zusammenhängen. 


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Dessau, Telegraphie ohne Draht. 


581 


Thätigkeit zu setzen. Allerdings bleibt die 
Verminderung des Leitungswiderstandes auch 
nach dem Aufhören der Schwingungen noch 
bestehen und es muss durch eine mech¬ 
anische Erschütterung der Röhre der ur¬ 
sprüngliche Zustand in derselben wieder her¬ 
gestellt werden. Aber gerade deshalb erklärte 
Lodge schon vor drei Jahren die elektrische 
Klingel oder eine ähnliche Vorrichtung als 
das geeignetste Mittel zur Kenntlichmachung 
der Schwingungen; denn diese Klingel kann 
so aufgestellt werden, dass ihr Klöppel bei 
jeder Bewegung einen leichten Schlag gegen 
die Röhre führt; dies genügt, um die kaum 
begonnene Wirkung der Strahlen alsbald 
wieder aufzuheben und den Apparat für eine 
neue Einwirkung empfänglich zu machen. 
So lange also elektrische Schwingungen auf 
den „coherer“ fallen, ertönt die in seinen 
Stromkreis eingeschaltete elektrische Klingel; 
sie verstummt, sobald die Schwingungen er¬ 
löschen. ♦ 

Der Marconische Tekgraph ist nun weiter 
nichts als eine Vereinigung des Hertzschen 
Erregers, in der von Righi ihm gegebenen 
Gestalt, mit demLodgeschen „coherer". Seine 
Einrichtung ist aus der beistehenden schemat¬ 
ischen Abbildung wohl ohne weiteres‘ver- 

S 

. y ’ ■ ^1. .1 



ständlich. AA und aa sind die Kugeln des 
Righischen Erregers, von welchen die grösse¬ 
ren zur Hälfte in eine mit öl gefüllte Kam¬ 
mer ragen, während die kleineren mit den 
Enden des Sekundärkreises einer Induktions¬ 
spirale JJ in Verbindung stehen; der Primär¬ 


kreis derselben enthält eine Batterie B und 
einen Morsetaster S zum Schliessen und Unter¬ 
brechen des Stromes. Jede Bewegung des 
Tasters erzeugt einen Induktionsstrom, der 
zu einer Entladung zwischen den Kugeln AA 
und damit zur Entstehung von Schwingungen 
führt, welche sich durch die Luft nach allen 
Richtungen ausbreiten. Sie fallen also auch 
auf den Empfänger, einen Lodgeschen „co- 
herer“, an dem Marconi nur einige Abänder¬ 
ungen vorgenommen hat. Die Glasröhre CC 
ist evakuiert; in derselben befinden sich, in 
geringem Abstande von einander, zwei Silber¬ 
zylinder CC, von welchen Drähte nach aussen 
führen; der Zwischenraum zwischen denselben 
ist mit Nickelpulver, welches ein wenig mit 
Quecksilber angefeuchtet worden, gefüllt. Im 
Grunde ist es also nichts als ein Lodgescher 
„coherer“; die Abänderungen haben lediglich 
den Zweck, den Apparat wirksamer zu ge¬ 
stalten; dem gleichen Zwecke sollen auch 
die beiden mit der Röhre verbundenen Metall¬ 
platten PP dienen. Dieser »coherer“ ist nun 
zunächst in den Stromkreis eines gewöhn¬ 
lichen Telegraphenrelais R eingeschaltet, 
welches seinerseits die Aufgabe hat, den 
Strom eines Morsetelegraphen T zu schliessen 
und zu unterbrechen. 

Wie der Verkehr zwischen den beiden 
Stationen I und II zu Stande kommt, ergiebt 
sich hiernach von selbst. Jede Bewegung des 
Morsetasters auf der Sendestation 1 erzeugt 
elektrische Schwingungen, deren Ankunft auf 
der Empfangsstation II das Relais in Thätig¬ 
keit setzt und damit den Telegraphenstrom 
schliesst; dieser Stromschluss dauert aber nur 
einen Augenblick, weil das Relais R, wie 
aus der Abbildung ersichtlich ist, einen Ham¬ 
mer besitzt, der gegen die Röhre schlägt und 
damit die Wirkung der elektrischen Schwing¬ 
ungen alsbald wieder aufhebt. Mehrere rasch 
aufeinanderfolgende Bewegungen des Ankers 
des Morsetelegraphen geben aber trotzdem 
auf dem Papierstreifen desselben einen Strich; 
eine einzelne Bewegung giebt einen Punkt 
und aus diesen Elementen setzt sich das 
Morsealphabet zusammen — ganz wie bei 
dem gewöhnlichen Telegraphen, nur dass seine 
Übermittelung in unserem Falle eines Drahtes 
nicht bedarf. 

Die von der gesamten Presse so viel ge¬ 
priesene Marconische Erfindung reduziert sich 
hiernach auf die Verbesserungen, welche 
Marconi an dem Lodgeschen „coherer“ vor¬ 
genommen hat. Vollkc»mmen neu ist nicht ein¬ 
mal der Gedanke einer Signalgebung mittelst 
des Hertzschen Erregers und des „coherer“; 
denn Lodge selbst hat mit diesen beiden 
Apparaten schon vor mehreren Jahren eine 
Wirkung der elektriscl ien Schwingungen durch 

33* 



• f 


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582 


Dessau, Telegraphie ohne Draht. 


die Mauern seines Laboratoriums hindurch 
gesandt. Viel weiter war man freilich damals 
noch nicht gekommen und so bleibt Marconi 
immerhin das Verdienst, einen bekannten 
Apparat leistungsfähiger gestaltet und dann 
mit mutigem Griffe das verwirklicht zu haben, 
was bis dahin nur als unbestimmte Möglich¬ 
keit erschienen oder allenfalls durch tastende 
Versuche angebahnt worden war. So konnte 
er, während vor ihm eine Wirkung elek¬ 
trischer Schwingungen niemals weiter als bis 
auf einige hundert Meter von dem Erreger 
konstatiert worden war, die Grenze -der Über¬ 
tragung bei den Experimenten in England 
auf 12 Kilometer, bei denjenigen im Golfe 
von Spezia sogar schon bis auf 18 Kilometer 
hinausschieben. 

Wie weit diese Grenze etwa noch über¬ 
schritten werden wird, lässt sich natürlich 
schwer Voraussagen. Des Erfinders Versicher¬ 
ung jedoch, dass seine Schwingungen sogar 
Metalle durchdringen und dass Berge ihrer 
Ausbreitung kein Hindernis entgegensetzen, 
ist keinesfalls richtig. Der Physiker weiss, 
dass Metalle für elektrische Schwingungen — 
und etwas anderes sind ja Marconis Schwing¬ 
ungen nicht — vollkommen undurchlässig sind; 
wo man das Gegenteil beobachtet zu haben 
glaubte, zeigte eine nähere Untersuchung 
immer, dass einer der beider. Apparate nicht 
vollständig von dem Metalle umgeben wor¬ 
den war. Ein einzelner Berg zwischen dem 
Erreger und dem Empfänger mag ebenso 
der Signalisierung keine sonderliche Schwie¬ 
rigkeit bereiten; zum Teil wird er von den 
Schwingungen umgangen — auch von einer 
Lampe, welche sich hinter einem undurch¬ 
sichtigen Schirme befindet, gelangt ja trotz 
dieses letzteren etwas Licht in unser Auge 
— zum Teil auch nehmen die Schwingungen 
thatsächlich ihre Bahn durch den Berg, Aber 
wie es kein für Lichtstrahlen vollkotntnen 
transparentes Medium giebt, so lässt auch 
kein fester oder flüssiger Körper die elek¬ 
trischen Schwingungen ganz ungeschwächt 
passieren; ein Teil geht immer unterwegs 
durch Absorption verloren und nach einem 
bekannten physikalischen Gesetze wachsen 
diese Verluste weit rascher, als die Länge 
des Weges in dem absorbierenden Medium. 
Marconi will neuerdings, um diesem Übel¬ 
stande zu begegnen, mit dem Erreger und 
dem Empfänger je einen Draht verbinden, 
der von einem Drachen oder Ballon getra¬ 
gen werden soll; er meint, dass dann die 
Schwingungen wesentlich von den Enden 
dieser Drähte ausgehen und empfangen wer¬ 
den und ihren Weg also durch die freie Luft 
nehmen können. Indessen ist dieses Hilfs¬ 
mittel doch nur bei nicht zu bedeutenden 


Hindernissen und auf massige Entfernungen 
praktisch realisierbar. 

Marconis Telegraph leidet also an einem 
Mangel, mit welchem auch der optische Tele¬ 
graph behaftet ist; dem letzteren ist er zwar 
insofern überlegen, als wenigstens der Nebel, 
der die optische Signalgebung unmöglich 
macht, die elektrischen Schwingungen passieren 
lässt; dafür aber sind wiederum die letzteren 
gleich den optischen Signalen für Jedermann 
wahrnehmbar, der mit den erforderlichen 
Empfangsapparaten ausgerüstet ist. Marconi 
meint allerdings, dass ein Empfänger nur 
dann auf die ihn treffenden elektrischen 
Schwingungen „ansprechen“ werde, wenn 
deren Periode dieselbe ist wie seine eigene, 
das heisst — um einen der Akustik entnom¬ 
menen Ausdruck zu gebrauchen — wenn er 
auf die betreffende Schwingungszahl abge- 
stimmt ist; leider aber giebt es für elektrische 
Schwingungen eine sogenannte multiple Re¬ 
sonanz, welche zur Folge hat, dass ein Re¬ 
sonator so ziemlich auf jede ihn treffende 
elektrische Schwingung, von welcher Periode 
sie auch sein mag, anspricht. Es besteht also 
bei Marconis System nicht allein kein Tele¬ 
graphengeheimnis, weil Jeder, der einen 
„coherer“ besitzt, die seinen Ort passieren¬ 
den Marconi-Depeschen lesen kann, sondern 
— und das ist das Schlimmste — dieser 
„coherer“ giebt sämtliche ihn gleichzeitig 
treffenden Depeschen zusammen wieder, auch 
wenn sie gar nicht für ihn bestimmt sind! 
Welche Verwirrung würde also entstehen, 
wenn etwa Marconis System verallgemeinert 
und der Telegraphendraht abgeschafft würde! 

Das Gesagte soll nun durchaus nicht den 
Zweck haben, der Erfindung des jungen Ita¬ 
lieners jeden Wert abzusprechen, sondern es 
soll lediglich diesen Wert auf sein richtiges 
Mass zurückführen. Für den Nachrichten ver¬ 
kehr zwischen Schiften, überhaupt in allen 
Fällen, in welchen keine Drahtverbindung 
hergestellt werden kann, bietet die Signali¬ 
sierung mittelst elektrischer Schwingungen 
ohne Zweifel ein kostbares Hilfsmittel. Aber 
auch nur ftlr solche Fälle; wo eine Draht¬ 
verbindung möglich ist, wird man ohne Zwei¬ 
fel diese vorziehen. Man stelle sich einmal 
vor, dass die geschichtliche Entwicklung eine 
andere gewesen sei sei, dass etwa Morse den 
ersten brauchbaren Telegraphen ohne Draht 
und Marconi jetzt den ersten Telegraphen mit 
Draht erfunden hätte.' Wir sind fest Über¬ 
zeugt, dass man dann diese Marconi-Erfindung, 
und zwar mit viel mehr Recht als es jetzt 
von Seiten der Presse geschieht, als eine 
befreiende That des Fortschritts preisen 
würde! 


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Popp, Deutsche Malerei auf der VII. intern. Kunstausstellung in München. 583 


Die deutsche Malerei auf der VII. inter¬ 
nationalen Kunstausstellung in München. 

Von Hermann Popp. 

(Schluss). 

Keller-Reutlingen, der Meister der 
Flachlandschaft, welcher der Dachauer Ebene 
stets neue Reize abzulauschen weiss, erfreut 
durch seinen „Sonnlag bei Bruck*' und die 
„Waldwiese'*, in der er die feinsten Farben¬ 
töne und Differenzierungen, welche das je¬ 
weilige Charakteristikum der Waldgräser 
bilden, wiedergiebt. 

Ein Meisterwerk an künstlerischer Ge¬ 
schlossenheit und Empfindungstiefe ist Hugo 
Bürgel’s „Morgendämmerung". Die letzten 
duftigen Nachtschleier liegen über der träu¬ 
menden See-Ecke in der sich Uferschilf und 
hohe stille Bäume spiegeln. Der gewaltige 
Himraelsbogen, an dem noch einige zarte 
Nachtwölkchen zerfliessen, spannt sich in 
dämmeriger, unendlicher Weite über die noch 
schlafende Natur, während am äussersten 
Horizont im nächsten Augenblick Helios’ Son¬ 
nenwagen machtvoll die tiefe Ruhe mit dem 
Glanz des Lichtes zu durchbrechen scheint. 
Die gleiche, tief empfundene Stimmung liegt 
über Kowalski’s „Durch die Steppen", die 
sich grau in grau mit den trostlosen Schriee- 
wölken verschmelzen. Carl Böhme führt 
uns an die sonnigen Gestade Capris. Für 
Dichtung und-Malerei hat dies paradiesische 
Eiland schon so oft als Vorwurf dienen müssen, 
dass seine Darstellung nur noch, insofern sie 
von der Hand des wirklichen Künstlers stammt, 
geniessbar ist. Die „Brandung" und die 
„Capreser Fischer" Böhmes beweisen seine 
hohe Künstlerschaft im vollsten Masse, und 
geben Zeugnis von intensivstem Versenken 
in die Naturformen, von markanter Betonung 
der landschaftlichen Eigenart, von ausge¬ 
prägtem individuellem Empfinden und von 
vollendeter Technik, die keine Schwierigkeiten 
kennt. Beide, derselben Kostenlandschaft 
entnommenen Motive sind in Form und Faibe 
äusserst verschieden und geben zwei Gesamt¬ 
stimmungen wieder, die sich nur in der per¬ 
sönlichen Art des Künstlers berühren. Die 
Bewegung der Luft und des Wassers, das 
vom Sturm gepeitscht die Uferfelsen mit 
Schaumfetzen bedeckt, der Eingang der 
düsteren Grotte, die ihre tiefen Schatten ins 
Meer senkt, das alles wirkt so frisch und un¬ 
mittelbar, wie es eben nur die Künstlerhand 
schaffen kann. Böhme bietet uns abgeschlos¬ 
sene, fertige Kunst, frei von Experimentieren 
und Suchen nach Objekten und Mitteln. 

Herbe Ehrlichkeit spricht aus den realist¬ 
ischen, eine kraftvolle Künstlerpersönlichkeit 
verratenden Bildern Kalkreuth’s, dessen 


„Hamburger Hafen" ein Monumentälwerk 
robuster Kraft und Energie ist. Seine Auf¬ 
fassung der Natur stimmt mit der Leibis über¬ 
ein und steht auf dem Boden des exakten 
Naturalismus. Die frische Natur und wirk¬ 
lichkeitsfrohe Kunst Leibis reflektiert in 
seinem „oberbayrischen Landmädchen im Fest- 
schmuck". Jeder Zug, jede Falte ist scharf 
beobachtet und lässt das „Wie“ der Aus¬ 
führung, das „Was“ des Dargestellten voll¬ 
ständig verdrängen. Welch grellen Gegen¬ 
satz bieten die nervösen Salontypen A. Ke 11 er’s 
zu dieser ländlichen Gesundheit. Die frischen 
kräftigen Farben Leibl’s weichen dem zarten, 
blassen Teint, der helle Blick des Auges ver¬ 
schleiert sich unter nervösen Lidern. Man 
fühlt die wohlige Wärme der Haut, der wie 
den Haaren und rauschenden Roben diskretes 
Gardeniaparfum entströmt. Keller’s weibliche 
Köpfe besitzen trotz aller koloristischen Reize 
und Feinheiten doch nicht jene künstlerische 
Gleichwertigkeit wie sie den Schöpfungen 
Habermann’s anhaftet. Jener malt was er 
sieht und was er fühlt, dieser aber malt wie 
er fühlt. Seine Frauenbilder tragen das' Ge¬ 
präge des Aparten, sie zeigen den Geschmack 
des verwöhnten Gourmös der einen gewissen 
Hautgout, eine an Przybyszewski’sche Weiber 
streifende Perversit^ liebt. 

Dies Moment drückt sich nicht nur in den 
markanten Gesichtem, sondern auch in jeder 
Körperform, im nachlässig a’ufgestützten Arm, 
wie in der unthätig im Schoss liegenden Hand 
und den fein gegliederten Fingern aus. Eine 
unüberbrückbare Kluft trennt Habermann von 
L. Samberger, der den Enkelschüler von 
Velasquez und Titian verrät und durch seine 
eigentümliche byzantinische Strenge in der 
Gesichtsform seiner „Madonna“ wieder den 
Beweis liefert, dass trotz aller Farbentechnik 
und geistig tiefer Auffassung doch das Ausser- 
achtlassen exakter Zeichnung störend und 
abstossend wirkt. 

Eines der besten Portraits ist Stucks 
Selbstbildnis mit den faszinierenden Augen. 
L e n b a c h stellt in einem mit kostbaren Truhen 
und Teppichen reich ausgestatteten Separat¬ 
raum eine Portraiikollektion aus, an der so¬ 
wohl der geniale Maler wie der eminente 
Psychologe gleichen Anteil haben. 

Grossartig ist die Wiedergabe der geist¬ 
vollen Züge des Historikers Mommsen und des 
mächtigen Hauptes Bismarck’s. In diesen 
Bildern steht Lenbach auf der Höhe seiner 
Kunst, während die in den letzten Jahren 
entstandenen Portraits von Heyse, Levy und 
Döllinger einen gewaltigen Rückschritt der 
psychologischen Auffassung erkennen lassen, 
welche des Meisters Überproduktion zur Folge 
hatte. 


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584 Popp, Deutsche Malerei auf der VII. Intern. Kunstausstellung in München. 


Lenbach ist nicht mehr der Unübertroffene 
und es ist ein grosses Unrecht unsern jungen 
Portraitisten gegenüber, wenn man sie durch 
den Schatten der einstigen Grösse und Be- 
rülimtheit Lenbach’s verdunkeln lässt. Die 
Bildnisse Georg Sauter’s, Fritz Burger’s, 
Hans Anetzberger’s, Havenith’s, die 
ungemein feinenDamenportraits J. B. Scherer’s 
zeigen was die Portraitkunst leistet und was 
noch von ihr zu erwarten ist. Zum Schlüsse 
möchte ich noch den immer mehr der Voll¬ 
endung zusteuernden Edel, ferner Fechner, 
der sich noch mehr zur künstlerischen Tiefe 
und Grösse der Auffassung aufschwingen muss, 
und Slevogt erwähnen. Des Letzteren 
Damenportrait macht auf 10 m Entfernung 
einen ungemein lebendigen Eindruck, der aber 
in der Nähe zu unruhig und an manchen 
Stellen sogar brutal wird. „Scheherezade“ 

die von machtvoller Farbenfreudigkeit durch¬ 
sättigt ist, bringt die Eigenart des Künstlers 
im vollsten Masse zum Ausdruck. Die Art 
und Weise, wie er seiner Farbenphantasie 
Genüge thut, lässt seine Bilder unmittelbar 
und überzeugend zum Beschauer sprechen. 
Klarheit und Deutlichkeit der Zeichnung, sen¬ 
sibler und durchaus individueller Farbensinn 
sind Slevogts Eigenschaften, mit denen er in 
packender Form seine Figuren schafft und mit 
herrlichen Farbenharmonien umgiebt. 

Wie zahm wirkt gegen diese phantastische 
Beweglichkeit di6 „Schlittenfahrt Sobieski's" 
von J. von Brandt. Koloristische Quali¬ 
täten besitzt das Bild in Menge; der von 
rotem Fackelschein beleuchtete und reflek¬ 
tierende Schnee, die bunten Kostüme der 
polnischen Krieger, das durch Kerzenrauch 
und gedämpftes, rötliches Licht weissschim¬ 
mernde Schloss bilden einen farbenreichen 
Anblick, aber doch wirkt alles leblos und er¬ 
mangelt der Bewegung, die auf Freund's 
„Gross/euer“ vorzüglich wiedergegeben ist. 
Hier sieht man nicht nur die der Brandstätte 
zueilenden Dorfspritzen und Menschen, son¬ 
dern vermeint das Rasseln der Wagen, Stam¬ 
pfen der Pferde und Brüllen der wilderregten 
Tiere zu hören. Wie prächtig ist die Gruppe der 
Bauern im Vordergrund, die den losgerissenen 
Stier einfangen und die alte Frau, die dem 
behäbigen Dorfgeistlichen über das Unglück 
vorjammert. Voll feiner Eleganz und aparter 
Komposition ist Hier 1 ■ Deronco’s „Fan- 
dango“. Ein schwarzer, goldgemusterter Vor¬ 
hang bildet den Hintergrund. Ganz links 
steht die schlanke, geschmeidige Gestalt der 
Tänzerin und ganz rechts durch den weiten 
Raum der mit roten Teppichen belegten Bühne 
getrennt, kauern zwei Musikanten, echte Mau¬ 
rensöhne. Unwillkürlich erinnert das Bild an 
die meisterhafte „CarmencHa'* und den „Z/- 


geunertam“ Sargent's, in dem sich wildes 
zuckendes Leben in rasenden Bewegungen 
ausdrückt, während Deronco seine Tänzerin 
stolz aufrichtet und nur in der Fussstellung 
Bewegung erkennen lässt. Vorzüglich in Hal¬ 
tung und Physiognomie sind die der Tänzerin 
mit Glutaugen folgenden Musikanten. Der 
Künstler hat in „Fandango“ der Secession nicht 
nur das räumlich grösste, sondern auch das sen¬ 
sationellste Werk gegeben. Äusserst lebendig 
ist das „Bacchusfest" Schmutzler’s, dessen 
„italienische Schauspieler“ vom vorigen Jahr 
noch in bester Erinnerung stehen. Wie da¬ 
mals so zeigt er sich auch jetzt wieder als 
famoser BeleuchtungskOnstler, dem namentlich 
die differenzierten Fleischtöne der herrlichen 
Frauenkörper prächtig gelungen sind. Er 
schwelgt diesmal geradezu im Fleisch, auf das 
der weinselige Gott lächelnd herabsieht. Der 
Effekt hätte sicher vergrössert werden können, 
wenn das Bild mehr in die Breite gearbeitet 
und dadurch etwas mehr vom landschaftlichen 
Hintergrund sichtbar wäre. 

Starkes Empfinden bekundet das alle¬ 
gorische Bild „ Vorn Tod zum Leben“ von L. 
Putz. In furchtbarer Verzweiflung wirft sich 
ein Mann über den schmerzverzerrten Leib 
seines jungen Weibes, das die Menschenblüte, 
der sie das Leben geschenkt, mit dem Tode 
bezahlen muss. Diese beiden Figuren in 
ihrem gewaltigen physischen und psychischen 
Schmerz, bilden das ergreifende Hauptmoment 
der Darstellung, die durch das zu sehr in den 
Vordergrund gerückte Mädchen mit dem kleinen 
Kinde auf den Armen wesentlich beeinträchtigt 
wird. 

Der Berliner Ludwig Dettmann, 
der einst mit seinem „ Verlorenen Sohn“ den 
ersten grossen Erfolg erzielte, stellt die 
„Heimkehr vom Kirchhof* und „ Unterm 
Fliederbusch“ aus. Ersteres lässt trotz aller 
technischen Vorzüge ziemlich kalt, letzteres 
wirkt durch seine stoffliche Anspruchslosigkeit 
und malerische Ausführung. Besonders er¬ 
freulich ist es zu sehen, dass sich der Künstler 
von jenen Sentimentalitäten frei zu machen 
sucht, die einigen seiner Bilder das Prädikat 
„misslungen“ eingetragen haben. Paul 
Hoecker jagt den Beleuchtungsproblemen 
nach und hat manches, wie z. B. die gleich¬ 
zeitige Feuer- und Mondlichtwirkung in seinen 
diesjährigen Schöpfungen glücklich gelöst. Die 
Doppelbeleuchtung auf seinem „ Vesuvius“, 
die „letzten Sonnenstrahlen“ in deren roter 
Glut ein schwarz gekleidetes Mädchen steht 
und der in ein Empire-Zimmer fallende goldene 
Strahl der Abendsonne sind Effekte von reiz¬ 
voller Wirkung und virtuoser Technik. Auch 
in Hugo Koenig’s „Sommernacht“ findet 
sich äusserst feine Lichtbeobachtung der blas- 



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Popp, Deutsche Malerei auf der VII. imlrn. Kunstausstellung in München. 585 



Charles J. Palmin. 

sen Mondstrahlen, die in ein Zimmer fallen. 
Die „Junge Liebe"' Fritz Strobentz’s be¬ 
handelt wieder dessen Spezialität, das durch 
grüne Blätter brechende Sonnenlicht, das 
übrigens diesmal viel besser wiedergegeben ! 
is^,,,als auf, seinem vom Jahre 1894. 

Sehr viel feine Stimmung liegt in Hans 
Borchardt’s, in diskret brauera Ton ge- 
gehaltenen „Interieur“, das durch die har¬ 
monische Ruhe vorteilhaft gegen seine früh- 
•eren unruhig farbigen Bilder absticht. Ebenso 
wirkt P a u 1 H e tz e’s dunkel gehaltener Buchen- 
w’ald, durch dessen tiefe Einsamkeit ein in 
Gedanken versunkener Mönch dahinschreitet. 
Toni Stadler, M. Kuschel, O. Zwintscher, Ed. 
Steppes, G. Meinzold, B. Becker, H. Eichfeld, 
Th. Hagen, Hamacher, K. Haider, StrOtzel 
und Hans von Heider sind durch Landschaften 
vertreten, welche zum grössten Teil die Eigen¬ 
schaften besitzen, von denen ich zu Anfang 
sprach. 

Ein prächtiger Landschafter ist Walther 
Leistikow, der scharf beobachtend der Na¬ 
tur ihre Geheimnisse ablauscht und ehrlich 
und gewissenhaft malt, was er sieht und wie 
er es sieht. Ihm ebenbürtig ist Franz 
Skarbina. Modern vom Scheitel bis zur 
Zehe, flott und chic in der Technik, exakt 
in der Auffassung, entgeht ihm kein Licht¬ 
strahl, kein Vibrieren der Reflexe, was wieder 
sein „Int Zentrum Berlin's“ beweist. Eine 
der vorzüglichsten Landschaften ist Palmie’s 
„An der Wörnitz“.. Die starken frischen 
Farben des Bodens und des trüben, schlam- 


An der Wörnitz. 

migen Wassers, die graue Brücke und das 
vom Regen noch feuchte Haus sind wunder¬ 
voll gegeben und erzielen eine kraftvolle ein¬ 
heitliche Wirkung, die sich unmittelbar auf 
den Beschauer überträgt. 

In vielen der ausgestellten Landschaften 
sind Boecklin’sche Keime aufgegangen, die 
oft hindernden Einfluss ausüben und eigene 
Gedanken unterdrücken, die wert wären, 
äussere Form anzunehmen. So steht beson¬ 
ders der Worpswerder Otto Modersohn 
unter diesem Abhängigkeitsverhältnis, das 
seinen Bildern jede Einheitlichkeit und vor 
allem den persönlichen Charakter benimmt. 
Sein „Mondaufgang im Moor“ ist voll schöner 
packender Momente, die aber die Unbedeut¬ 
samkeit des Ganzen nur um so schärfer her¬ 
vortreten lassen. Es fehlt hier das spezifische 
Gepräge, welches die Worpswerder Schule, 
die mit der Glasgower KOnstlergruppe manche 
Ähnlichkeit hat, in Mackensen, Hans am Ende 
und Overbeck erkennen lässt. Die Natur¬ 
studien des letzteren nehmen immer mehr an 
persönlichem Empfinden zu, ohne ihren echt 
naturalistischen Charakter deshalb zu mindern. 
Etwas mehr Sorgfalt in der Gesamtdurch¬ 
arbeitung, wodurch die künstlerische Gleich¬ 
wertigkeit erstrebt wird, würde den Worps¬ 
werder Schöpfungen sicher eine hervorragende 
Wirkung verleihen. Meister Herterich’s 
„betrunkener Faun“ ist trotz Boecklin’s 
und Stuck’s sonnig frohem Heidentum ein 
durchaus unabhängiges Werk, was man von 
W.G e org i’s „ Centauren“mchi behaupten kann. 


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586 Popp, Deutsche Malerei auf der VII. intern. Künstausstellung in München. 


Viel besser gefällt uns seine stimmungs¬ 
volle „ Winternacht'*, die den feinen Künstler 
verrät. Auch Wilhelm Bader’s ,,Räuber" 
sind in Form und Farbe Boecklin’schen Vor¬ 
bildern entnommen und zwar mit viel Geschick. 
Gerade deshalb misst man sie mit dem grossen 
Massstab, den Boecklin’s Kunst geschaffen. 
Wenn Bader dafür zu klein befunden wird, 
so ist es eben die Schuld seiner Vorbilder, 
die als Monumente eines gigantischen Künstler¬ 
geistes an der Schwelle des Jahrhunderts alles 
andere überragen. Ernst Liebermann 
krankt ebenfalls an dieser Boecklinsucht, die 
ihn den „Abenteurer“ schaffen Hess. Leider 
glaubt ihm keiner, dass sich das graziöse Reiter¬ 
lein auf dem starkknochigen Ross den Eingang 
zu der von der Abendsonne beschienenen 
mystischen Burg mit des Schwertes Schneide 
erzwingen wird, wenn auch der höchst über¬ 
flüssige Lorbeerkranz, den er hält, von voll¬ 
brachten Thaten spricht. Sehr viel hat Zum¬ 
busch von Boecklin gelernt. Sein liebliches 
anmutendes’’„5<7rf" ist ganz von seines Meisters 
Geist durchdrungen, den er in eigener Weise 
zu interpretieren versteht. Der sensible Louis 
Corinth, dessen „Venus" und „Frühling" so 
viel versprachen, stellt ein „Selbstportrait" 
und „ Trifolium*' aus. Ersteres zeigt uns den 
Künstler am Atelierfenster stehend, neben 
einem zur Hälfte sichtbaren Skelett. Sowohl 
die Technik mitdem 
hellen Hintergrund 
des Fensters als 
auch der Ausdruck 
ist vorzüglich, 
dagegen ist die Bei¬ 
gabe des Skelettes 
ein recht fragwür¬ 
diger Scherz. Ein 
solches memento 
mori muss denn 
doch anders darge¬ 
stellt werden, um 
durch bedeutsamen 
Sinn Berechtigung 
zu erlangen. Hier 
veranlasst es nur 
zur Bemerkung: 

„schade, dass der 
gesunde Pommern¬ 
kopfeinst verfaulen 
muss". Die drei 
Mädchenköpfc 
„Trifolium" be¬ 
sitzen die Anmut, 

Lieblichkeit und 
formale Feinheit, 
die wir an dem 
Künstler 
sind. 


Als Meisteraquarellist verdient Hans von 
Bartels die höchste Beachtung. Trotz der un¬ 
geheuren Schwierigkeiten, welche die „Aqua^ 
relltechnik" bietet, weiss er mit bewunderns¬ 
wertem Geschick die Feuchtigkeit der nor¬ 
dischen Atmosphäre und den durch die 
Elementargewalt des Meeres hervorgebrachten 
Stimmungsernst des Strandlebens wiederzu¬ 
geben. Gleiche Virtuosität entfaltet Hans 
Petersen auf seinem Pastellbild „kommende 
Flut“. Ganz brillant sind die vom Horizont 
heranrollenden Wogen in ihrer weichen Mas¬ 
sigkeit dargestellt, während die Uferfelsen 
durch die Art der Technik wie mit Sammet 
überzogen erscheinen. Es zeigt sich hier 
doch, dass der Pastellstift, zumal wenn er für 
landschaftliche Stoffe auf grossen Flächen an¬ 
gewandt wird, nicht jene differenzierte Aus¬ 
drucksfähigkeit besitzt, w'elche die Wirkung 
eines Bildes ausmacht. 

Zum Schluss möchte ich noch die „ Tier- 
stücke“ Zügel’s und die „Schlachtenbildcr** 
Brausewetter’s und Ungewitter’s er¬ 
wähnen. Unter den Zogel’schen Bildern fällt» 
ganz besonders die vor dem dahinbrausenden 
Zug wartende Schafheerde mit dem Hund an 
der Spitze auf. Ein Vergleich dieses Bildes 
mit den sonstigen ausgestellten Tierstücken 
zeigt den Unterschied zwischen der getreuen 
Naclibildung der Tierbewegung und dem tiefen 

Erfassen des Ani¬ 
malischen über¬ 
haupt. Dies Ein¬ 
dringen in die geist¬ 
igen Eigenschaften 
derTiere, die Inti¬ 
mität mit ihrem 
Charakter, die 
sensible Beobach¬ 
tung des Land¬ 
schaftlichen, der 
Licht- und Luft¬ 
wirkungen, welche 
erst das Tier mit 
seiner Umgebung 
zur künstlerischen 
Harmonie zu¬ 
sammenstimmen, 
lassen in Zügel 
den durchaus „mo¬ 
dernen" Künstler 
erkennen, der in 
einfacher, natür¬ 
licher Weise von 
derschlichtenGrös- 
se des Tieres er¬ 
zählt. Das heilige 
Feuer der Arndt 
und Körner spricht 
machtvoll aus 



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Nestler, Pflanzenphysiologische Beobachtungen. 


587 



Hans Petersen. Kommende Flut. 


Brausewetter s „anno 181 f’, die todes- schmälern, welche sich jetzt wieder in stolzem 
mutige Schneidigkeit der in den feindlicben Flug vom naturalistischen Boden in ihre Re- 


Kugelregen stürmenden Reiter aus Unge¬ 
witters „Mars la Tour'*. Dort charak¬ 
terisiert das gewaltige Auflehnen gegen 
die empörende Schmach der Fremdherrschaft, 
der innere Befreiung verlangende Drang die 
Körner’schen Worte „es ist kein Krieg von 
dem die Kronen wissen“, — während hier 
das eiserne Pflichtgefühl, d«- militärische Ge-y 
horsam und heroische Todesmut des Jahres 
1870 zum vollsten Ausdruck gelangt. 

Es ist klar, dass bei einer internationalen 
Kunstausstellung, die nahezu zweitausend Ge¬ 
mälde einschliesst, von denen etwa die Hälfte 
auf die deutschen Maler fällt, nicht jeder 
Künstler die Würdigung im vorliegenden Be¬ 
richt erhalten konnte, die. ihm nach seinen 
Werken gebührt. Es war auch weniger meine 
Absicht, in kurzem Umriss eine Charakteristik 
von Künstlerpersönliclikeiten in Bezug auf 
ihre Schöpfungen zu geben, als vielmehr an 
der Hand der angeführten Beispiele den Stand 
und den Standpunkt der deutschen Malerei 
überhaupt zu zeigen. Die Zeit des Suchens 
und Experimentierens mit Form und Farbe 
ist vorbei. Die hin- und herschwankenden, 
aufstrebenden und vorwärtsstürmenden Indi¬ 
vidualitäten haben bestimmte Formen ange¬ 
nommen und sind im Land harmonischer Ruhe 
angelangt, welches einst von der jungkräftigen 
Schaar der Sezessionisten urbar gemacht wurde. 
Abgeklärtheit und Ruhe spricht denn auch 
aus all den ausgestellten Werken, welche die 
„neue Kunst“ verkörpern. In sich abge¬ 
schlossen und fest giebt sie ehrlich und in 
harmonischer Wirkung ein Bild der Natur, 
ohne die Rechte der Königin Phantasie zu 


gionen schwingt. 


Anc<fgungea zu Beobachtungen auf Spazier- 
/ gängen und Reisen. 

I. Pflanzenphysiologische Beob¬ 
achtungen. 

Von Dr. A. Nestler. 

Als des grossen Linn6 Tochter Elisabeth 
Christine an einem Juliabend des Jahres 1762 
im Garten lustwandelte, sah sie plötzlich an 
den feuergelben Blüten der Kapuzinerkresse 
(Tropaeolum majus) ein blitzähnliches Auf¬ 
leuchten. Linnö, der anfangs die Wirklich¬ 
keit dieses Phänomens bezweifelte und an eine 
Sinnestäuschung glaubte, überzeugte sich selbst 
von der Wahrheit dieses seltsamen Schau¬ 
spiels und veranlasste" seine Tochter, einen 
Bericht der schwedischen Akademie der Wissen¬ 
schaften einzusenden, welcher auch daselbst 
in dem genannten Jahre unter dem Titel 
„Über das Leuchten der indianischen Kresse“ 
erschienen ist; in demselben ist eine aus¬ 
führliche Beschreibung der von vielen Per¬ 
sonen bestätigten Erscheinung enthalten, aber 
keine Erklärung derselben; diese wird der 
„Experimentalphysik“ überlassen. 

Lange Zeit blieb diese Beobachtung ein¬ 
zig in ihrer Art, bis Haggren (1788, Ver¬ 
band!. d. kgl, schwed. Akad. d. Wissensch.) 
dieselbe Erscheinung bei der Ringelblume 
(Calendula oflicinalis), der Feuerlilie (Lilium 
bulbiferum) und der Sammet- oder Totenblume 
(Tageter patula) in mehreren Jahren gesehen 


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588 


Nestler, Planzenphysiolocische Beooaciiiungen. 


und studiert haben will. Er erklärt dieses 
Phänomen als eine elektrische Erscheinung, 
welche in den Monaten Juli und August bei 
klarer, trockener Luft unmittelbar nach Sonnen¬ 
untergang deutlich sichtbar sei. — Abgesehen 
von einigen anderen Beobachtern ist noch 
Goethe zu erwähnen, welcher, wie er in 
seiner Farbenlehre erzählt, in der Dämmer¬ 
ung eines Juniabends (1799) an den Blüten 
des Schlafmohn gemeinsam mit einem Freunde 
ein Aufleuchten wahrgenommen hat. 

Obwohl an der Glaubwürdigkeit und der 
objektiven Beobachtung der genannten Per¬ 
sonen wohl nicht gezweifelt werden kann, 
so wurden doch vielfach Stimmen laut, welche 
das Aufleuchten der Blumen als eine optische 
Täuschung bezeichneten. Was aber E. Fries, 
Professor der Botanik in Upsala, erzählt (Flora 
1859), lässt gar keinen Zweifel zu, dass derartige 
Lichterscheinungen unter gewissen Beding¬ 
ungen thatsächlich Vorkommen. Als er an 
einem Sommerabende ungeföhr um x 10 Uhr 
im Garten herumging, sah er plötzlich, dass 
eine alleinstehende Mohnblüte (Papaver orien¬ 
tale) einen Lichtblitz ausstrahlte; gleich dar¬ 
auf sah er dieselbe Erscheinung bei 3~4 
anderen Blüten. Um sich von seiner Wahr¬ 
nehmung Gewissheit zu verschaffen, führte 
er eine Person zu dem Mohn, welche niemals 
etwas von einer derartigen Erscheinung ge¬ 
hört hatte, und ohne irgendwie darauf auf¬ 
merksam gemacht worden zu sein, rief die¬ 
selbe sofort: „Es blitzt aus den Blumen.“ 
Denselben Versuch wiederholte Fries im Laufe 
der folgenden Tage mit 20 Personen und 
stets mit demselben Erfolge. Auf eine Auf¬ 
forderung in der Zeitung hin erschienen 
im Ganzen 150 Personen im Garten, von 
denen nur 3 — 4 das Leuchten der Blumen 
nicht sahen; doch diese waren, wie sich her¬ 
ausstellte, kurzsichtig. E. Fries, der seine 
Beobachtungen stets zwischen xio und 
Uhr machte, glaubte bisweilen zu bemerken, 
dass die einzelnen ßlitze aus dem Grunde 
der Blüte kamen und zwar dorther, wo die 
Anheftungsstelle der Staubgeftsse sich be¬ 
findet. — Seit jener Zeit hat meines Wissens 
Niemand Über ähnliche Erscheinungen berich¬ 
tet. Da nun gar kein Zweifel herrschen kann, 
dass dieses Phänomen thatsächlich stattfindet, 
wäre es gewiss eine dankenswerte Aufgabe, 
der Sache näher auf den Grund zu gehen; 
an dem geeigneten Material hierzu fehlt es 
nicht, da die genannten Blumen überall ange¬ 
pflanzt werden. Dass es eine Erscheinung 
nach Art der Elmsfeuer ist, muss wohl aus¬ 
geschlossen werden, da man nicht einsehen 
könnte, warum sie gerade an bestimmte Blu¬ 
men geknüpft ist. 

Andere Lichtphänomene in der Pflanzen¬ 


welt sind: das oft sehr starke Leuchten des 
Holzes, das entweder auf das mit phosphores¬ 
zierender Leuchtkraft ausgestattete Pilzlager 
(= das Mycelium) eines Hutpilzes, des Holli- 
march, oder auf Bakterien zurückzuführen ist; 
auch die Cholerabazillen leuchten; beim so¬ 
genannten „Leuchtmoos“ beruht das Leuchten 
auf der Reflexion des Lichtes durch beson¬ 
ders gebaute Zellen. 

Ein anderes interessantes und leicht zu 
beobachtendes Phänomen aus dem Gebiete 
der Pflanzenwelt ist die Ausscheidung flüssigen 
Wassers an den Blättern: Wir versetzen uns 
in die frühe Morgenstunde eines Sommertages. 
Die Sonnenstrahlen vermögen die graue 
Wolkenhülle, welche den Himmel überzieht, 
nicht zu durchbrechen; die Luft ist von Wasser¬ 
dampf gesättigt, und schon bei geringer 
körperlicher Anstrengung bedecken Tropfen 
unsere Stirn: es ist, wie wir zu sagen pflegen, 
und damit die Situation richtig bezeichnen, 
wie in einem Treibhause. Dort auf jener 
grünen Wiese bewegen sich langsam einige 
Menschen und streifen behaglich mit ihren 
Füssen die Tropfen ab, welche gleich Perlen 
an den Spitzen der Gräser und an den Blatt¬ 
zähnen anderer Kräuter hängen. Sie glauben 
nach modernen Gesetzen zur Förderung ihrer 
Gesundheit ein Taubad zu nehmen; doch 
heute ist es gar kein Taubad, sondern etwas 
ganz anderes, das gewiss ebenso wirksam 
ist, wie jenes. Es fehlen nän^ich heute alle 
notwendigen Bedingungen zur Taubildung. 
Wenn am Abend der Himmel von Wolken 
frei und die Luft ruhig ist, dann verlieren 
bekanntlich alle Körper im Freien, insbesondere 
die verschiedenen Feld- und Wiesenpflanzen, 
mehr oder weniger an Wärme durch Aus¬ 
strahlen derselben gegen den Himmelsraum; 
dadurch wird auch in der nächsten Umgeb¬ 
ung dieser Pflanzen die Luft so abgekühlt, 
dass ein Teil des in ihr enthaltenen Wasser¬ 
dampfes zu Tropfen kondensiert wird. Wenn 
aber der Himmel mit Wolken bedeckt ist, 
so findet keine Wärmestrahlung statt und in¬ 
folge dessen auch keine Taubildung. Am 
Abend, der dem von uns angenommenen 
schwülen Sommermorgen vorausging, war der 
Himmel trüb; geregnet hat es auch nicht. 
Woher also die vielen Wassertropfen auf den 
Kräutern? 

Dieses der Taubildung äusserlich ähn¬ 
liche, von demselben aber ganz verschiedene 
Phänomen ist eine Ausscheidung des Wassers 
in flüssiger Form, welches an den Spitzen 
und am Rande der Blätter, dort, wo die Ge- 
fässbündelbahnen endigen, durch Spaltöffnun¬ 
gen austritt. Sie kommt den meisten Kräutern 
zu, doch keineswegs allen; so fehlt sie auf¬ 
fallender Weise mit wenigen Ausnahmen allen 


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Nestler, Pflanzenphysiologische Beobachtungen. 


589 


Schmetterlingsblütlern (Kleearten, Erbsen, 
Wicken etc.). Den Malvenarten dagegen, 
denen man bisher diese Wassersekretion voll¬ 
kommen abgesprochen hat, kommt sie aus¬ 
nahmslos sogar in sehr starker Weise zu, 
wie ich kürzlich nachgewiesen habe. Für die 
Bäume liegen nur sehr wenige Beobachtun¬ 
gen vor: schon Senebi er beobachtete im 
vorigen Jahrhundert die Ausscheidung an den 
Blättern von Pappeln und Weiden, und 
Smith will in England an schattigen Plätzen 
bei heissem und stillem Wetter eine so starke 
Absonderung an den Blättern jener Bäume 
gesehen haben, dass das Wasser wie ein 
leichter Regen herabfiel. Da die näheren Um¬ 
stände dieser seitdem nicht wieder beobach¬ 
teten Erscheinung nicht angegeben sind, so 
kann man nicht mit Sicherheit erkennen, ob 
hier wirklich Wasserausscheidung oder eine 
andere Erscheinung (etwa Honigtau) vorlag. 
Dass die Blätter der genannten beiden Bäume 
thatsächlich Wasser ausscheiden, davon kann 
man sich leicht überzeugen, wenn man gut 
bewurzelte, junge Exemplare derselben im 
Blumentopf unter eine Glasglocke stellt, welche 
unten mit Wasser abgesperrt ist. Dadurch 
wird ein von Wasserdampf erfüllter Raum 
hergestellt, in welchem die erwähnte Erschein¬ 
ung in kurzer Zeit eintritt. 

Ein alter, sonst glaubwürdiger Botaniker 
will das Wasser an der Blattspitze der be¬ 
kannten ’ Zierpflanze Colocasia gleich einer 
Fontaine hervorspritzen gesehen haben, welche 
Beobachtung in dieser Stärke bis heute nicht 
wieder gemacht worden ist. 

Bezüglich der Wasserausscheidung der 
Pflanzen auf Feldern und Wiesen ist noch 
Folgendes hervorzuheben. Es giebt, wie schon 
erwähnt wurde. Tage oder besser gesagt 
Nächte, an welchen eine Taubildung infolge 
des bewölkten Himmels vollkommen ausge¬ 
schlossen ist; dann sind alle Tropfen auf 
Feldern und Wiesen — vom Regen natürlich 
vollständig abgesehen -- auf Ausscheidung 
durch die Blätter zurtickzuführen. — Aber 
auch in dem Falle, wo Taubildung möglich 
war, ist ein Teil der in den Strahlen der 
Morgensonne gleich Tausenden von Diamanten 
funkelnden Tropfen auf die Thätigkeit der 
Pflanzen zurückzuführen. Steigt die Sonne 
höher empor, dann verschwinden natürlich 
alle Tropfen in Folge der höheren Temperatur: 
sie verdunsten. 

Welchen Vorteil geniesst nun die Pflanze 
durch die Sekretion des Wassers in Tropfen¬ 
form? Man hat bisher geglaubt, dass dadurch 
der bei gehinderter allgemeiner Transpiration 
leicht eintretenden Überschwemmung der sonst 
von Luft erfüllten grossen Hohlräume zwischen 
den Zellen des inneren Blattes vorgebeugt 


werde; durch eine derartige Injizierung des 
Blattes mit Wasser werden sehr wichtige Le¬ 
bensfunktionen desselben gestört. Der geniale 
Botaniker Stahl ist jedoch anderer Ansicht, 
indem er sagt: ') die Transpiration der Blätter, 
d. i. die Aushauchung von Wasserdunst, ist 
für die Pflanze bekanntlich von der aller- 
grössten Bedeutung, weil dadurch der mit 
Nährsalzen versehene Wasserstrom emporge 
hoben und den Blättern zugeführt wird, wo 
die Rohstoffe verarbeitet werden. Ist die 
Transpiration mehr oder weniger gehindert, 
was in einer wasserdampfreichen Atmosphäre 
stets der Fall ist, oder auch dann, wenn die 
Blattspreiten von Tautropfen bedeckt sind, 
so wird durch das Austreten flüssigen Wassers 
bewirkt, dass trotz der ungünstigen Umstände 
Nährflüssigkeit aus dem Boden den Blättern 
zugeführt wird. 

Manche Blätter aber scheiden selbst unter 
den günstigsten Bedingungen kein Wasser 
aus; hierher gehören z. B. alle Kleearten. 
Es fragt sich nun, welche besondere Einrich¬ 
tung diese Pflanzen als Ersatz für die mangelnde 
Sekretion von Wassertropfen zur Zeit un¬ 
günstiger Transpirationsverhältnisse besitzen. 
— Es ist die Schlafstellung der Blätter, jene 
auffallende Erscheinung, welche z. B. einem 
Kleefelde am Abend ein höchst eigentümliches 
Aussehen gewährt. Während tagsüber die 
3 Fiederblättchen eines Kleeblattes eine mehr 
oder weniger horizontale Lage erkennen lassen, 
so dass sie dem Beschauer die morphologische 
Blattoberseite zukehren, sind am Abend und 
die ganze Nacht hindurch die beiden unteren 
Blättchen so angeordnet, dass sie sich mit 
der Blattoberseite berühren, während das dritte 
Blättchen schräg nach aufwärts gerichtet er¬ 
scheint. Da nun zu dieser Zeit vorherrschend 
die Blattunterseiten dem Beschauer zugekehrt 
sind, so gewährt eine derartige Kultur nach 
Sonnenuntergang einen ganz fremden Anblick. 
Schlafstellungen der Blättchen zeigen auch 
der Schneckenklee (Medicago), die Esparsette 
(Onobrychis); der Hornklee (Lotus), die Kro¬ 
nenwicke (Coronilla) u. v. a. Charles Darwin 
war der Meinung, dass die Schlafstellung der 
Blättchen ein Schutz gegen zu starke, nächt¬ 
liche Abkühlung und eventuell gegen Frost¬ 
gefahr sei, da horizontal stehende Blattspreiten 
weit mehr Wärme ausstrahlen, als mehr oder 
weniger vertikal gelagerte. An dieser An¬ 
sicht wird vielfach noch heute festgehalten. 
Stahl dagegen sieht in dieser veränderten 
Lage der Blätter während der Nachtzeit ein 
Mittel, die zu starke Betauung im Interesse 
der Transpiration zu verhindern und beweist 
dies durch ein sehr einfaches Experiment: 


’) Botanische Zeitung, Heft VI u. VII 1897. 


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590 


WiEOEMANN, Die neuesten Entdeckungen in Aegypten. 


eine horizontal angebrachte Glasscheibe wird 
bedeutend stärker von Tautropfen besetzt, als 
eine vertikal stehende in derselben Zeit. — 
Dass die erwähnten Bewegungen der 
Blätter vom Lichte abhängig sind, davon kann 
man sich leicht überzeugen: wenn man 
einige abgeschnittene mit ihren Stielen in 
Wasser stehende Kleeblätter, deren Ficder- 
blättchen horizontal gelagert sind, verdunkelt 
(etwa dadurch, dass man eine Pappschachtel 
über dieselben stülpt), so kann man nach kurzer 
Zeit erkennen, dass diese Blättchen die oben 
näher beschriebene Schlafstellung einnehmen. 


Die neuesten Entdeckungen in Ägypten 
und die älteste Geschichte des Landes. 

Von Professor Dr. A. Wiede mann. 

(Schluss). 

Über die Tracht der Leute ist wenig be¬ 
kannt, die Männer trugen um den Leib einen 
Schurz, Klagefrauen ein bis zu den Knöcheln 
herabhängendes Gewand, bei Dienerinnen 
blieb der Oberkörper nackend. Leinewand¬ 
reste haben sich in den Gräbern mehrfach 
gefunden, auch Spinnwirtel treten auf, die 
Weberei war demnach bekannt; über den 
Schnitt der Kleider lässt sich jedoch bisher 
nichts aussagen. Das Haar, welches schwarz 
oder blond war, trug man halblang und wel¬ 
lig, der Bart der Männer war mittellang und 
spitz zulaqfend. Auf dem Kopfe trugen letztere 
gelegentlich eine hohe spitze Mütze. Die 
Frauen tätowierten sich gerade und gebrochene 
Linien, Bilder von Bergziegen und ähnliches 
in den Körper ein. Dies ist bemerkenswert, 
da das Tfltowieren im späteren Ägypten fehlt 
und nur unter fremdem Einflüsse, wie zur Zeit 
Amenophis IV. vereinzelt auftritt, dagegen be¬ 
stand die Sitte bis in späte Perioden hinein 
bei den westlich angrenzenden Libyern. 

Von Schmuckgegenständen trug man rund¬ 
liche Perlen aus rot-schwarz gebranntem Thon, 
flache Perlen aus gefärbten Knochen, selten 
solche aus Gold, Silber oder auffallend grossen 
und klargelben Bernsteinstücken. Armringe 
bestanden aus flach abgeschnittenen Muschel¬ 
umgängen, aus hartem Stein und selten, in 
den jüngsten Gräbern, aus schmalen Bronze¬ 
bändern. ln das Haar wurden Nadeln und 
flache Kämme aus Knochen gesteckt, welch 
letztere als Krönung flache Bilder von Stein¬ 
böcken, Stierköpfen, Vögeln u. dergl. tragen. 

Geräte und Waffen aus Metall sind selten, 
häufig sehr fein gearbeitete aus Feuerstein: 
Beile, Messer, darunter solche mit Griff, 
Schaber, Lanzenspitzen, Pfeilspitzen, die nach 
vorn zu jedoch nicht in einer Spitze, sondern, 


wie noch lange nachher bei den Libyern, in 
einer Schneidefläche enden. Keulenköpfe 
wurden aus rundlichen oder flachen Steinen 
gefertigt. Eine Durchlochung in der Mitte 
gestattete das Keulenholz, das als Griff diente, 
hindurch zu stecken. — Als Nahrungsmittel 
dienten, wie die Speiseabfallhaufen zeigen, 
jedenfalls Rinder, Vögel, Datteln und Muscheln 
(eine ünio und Cyclas consobrina). 

Eine grosse Rolle spielen Ge/ässe aus 
Stein, Granit, Marmor, Alabaster u. s. f. Sie 
sind zum weitaus grössten Teile ohne Dreh¬ 
scheibe gearbeitet, aber von prächtiger Aus¬ 
führung. Die Formen sind die von flachen 
Tellern, Schalen mit oben etwas eingezogenem 
Rande, zylinderischen Töpfen, mit schönem 
oberen Randprofil, an deren Oberteil häufig 
in erhabenem Relief ein Schnurornament her¬ 
umläuft. Drehscheiben-Arbeit ist sehr selten, 
während sie bereits zur Zeit Snefru’s die 
Regel ist. Wie bei den Steingefässen, so 
fehlen Spuren der Drehscheibe fast durch¬ 
gängig bei den Thongefässen. Unter diesen 
sind die auffallendsten, von sonstigen ägyp¬ 
tischen Arbeiten abweichende geschmackvolle 
Formen von Schalen und Töpfen, mit einer 
glänzend roten Oberfläche, die man teils durch 
das Brennen erzielte, teils durch das Aufträgen 
von roter Farbe zu erreichen trachtete. 
Die Glättung erfolgte mittelst schmaler, zu¬ 
meist von oben nach unten unter starkem 
Druck gezogener Striche. Häufig wurde der 
obere Rand dieser Gefässe glänzend schwarz 
gefärbt, wobei man keine Rücksicht darauf 
nahm, dass das Schwarz in irgendwie gleich- 
mässiger Weise an das Rot anstiess. Meist 
erzielte man das Schwarz durch Anschmauchen 
im Brennen, daneben ward es nachträglich 
durch Aufreiben von Grafit erzielt. Ganz 
schwarz gebrannte Gefässe fehlen in dieser 
Kategorie, doch malte man, wenn auch selten, 
das ganze Innere von Schalen mit Grafit 
aus. Auf die roten Gefässe wurden oftmals 
mit weisser Farbe Ornamente oder auch Bilder, 
besonders solche von Bergziegen, aufgetragen. 

Eine weitere Klasse von keramischen Pro¬ 
dukten besteht aus rotbraunen und gelben 
Gefässen in rohem Thon, mit meist rauher, 
selten geglätteter Oberfläche. Die hierher 
gehörigen, bereits erwähnten zylinderischen 
Gefässe sind meist mit Strichverzierungen in 
brauner Farbe versehen, die anderen Gefässe 
nicht selten mit Wellenlinien, Strichen, Spi¬ 
ralen, stark stilisierten Palmblättern, Stein¬ 
böcken, Straussen, Boten mit und ohne Be¬ 
mannung. Während den roten Töpfen Henkel 
fehlen, kommen hier rudimentäre Henkel in 
Wellenform und Schnurhenkel vor. 

An dritter Stelle sind weit seltnere schwarze 
Schalen und Teller aus rohem Thon zu nen- 


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Wiedemann, Die neuesten Entdeckungen in Aegypten. 


591 


nen, in welche Linien und Punkte eingekratzt 
sind, die man dann mit weisser Farbe aus¬ 
gefüllt hat; das Motiv ist meist dem Flecht¬ 
werk entlehnt. Diese Technik ist in Ägypten 
sonst so gut wie unbekannt; ein entsprechen¬ 
des Stück fand sich in einem Grabe aus der 
Zeit Snefru’s, häufiger treten derartig gear¬ 
beitete Gefässe, freilich mit geschmackvollerer 
Zeichnung und in feiner entwickelten Formen, 
in Resten der 12. Dynastie, besonders in 
den Stadtruinen von Kahun im Fayum auf, 
wobei sich klar erkennen lässt, das man hier 
die Endglieder einer Entwicklung vor sich 
hat, die von den erstgenannten Schalen und 
Tellern ihren Ursprung nahm. 

Endlich sind unter den Fundstücken aus 
unseren Gräbern kleine plastische Werke zu 
erwähnen, Bilder von Männern und Frauen 
in Kalkstein, Schiefer und rohem Thon, ähn¬ 
lich gefertigte Nilpferde; kleine Fische, lie¬ 
gende Löwen und Hunde in Elfenbein, schöne 
TierfQsse, die als Möbelfüsse zu dienen hatten, 
in gleichem Material, Modelle von Schiffen 
mit und ohne Kajüte in Thon u. s. f. Be¬ 
sonders die Tierbilder zeigen hier eine auf¬ 
fallend naturalistische und dabei doch stili¬ 
sierte Auffassung, die sich ebenso stark von 
der herkömmlich ägyptischen unterscheidet, 
wie an die altbabylonische erinnert. 

Die Hieroglyphen-Schri/t war bereits be¬ 
kannt. Nicht nur finden sich zahlreicheTöpfer- 
märken, es treten auch Steinstelen mit Eigen¬ 
namen und Titeln, Elfenbeinplatten mit kurzen 
Inschriften, Abdrücke von beschriebenen Siegel¬ 
zylindern auf. Letztere sind besonders inter¬ 
essant. In Ägypten erfolgt das Siegeln mit 
Hülfe von Platten mit Griff oder Skarabaeen, 
der Zylinder findet sich häufiger nur im alten 
Reich, gelegentlich unter der 12. Dynastie, 
um dann zu verschwinden. Dagegen ist er 
in Mesopotamien, in Babylonien und Assyrien, 
stets beliebt geblieben, erst in junger Zeit 
erscheint dort neben ihm das flache Siegel. 

Dies wäre in Kürze das thatsächliche Ma¬ 
terial, welches die neuen Funde im Nilthale 
zu Tage gefördert haben. Ihm gegenüber er¬ 
hebt sich nun die Frage, aus welcher Zeit 
stammen die Gräber, die es enthalten haben, 
und welche Schlüsse lassen sich aus ihm für 
die Entwickelung des ältesten Kulturvolkes, 
welches wir kennen, ziehen. 

Petrie, der die chronologische Frage 
eingehender behandelt hat, schrieb diese 
Nekropolen einem libyschen Stamme zu, der 
in der Zeit der 7.—ii. Dynastie (um 3000 
V. Chr.) Teile Ägyptens eroberte und hier 
ohne jede Vermischung mit den Eingeborenen 
Jahrhunderte lang ansässig war. Amölineau 
glaubte in Abydos die Gräber der Manen 
entdeckt zu haben, die Manetho dem ersten 


Pharao Menes vorangehen Hess; Morgan 
setzte die Funde in eine prähistorische, 
neoUthe Zeit. Den Ausdruck Prähistorie 
möchte ich hier lieber vermeiden, da die 
Schrift damals bekannt war, und man, wenn 
man zwischen historischer und prähistorischer 
Zeit eine Grenze ziehen will, nur das Auf¬ 
treten der Schrift als solche ansehen kann; 
die weniger scharf umgrenzte Bezeichnung 
neolithisch ist, da damals wesentlich Stein¬ 
werkzeuge Verwendung fanden, ansprechen¬ 
der. Gegen Petrie spricht das Fehlen posi¬ 
tiver Beweise und die Schwierigkeit, dass 
zwei verhältnismässig hoch entwickelte Kultur¬ 
völker in ganz Ober-Ägypten während Jahr¬ 
hunderten gehaust haben sollten, ohne von 
einander Amulette, Gerätformen, Waffenarten 
u. s. f. zu entlehnen. Amölineaus Schluss 
endlich beruht nur darauf, dass keiner der 
von ihm aufgefundenen Königsnamen in den 
Herrscher-Listen auftrat und er sie daher vor 
den Beginn dieser Reihen setzen zu sollen 
glaubte. Dieser Grund ist jedoch nicht stich¬ 
haltig. Die ägyptischen Listen führen die 
Herrscher unter dem Vornamen auf, der in 
der ältesten Zeit mit den Nachnamen gewech¬ 
selt zu haben scheint, die Griechen verwen¬ 
den stets den Nachnamen, die in Rede stehen¬ 
den Denkmäler nennen keinen der beiden, 
sondern ausschliesslich den sog. Ka-Namen 
des Herrschers, den Namen, der nach dem 
späteren Sprachgebrauch seinen Ka, seinen 
mehr oder weniger gottähnlich gedachten 
Doppelgänger bezeichnete, und der stets ein 
anderer war, als Vor- und Nachname, demnach 
in den Listen auch nicht verzeichnet stehen 
konnte. 

Lässt sich demnach Petries und Amölineaus 
Ansatz negativ als nicht entsprechend be¬ 
gründet zurückweisen, so liegen eine Reihe 
von Angaben vor, xvelche ein positives Ergeb¬ 
nis versprechen. 

Einmal sind die Formen und die Technik 
der Erzeugnisse der Zeit in Thon und Stein 
derart, dass sie sich, innerhalb der Entwick¬ 
lungsreihe der ägyptischen gleichartigen Ar¬ 
beiten nicht unterbringen lassen, dagegen sehr 
wohl als deren Vorstufe angesehen werden 
können. Dann ist es kaum denkbar, dass man 
im Nilthale, in dem vom Beginne der 4. Dy¬ 
nastie an die Metalle für Geräte und Waffen 
verwendet wurden und nur selten ein Stein¬ 
werkzeug auftritt, plötzlich auf eine fast aus¬ 
schliessliche Verwendung des Steines zurück¬ 
gegriffen, das Metall so gut wie ganz ver¬ 
gessen haben sollte. In den Begräbnisge¬ 
bräuchen zeigt der Beginn der 4. Dynastie 
Anklänge an unsere Zeit, später verschwin¬ 
den diese. Die Bezeichnung der Könige mit 
dem Ka-Namen allein ist am Anfang der 4. 


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592 


Wiedemann, Die neuesten Entdeckungen in Aegypten. 


und in der 5. Dynastie häufiger, dann kommt 
dieselbe nur ganz ausnahmsweise in religi* 
Ösen Texten vor, u. s. f. 

Diesen mehr auf allgemeinen Erwägungen 
beruhenden Gründen treten inschriftliche An¬ 
gaben zur Seite. Einer der Herrscher, deren 
Grab Am^Iineau zu Abydos fand, trug den 
durch das Bild des Horus-Sperbers eingelei¬ 
teten Ka-Namen Kä. Nun bewahrt das Museum 
zu Gizeh eine Alabaster-Altar-Platte mit einer 
Inschrift, welche sicher in das alte Reich 
gehört und einen Propheten des Horus Kä, 
also unseres Herrschers, nennt. Derselbe ge¬ 
hört also vor die Zeit, in der die Platte ge¬ 
fertigt ward, und, da der.Kult der Pharaonen 
meist den gefeierten Herrscher 'nicht lange 
überlebte, wohl nicht sehr lange vorher. 
Wichtiger ist noch eine andere Notiz: In 
dem Museum zu Palermo befindet sich eine 
Inschrift, welche eine Reihe von Stiftungen 
zu Gunsten des Tempels von Heliopolis in 
chronologischer Folge verzeichnet. Hier gehen 
den Stellen, die Snefrus gedenken, Stiftungen 
voran. Ober denen als eine Art Überschrift 
der königliche Ka-Name Neter-en steht. Die¬ 
ser Name findet sich wieder auf dem Rücken 
einer Statue zu Gizeh (Nr. i), welche man 
nach ihrem Stile, den Formen der auf ihr 
aufgezeichneten Hieroglyphen u. a. m. von 
vornherein für eine der ältesten in Ägypten 
erhaltenen Statuen erklärt hat. Sie steht nicht 
vereinzelt da, sondern gehört zusammen mit 
einer Gruppe plastischer Stein-Werke, welche 
grosse technische Gewandtheit mit einem un¬ 
geschickten Naturalismus in der Darstellung 
des Menschen verbinden. Hierher gehören na¬ 
mentlichsitzende männliche Statuen zu Bologna 
(Nr. 1826) und London und eine gleichfalls sitz¬ 
ende weibliche zu Turin (Nr. 3065); ausser¬ 
dem aber die sitzende Statue des Amten zu 
Berlin (Nr. 1106), von dem die Inschriften 
seines Grabes berichten, dass er unter Snefru 
lebte. Die Hieroglyphen und Reliefs des 
Grabes zeigen den ägyptischen Stil des alten 
Reiches, während die Statue noch den alten 
Typus bewahrt hat, der von nun an auch aus 
der Plastik verschwindet. Man hat demnach 
die ganze Gruppe etwa in die 3. Dynastie 
zu verweisen und damit auch den König 
Neter-en hierher zu setzen. 

Die Gizeh-Statue, von der wir ausgingen, 
nennt neben Neter-en noch zwei weitere Ka- 
Namen, Ra-neb, welche Gruppe in verschie¬ 
denen Verbindungen in Namen der 3. Dynastie 
wiederkehrt, und einen mit Hetep beginnen¬ 
den, sonst nicht sicher lesbaren. Letzterer 
tritt wieder als Ka-Name auf auf einer Berg¬ 
kristall-Vase, die Am(^lineau mitten unter sei¬ 
nen Königen zu Abydos fand: Da hier auch 
Töpfe lagen, die mit einem Siegelzylinder des 


Königs von Naqada Aha gestempelt waren, 
so hat man alle diese Herrscher zusammen 
zu stellen zu einer Gruppe, welche der 4. 
Dynastie vorangegangen ist. 

Seiner Bildung nach gehört in den gleichen 
Kreis auch ein in letzter Zeit viel besproche¬ 
ner Ka-Name Neter-chat, der sich u. a. in 
der Stufenpyramide von Saqqarah, einem der 
ältesten Bauwerke des Nilthaies, und in einer 
späten Felsinschrift findet, welche letztere 
von einer sieben Jahre dauernden Hungers¬ 
not spricht, von einem Ereignisse, welches 
man mit wenig Glück mit der von der Bibel 
erwähnten Hungersnot zur Zeit Josephs zu¬ 
sammengebracht hat. Der Name des Königs 
in dieser Inschrift Aha-ser ist dem der drit¬ 
ten Dynastie angehörigen Tosorthros gleich¬ 
gestellt worden, indem man annahm, der 
Schreiber habe statt des Zeichens T’er das 
ihm ähnliche Aha eingesetzt. Jetzt, nachdem 
das Königsgrab zu Naqada einen Ka-Namen 
Aha ergeben hat, wird diese Verbesserung 
kaum mehr so ansprechend erscheinen, wie 
dies anfangs der Fall war. 

Aus allen diesen Thatsachen ergiebt sich 
als wesentliches Resultat, dass die besproche¬ 
nen Königsgräber und die mit ihnen zusam¬ 
menzubringenden Nekropolen ältesten Denk¬ 
mäler enthalten, die bisher in Ägypten zu Tage 
getreten sind. Das führt unmittelbar über zu 
der hier zum Schlüsse kurz zu erörternden 
Frage nach dem Ursprünge des Volkes, welches 
man sich als Träger der ägyptischen Kultur 
anzusehen gewöhnt hat. Nach dieser Richt¬ 
ung hin werden die folgenden, freilich natur- 
gemäss teilweise hypothetischen Ausführungen 
den neu gefundenen, wie den altbekannten 
Thatsachen wohl am besten gerecht werden. 

Nach der Üblichen Ansicht stammten die 
Ägypter aus Asien, von wo sie über die 
Landenge von Suez in ihre späteren Sitze 
einwanderten. Der erste Teil dieser Annahme 
kann als sicher betrachtet werden, die Ver¬ 
wandtschaft der ägyptischen mit der semit¬ 
ischen Sprache, der anthropologische Zusam¬ 
menhang des Volkes mit den übrigen Ange¬ 
hörigen der Mittelmeer-Rassen sprechen ent¬ 
schieden dafür. Anders steht es mit der Ein- 
ivanderungsstrasse, die man daraus erschloss, 
dass die Denkmäler bei Memphis älter waren 
als die oberägyptischen, ein Gedanke, der, 
wie die neuen Funde gezeigt haben, nicht 
den Thatsachen entspricht. Die Überreste zu 
Naqada und Abydos übertreffen an Alter die 
Pyramiden. Dazu kommt, dass die antike 
Überlieferung die Ägypter von Süden stam¬ 
men lässt. Diodor nennt als ihr Herkunfts¬ 
land Äthiopien, Ezechiel Ober-Ägypten, 
und bei Manetho geht das Pharaonentum 
von This bei Abydos aus. In einem uralten 


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Betrachtungen und kleine Mitteilungen. 


593 


Pyramidentexte erringt die Kataraktengegend 
die Herrschaft Ober das ganze Nilthal, und 
nach einer anderen Mythe gewinnt der Gott 
Horus von Edfu in Obe»‘-Ägypten kommend 
das Land, unterstützt von den Schmieden, 
die sein Gefolge bilden, vermutlich in Er¬ 
innerung an die Thatsache, dass einst ein 
die Metalle kennendes Volk die in der Stein¬ 
zeit lebenden Urbewohner sich unterwarf. 

Nach Ober-Ägypten — das südlicher ge¬ 
legene Nubien ist erst im Verlaufe der 5. 
und 6. Dynastie von den Ägyptern besetzt 
worden, kommt also hier nicht in Betracht 
— führt vom roten Meere, von Kos6r aus, 
durch das Hammämät eine Strasse nach 
Koptos am Nil, welche nicht nur während 
der ganzen Dauer der äg3'ptischen Geschichte 
benutzt ward, sondern bereits früher bekannt 
war, wie an ihr zu findende Felsbilder im 
Stile der Zeichnungen auf Produkten der 
präpyraraidalen Industrie beweisen. Als Be¬ 
leg für die Beziehungen unserer Kultur zum 
roten Meere finden sich in den Gräbern durch¬ 
bohrte von dort stammende Muscheln, die 
als Schmuck dienten, und uralte Statuen des 
Zeugungsgottes Min, die in Koptos zu Tage 
traten, tragen als Verzierung Pteroceras- 
Muscheln. 

Als Ursitze des Volkes kann man die 
Ufer des roten Meeres freilich nicht ansehen 
wollen, dazu ist ihre Bebauungsßlhigkeit zu 
gering; sie Werden weiter von Osten her ge¬ 
kommen sein, von Arabien. Dies würde es 
erklären, woher die älteste ägyptische Kultur 
manche Parallele zur ältesten babylonischen, 
nicht nur in der Kunst, sondern auch in den 
Sitten, wie beispielsweise der Art der Leichen¬ 
verbrennung zeigt. Übereinstimmungen, die 
zwar nicht gestatten, die eine oder andere 
Kultur als eine abgeleitete zu betrachten, wohl 
aber auf eine gemeinsame Urquelle hinweisen, 
wozu wiederum stimmt, dass die mesopotam- 
ische Kultur flussauftvärts zog, was, da sie 
kaum in den Sümpfen Unter-Babyloniens ent¬ 
standen sein kann, auf arabische Gefilde als 
ihre Herkunftsstätte hinweist. Eine derartige 
Verbindung ist denn auch noch im Altertume 
bekannt gewesen, als der Verfasser der Völker¬ 
tafel der Genesis Mizratm, den Ägypter, als 
Verwandten des Nimrod, des Babyloniers, 
hinstellte. 

Vor der Ankunft dieses Stammes war 
Ägypten allem Anscheine nach von Verwandten 
seiner westlichen Nachbarn bewohnt. Es ist 
wenigstens im höchsten Grade unwahrschein¬ 
lich, dass diese Stämme, welche die Griechen 
als Libyer, die Ägypter als Tehennu oder 
Temhu zusammenfassen, als sie Nord-Afrika 
besiedelten, gerade den fruchtbarsten Teil 
dieses Gebietes, das Nilthal, unbesetzt gelassen 


haben sollten. Im alten Reiche grenzen sie 
jedenfalls vom Meere bis tief nach Nubien 
hinein unmittelbar an die Ägypter und haben 
sogar noch im neuen Reiche einzelne Gegen¬ 
den des Nilthaies zwischen dem ersten und 
zweiten Katarakt innegehabt. Sie wurden von 
den Einwanderern unterjocht, ihre hellfarbigen, 
rothaarigen, blauäugigen, bärtigen Nachkom¬ 
men erscheinen im alten Reiche als Diener, 
Hirten, u. s. f., als Angehörige niederer 
Stände. Aus ihren Kreisen werden auch die 
Leute stammen, die sich noch beim Beginne 
der 4. Dynastie in ihrer althergebrachten Em¬ 
bryonalstellung bestatten Hessen, aus der man 
die Mumifizierung der Toten abzuleiten haben 
wird. 

Ihre bereits ziemlich hoch entwickelte Kultur 
verschwand nicht mit ihrer Unterwerfung. 
Im Nilthale selbst vermischte sie sich freilich 
mit der der Einwanderer, aber weiter im 
Westen bestand sie in ihrer Eigenart fort. 
Von hier kehrten die alten Kulturelemente 
später gelegentlich in das Nilthal zurück. Von 
hier werden die den alten entsprechenden 
keramischen Produkte, die glänzend roten und 
rot-schwarzen Töpfe eingeführt worden sein, 
die sich nach Masperos Angabe in Gräbern 
der 6.—II. Dynastie fanden; von hier kam 
das Motiv der bereits erwähnten schwarzen 
Töpfe mit weisser Verzierung der 12. Dy¬ 
nastie, gerade so wie später auf dem Wege 
über Libysche Gebiete Erzeugnisse und künst¬ 
lerische Anregungen der mykenäischen Kul¬ 
tur in das Nilthal gelangten. Die Zusammen¬ 
hänge zwischen Libyen und den griechischen 
Gefilden sind aber weit älter. Die alte Kultur 
von Naqada und Abydos erweist sich in 
Keramik und auch in andern Beziehungen 
als eine Art Vorstufe der Inselkultur, die 
ihrerseits an den Ufern des Mittelmeers der 
mykenäischen vorangegangen ist. Einer spä¬ 
teren Zeit wird es Vorbehalten sein zu ent¬ 
scheiden, ob hier die Inselvölker aus Libyen 
Kulturelemente empfingen oder ob wir in 
Afrika wie auf den Inseln Teile derselben 
Kulturreihe zu erkennen haben, deren Zu¬ 
sammenhang zurückgehen würde in die Zeit 
vor der Besetzung Ägyptens durch seine 
späteren Herren. In die Zeit dieser Besetz¬ 
ung, als die Sitten der alten Bewohner noch 
kaum mit denen der Einwanderer zu ver¬ 
schmelzen begannen, gehören die Funde, die 
ich auf den vorangehenden Seiten kurz zu 
skizzieren gesucht habe. 


Betrachtungen und kleine Mitteilungen. 

Entwickelungsmechanik. Die Entwickelungs¬ 
mechanik ist der jüngste Zweig der Naturwissen¬ 
schaften, der von dem ausgezeichneten Zoologen 


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594 


Betrachtungen und kleine Mitteilungen. 


W. Roux begründet wurde und besonders von 
jüngeren Zoologen eifrigst gepflegt wird, allerdings 
nicht immer im Sinne des Begründers. Ihr Endziel 
ist, alle Lebensvorgänge, die körperlichen sowohl 
als die sog. geistigen, besonders aber die der Ent¬ 
wickelung auf rein mechanische Geschehnisse zu- 
rOckzufÜhren, und Ihr sie die Geltung der nämlichen 
Gesetze, die wir aus Physik und Chemie kennen, 
nachzuweisen. Ihre Wege sind zweierlei: einmal 
die rein spekulative Philosophie, bei der leider nur 
allzu ofl das Wort* das Massgebende ist und an 
Stelle des Begriffes treten muss, und zweitens das 
Experiment, bei dem vorwi^end Organismen, be¬ 
sonders aber ihre jüngsten Entwickelungs - Stadien, 
möglichst unnatürlichen Bedingungen ausgesetzt oder 
möglichst gewaltsamen Operationen unterworfen 
werden, und man bemüht ist, aus dem dabei Be¬ 
obachteten möglichst weitreichende Schlüsse zu 
ziehen. Dass der Entwickelungsmechanik noch eine 
sehr grosse Zukunft bevorsteh^ ist nicht zu leug¬ 
nen. Einstweilen befindet sie sich aber noch in der 
Sturm- und Drangperiode. Dennoch sind ihre Re¬ 
sultate zum Teil schon recht beachtenswert, ihr An¬ 
hang wächst von Tag zu Tag, und ihre Prätension 
ist wie die jeder neuen Richtung ungeheuer. Es 
ist daher durchaus angebracht, die Gnmdzüge der 
jungen Wissenschaft in einem in ein Buch zusammen¬ 
zufassen. Zu dieser Aufgabe dürfte wohl kaum Einer 
geeigneter erscheinen als W. Haacke'), der nicht 
nur einer der geistreichsten ihrer Vertreter ist, son¬ 
dern auch mit einer seltenen Beobachtun^gabe 
umfassende Kenntnisse in allen Zweigen der Natur¬ 
wissenschaft vereinigt. Dennoch dürfte sein Zwecjc, 
ein „Lehrbuch“ zu schreiben, nicht erreicht sein. 
Dazu liegt Haackes Standpunkt viel zu abseits und 
ist er selbst viel zu subjektiv. Ünd ein Lehrbuch 
einer noch in Gährung befindlichen Wissenschaft 
zu schreiben, ist überhaupt unmögl|ch. — Dafür 
macht die erwähnte Subjektivität des. Verfassers 
das Buch aber nur um so interessanter für den in 
den behandelten Gegenständen schon beschlagenen 
kritischen Lehrer. Der Inhalt zerfällt im Wesent¬ 
lichen in drei Teile, von denen der erste und dritte 
vorwiegend spekulative Betrachtungen enthalten und 
nur der mittlere sich mehr direkt mit den Ergeb¬ 
nissen der Physiologie und Entwickelungsmechanik 
beschäftigt Haacke selbst teilt ihn in 6 Hauptstücke. 
Das erste, Vom Gebiete der Entwickelungsmechanik, 
handelt von den Grenzen der Naturerkenntnis, dem 
Werte der Hypothese, dem Vitalismus, d. h. der 
Lehre von der Lebenskraft, an deren Stelle Haacke 
die Beseeltheit der ganzen Natur setzt, wobei zwi¬ 
schen organischer und unorganischer nur quanti¬ 
tativer Unterschied bestehe, und schliesst mit den 
verschiedenen Einteilungsprinzipien der Naturwissen¬ 
schaften und der Abgrenzung ihrer Disziplinen. Das 
zweite Ha^tstück, Vom Organismensystem, defi¬ 
niert die Entwickelungsmechanik als die Wissen¬ 
schaft von den Gesetzen des Seins, bezw. Ge¬ 
schehens, die alle räumlich-zeitlicher Natur sind, kri¬ 
tisiert die verschiedenen Arten der Systematik, für 
die neue Grundsätze aufgestellt werden und weist 
auf den Unterschied zwischen dem Typus und dem 
Formenwert einer systematischen Gruppe hin. Bei 
der Suche nach der Formeinheit wird die Bedeut¬ 
ung der Zelle behandelt, die verschiedenen Theorien 
erörtert, die eigentliche Zelltheorie, die die Bau¬ 
steine der höheren Organismen den einzelligen 
Wesen gleichsetzt, als „veraltet“ beiseite geschoben 
und werden der Zellphysiologie neue VVege vor¬ 
geschrieben. Das dritte Hauptstück, Vom Mecha¬ 
nismus der Keimesgeschichte, bespricht die Vor¬ 
gänge der ungeschlechtlichen Fortpflanzung und die 

I) Haacke, Grundriss der Entwicklungsmechanik. Mit 143 
Textfiguren, gr. 8«. (XII u. 400 S.) Leipzig, ArtliurGeorgL M. la. 


Ansichten über das Protoplasma, welch letzterem 
seine Bedeutung als Bildungsstoff abgesprochen 
wird. Das vierte Hauptstück, Vom Formbildun^s- 
grund, zeigt die Wirkung der verschiedenen Reize 
auf die Organismen und ihre Bedeutung, wobei oft 
überraschende, meist aber auch treffende Vergleiche 
mit der unorganischen Natur einerseite und dem 
Menschen andererseits gezogen werden. Im fünften 
Hauptstücke, Von den Formwandtungen, wird das 
Problem der Vererbung erörtert, wobei Haacke 
sich wie auch in seinen übrigen Schriften energisch 
gegen Weismanns Determinantentheorie wendet und 
nachzuweisen sucht, wie dasselbe Keimmaterial je 
nach verschiedenen Reizen verschiedene Formen 
hervorbringen könne. Auch die Krankheiten wer¬ 
den auf äussere Reize zurückgeführt und Virchows 
grösste Geistesthat, die Zellular-Pathologie „ver¬ 
kehrt“ genannt. — Das letzte Hauptstück, Vom 
Mechanismns der Stammesgeschichte, bespricht die 
Entwickelung der Organismen, bei der zufällige 
Variation keine Rolle spielen kann und weist auf 
die Bedeutung der Gefugefestigkeit hin. Die ver¬ 
schiedenen Entwickelungstheorien werden kritisiert 
und die epochemachende Darwins wird als „Tri¬ 
vialität“ hingestellt. Die Bedeutung der geschlecht¬ 
lichen Fortpflanzung, die Anpassung u. s. w. wer¬ 
den eingehend erörtert, ebenso zuletzt die Wichtig¬ 
keit der Tiergeographie. — Wie man sieht, erman¬ 
gelt auch Haackes Buch nicht der wissenschaft¬ 
lichen Pikanterien, mit denen einige der Entwickel¬ 
ungsmechaniker ihre Schriften würzen zu müssen 
glauben. — Viele-seiner Spekulationen sind derart, 
dass man sich fragen muss: Warum für so einfache 
Sachen so gekünstelte Erklärungen, viele sogar so, 
dass ihnen die meisten der Leser, trotz „starker 
Hirnanstrengung“, die Haacke selbst im Vorworte for¬ 
dert, nicht werden folgen können. Aber andererseits 
bieten s^ne Ausführungen wieder so viel des Be¬ 
achtenswerten und Anregenden, vor allem durch 
die strenge Logik, mit der er sich selbst vor den 
letzten Konsequenzen nicht scheut, dass eine Lek¬ 
türe des Buches jedem, der sich mit allgemeiner 
Naturwissenschaft beschäftigt, dringend anzuraten 
ist. Insbesondere sind die Vergleiche zwischen 
Krystall und Organismus ungemein lehrreich und 
interessant. Für die Jünger der Wissenschaft sind 
vorwiegend die Anhänge der Kapitel, in denen die 
verschiedensten wichtigen Tlieorien und Ansichten 
bedeutenderer Forscher dargestellt werden, und 
das ausführliche Litteratur-Verzeichnis am Schlüsse 
von hohem Werte. — Im Interesse der wahrhaft 
exakten .Naturwissenschaft möge kein Leser ver¬ 
gessen, dass wir es hier im Wesentlichen mit einer 
Naturphilosophie zu thun haben, über die kom¬ 
mende Generationen vielleicht ebenso urteilen wer¬ 
den, wie wir über die Okens, Schellings u. s. w. 



Die Röntgenstrahlen als Hilfsmittel der ana¬ 
tomischen Forschung. Remy hat der Akademie 
der Wissenschaften in Paris ein Verfahren unter¬ 
breitet, das gestattet, die Lage der Blutgefässe in 
irgendwelchen Teilen des menschlichen Körpers 
bis in die kleinsten Verzweigungen sichtbar zu 
machen, ohne dass das Seziermesser zu Hilfe ge¬ 
nommen wird. Er verfährt, einer Anregung von 
Prof. Marey folgend, in der Weise, dass er die 
Adern mittelst einer gewöhnlichen anatomischen 
Spritze mit einem Gemisch aus heissem Siegellack, 
Alkohol und sehr fein verteiltem Bronzepulver an- 
fOUt und sie so durch den Metallgehalt der Imektion 
undurchlässig für die Röntgenstrahlen macht Die Ab¬ 
bildung, die w'ir der Zeitschrift „La Nature“ ent¬ 
nehmen, stellt die Photographie eines von Prof 


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Betrachtungen und kleine Mitteilvngen. 


595 



Rcmy in der beschriebenen Weise präparierten 
und von X-Strahlen durchleuchteten menschlichen 
Armes dar; es ist ausserordentlich interessant zu 
sehen, mit welcher Deutlichkeit die unzähligen Adern 
und Äderchen bis indie feinsten Details wiedergegeben 
sind. Eine gewisse Schwierigkeit besteht allerdings 
darin, die Blutgefässe mit der Metallinjektion voll¬ 
ständig zu füllen, ohne dass sie platzen. Immerhin 
aber wird das Verfahren sich sicherlich in sehr 
\ielen Fällen als brauchbar erweisen, besonders 
dort, wo es sich um die Bestimmung der Lage 
ganz feiner Äderchen handelt, die bei einer Sektion 
durch das Wasser verschoben werden könnten. 

A. B. 


Ein Meister der Optik. Es ist ausser Zweifel, 
dass in der Herstellung grosser Fernrohrobjektive 
in den letzten Jahrzehnten uns die Amerikaner und 
Engländer ein grosses Stück überholt hatten. War 
mit Fraunhofers Eintritt in die berühmte Münchener 
Werkstätte der Bau grosser Teleskope in ein Sta¬ 
dium getreten, welches die grossartigsten Erfolge 
aufzuweisen hatte, und welches seinen Gipfelpunkt 
mit der Konstruktion des Dorpater Refraktors und 
später des Pulkowaer grossen Teleskops erreicht 
hatte, so dauerte es doch nicht allzulange, bis man 
sich daran machte, auch diese mächtigen optischen 
Instrumente noch zu übertreffen. In Deutschland 
schritten namentlich die Firmen S. Merz u. Söhne 
und die Steinheilsche an der Spitze dieser Bestreb¬ 
ungen. Wenn auch an Güte ihrer Leistungen wohl 
von Niemanden übertroffen, wmrden sie, namentlich 
durch den Umstand unterstützt, dass sich im Aus¬ 
lande mehrfach Männer fanden, welche einen er¬ 
heblichen Teil ihres Vermögens zur Konstruktion 

f 'rosser Fernrohre stifteten, von Optikern des Aus- 
andes überholt in Bezug auf die Dimensionen der 
Objektive. — Erst in neuester Zeit scheint es ge¬ 
lungen zu sein, für Deutschland den Platz auch auf 
diesem Gebiete wieder zu erobern, der ihm ver¬ 
möge der grundlegenden Untersuchungen eines 
Fraunhofer, Schwerd, Gauss, Seidel u. A. gebührt. 

— Vor' allem war es der Amerikaner Alvan G. 
Clark, W'elchcr die Astronomen mit den grössten 
jetzt existierenden Objektiven von einem Meter 
und mehr Durchmesser versah. Die praktische I 
Teilnahme an den Arbeiten des von seinem Vater, , 
A. Clark, gegründeten und von seinem älteren Bruder 
in Gemeinschaft mit ihm fortgeftlhrten Institute datiert , 
aus den 6oer Jahren. 1862 entdeckte er bei Ge¬ 
legenheit der Prüfung eines grossen Objektivs den 
schon lange vermuteten Begleiter des Sirius; und 
in neuester Zeit ist mit einem Clarkschen Objektive , 
auch der äusserst schwierige Begleiter des Procyon ' 


aufgefunden worden. Aus seiner 
Werkstatt gingen die Objektive 
des Washingtoner Refraktors, 
des Pulkowaer und des Lick- 
Refraktors von resp. 26, 30 und 
36 engl. Zoll und ausserdem eine 
grössere Reihe von 20—25 
Oeffnung hervor. Den Abschluss 
seiner Thätigkeit bildete die Her¬ 
stellung der grössten jetzt ge¬ 
schliffenen Linse, nämlich der 
des Yerkes-Observatoriums, wel¬ 
ches eine freie Öffnung von 40 
engl. Zoll haben wird. Freilich 
war es ihm nun nicht mehr 
vergönnt, auch Zeuge der Re¬ 
sultate zu sein, welche dieses 
mächtigste optische Instrument 
uns liefern wird. Die Clark- 
sche Werkstatt hat ihre gros¬ 
sen Erfolge der ausserordentlichen Sorgfalt zu 
verdanken, mit welcher sie den äusserst mühe¬ 
vollen Weg der Linsenkonstruktion einschlug, 
welcher nicht gegründet worden ist auf die exak¬ 
testen Rechnungen und Untersuchungen der ver- 
w’endeten Glasscheiben, welche ihnen meist Feil in 
Paris (Flintglas) und Clauee-Brothers in Birmingham 
(Crownglas) lieferten. Im Gegensatz dieser eigent¬ 
lich der wissenschaftlichen Verwendung und den 
Anforderungen an ein Präzisionsinstrument ersten 
Ran^s mehr entsprechenden Herstellungsweise, 
schliffen die Clarks nur die Linsen im Rohen nach 
den berechneten Radien und gaben denselben 
später durch fortgesetztes Prüfen und Nachpolieren 
die beste Form. Nur die Oberaus ghosse Erfahrung 
Clarks und ungeheure Geduld, mit welcher bei 
solcher Methode gearbeitet werden muss, sicherten 
ihm seine Erfolge. Andererseits ist allerdings nicht 
zu verkennen, dass die bei so CTOssen Glasscheiben 
nicht zu vermeidenden Ungleichheiten in der Dich¬ 
tigkeit und sonstigen physikalischen Eigenschaften 
I auch bei den nach strenger Rechnung (wie es in 
Deutschland fast allgemein geschieht) geschliffenen 
Objektiven nur durch eine letzte empirische Prüfung 
und darauf gegründete Korrektionsverfahren ganz 
* zu beseitigen sind; aber es unterliegt wohl keinem 
Zweifel, dass bei Verarbeitung von Gläsern von er¬ 
heblich anderen optischen Eigenschaften, als Clark 
sie in den langen Jahren seiner Thätigkeit zu ver¬ 
wenden pflegte (aus den oben genannten Werk¬ 
stätten) ihm auch seine Erfahrung nicht ganz über 
die durch Anwendung anderer Krümmungsverhält- 
nisse ihm erwachsenen Schwierigkeiten liinwegge- 
holfen haben würde. Dr. A. 



* Ebbe- und Flutmaschine von R. K n o b 1 o c h , 
Hamburg. Übenstehende, der Patentschrift entnom¬ 
mene Abbildung veranschaulicht die Wirkungsweise 
der in unserem Aufsatz „Die Nutzbarmachung der 
natürlichen Wasserkräfte" in No. 21 S. 374 be¬ 
sprochenen Maschine; Sobald der Flutwasserspiegel 
u'a' genügend über den Wasserspiegel a', des 
Staubeckens gestiegen ist, wird das Thor «j ge- 


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596 


Betrachtungen und kleine Mitteilungen. 


öffnet, und das Wasser strömt durch die Kammer 
1^1, den Einlauf <7, und die selbstthäti^ Klappe 
in das Leitrad / und Laufrad m der Turbine und 
weiter durch die Kammer kt und das offene Thor 
Ml zum Staubecken. Dabei hebt der Schwimmer s 
. die Turbine samt den Schützen r„ ci, die oben als 
Klappen di, dr ausgebildet sind, so dass das Ge* 
• fälle sich ziemlich gleich bleibt. Zur Ebbezeit 
sind dt und bt offen, b^ und rf, geschlossen, sodass 
die Turbine in ’derselben Weise wie vorher beauf¬ 
schlagt wird. 

• • 

• 

* ln den reichen Erzlagern der Insel Sar¬ 
dinien liegen noch ungeahnte Schätze, die der 
Hebung harren. Herr Bergassessor Stock fl eth 
in Altenwald-Sulzbach, der im Januar d. J. die neu 
bekannt gewordenen Fundstätten besucht und die 
einzelnen Eisenerzvorkommen einer eingehenden 
geologisch - bergmännischen Untersuchung unter¬ 
zogen, hat die Bauwürdigkeit einer beträchtlichen 
Anzahl reicher Lagerstätten feststellen können. 
Ausser Eisenerzen wurden Zink- und Bleierze ge¬ 
funden und es ist nach Ansicht des genannten Herrn 
als sicher anzunehmen, dass das ausgedehnte Rot¬ 
eisenerzvorkommen von M. Sissini de Monds auf 
einem reichen Lager edler Zink- und Bleierze steht. 
Über die natürlichen Grundlagen des Erzbergbaues 
auf der Insel Sardinien und den eegenw’ärtigen 
Stand der Montanindustrie plant Herr Assessor 
Stockfleth eine ausführliche Darstellung. Bemerkt 
sei hier nur, dass bei Iglesias der alte Bleierz- und 
der neuere Galmei-Bergbau noch in voller Blüte 
steht. — Die ersten Anfänge des Erzbergbaues auf 
der Insel Sardinien reichen bis in die frohesten 
Kulturzeiten hinauf. Bereits die Phönizier auf ihren 
kühnen Seefahrten und die ältesten geschichtlichen 
Besitzer der Insel, die Karthager, haben die reichen 
Mineralschätze Sardiniens gekannt und mit allen 
ihren damaligen technischen Mitteln gewonnen, zu 
gute und nutzbar gemacht. Zahlreiche kulturge¬ 
schichtliche Funde, vor allem jene punischen Ge- 
fasse und Münzen, welche in ihrer künstlerischen 
und dabei praktischen Ausbildung noch heute unsere 
Bewunderung hervorrufen, legen ein beredtes Zeug¬ 
nis hiervon ab, und bestimmte geschichtliche Über¬ 
lieferungen der ältesten lateinischen Schriftsteller, 
welche des öfteren den Reichtum an edlen E>zen 
und sonstigen Bodenschätzen der Insel zu preisen 
wissen, geben uns, im Verein mit dem Auffinden 
weitverbreiteter Pingenzüge und alter grosser Blei¬ 
schlackenhalden, sowie mit der Deutung mancher 
Ortsnamen, des weiteren mehrfach zuverlässige 
Kunde, in welch hohem Masse es fernerhin die alten 
Römer verstanden haben, diese Schätze Sardiniens 
zu heben und mit denselben ihren Wohlstand zu 

mehren. Stahl und Eisen 1897, No 13. 

‘Wiederholt sind in Maler w'crkstätten 
Brände ausgebrochen, deren Ursachen unauf¬ 
geklärt blieben, die sogar oft von Seiten der Meister 
auf Rache von Gehilfen und Lehrlingen zurück- 
geftJhrt wurden. Lippert glaubt in vielen Fällen 
als Ursache Selbstentsündung von Putzlappen und 
sonstigen faserigen Stoffen annehmen zu müssen, 
die mit Leinöl oder Firnis getränkt waren und an 
der Luft energisch Sauerstoff absorbieren. Er hat 
Wattehaufen mit Öllack imprägniert und konnte 
im Innern derselben binnen 45 Minuten eine Tem¬ 
peratur von 275nach weisen; als das Thermo¬ 
meter dann plötzlich auf über 300® stieg, musste es 
herausgenommen werden, um es vor Springen zu 
bewahren; Während die Watte nach Aussen voll¬ 
kommen intakt war, zeigte sie sich innen verkohlt 
und setzte sich an der Luft alsbald in Brand. 

(Zeitachrifl f. angew. Chemie 15. Juli 1897). 


* Das vonHerschei im August 1781 als 
Doppelstern erkannte Objekt „44 Bootis“ hat 
bei Untersuchung seiner Bahn durch B u r n h a m 
ein höchst merkwürdiges Resultat ergeben. Eis 
zeigte sich nämlich, dass die beiden Sterne mehr 
.als 30 Jahre lang ihren Abstand allmählich und fast 
gleichmässig (von 1,5" bis auf etwa 4,8") ver- 
grösserten; dann aber hörte jede Bewegung auf und 
während einer ähnlichen Peride von etwa 30 Jahren 
bis zur Gegenwart, blieben sie absolut in Ruhe. 
Dies scheint der einzige Fall der Art am Himmel 
zu sein. So lange sich nicht wieder eine Bewegung 
eingestellt haben wird, wird es nicht möglich sein, 
einer der verschiedenen möglichen Theorien für 
diese Erscheinung den Vorzug zu geben. 

Monthly Notices of the R. Astroaom. Society 1897, Vol. LVIL 

* Unter derTickplage leidet augenblicklich 
die australische Viehzucht sehr. Ticks sind bös¬ 
artige Insekten, deren Stich hochgradiges Fieber 
des betroffenen Rindviehs herbeiführt. Sehr viele 
Tiere gehen ein. Da Rinderheerden, welche das 
Tickfieber gut überstanden haben, gegen frische 
Ansteckung sicher sind, dürfte eine passende Impf¬ 
ung die vorgeschlagen wird, der Seuche Einhalt 
thun können. Ausserdem verspricht man sich von 
der Einführung insektenfressender Vögel eine Ver¬ 
minderung des gefährlichen Insekts. 

Nord-Austr&l. Ztg, 

* Das königliche Institut für Pflanzen¬ 
physiologie und Pflanzenschutz in Berlirk 
erteilt bei vorkommender Beschädigung von Kultur¬ 
pflanzen auf Anfragen, denen womöglich eine Probe 
der beschädigten Pflanzen beizufüeen ist, kostenfrei 
sachliche Auskunft und Rat über Gegenmassregeln. 
Auch finden auf Antrag Besichtigungen an Ort und 
Stelle durch einen der wissenschafuichen Beamten 
des Instituts statt, w’obei die Kosten der Eisenbahn¬ 
fahrt für den Beamten zu erstatten sind; in Fällen, 
wo allgemeinere Interessen vorliegen, können mich 
die Besichtigungen unentgeltlich erfolgen. 


Sprechsaal. 

Herrn T. W. in B. Wenn sich auch die Zu¬ 
sammensetzung verschiedener Glasarten annähernd 
durch chemische Formeln ausdrücken lässt, so hat 
man es doch im allgemeinen keineswegs mit einer 
reinen chemischen Verbindung zu thun, sondern 
voraussichtlich mit „festen Lösungen“. '' 

Es mag auffallend erscheinen, dass man über 
einen so alten vielgebrauchten Gegenstand wie Glas 
wissenschaftlich noch so wenig unterrichtet ist, man 
bedenke jedoch, dass die Untersuchung, weil Glas 
amorph, sehr schwierig ist, und die Technik erst 
in neuerer Zeit ein Interesse an einer systematisch¬ 
wissenschaftlichen Erforschung der Zusammensetz¬ 
ung und Eigenschaften des Glases nimmt. 

Das spezifische Gewicht des Glases schwankt 
zwischen 2,4 und 2,6, k,g (Alkalibary^läser), 3,0 bis 
3,8 (Alkalibleigläser) und 5,62 (Thalliumglas). Die 
chemische Zusammensetzung des Horns ist eben¬ 
falls unbekannt; auch hier scheitert die Forschung 
am amorphen Zustand der Substanz. b. 


No. 34 der Umsebau wird eothaltea: 

Reh, Aoleituog lu zoologischen und biolc^ischen Beobachtungen. 
— EUlinger, Der deutsche Roman im vergangenen Jahre II. — 
Weich, Anpassung bei pathologischen Vorgängen. - GrafWil- 
czek, Die elektrische Untergrundbahn in Budapest. 


G. Horatmann's Druckerei. Frankfurt a. M. 


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DIE UMSCHAU 

ÜBERSICHT ÜBER DIE FORTSCHRITTE UND BEWEGUNGEN AUF 
DEM GESAMTGEBIET DER WISSENSCHAFT, TECHNIK, 

Wöchentlich eine Nummer. LITTERATUR UND KUNST vierteljährlich 

Zu beziehen durch herausgegeben von • M a.50. 

«He Buchhandlungen und | »j BECHHOLD Jalires-Abonnemcnt 

Postanstalten. • J* • • Preis M. 10.— 

I oBtzeiumgspreisliste No. 7331«. - Im Ausland nach Cour.'.. 

Verlag von: Verantwortlicher Ucdaktcur; 

H. Bechhold Verlag, Frankfurt a. M. Otto Adolf Wolters, Frankfurt a. M. 

Neue Kräme 19 91. 

J^ö 34. I. Jahrg. 1897. 21. August.. 


Anregungen zu Beobachtungen auf Spazier¬ 
gängen und Reisen. 

ll. Zoologische und biologische 
Beobachtungen. 

Von Dr. L. Reh. 

Zu Tausenden und Abertausenden strömen 
die Menschen an schönen Soramertagen hin¬ 
aus, um sich in Feld und Wald zu erholen 
von des täglichen Lebens ewigem Einerlei. 
Aber blind gehen sie an Allem vorüber, was 
ihnen die Natur Interessantes, Anregendes 
bietet, nur was grob die Sinne erregt, 
findet Beachtung. Man nimmt Alles hin 
als gegeben, über das man nicht weiter nach¬ 
zudenken nötig hat. Und wie sollte man auch 
anders? Statt in dem lebendigen Buche der 
Natur muss der wissensdurstige Knabe in der 
Schule die Jahrtausende alten „Reden Ciceros 
gegen Catilina" und „Xenophons Rückzug der 
Zehntausend“ lesen und das formen- und farben¬ 
durstige Auge der Jugend muss sich mit ver¬ 
schnörkelten Vorlagen und Gipsmodellen 
begnügen. Und wo einmal Naturgeschichte 
gelehrt wird, hört man Schauergeschichten 
vom „Wüstenkönig“, oder muss die Zahn¬ 
formel des Nilpferdes und die Anzahl der 
Staubgefässe der Pflanzen auswendig lernen. 

Noch schlimmer als die Gleichgültigen sind 
aber die Sammler, die schonungslos Alles 
grausam morden, was ihnen in die Hände 
fällt. Für sie hat das Tier nur den Wert 
des wissenschaftlichen Namens, bezügl. der 
Summe, die in der Preisliste hinter diesem 
Namen steht. 

Aber dem aufmerksamen Beobachter bietet 
die liebevolle Vertiefung in das Getriebe der 
Natur eine unendliche Fülle von Anregung 
und Genuss. Jeder, der sich eingehender mit 
der Natur beschäftigt, ist ,sich darüber einig, 
das nichts so bildend auf Geist und Gemüt 
wirkt, als ihre Beobachtung, keine Gramma- 

UMcban 


tik-, keine Moral- und keine Religionslehre. 
Aber auch der direkte praktische Nutzen ist 
ein recht bedeutender. Wissen doch die 
wenigsten Menschen, welche Tiere und Pflanzen 
ihnen nützlich oder schädlich sind, bezw. unter 
Umständen werden können. Da hift auch 
keine Belehrung durch Wort oder Bild; da 
hilft nur eigene Beobachtung und, wo es an¬ 
geht, der Versuch. 

Es kann hier, in eng begrenztem Rahmen 
nicht das ganze Bild der biologischen Ver¬ 
hältnisse der Tiere aufgerollt werderi. Dazu 
wäre der Raum eines dicken Buches noch zu 
klein. Es soll hier hur dem, der Lust und 
Liebe dazu hat» einige -Anregung gegeben 
werden, wie er seine, Spaziergänge in be¬ 
quemer Weise benutzen kann, um Einblicke 
in das Getriebe der Tiere zu thun, die ihm 
kein Buch, keine Abbildung und selbst keine 
Sammlung geben kann, die ihm aber zeigen, 
dass in der Natur Nichts tot, Nichts zwecklos, 
Nichts nach gegebenem Schema geschaffen ist, 
sondern wie Alles lebt und webt, wie auch 
das Unbedeutendste seine Ursache hat, die 
wir allerdings nur in seltenen Fällen kennen, 
und wie Alles gerade so gestaltet ist, wie es 
die betreffenden Umstände erheischen. — Eine 
Hervorhebung von einzelnen Arten oder gar 
Aufzählung von Namen sei so viel als möglich 
vermieden, weil hier nicht Belehrung, sondern 
nur Anregung gegeben werden soll. Hinge¬ 
wiesen sei zum Schlüsse noch darauf, dass 
gerade biologische Beobachtungen der einhei¬ 
mischen Tierwelt auch für die Wissenschaft, 
die sich in dieser Beziehung mehr mit aus¬ 
ländischen Tieren befasst hat, recht wertvoll 
sein können, zumal das durch keine Vorur¬ 
teile getrübte, unbefangene Auge des gebil¬ 
deten Laien oft schärfer sieht und klarer urteilt, 
als das Auge des berufsmässigen Forschers. *) 

') Wer sich etwas eingehender mit unserem 
Thema befassen will, findet der Anregung genug 

34 


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590 


Reh, Zoologische und biologische Beobachtungen. 


Um gleich mit einem praktischen Beispiel 
zu beginnen, so kann kaum etwas mehr 
empfohlen werden, als das Studium der Ge¬ 
wölle, die Spaziergänger, die gerne vom Wege 
abgehen, insbesondere Kinder, häufig finden, 
bezw. leicht finden können, nicht allerdings 
die der eigentlichen Raubvögel, die meist auf 
hohen, alleinstehenden Bäumen abgeworfen 
werden. Dagegen sind die der Eulen oft recht 
häufig in Dickichten im Wald und die der 
Krähen in kleinen, alleinstehenden Wäldchen 
oder Waldspitzen. Die Gewölle sind bekannt¬ 
lich die unverdaulichen Nahrungsbestandteile, 
die durch den Schnabel in Ballen ausge¬ 
worfen werden. Ihre Hauptmasse ist faserig, 
fast wie aufgeweichtes Papier, und in sie sind 
die festeren Bestandteile eingebettet. Bei 
Eulen wird man vorwiegend Mäuseknochen, 
leicht kenntlich an den Kiefern mit den gros¬ 
sen, gebogenen,scharfenSchneidezähnen finden. 
Der Inhalt der Krähengewölle ist verschieden 
nach den Jahreszeiten. Der Hauptsache nach 
besteht er aus den Chitinteilen von Käfern 
oder Engerlingen und ebenfalls aus Mäuse¬ 
knochen. Reste von Samen und Früchten 
sind öfters vorhanden, aber immer in kleinen 
Mengen, und gar Knochen oder Federn von 
Vögeln oder Schalen ihrer Eier sind äusserst 
selten. Leider werden solche Untersuchungen 
von Gewöllen allzuwenig von Zoologen oder 
in der Schule vorgenommen. Denn wer das 
einmal in grösserem Umfange gelhan hat, ist 
so unwiderleglich von der Nützlichkeit unserer 
Krähen und Eulen überzeugt, dass er nicht 
mehr begreift, wie alljährlich die Landwirte, 
die es doch zuerst angehen sollte, grosse 
Krähenschiessen veranstalten, und wie die Forst¬ 
behörden, die es doch zuerst wissen sollten, 
jeden Winter Vergiftungsköder in Masse aus¬ 
legen lassen, dem zumeist gerade die Saat¬ 
krähe, die nützlichste von allen, zum Opfer 
ftllt, und wie so alljährlich der Landwirtschaft 
unberechenbarer Schaden, der nach vielen 
'I'ausenden von Mark zu zählen ist, zugefügt 
w'ird. 

Doch wenden wir uns zu der niederen 
Tierwelt, d^ren Beobachtung im allgemeinen 
leichter ist. Beginnen wir damit, auf einem 
Spaziergange, da wo die Sonne nicht allzu¬ 
heiss brennt, und den Boden auf mehrere 
Fuss Tiefe austrocknet, Steine rasch aber vor- 


vor allem in „Brehm’s Tierleben“. In Darwin’s 
„Entstehung der Arten“ findet er eine Unmenge 
der schönsten biologischen Beobachtungen zusam¬ 
mengetragen und in ihrer allgemeinen Bedeutung 
ausführlich dargestellt. Geradezu klassische Werke 
sind: G. Jäger’s „Deutschlands Tierwelt, nach 
ihren Standorten eingeteilt“’, und, sich auf Schmetter¬ 
linge beschränkend: „M. Standfuss Handbuch der 
olararktischen Grossschmetterlingc“, wohl das beste 
iologische Buch, das seit Jahren geschrieben ist. 


sichtig auf2ruheben oder Steinhaufen umzu¬ 
wühlen. Eine kleine Sammlung kann man 
sich da anlegen, d. h. wenn man rasch zu¬ 
greift. Denn da suchen sich kleine Laufkäfer 
eiligst zu verkriechen, Ameisen stieben aus¬ 
einander, ein TausendfusS will sich rasch 
verbergen, ein Regenwurm zieht sich schleu¬ 
nigst in seinen Gang zurück, und auch eine 
oder die andere Schnecke zeigt durch ihre 
Bewegungen, dass sie unangenehm überrascht 
ist. Was war es, dass diese Tiere unter dem 
Steine vereinigte und warum geben sie so deut¬ 
lich alle Zeichen des Erschreckens ? Nicht Nahr¬ 
ungssuche brachte sie hier zusammen, sondern 
ihre Liebe zu Dunkelheit, Kühle und Feuchtig¬ 
keit. Bei einem erfrischenden Regen, mit Ein¬ 
treten der Dunkelheit kriechen sie heraus, denn 
da herrscht überall das, was sie suchen und wie 
sie es suchen, unter dem Stein aber im Über- 
mass. Andere Tiere haben gerade umgekehrte 
Bedürfnisse, und bei genauerer Prüfung finden 
wir, dass jedes Tier und nicht zum wenigsten 
der Mensch, von jeder der äusseren Beding¬ 
ungen gerade ein gewisses Mass am liebsten 
hat, dass alles zu viel oder zu wenig unan¬ 
genehm, bezw. schädlich ist. Es ist daher 
nicht richtig, wie viele der Physiologen oder 
Entwickelungsmechaniker, wie sie sich lieber 
nennen, ohne Weiteres von Licht-, Wärme-, 
Feuchtigkeits- u. s. w. Freundlichkeit oder Feind¬ 
lichkeit zu reden; denn das sind alles nur 
relativl? Begriffe, und manches „lichtfeind¬ 
liche* Tier, das dem Tageslicht entflieht, 
wird z. B. vom Scheine einer Lampe unwider¬ 
stehlich angezogen. 

In neuester Zeit werden in Bezug auf das 
Verhalten der Tiere gegen solche äussere 
Reize sehr viele Versuche angestellt, leider 
fast immer im Laboratorium, unter gekünstelten 
Verhältnissen, meist in recht grober Weise. 
Feines Studium der Natur kann da noch 
recht lohnend werden, auch wenn von Laien 
ausgefohrt. 

Dehnen wir unseren Spaziergang weiter 
aus auf einen Eichenwald und beginnen wir 
hier, besonders an älteren Eichen zu sammeln. 
Um recht systematisch vorzugehen, durch¬ 
wühlen wir zuerst die Erde, die sich unten 
um den Stamm herumlegt, dann kratzen wir 
das Moos um dessen untersten Teil ab und 
durchsuchen es sorgfältig, dann sammeln wir, 
was an der Rinde, soweit sie uns zugänglich 
ist, sitzt, und vergessen auch nicht, da wo sie 
locker ist, unter ihr nachzuschauen, und schliess¬ 
lich suchen wir im Gebüsch die Äste und 
Blatter ab, oder schütteln sie Ober einen 
daruntergehaltenen offenenen Schirm. Die Beute 
jedes Teiles bewahren wir in verschiedenen 
Gläsern. Wir sehen sofort, dass sie überall 
etwas verschieden ist. Am ähnlichsten unter 


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Reh, Zoologische u:<d biologische Beobachtungen. 


599 


sich sind noch die Tiere von der Erde, dem Moos 
und der lockeren Rinde. Sie haben zugleich 
etwas Ähnlichkeit mit denen, die wir unter den 
Steinen gefunden haben, was wir leicht be¬ 
greifen, da ja hi^r Ähnliche Bedingungen 
herrschen. Auch hier finden wir vorzugs¬ 
weise Laufkäfer, Ameisen, Tausendfüsser, 
Schnecken, Regenwürmer; daneben aber fallen 
uns auch Stecknadelknopf-grosse glänzend 
schwarze Pünktchen auf, die wir zuerst über¬ 
sehen, bis wir zufällig an eines stossen, das 
unseren Augen entschwindet wie ein davon¬ 
hüpfender Floh. In der That ist es ein kleines 
Insekt, zu der tiefsten Ordnung aller Insekten, 
den Thysanuren gehörig, ein Springschwam, 
der sich einen sonderbaren Springapparat an- 
geschafft hat, nämlich 2 lange Borsten an dem 
Hinterende, die für gewöhnlich unter den Leib 
geschlagen sind, um, wenn Gefahr droht, als 
Sprungstangen zu dienen, mittelst derer er sich 
weit hinwegschnelU. Verwandte dieses Tieres 
sind die Gletscher- und Wasserfiöhe, von 
denen erstere aufden sonst fast toten Gletschern 
oft in riesigen Massen leben, letztere im Früh¬ 
jahr auf der Oberfläche von Pfhtzen und 
Tümpeln oft in solchen Mengen herumtanzen, 
dass es aussieht, als werde da Schiesspulver 
gestreut. *) 

An der Rinde finden wir besonders kleine 
graue Schnecken in langen turmförmigen Ge¬ 
häusen (die Gattung Clausilia) oder in breiten, 
flachen (die Gattung Helix), Käfer, Schmetter¬ 
linge, Raupen u. s. w. Noch ergiebiger ist 
die Ausbeute von den Zweigen, wobei uns 
besonders viele grüne Insekten auffallen. 

Nun versuchen wir ebenso unser Glück 
im Buchenwald, sammeln ebenso systematisch 
und heben ebenso sorgfältig alles auf. Wenn 
wir zufällig ein Birkengehölz in der Nähe 
haben, lesen wir auch das ab, um uns noch 
zum Schlüsse je einem Kiefern- und einem 
Fichtenwald zuzuwenden. Sind wir fertig, so 
vergleichen wir unsere ganze Ausbeute. Was 
uns zuerst gegenüber dem bunten Tierleben 
auf Wiesen überrascht, ist die durchschnittliche 
Unauffälligkeit und Unscheinbarkeil der Formen 
und Farben. Der Grund dazu ist einfach. 
Im Walde herrschen gleichmässige Beding¬ 
ungen, in Bezug auf Licht, Wärme und 
Feuchtigkeit, den wichtigsten Einflüssen auf 
den Tierkörper; im Freien, besonders auf 
Wiesen ist es gerade umgekehrt. Und wie 
die Flora, so ist auch die Fauna eines Stück- 

*) Ich habe diesen Insekten besonders viel Raum 
gewidmet, weil sie einerseits sehr interessant, an- 
der^its noch sehr wenig bekannt sind. Erst in 
vorigem Jahre haben sie zum ersten Male eine um¬ 
fassende Bearbeitung, allerdings nur für die Um¬ 
gebung von Hamburg gefunden, in.C. Schäffer, 
Collembola von Hambuig,' Hamburg, L. Graefe. 
Mk. 3.-. 


chens Erde das getreue Ebenbild der daselbst 
herrschenden äusseren Verhältnisse. — Ver¬ 
gleichen wir weiter, so werden wir einzelne 
Tiere fast in allen Gläsern finden; eine be¬ 
stimmte Anzahl aber nur in der Eichen-, oder 
in der Buchen- oder in der Birken- u. s. w. 
Ausbeute. Wir sehen also, dass jede Baum¬ 
art eine gewisse Anzahl von Tieren für sich 
hat. Wenn wir noch weiter sammeln, werden 
wir das auch für alle anderen Bäume, ja fllr 
alle anderen Pflanzen, Sträucher, wie Kräuter 
feststellen können, ferner sogar auch für die 
verschiedenen Bodenarten, Höhenlagen u. s. w. 
Auf und in fruchtbarem Ackerboden leben 
andere Tiere als auf bezw. ln dürrem Sand¬ 
boden, auf eisenhaltigem Boden andere als 
auf Kalkboden, in dem Gebirge andere als 
in der Ebene u. s. w. Kurzum für jede 
Komplikation von äusseren Verhältnissen finden 
wir eine gewisse Anzahl von Tieren, die nur 
da leben können und ganz oder teilweise so¬ 
fort verschwinden, wenn sich auch nur der 
kleinste Faktor ändert. Wie kommt das ? Das 
sehen wir sofort, dass das mit der biblischen 
Schöpfungsgeschichte nicht Obereinstimmen 
kann, denn die Verhältnisse auf unserer Erde 
sind jetzt ganz andere, als sie vor einigen 
Tausend Jahren waren und sind wieder an¬ 
ders gewesen vor einigen Zehn- ufwl Hundert¬ 
tausend und vor einigen Millionen von Jahren. 
Kornfelder giebt es noch nicht sehr lange, 
Weinberge noch weniger lange und Kartoffel¬ 
felder erst seit einigen hundert Jahren. Auch 
unser Wald ist nicht mehr der der alten Ger¬ 
manen, und noch vor unseren Augen finden 
ständig Veränderungen statt. 

Und ebenso wie sich die Flora, das Klima 
u. s. w. verändern, verändert sich auch die 
Tierwelt. Viele Arten, die dem Zuge der 
Zeit nicht folgen können, sterben aus, andere 
suchen sich die Plätze aus, bezw. bleiben nur 
an denen erhalten, wo die Verhältnisse noch 
am ähnlichsten den gewohnten sind, die meisten 
aber ändern sich in Form und Farbe mit der 
Umgebung, oft deren kleinstem Wechsel nach¬ 
gebend. Es ist diese Veränderlichkeit oder 
Variabilität, wie man es genannt hat, der 
Organismenwelt in der That eine ungeheure, 
und sie hat bei den Systematikern schon viel 
Anlass zu erbittertem Streite gegeben, bezw. 
giebt es noch. Erst in neuester Zeit ist man 
hinter ihr Rätsel, den Einfluss der Aussenwelt 
gekommen, und hat dies sogleich mit Versuchen, 
allerdings wie schon erwähnt, nicht immer 
sehr glücklichen, bis in die Einzelheiten auf¬ 
zuhellen unternommen. Bei dieser Gelegen¬ 
heit sei nochmals auf das Buch von M. Stand- 
fuss hingewiesen, der in dieser Beziehung 
bis jetzt weitaus das vortrefflichste geleistet 
hat, und dessen Werk einen Grundstein für alle 

34* 


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6 oo 


Ettlinger, Der deutsche Roman im vergangenen Jahre. 


zukünftigen Arbeiten auf diesem, noch fast 
vollständig brach liegenden Gebiete, bilden 
wird. 

(Schluss folgt.) 


Der deutsche Roman im vergangenen Jahre. 

Von Josef Ettlincer. 

11 . 

(Schluss.) 

Diese flüchtige Überschau über den weib¬ 
lichen Anteil am Ertrag des letzten Litleratur- 
jahres mag vielleicht aufVoIlständigkeit keinen 
Anspruch haben; sie genügt jedenfalls reich¬ 
lich, allzureichlich, um das Meiste von alle¬ 
dem tief in den Schatten zu stellen, was im 
gleichen Zeitraum das Ewig-Männliche für 
seine Unsterblichkeit gethan hat. Gerade unsere 
gepriesensten Erzähler, wie Heyse, Spielhagen, 
Wildenbruch, Eckstein sind es, die in dieser 
Konkurrenz den Kürzesten ziehen, sofern man, 
wie billig, ihre Leistungen an dem Rufe 
misst, den sie geniessen. Von Paul Heyses 
letztem Roman „Über allen Gipfeln*^ lässt 
sich wenigstens, das Gute sagen, dass er nicht 
so traurig missraten ist, wie sein dreibändiger 
Vorgänger „ Merlin ", jenerverunglückteWaffen- 
gang gegen die sogenannten „Jungen“, in 
dem der alternde und stark verbitterte Dichter 
den Helm des Drachentöters Sankt Georg zu 
tragen wähnte und doch in Wahrheit nur 
das Barbierbecken des edlen Ritters de 
la Mancha auf dem Haupte hatte. Der neue 
Roman ist zwar nicht mit Galle geschrieben, 
er hat auch die technischen Vorzüge Heyse- 
scher Erzählungskunst, die geschmeidige Dar¬ 
stellung, die klare Führung der Szenen, den 
feinpolierten Dialog, dazu den bekannten, ge¬ 
haltenen, leicht mit Weltschmerz parfümierten 
Esprit; aber die stofflichen und psycholog¬ 
ischen Schwächen sind so fühlbar, die Be¬ 
gründung des schwebenden Herzenskonflikts 
ist so unzureichend und brüchig, das ganze 
Buch so ohne jede Spur von spezifischem 
Zeitgehalt, so ganz ohne Zusammenhang mit 
dem Strome des modernen Lebens, dass man 
nur wünschte, ein minder Grosser hätte es 
geschrieben, um es milder beurteilen zu dürfen. 
Seine Helden nimmt Heyse noch immer aus 
derselben Spielschachtel, aus jener weitver¬ 
zweigten Familie innerlich und äusserlich 
tadellos vollkommener Herzenbrecher, die 
ihren Stammbaum über Sir Charles Grandison 
direkt auf den Ritter Amadis aus Gallien zu- 
rücklcitet: sie verkörpern in ihrer Unwider¬ 
stehlichkeit die ganze theatralische Unnatur 

**) Berlin, Bessersche Buchhandlung (W, Hertz). 
M. 5. 


einer absterbenden Kunstrichtung, die sich in 
allerhand Illusionen und Fiktionen eigensinnig 
einspinnt und nicht merken will, dass die runde 
Welt sich dreht und nicht ewig auf dem¬ 
selben Fleck bleiben kann,, 

Die Frage ist nicht zu umgehen: ist es 
denn so furchtbar schwer, mit Schreiben auf¬ 
zuhören, wenn Schwäche und Erschöpfung 
sich melden? Fordert man nicht auch von 
einem Bühnenkünstler die Selbstverleugnung, 
dass er sich von den Brettern zurückzieht, 
wenn seine Mittel zu versagen beginnen? 
War nicht auch Gustav Freytag — um nur 
diesen zu nennen — so einsichtsvoll, die 
Feder aus der Hand zu legen und einen 
Strich unter sein poetisches Schaffen zu machen, 
als er sich an der Grenze seiner Leistungs¬ 
fähigkeit sah ? Müssen verehrte Dichter, wie 
Paul.Heyse oder Spielhagen, deren jeder auf 
ein Lebenswerk von mindestens 60 Bänden 
zurückschaut, freiwillig zu Herostraten ihres 
Ruhmes werden und durch die Werke, die 
sie ihrer ausgesogenen Schaffenskraft immer 
wieder abquälen, den Lorbeer selbst entblät¬ 
tern, den man ihnen in guten Tagen aufs 
Haupt gedrückt hat? Warum konnte beispiels¬ 
halber eine Banalität, wie Spielhagens 
Roman „Zum Zeitvertreib*', nicht ungeschrie¬ 
ben bleiben,^*) diese teils unmögliche, teils 
unerquicklich frostige Ehebruchsgeschichte 
2wischen einer oberflächlichen Mondaine der 
Berliner Gesellschaft und einem eitelnEndymion 
von Oberlehrer, dem schliesslich die flüchtige 
Laune seiner Diana zwecklos Stellung, Ehre 
und Leben kostet! Wohin ist der grosse Zug, 
der früher durch Spielhagens Schöpfungen 
ging und ihnen den Stempel seines Geistes 
aufprägte? Etwas davon glaubt man noch in 
dem zweibändigen Roman „Selbstgerecht“ zu 
spüren,**^) der stofflich von feinerem Karat 
ist als der andere. Dafür ist die Komposition 
dieser Geschichte ~ einer Forsthausgeschichte, 
ausnahmsweise! — so verschachtelt und zer¬ 
rissen, wie man sie einem früheren Meister 
des Romans niemals Zutrauen würde, und die 
Handlung krankt an psychologischen Wider¬ 
sprüchen. Es bestätigt sich eben auch hier 
die melancholische Wahrheit, dass der Born 
selbst der reichsten Phantasie und Gestaltungs¬ 
kraft einmal vertrocknen muss, und darum 
gerade berührt dieses krankhafte, schweiss- 
treibendeWeiterkeuchen, dieses Nichtaufhören- 
wollen, diese grundlose Furcht vor Vergessen¬ 
werden und litterarischem Scheintod, wie sie 
gleich Spielhagen und Heyse noch andere 
unserer litterarischen Grössen von gestern 
und ehegestern zu beseelen scheint, so über¬ 
aus peinlich und traurig. 

^•) Leipzig, L. Staackmann. M. 3. *®) Stuttgart, 
Engelhorns Romanbibliothek. M. i.—. 


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Ettlinger, Der deutsche Roman im vergangenen Jahre. 


6oi 


Wäre unser Publikum und leider auch der 
grösste Teil der Kritik nicht so geneigt, vor 
jedem litteraturberOhmten Namen bäuchlings 
im Staub zu liegen und von den einmal er¬ 
korenen Lieblingen ohne Murren auch Steine 
ftlr Brot zu nehmen, man hätte vielleicht 
nicht nötig, seinem Urteil diese Schärfe zu 
geben. Andererseits wäre jedes pietätvolle 
Vertuschen und Bemänteln eine bewusste 
Fälschung, mit der Niemandem gedient sein 
kann. Ein schlechtes Buch, das aus berühm¬ 
ter Feder stammt, wird darum nicht besser, 
nur eben noch schlechter, weil man hier seine 
Ansprüche angemessen höher stellen muss. 
Darum kann auch alle Wertschätzung für 
Ernst von Wildenbruchs flammendes Büh- 
rientemperament die klare Erkenntnis nicht 
trüben, dass sein Roman „Schwester^Seele“*^) 
nur eine verunglückte Wiederauflage seiner 
Erzählung „Eifernde Liebe“ ist, trotzdem der 
Titel und die ersten Kapitel des Buches dies¬ 
mal auf ein ganz anderes Problem zu leiten 
scheinen. Wieder ist es ein „Eispalast der 
Jungfräulichkeit“, der unter der Stichflamme 
eines feurigen Eroberers allmählich dahin¬ 
schmelzen muss; nur dass der Sieger hier 
zur Abwechslung kein Maler ist, sondern ein 
hochbegabter junger Dramendichter, der dem 
Verfasser der „Karolinger“ und doppelge¬ 
krönten Schillerpreisbesitzer nicht allzu ferne 
stehen dürfte. Auch die Gruppierung und 
Abstufung der übrigen handelnden Personen 
ist aus dem ersten Roman auf diesen einfach 
durchgepaust. Wohl giebt es darin einzelne 
Stimmungsmomente von grosser dichterischer 
Kraft, aber die ganze Handlung leidet an 
einer unsagbaren inneren Verschrobenheit, 
die Gefühle laufen wie auf Stelzen herum, 
die Beziehungen der Personen untereinander 
haben etwas geschraubtes, herbeigezogenes, 
und in den endlosen psychologischen Reflex¬ 
ionen wimmelt es von Wiederholungen. Da¬ 
bei geht das Odeur einer lechzenden Erotik 
durch das Buch, und selbst die Menschen, 
die das Hauptpaar umgeben, überfliessen von 
einem Zärtlichkeitsbedürfnis, dass einem zeit¬ 
weise blümerant dabei werden karm. In kei¬ 
nem zweiten Roman neueren Datums wird 
so viel herumgeküsst und herumgezärtelt und 
vor Rührung gethränt, als in diesem, wo so¬ 
gar die Männer sich fast in jedem Kapitel 
mindestens ein Mal um den Hals fallen. Mit 
ungemein naiven Mitteln wird Stimmung ge¬ 
macht und der Konflikt künstlich genährt: 
dazu gehört ein im schlechtesten Hinter¬ 
treppenstil inszeniertes Monte-Carlo-Abenteuer 
und ein sinnreich konstruiertes Eisenbahn¬ 
unglück, das den Helden zum Schluss in die 


•') Stuttgart, J. G. Cottas Verlag. M. 5. 


bekannte Todesgefahr bringen und das ge¬ 
liebte Mädchen als Samariterin an sein Kranken¬ 
lager bannen muss, worauf sich dann prompt 
das Weitere findet. 

Immerhin ist Wildenbruch, der als Er¬ 
zähler fortwährend Über seine ausgeprägt 
dramatische Begabung stolpert, auch in seinen 
zahllosen grotesken Fehlern noch interessan¬ 
ter, als die blanke und glatte Routine eines 
Ernst Eckstein, bei dem die künstlerische 
Intelligenz sich mehr und mehr zu kühler 
Berechnung verknöchert. Mit seinem letzten 
Roman „Famtlie Hartwig'* hatte er wenigstens 
den rühmlichen Versuch unternommen, eine 
schreiende soziale Zeiterscheinung, die Auf¬ 
zehrung des Kleingewerbes durch die kapi¬ 
talistische Grossindustrie, an dem typischen 
Schicksal einer thüringischen Schneiderfamilie 
zu beleuchten, ohne freilich diesem modernen 
Zersetzungsprozess die einfache Grösse und 
erschütternde Wahrheit abzugewinnen, wie 
Wilhelm von Polenz in seinem gewaltigen, 
noch viel zu schwach gewürdigten Agrar¬ 
roman „Der Büttnerbauer*'. In „Roderich 
Löhr“ dagegen, dem neuesten Ecksteinschen 
Roman **), herrscht wieder jener zeitliche 
Indifferentismus, der es dem Leser völlig frei¬ 
stellt, die Handlung in die Gegenwart oder 
vierzig, fünfzig Jahre zurück zu verlegen. 
Sie ist allerdings gut erzählt, diese Geschichte 
von Herrn Roderich Löhrs zweiter Ehe, die 
er aus Liebesthorheit eingegangen, nachdem 
er die erste deshalb gelöst hat, — sehr gut 
erzählt ohne Zweifel; aber ihr künstlerischer 
Wert steht beiläufig auf der Höhe der letz¬ 
ten Sardouschen Boulevarddramen: eine flache, 
schwache psychologische Beweisführung, eine 
Art zu charakterisieren, als wären die ein¬ 
zelnen Figuren mit stumpfer Schere aus 
Pappe geschnitten und zuletzt die ärgsten 
Kolportageeffekte des gangbaren Unterhaltungs¬ 
romans, Giftmischerei, Zweikampf, Schlag- 
fiuss, Selbstmord im Gefängnis und ähnliches 
mehr. Ein ganzes Kapitel wird z. B. der 
ebenso himmlisch schönen, als seelenlosen 
Eva Löhr für die Reflexion darüber einge¬ 
räumt, mit welcher Sorte Gift sie ihren sanften 
Roderich am schnellsten und unauffälligsten bei 
Seite schaffen könnte. Von anderen Sünden 
wider Geschmack und Glaubhaftigkeit zu ge- 
schweigen. 

Übrigens ist es nicht ohne Interesse zu 
beobachten, wie das verbotene Institut des 
Ehebruchs unter dem Drucke einer verän¬ 
derten, freieren Geschmacksrichtung jetzt auch 
schon bei unseren stubenreinsten Familien- 
blattautoren zusehends Boden gewinnt, und 


**) Berlin, Grotesche Verlagsbuchhandlung. M.5. 


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602 


Ettlikger, Der DEurecHE Roman im vergangenen Jahre. 


es wäre eine nicht undankbare Aufgabe, ein¬ 
mal den Ehebruch auf seine verschiedenen 
Spielarten hin durch die modernste deutsche 
Romanlitteratur zu verfolgen. Für die ge¬ 
werbsmässigen Lektürenschreiber, zu denen 
ich mit seinem eben besprochenen Roman 
leider auch Eckstein zählen muss, ist er nur 
ein anderes Reiz- und Spannungsmittel, wie 
etwa in früheren Zeiten die geheime Tapeten- 
thüre oder das gefälschte Testament. Für 
den Dichter bedeutet er das schmerzvollste, 
bitterste, menschlichste aller Seelenprobleme, 
das Liebesproblem in einer höheren Potenz, 
das im ersten Entstehen schon seine Tragik 
mit sich bringt und sie fortschreitend zur in¬ 
neren oder äusseren Katastrophe entwickelt. 
Solch ein Dichter ist, Gott sei Dank, dass 
wir ihn haben, Theodor Fontane, der nun 
bald Achtzigjährige, und seitdem sein jüngster 
grosser Roman „Effi Briest'* erschienen ist,**) 
brauchen wir die Franzosen um ihre Madame 
Bovary nicht mehr zu beneiden. Mit geläuter¬ 
ter und weltreifer Kunst ist hier das wahre 
Ideal des deutschen Ehebruchromansg eschaffen, 
das Ideal schon deshalb, weil das ganze Buch 
trotz seines Stoffes weder ein Wort, noch 
eine Situation enthält, an dem die extremste 
Prüderie Anstoss nehmen oder eine unlautere 
Phantasie Nahrung finden könnte, weil der 
Dichter klug und vornehm zugleich gezeigt 
hat, dass es ihm nicht auf das Wie und Wo, 
sondern einzig auf das Warum und Wodurch 
ankam, auf das Steigen und Fallen der Schick¬ 
salswelle. Manche sehen in dieser scheinbaren 
Nüchternheit, wie überhaupt in dem Vermei¬ 
den aller leidenschaftlichen Accente und Far¬ 
ben ein Manko an Fontanes Kunst; in Wahr¬ 
heit ist es seine beste Eigenart, die damit 
zusammenhängt, dass er erst an der Schwelle 
des Greisenalters begonnen hat, Romane zu 
schreiben, zu einer Zeit, da das Herz noch 
warm, der Kopf aber schon kühl ist und der 
Blick frei, der den Menschen tief auf den 
Boden des Herzens dringt. Als genialer Be¬ 
obachter und Wiedergeber steht Fontane mit 
seinem Altersgenossen Menzel auf ganz 
gleicher Höhe, und mit diesem ewig frischen 
Meister hat er auch den spezifisch preuss- 
ischen Zug gemein, der bei ihm mit der er¬ 
erbten gascognischen Heiterkeit eine so un¬ 
nachahmliche Mischung erzeugt. Wer von 
Fontaneschem Stilcharakter eine Art Rein¬ 
kultur kennen lernen will, der findet sie in 
der entzückenden kleinen Erzählung „Die 
Poggcnpuhls'^, die von den Gaben des 
letzten Weihnachtsbüchermarktes sicher die 
wertvollste war. 


**) Berlin, F. Fontane & Co. 5. Aufl. M. 6. 
**) Berlin, F. Fontane & Co. M. 2. — 


Die Poggenpuhls sind eine Berliner Offi¬ 
ziersfamilie von armem Adel, und noch nie 
zuvor ist wie hier das im Kern Sympathische 
und Ehrenfeste des echten preussischen Offi¬ 
ziersadels — den die ,Fliegenden Blätter“ 
durch ihre läppischen Lieutenantswitze zu 
einer Gesellschaft aufgeblasener Dümmlinge 
zu stempeln seit Jahrzehnten redlich bemüht 
sind — so überzeugend einfach und liebens¬ 
würdig wiedergegeben worden. Gleichwohl 
geht die Rolle, die gegenwärtig wieder dem 
Adel im allgemeinen und im besonderen dem 
Offizier in unserer belletristischen Produktion 
zuerteilt wird, über die wirkliche soziale Be¬ 
deutung dieses Standes weit hinaus und lässt 
sich nur dadurch motivieren, dass aus ihm 
eine ganze Reihe unserer gegenwärtig schaf¬ 
fenden Autoren direkt hervorgegangen sind, 
wie Georg von Ompteda, Fedor von 
Zobeltitz, Rudolph Stratz, Arthur Zapp, 
der unlängst verstorbene A. von Roberts 
u. A. Von Ompteda, dessen frisch geschrie¬ 
bene Bilderreihe „ Unser Regiment" das dienst¬ 
liche Leben und Wirken des Offiziers sehr 
anschaulich darstellt, hat das letzte Jahr zu¬ 
erst den humoristischen Roman sieben 

Gemopp" gebracht,**) der sehr angenehm er¬ 
zählt, aber für die litterarische Einschätzung 
seines Verfassers ohne Bedeutung ist. Da¬ 
gegen enthält der Sammelband „Leidenschaß 
ten"*^) einige Arbeiten, die sein bei aller 
Vielseitigkeit wohldiszipliniertes und tüchtiges 
Talent im günstigsten Lichte zeigen. Von 
dieser Vielseitigkeit möchte man auch seinem 
Freunde Rudolph Stratz etwas wünschen, 
dessen neuer Roman „Arme Thea!" *'^) wie¬ 
derum ziemlich in dieselben Kulissen gestellt 
ist, wie seine früheren Arbeiten: in jenes 
grossstädtische Sammelbecken ein- bis zwei¬ 
deutiger Existenzen, deren Interessen sich 
zwischen Rennplatz, Börse, Theater und Ca¬ 
binet particulier zu teilen pflegen. Stratz ist 
ein ebenso guter Beobachter, als Erzähler, 
aber in seinen bisher erschienenen Werken 
haftet er noch zu sehr am Ausserlichen, und 
mit der Ergründung tiefer Lebens- und Seelen¬ 
rätsel scheint er seine hurtige Feder nicht 
gerne zu beschweren. Doch hat er mit der 
schlicht und stiltreu erzählten Geschichte 
„Friede auf Erden!", die Ende vorigen Jahres 
als Buch erschien,*®) den ersten Beweis schon 
angetreten, dass er auch anderes schildern 
kann, als die Berliner Dreiviertelswelt.*) 


**) Berlin, F. Fontane & Co. M. 3. — *®) Ebenda 
M.a. — *^) Ebenda. M. 3.50. — *“) Ebenda. M. a.—. 

*) Die neuen Romane „Der weisse Tod“ von 
Stratz und „Sylvester v. Geyer“ von Ompteda, die 
beide in der Entwicklung ihrer Autoren starke 
Fortschritte bedeuten, kamen für diese Jahresüber¬ 
sicht noch nicht in Betracht. 




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Ettlinger, Der deutsche Roman im vekgaxcexen Jahke. 


603 


Dieser kleine Ausflug in das vorletzte 
Jahrhundert ist nicht das einzige Symptom 
dafür, dass auch auf dem Gebiet des Romans 
schon elwrs von dieser Strömung hervortritt, 
die augenblicklich unsere dramatische Pro¬ 
duktion behcrrscltt und ganz fälschlich als 
eine „Reaktion“ gegen den verschrieenen 
Realismus ausgetrumpft wird. Noch so manches 
spricht dafür, dass der historische Roman 
künftig auch im Programm der jüngeren 
Schriftstellergeneration eine Rolle zu spielen 
bestimmt ist, und man darf wünschen, dass 
diese Voraussicht nicht täusche. Allerdings: 
historisch und historisch ist zweierlei. Man 
kann nicht scharf genug zwischen den Ro¬ 
manen scheiden, die ihre Vorgänge und Haupt¬ 
personen von der Geschichte auf Borg neh¬ 
men und sie mit mehr oder weniger Willkür 
auf Grund vorhandener Überlieferungen zu 
rekonstruieren suchen; und solchen, die inner¬ 
halb eines historischen Rahmens ihren Stoff 
aus freier Phantasie erfinden und gestalten, 
und diese ihre Schöpfung mit dem besonde¬ 
ren Zeitgeiste, der Kultur und Denkweise 
ihrer Epoche zu beseelen streben. Ein Bei¬ 
spiel des ersten, überflüssigen Genres ist 
unter den Erscheinungen des letzten Jahres 
Felix Dahns „Clodoveck "ein gelehrter 
Galvanisierungsversuch, ftlr den man sich vor¬ 
übergehend interessieren, aber niemals er¬ 
wärmen kann. Die zweite Gattung vertritt die 
Erzählung \,Im blauen von 'Georg 

Ebers, ein kleiner Artistenroman aus der 
Refoimationszeit, in dem ein verlorenes, 
schönes Kind aus den Kreisen des fahren¬ 
den Gauklervolks die Bajaderenrolle spielt. 
Ebers wird in engeren litterarischen Kreisen 
entschieden ungerecht unterschätzt, und in 
manchen Konventikeln gehört es zum guten 
Ton, ihn naserümpfend mit der Eschstruth 
oder Julius Wolff in einen Topf zu werfen. 
Und doch ist er poetisch reicher und tiefer, 
als so mancher der Autoren, die seine Be- 
spöttler mindestens als Halbgötter verehren, 
wenn auch seine Arbeiten im Werte oft recht 
weit von einander abstehen. Dieser letzte 
Roman hat jedenfalls Vorzüge und Feinheiten 
genug, um seine technische Schwäche — die 
durchgehends retrospektive Form, in der die 
Vorgänge nachträglich erzählt werden — ver¬ 
gessen zu lassen. 

Dass der Adel in unseren Romanen eine 
über Gebühr vorwiegende Rolle spielt, wurde 
vorhin schon festgestellt. Immer allerdings 
kommt er dabei nicht zum besten weg, und 
in Ernst von Wolzogen ist ihm sogar aus 
dem eigenen Lager ein gewappneter Wider¬ 
sacher erstanden, der schon bei mancher Ge- 

*•) Leipzig, Breitkopf & Härtel. M.6. - •'’) Stutt¬ 
gart Deutsche Verlagsanstalt. M. 5. 


legenheit nicht verhehlt hat, wie wenig 
schmeichelhaft er von dem Gros seiner Stan¬ 
desgenossen denkt. Auch sein Roman „Ecce 
ego — Erst komme ich/“ *') liest sich wie 
ein gebeiztes Pasquill auf die Hidalgos von 
Ostelbien; aber der Ton ist doch zu roh 
und der Humor artet oft zu gewaltthätig ins 
Karrikierte und Schnoddrige aus, als dass 
sich nicht ein feineres Empfinden dagegen auf¬ 
lehnen sollte. Noch schlechter womöglich 
schneidet der Adel unserer Tage bei Carl 
Bleibtreu ab, dessen KomdSi „Erbrecht“*^) 
thatsächlich das Ärgste an dürrer Langweilig¬ 
keit leistet, was seit denkbarer Zeit je erhört 
ward. Das Buch war, wie man auf den ersten 
Blick erkennt, ursprünglich ein Schauspiel 
und wäre es in Form und Aufbau auch jetzt 
noch, wenn nicht durch ein naives technisches 
Manöver das Notdürftigste an verbindenden 
Sätzen da und dort zwischen den Dialog ein¬ 
geklemmt worden wäre. Auf diese bequeme 
Weise ist ein „Roman" zu Stande gekommen, 
in dem ohne die geringste Schonzeit von 
Anfang bis Ende nur geredet wird, und zwar 
so trostloses Zeug, dass man versucht ist an¬ 
zunehmen, der Verfasser, der doch sonst ein 
heller Kopf ist, habe seine Studien in einem 
Irrenhause oder sich mit seinem Publikum 
einen verzweifelt schlechten Scherz gemacht, 
zumal er auch noch den schnurrigen Einfall 
gehabt hat, das Ganze einen „psychologischen 
Roman" zu'^nennen. Meine Begriffe von der 
Geduld des Druckpapiers haben jedenfalls seit 
der angreifenden Lektüre dieses Buches eine 
ansehnliche Steigerung erfahren. 

Von unseren jüngsten Talenten hat der 
Roman im allgemeinen nichts zu erwai ten 
und soll es auch nicht: unter allen Formen 
poetischer Kunst verlangt gerade er am 
meisten eine lebenskundige, geschlossene Per¬ 
sönlichkeit. Aber nicht jeder, dem sein Schick¬ 
sal das Ingenium des Dichters verliehen hat, 
ward auch Fortunats Wünschhütlein dazu be¬ 
schert, das ihm gemächlich die Zeit der Keife 
abzuwarten erlaubte. Darum braucht man 
z. B. den Roman „Jugendstürme“ von Carl 
Busse*®) noch nicht auf das litterajische 
Gewinn- und Verlustkonto seines jungcji Er¬ 
fassers zu übertragen, der durch sein starkes 
lyrisches Talent so ungewöhnlich früh zu 
Ruf und Ehren kam. Man müsste sich sonst 
durch diese gänzlich physiognomielose, für 
höhere Töchter allenfalls ergreifende Erzähl¬ 
ung, deren Held selbst noch die Schulbar.k 
drückt, mit Recht enttäuscht finden. Ganz 
anders ist es dem jugendlichen Münchener 
Jakob Wassermann gelungen, gleich sci- 

**) Berlin, F. Fontane & Co. M. 5. — **) Jena, 
Hermann Costenoble. M. 3. — •*) Stuttgart, Engel- 
homs Romanbibliothek. M. 0,50, 




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6o4 


WiLCZEK, Die elektrische Untergrundbahn in Budapest. 


nem Erstlingsroman „Melusine*' ’*) ein ganz 
persönliches und doch im Stil einheitliches 
Gepräge zu geben, und es zugleich mit einem 
seltsam gedämpften, traumhaften Hauch zu 
durchzittern, der an mondbeschienene Lotus- 
blüten oder an die Flageolettöne- einer edeln, 
alten Geige gemahnt. Ein Buch, das man 
trotz seiner technischen Schrullen nicht leicht 
wieder vergisst. 

Merkwürdigerweise ist Süddeutschland sonst 
für die moderne Prosadichtung ein auffallend 
unfruchtbarer Boden. Ausser dem letztge¬ 
nannten, eben erst aufgetretenen Autor und 
ausser den Österreicherinnen Marie Ebner 
und Emil Marriot waren es durchgehends 
norddeutsche Verfasser, auf deren Werke hier 
die Rede kam. Zumal Österreichs Anteil an 
der Entwickelung unserer modernen Erzähl- 
ungslitteratur ist verschwindend gering. Das 
einzige kräftige Romantalent, das in den letz¬ 
ten Jahren von dort ausging, ist Baron Carl 
Torresani, der sich nun allmählich auch 
im kühlen Norden eine Gemeinde zu erobern 
beginnt. Vor zehn Jahren noch ein sorgloser 
Dilettant, hat er sich mit jedem seiner neuen 
Werke stetig zu künstlmscher Reife empor¬ 
gearbeitet und mit seiner sprudelfrischen Dar¬ 
stellung und blühenden Gestaltungsgabe schon 
eine ganze Reihe aparter Probleme glänzend 
bewältigt. Aber sein letzterschienener Band 
„y^us drei Weltstädten" der zugleich von 
einer erstaunlichen Volubilität des Stiles Zeug¬ 
nis ablegt, enthält doch mit der Erzählung 
„Das Letzte“ und besonders mit dem kleinen 
Pariser Vollblutroman „Weisse Mauern“ das 
Wertvollste von allem, womit er bisher sei¬ 
nen Ruf als unser brillantester Erzähler be¬ 
festigt hat. 

Noch Hesse sich die Reihe der hier be¬ 
trachteten Werke vom vergangenen Jahre 
ins Beliebige verlängern. Noch verdiente eine 
Anzahl von Werken der besseren Unterhalt- 
ungslitteratur wenigstens erwähnt zu werden, 
wie Anton von Per falls Mesallianceroman 
„Das verlorene Paradies**', oder der recht 
geschickt komponierte Berliner Gesellschafts¬ 
roman tyEin Schlagwort der Zeit" *’) von Fedor 
von Zobeltitz, in dem den Götzendienern 
der „Moderne“ glimpflich die Leviten gelesen 
werden; oder die gross angelegte Erzählung 
„Das Sabinergut" von Eduard Bertz,^*) die 
mit menschenfreundlicher Wärme das Ko¬ 
lonistenschicksal eines jungen deutschen 
Idealisten behandelt und als eine vom päda¬ 
gogischen Standpunkt aus durchaus nahr- 


München u. Leipzig, Albert Langen. M. 3. — 
•®) Dresden u. Leipzig, E. Pierson. M. 5. •■®) Berlin, 
Hugo Steinitz. M. 4. — Berlin, F. Fontane & 
o. 2 Hde. M. 8. — ®®) Berlin, Verein der Bücher¬ 
unde ^Schall & Grund). M. 5. 


hafte Lektüre für die eben herangewachsene 
männliche Jugend lebhaft empfohlen werden 
müsste. Aber für den orientierenden Zweck 
dieser Rückschau, die kein erschöpfender 
Katalog sein soll und kann, steht hier die 
Grenze fest, nachdem das Gesamtbild der 
durch ihren eigenen Wert oder den Namen 
ihres Verfassers bemerkenswerten Erschein¬ 
ungen in seinen Umrissen fixiert worden ist. 
Dass der mechanische Zeitabschnitt eines 
Kalenderjahres nicht gestattet, allgemeine 
Folgerungen zu ziehen und höhere Gesichts¬ 
punkte aufzustellen, versteht sich von selbst; 
soweit sie sich dennoch ergeben, sind sie 
jedem zum Greifen nahegelegt. 


Die elektrische Untergrundbahn in Budapest. 

Von Graf Eduard Wilczek. 

Auf der kürzlich abgehaltenen Jahresver¬ 
sammlung des Verbandes deutscher Elektro¬ 
techniker richtete Regierungsbaumeister Braun 
die Aufmerksamkeit der Teilnehmer auf die 
Budapester Untergrundbahn, bei der die Ver¬ 
wendung der Elektrizität zum Bahnbetrieb 
in grösserem Massstab sich nach den bis¬ 
herigen Erfahrungen in ganz hervorragender 
Weise bewährt - 

Die Andrässy-Strasse bildet die Haupt¬ 
verkehrsader, die aus dem Innern der Stadt 
nach dem sogen. „Stadtwäldchen*, dem be¬ 
liebtesten und, für den linksuferigen Teil der 
Stadt, nahezu einzigem Parke und Erholungs¬ 
platze ftlhrt. 

Das „Stadtwäldchen“ ist für den Buda¬ 
pester das, was ihr den Wiener der Prater, 
den Berliner der Tiergarten, den Pariser das 
Bois de Boulogne ist. 

Sichert schon dieser Umstand allein dem 
Stadtwäldchen eine ausserordentlich grosse 
und konstante Besucherzahl, so wird letztere 
noch wesentlich gesteigert dadurch, dass der 
genannte Park den Schauplatz vieler stabiler 
und gelegentlicher hauptstädtischer „Attrac- 
tions“ abgiebt; so z. B. der Landesausstellung 
des Jahres 1895, Milleniumsausstel- 

lung des Jahres 1896. So wird es erklärlich, 
dass die drei, aus dem Innern der Stadt nach 
dem Stadtwäldchen führenden doppelgeleisigen 
Strassenbahn-Linien und die verschiedenen 
Arten des Strassenfuhrwerks sich für die Ab¬ 
wicklung des zu Zeiten ganz enormen Ver¬ 
kehres als ungenügend herausstellten, und die 
Notwendigkeit einer neuen Bahnverbindung 
unabweislich wurde. Für letztere blieb, nach 
der baulichen Anlage der Stadt, kein anderer 
Weg mehr verfügbar, als die genannte An- 
drässy-Strasse. 


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WiLCZEK, Die elektrische Untergrundbahn in Budapest. 


605 


Der Benutzung der Strasse zu Bahnzwecken 
aber stellten sich ästhetische Bedenken ent¬ 
gegen, die in der Anlage, sei es einer Niveau-, 
sei cs einer Hochbahn nach amerikanischem 
Muster, eine unzulässige Änderung des fest¬ 
lichen und monumentalen Charakters dieser 
Prunkstrasse erblicken; Überdies genügt sie, 
trotz ihrer stattlichen Breite, oft kaum, um 
dem Wagen-Korso, der sich hier zu ent¬ 
wickeln pflegt, den Reit-Alleen und der un¬ 
zähligen Menge der Fussgänger den nötigen 
Spielraum zu gewähren; es sprachen dem¬ 
nach auch eminent praktische Rücksichten auf 
den verfügbaren Raum und auf die Sicherheit 
des Strassenverkehres gegen die Bahnanlage. 
Es entstand demnach ein Dilemma, aus wel¬ 
chem ein Ausweg gefunden wurde, durch 
Anlage einer unterirdischen Bahn, die gleich¬ 
wohl keinen eigentlichen Tunnel, sondern 
vielmehr einen fest gemauerterr und dann 
flach gedeckten Einschnitt bildet. 

Nachdem hiermit der Weg gefunden war, 
wurde auch an eine Erweiterung der ganzen 
Anlage geschritten; es handelte sich nicht 
mehr allein darum, der Andrässy-Strasse eine 
Bahn zu geben, sondern aus dem Zentrum 
der Stadt, mit Benützung der dazwischen lie¬ 
genden Andrässy-Strassenlinie, eine neue Bahn 
bis in das Stadtwäldchen selbst zu führen. 
Hierdurch zerfällt die Anlage in zwei' Teile: 
einen längeren, unterirdischen Teil innerhalb 
des -Stadtgebietes, und einen kürzerer! an¬ 
schliessenden oberirdischen Teil innerhalb 
des Stadtwäldchengebietes. Auch verlängert 
sich hierdurch die Länge der Bahn auf 


3800 Meter, wovon circa 3100 Meter auf 
den unterirdischen und ca. 700 Meter auf den 
oberirdischen Teil entfallen. Zwischen dem 
Anfangspunkte der Bahn auf dem Giselaplatz, 
und dem Endpunkt am Artesischen Bade 
liegen noch 9 Stationen. 

Die Budapester Untergrundbahn unter¬ 
scheidet sich von unterirdischen Bahnen an¬ 
derer Städte, z. B. Londons, nicht nur durch 
den elektrischen Betrieb, sondern hauptsächlich 
auch dadurch, dass sie keine eigentliche 7 ««- 
nel-, sondern eine versenkte und überdeckte 
Strassenbahn ist. Sie unterführt nirgends 
Gebäude oder sonstige definitive Bauobjekte, 
sondern hält sich überall an die Mitte der 
Strassengänge, unter welchen sie hinläuft; 
ihre Decke wird durch keine andere Belast¬ 
ung in Anspruch genommen, als diejenige des 
Strassenpflasters und des sich auf diesem ab¬ 
wickelnden Strassenverkehres; daher ist auch 
bei ihrem Bau kein einziger Stollen getrieben, 
sondern das Bahnplanum durch offene Aus¬ 
hebung der Erde unter freiem Himmel ge¬ 
wonnen, und dann wieder eingedeckt worden. 
Dieser Herstellungsmodus sieht auf den ersten 
Blick sehr einfach und quasi selbstverständlich 
aus und doch, welche unendlichen admini¬ 
strativen und technischen Schwierigkeiten, von 
welchen ein Laie sich kaum eine Vorstellung 
machen kann, gab es hierbei zu Überwinden, 
welch ein riesiger Aufwand von intellektueller 
Arbeit urid von materiellen Mitteln war hier¬ 
zu erforderlich! Nur wenige der Nichtein¬ 
geweihten haben eine klare Vorstellung davon,^ 
wie eigentlich der Grund beschaffen ist, au* 



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6 o6 


WiLczEK, Die elektrische Untergrundbahn in Budapest. 



Schienen. - 


0berkante . 


Sohle. ^ > .2 ^ > .w; , ; -• ^chU. 










w'.^.//y/A/}. 




.f- > 1-- -- 


welchem sich eine moderne Gressstadt erhebt. 
Da ist, bis in bedeutende Tiefen hinab, alles 
unterminiert, alles von einem wahren Labyrinth 
sich in verschiedenen Höhenlagen kreuzender, 
verschlingender und scheinbar unentwirrbarer 
Kanäle, Rohrnetze und Leitungen durchzogen, 
die eng ineinandergreifende, zusammenhän¬ 
gende und unantastbare Systeme bilden. Na¬ 
mentlich bilden die Haupt-Sammelkanäle der 
Unratabfuhr, wegen ihrer Dimensionen, ihrer 
mächtigen Mauerungen und der nötigen Kon¬ 
tinuität ihrer Gefälle ein unbedingtes noli 
me tangere; neben und Ober didsen kieht sich 
dann, in mehrfachen Horizontallagen, das 
System der Hauptrohre und das engmaschige 
Netz zahlloser Verästelungen für Wasser¬ 
leitung, Gasleitung, pneumatische Rohrpost und 
dergleichen hin, die Menge der elektrischen 
Kabel für Beleuchtung, Kraftübertragung, Tele¬ 
graph, Telephon etc.; man glaubt es kaum, 
welch sinnverwirrend komplizierten Mechanis¬ 
mus unsichtbarer, unterirdischer Thätigkeit 
das Strassenpflaster einer Gressstadt deckt. 
Und in diesen, zum Teil unantastbaren, unter¬ 
irdischen Mechanismus galt es, im speziellen 
Falle der Budapester Untergrundbahn, eine 
kontinuierliche horizontale Lücke von circa 
120000 Kubikmetern Rauminhalt zu reissen, 
ohne die Funktionsthätigkeit desselben nach 
irgend einer Richtung zu unterbrechen oder 
zu stören. 

Zur Ausführung der Untergrundbahn ver¬ 
einigten sich die beiden grossen, den Lokal¬ 
verkehr der Stadt vermittelnden Transport¬ 
unternehmungen, die „Budapester elektrische 
Stadtbahn-Aktiengesellschaft' und die „Buda¬ 
pester Strassenbahn-Aktiengesellschaft“, indem 
sie zum Zweck des Baues und Betriebes der 
Untergrundbahn ein eigenes Unternehmen 
mit dem Kapital von 3,600,000 fl. ö. W. = 
5,816,000 Mark gründeten, jedoch die Titres 


desselben nicht emittierten, sondern im eigenen 
Portefeuille behielten. Die auf diese Weise 
gebildete Unternehmung übertrug die Aus¬ 
arbeitung des Detailprojektes Siemens 
& Halske in Berlin, welche den Plan durch 
Baudirektor Adolf Wörner verfassen Hess, 
(unter dessen Leitung das Werk auch ausge¬ 
führt wurde). Am 13. August 1894 wurde 
mit dem Bau begonnen, und am 2. Mai 1896, 
gleichzeitig mit der Eröffnung der ungarischen 
Milleniums-Ausstellung, wurde die Unter¬ 
grundbahn dem öffentlichen Verkehr übergeben. 

Die Untergrundbahn, oder wie sie mit' 
ihrem vollen Namen lautet, die „Budapester 
elektrische Franz - Josef - Untergrundbahn"*, ist 
eine normalspurige, durchaus doppelgeleisige, 
mittelst elektrischen Stromes, der aus einer 
Zentral - Krafterzeugungsstation durch Kabel 
zugeleitet wird, betriebene Slrassenbahn, die 
ausschliesslich dem Personenverkehr zu die¬ 
nen hat. Demnach zerfällt sie in zwei streng 
von einander gesonderte und auch räumlich 
getrennte Teile, den Bahnkörper und die 
Kraftstation, zwischen welchen die Zu- und 
Rückleitungs-Kabel das Mittelglied bilden und 
die nötige Verbindung herstellen. 

Was den Bahnkörper betrifft, so kommen' 
die Trace, die Lage im Terrain, der Quer¬ 
schnitt des Tunnels, die Art seiner Ausführung 
und die Anlage der Stationen in Betracht. 
Eigentümlich ist auch der Unterbau, während 
sich der Oberbau nicht wesentlich von bereits 
gebräuchlichen Systemen unterscheidet, und 
der Hochbau ganz in Wegfall kommt, wenn 
man von der Überdachung der Treppenzu¬ 
gänge absieht. Nebenbei bemerkt, sind diese 
letzteren die einzigen und sehr unauffälligen 
Zeugen für die Existenz einer Bahn, von 
welcher der auf der Strasse Wandelnde ab¬ 
solut nichts wahrnimmt. 

Die Trace ist sozusagen von selbst ge- 


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WiLCZEK, Die elektrische Untergrundbahn in Budapest. 


607 


geben; sie schmiegt sich genau den Strassen 
und Plätzen an, wie sich diese auf dem von 
der Bahn durchzogenen Teile der Stadt auf 
dem Plane darstellen, nur in einer gegen das 
Strassdn-Niveau um einige Meter versenkten 
Horizontal Ebene. 

Was die Richtungsverhältnisse der Bahn 
anbelangt, so sind sie günstige; es liegen ca. 
3,500 Meter = 92 ®/o in der Geraden, und 
ca. 300 Meter=8‘’/o in Bögen; an der Ecke 
des Dcäkplatzes und Waitzener Boulevard’s 
kommt zwar ein sehr scharfer Bogen, mit 
40 m R. vor, doch ist dies ein vereinzelter 
Fall, und haben alle anderen Bahnkurven 
100 und 200 m R. Auch das Profil der 
Bahn ist ein günstiges, trotzdem sie, ent¬ 
sprechend dem vom Donauufer landeinwärts 
ansteigendem Terrain, zumeist in der Steigung 
gelegen ist, und nur etwa 500 m horizontal 
sind; doch ist diese Steigung so sanft, zwischen 
I— 2®/oo variirend, dass sie als solche gar 
nicht in Betracht kommt. Nur an jener Stelle 
an der Arenastrasse, wo die Bahn aus dem 
Tunnel ins Niveau übergeht, kommt eine 
Rampe von 165 m Länge mit 20®/oo Stei¬ 
gung vor. 

Was die Lage des Tunnels im Terrain, 
d. h. seine Tieflage unter der Strassenober- 
fläche anbelangt, so war diese durch die vor¬ 
her angedeutete Okkupierung des Untergrundes 
gegeben. Das massgebende Moment für die 
Tiefenlage der Tunnelsohle bildeten nämlich 
jene Hauptsammelkanäle, welche von derTrace 
gekreuzt werden mussten, und deren Situation 
vollständig intakt zu erhalten war; solcher 
Hauptsammelkanäle waren zwei zu berück¬ 
sichtigen, der des Waitzener Boulevards und 
des Theresienringes. Der erstere liegt in 
genügender Tiefe, um der Bahn-Trace keine 
Schwierigkeiten zu bereiten; der zweite jedoch 
liegt höher, und zwar mit der Oberkante seiner 
gemauerten Wölbung circa 5 m unter dem 


Strassen-Niveau. Von einer Verlegung dieses 
Kanales durfte, wie gesagt, keine Rede sein; 
ebensowenig konnte an eine Unterfahrung 
desselben gedacht werden, demnach musste 
ihn die Bahn überfahren, und somit war das 
Maximalmass der Tiefbnlage der Tunnelsohle 
mit 5 m unter dem Strassen-Niveau durch die 
Verhältnisse selbst geboten. Dieses Maximal' 
mass wurde aber andererseits gleichzeitig zum 
Minimalmass, mithin zum einzig möglichen, 
indem die Fundierung des Bahnkörpers incl. 
Oberbau eine Mächtigkeit von mindestens 
einem Meter, und die bedeckende Strassen- 
schicht ebenfalls eine solche von einem Meter 
erforderte, also für die lichte Höhe des Tun¬ 
nels nur mehr das knappe Ausmass von kaum 
3 m erübrigte. 

War hiermit die Lage des Tunnels im 
Terrain durch die Verhältnisse innerhalb der 
engsten Grenzen genau vorgezeichnet, so ging 
mit dieser auch die Wahl des Querschnittes 
des Tunnels Hand in Hand. Bei dem äusserst 
beschränkten Raum, der für die Höhenent¬ 
wicklung verfügbar blieb, konnte unmöglich 
an den üblichen parabolischen Querschnitt 
gedacht werden, umso weniger, als die Normal¬ 
spur und die doppelgeleisige Anlage der Bahn 
eine unverhältnismässige Breitenentwicklung 
bedingten; überdies war, da die Inanspruch¬ 
nahme der Festigkeit gegen seitlichen Druck 
keine bedeutende ist, eine elliptische oder 
parabolische Form der Seitenwände keine 
zwingende Notwendigkeit. Aus diesen Grün¬ 
den drängte sich der Querschnitt des Tunnels 
gleichsam von selbst auf: er bildet ein lie¬ 
gendes Rechteck. Auch die Dimensionen des 
Tunnels waren durch die verschiedenen, oben 
berührten Momente gegeben; seine lichte Weite 
wurde mit 6 m, seine lichte Höhe, von Schie¬ 
nenoberkante bis zur Unterkante der Quer¬ 
träger der Decke gemessen, mit 2,75 m fest¬ 
gesetzt, während das Bahnplanum 3,75 m 





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WiLCZEK, Die elektrische Untergrundbahn in Budapest. 


unter dem Scheitelpunkte des Strassen-Niveaus 
und die Tunnelsohle 4,65 — 5 m unter dem¬ 
selben liegt. 

Bei der Ausführung des Tunnels musste 
eine ganz besondere Sorgfalt und ein weit¬ 
gehendes Ausmass theoretischer und prak¬ 
tischer Widerstandsfähigkeit auf die Kon¬ 
struktion der flachen Tunneldecke verwendet 
werden, welche die bedeutende Last und Er¬ 
schütterung des hauptstädtischen Strassenver- 
kehres zu tragen, und überdies alle kreuzenden 
Gas- und Wasserleitungsrohre in sich aufzu- 
nehmen hat; ihr Durchmesser beträgt nicht 
mehr als 150 mm. Diese Decke, deren Stärke 
unter dem Scheitelpunkt der Strasse etwa 
I m beträgt, ist eine ziemlich komplizierte 
Sache; sie wird von einer grossen Anzahl 
von Traversen (Querträgern) aus Martinfluss¬ 
eisen getragen, die in Abständen von je i m, 
in Kurven und unter Strassenkreuzungen aber 
von je 0,75 m von einander liegen, und 
zwischen welchen aus Beton hergestellte Wöl¬ 
bungen die Tragfähigkeit verstärken. Diese 
Wölbungen entwickeln die ungeheure Trag¬ 
fähigkeit von 300 — 400 kg auf den Q cm. — 
Die Traversen werden auch noch durch eine 
in der Mitte des Tunnels, zwischen den beiden 
Geleisen, fortlaufende Reihe von Säulen aus 
Schmiedeeisen direckt getragen. Die Gesamt¬ 
zahl der in der Mitte des Tunnels zwischen 
den Geleisen befindlichen Tragsäulen beträgt 
ca. 800, die der Traversen und der Beton¬ 
wölbungen ca. 3,200; man ersieht hieraus, 
dass für die Festigkeit der Decke bestens ge¬ 
sorgt ist. Letztere selbst besteht in einer auf 
die Wölbungen aufgetragenen Betonschicht, 
und darüber aus einer mehrfachen Lage von mit 
heissem Asphalt bestrichenen Filzplatten; auf 
diesen wurde schliesslich die gewöhnliche 
Strassenpflasterung, teils mit Granit-, teils mit 
Holzwürfeln, wiederhergestellt; und damit war, 
von der Strasse aus gesehen, jede Spur der 
unterirdisch geleisteten grossen Arbeit völlig 
verwischt. 

Stationen, oder eigentlich Haltepunkte, zählt 
die Bahn elf. 

Die Anlage der unterirdischen Haltestellen 
besteht in einer beiderseitigen, rechteckigen 
Erweiterung des Tunnelprofils, indem beider¬ 
seits, gegen das Bahnplanum um 0,3 m er¬ 
höht, Perrons anschliessen. Seitenwände und 
Decke dieser Perrons haben den gleichen 
konstruktiven Charakter wie diejenigen des 
kurrenten Tunnels. Die Bahn selbst hat an 
den Haltestellen keine Erweiterung, da keine 
Ausweichen Vorkommen. Für das Publikum 
sind die Perrons zugänglich durch breite be¬ 
queme Treppen, die vom Strassen-Niveau zum 
Bahnplanum hinabftihren, wo kunstvolle Eisen¬ 
gitter den äusseren vom inneren Perron tren¬ 


nen ; bei der Gitterthüre befindet sich die 
Kasse. Treppenhaus und Perronwände sind 
mit weissglasierten Majolika-Platten ausgelegt, 
die im hellstrahlenden elektrischen Lichte einen 
sehr freundlichen heiteren Effekt machen; die 
Treppen sind mit zierlichen, aus Eisen und 
Glas konstruierten und mit polychromen Ma¬ 
jolika - Ornamenten geschmückten Pavillons 
überdacht, welche von der Strasse aus ge¬ 
sehen, das einzige Zeugnis von der Existenz 
des unterirdischen Verkehrsweges ablegen. 

Der Unterbau besteht in einem mit Ent¬ 
wässerungs-Anlagen versehenen Betonfunda¬ 
ment der Tunnelsohle; der Oberbau aus 
Schotterbanketten, die im Beton eingebettet 
sind, aus eisernen Querschwellen mit innerer 
Höhlung, die mit Schotter unterstopft ist, und 
aus gewöhnlichen leichten Vignoles-Schienen; 
die Spurweite ist die normale von 1,435 

Den zweiten Hauptteil der Untergrundbahn 
bildet die Zentralstation, die Stromerzeugungs- 
Anlage. Diese befindet sich mehr als einen 
Kilometer von der letzteren entfernt. Die 
Untergrundbahn verwendet 3 stabile Dampf¬ 
maschinen und 3 dazugehörige Dynamos, und 
zwar je 2 für den normalen Betrieb und je 
eine in der Reserve. Die Dampfmaschinen 
sind Kompound-Maschinen System Kollmann, 
ä 600 Pferdekräfte und, gleich den Kesseln, 
auf II Atmosphären Überdruck eingerichtet; 
(doch wird im normalen Betriebe nur mit 
8 Atmosphären gearbeitet); geliefert wurden 
sie von der Maschinen-Fabrik L. Lang in 
Budapest. Dagegen sind die Dynamomaschinen 
von Siemens & Halske in Berlin; sie er¬ 
zeugen den ftlr die Bewegung und Beleuchüing 
der Wagen und sonstige Betriebszwecke er¬ 
forderlichen elektrischen Strom, und zwar 
einen schwachgespannten Gleichstrom von 
300 Volt und 1,100 Ampere = 330,000 Watt. 
Die theoretische Kraftleistung je eines Dyna¬ 
mos stellt sich somit, nachdem 736 Watt s=* 
r Pferdekraft angenommen werden, auf circa 
450 Pferdekräfte, die praktische hingegen, nach 
Abzug der Reibungs- und elektrischen Wider¬ 
stände, auf ca. 330 Pferdekräfte. Der durch 
die Dynamos erzeugte elektrische Strom wird 
der Bahn durch ein Haupt- und ein Neben¬ 
kabel zugeführt, die sie beide in der Station 
Octogonplatz erreichen; das Hauptkabel liefert 
den Strom Air die Elektromotoren und die 
Beleuchtung der Wagen, sowie für die op¬ 
tischen Blocksignale, das Nebenkabel hingegen 
den Strom für die Beleuchtung der Stationen; 
die beiden Kabel sind selbsverständlich unter¬ 
irdisch geführt. Der Apparat für die Strom¬ 
verteilung und -Regulierung befindet sich in 
der Zentralstation. Im Tunnel verzweigt sich 
das Kabel des Arbeitsstromes derart, dass 
für jedes der beiden Geleise eine separate 


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Welch, Anpassung bei pathologischen Vorgängen. 


609 


Stromzuleitung und Rückleitung funktioniert, 
mithin zusammen 4 Leitungen, die an der 
Innenseite der Tunneldecke angebracht sind; 
auf der oberirdischen Bahnsektion werden 
die Leitungen von Ständern getragen. Die 
Übertragung des elektrischen Stromes zu den 
Elektromotoren und Lampen der Wagen ge¬ 
schieht durch einen gleitenden Kontaktbügel, 
der am Wagendache in einem niederen rah¬ 
menartigen Gestelle angebracht ist. 

Der Fahrpark der Untergrundbahn besteht 
lediglich aus Personenwagen, von welchen 
vorläufig 20 Stück im Gebrauche stehen. Es 
sind dies sämtlich Motorwagen, denen, wenn 
es die Frequenz erfordern sollte, ohne Wei¬ 
teres beliebig Beiwagen angehängt werden 
können. Die Wagen sind 12 m lang und 2.2 m 
breit; sie haben äusserlich und innerlich eine 
gefällige Ausstattung, und fassen etwa 50 
Personen. Jeder Wagen ruht auf zwei zwei¬ 
achsigen Drehgestellen, so dass trotz des 
langen Radstandes von 9 m die Kurven leicht 
und sanft befahren werden. Um das Umdrehen 
der langenWagen zu vermeiden, besitzt ein jeder 
Wagen zwei vollständig von einander unab¬ 
hängige Elektromotoren, deren jeder selbst¬ 
ständig auf die innere Achse des Drehge¬ 
stelles wirkt, und deren einer bei der Hin¬ 
fahrt, der andere bei der Rückfahrt benütz twird; 
desgleichen befindet sich an jedem Wagen¬ 
ende ein geschlossener, mit Glaswänden ver¬ 
sehener Vorbau, welcher den Rezeptor des 
Elektromotors und den Sitz des Wagenführers 
enthält. So braucht denn der Wagen am 
Endpunkt nicht umgedreht zu werden, 

Zusammenstösse sind auf der Untergrund¬ 
bahn ausgeschlossen, da jedes der beiden 
Geleise nur in einer Fahrrichtung gebraucht 
wird, und Weichen auf dfer kurrenten Strecke 
nicht Vorkommen; nur die beiden Endpunkte 
haben die zum Übergange der Wagen er¬ 
forderlichen Kreuzweichen. Gegen Zusammen¬ 
stösse in gleicher Fahrrichtung sichert ein 
automatisches Blocksystem mit elektrischem 
Betriebe; die ganze Bahn ist in Blocks von 
Stationsdistanz eingeteilt; der Kontakt eines 
Wagenrades stellt selbstthätig beim Verlassen 
einer Station das Haltesignal für dieselbe, 
und löst es ebenso selbstthätig beim Erreichen 
der nächsten Station wieder aus, so dass je¬ 
des Missverständnis unmöglich wird, und die 
Züge sich nur in Stationsdistanz folgen können. 
Überdies ist jeder Wagen mit dreifachen 
Bremsvorrichtungen ausgerüstet, nämlich einer 
mechanischen Klotzbremse, einer elektrischen 
Gegenstrom-, und einer „Kurzschluss^-Bremse; 
die Benützung der letzteren ist nur für Not¬ 
fälle reserviert. 

Den Betrieb der Untergrundbahn fbhrt die 
elektrische Stadtbahn mit ihrem eigenen Per¬ 


sonale, jedoch auf Rechnung der ersteren 
und gegen eine pro Wagenkilometer zu zah¬ 
lende Vergütung, Der Verkehr beginnt um 
6 Uhr Morgens uird wird bis Mitternacht auf¬ 
rechterhalten; in den verkehrsreicheren Tages¬ 
stunden folgen sich die Züge in Intervallen 
von 4 Minuten, doch kann das Intervall im 
Bedarfsfälle auf 2 Minuten herabgesetzt wer¬ 
den. Die Maximalgeschwindigkeit ist mit 40 
Kilometer pro Stunde festgesetzt, wird jedoch 
nicht in Anspruch genommen; thatsächlich 
variiert die Fahrzeit von Endpunkt zu End¬ 
punkt zwischen 13 und 16 Minuten, je nach 
dem durch den Andrang des Publikums be¬ 
dingten Aufenthalt in den Stationen, Die 
Wagen führen nur eine Klasse, und beträgt 
der Fahrpreis einer einmaligen Fahrt, ohne 
Rücksicht der Entfernung, 20 Heller. Jeder 
Wagen wird, ausser dem Wagenführer, von 
einem Kondukteur begleitet, der Billete zu 
kontrollieren und die Stationen auszurufen hat. 

Die Fahrt im Tunnel gestaltet sich, wenn 
man von der zeitweisen Überfüllung der 
Wagen absieht, sehr angenehm; sie wickelt 
sich, bei heller Beleuchtung des Wagens, mit 
all der appetitlichen Reinlichkeit, mit der völ¬ 
ligen Geruch- und Geräuschlosigkeit ab, die 
den elektrischen Betrieb charakterisiert; auch 
ist die Luft im Tunnel rein und trocken. Die 
Beliebtheit, deren sich die am 2. Mai 1896 
eröffnete Untergrundbahn beim Publikum er¬ 
freut, wird durch folgende Betriebs-Resultate 
im ersten Halbjahr ihres Bestandes illustriert; 
die Untergrundbahn beförderte, resp. verein¬ 
nahmte im Monat: 


1896 

Mai 

Juni 

Juli 

August 

September 

Oktober 


Personen 

469,840 

581,339 

373,718 

383,933 

453,111 

440,034 


Gulden ö. W. 
46,984 

58,134 

37,372 

38,393 

45,311 

44,003 


Summa 2,701,975 270,197 

Das macht im Durchschnitt pro Tag: 
15,011 beförderte Personen und 1501 Gulden 
Ö. W. Einnahme. Da zur Verzinsung und 
Amortisierung des Anlagekapitals eine täg¬ 
liche Einnahme von 700 fl. erforderlich ist, 
so dürfte der Untergrundbahn auch vom Stand¬ 
punkte der finanziellen Spekulation ein günst¬ 
iges Horoskop gestellt werden können. 


William H. Welch: Anpassung bei patho* 
logischen *) Vorgängen. 

(Science 28. Mai 1897). 

Eine charakteristische Eigenschaft aller 
Lebewesen ist ihre Fähigkeit, sich äusser- 

’) krankhaften. 


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6 io 


Welch, Anpassung bei pathologischen Vorgängen. 


liehen und innerlichen Zuständen, aus Zweck¬ 
mässigkeitsgründen anzupassen; z. B. die 
Erhaltung der Durchschnittstemperatur im 
Körper der Warmblüter bei veränderlicher 
Aussen- und Innentemperatur, die Regelung 
der Atmung entsprechend dem Sauerstoff¬ 
bedürfnis der Gewebe, der Einfluss der Last 
auf die Muskelarbeit, die grössere oder ge¬ 
ringere Herzthätigkeit je nach Bedürfnis, die 
Akkomodation der Regenbogenhaut im Auge 
bei verschiedenen Lichtstärken etc. 

Die Kenntnis, dass der lebendige Körper 
Mittel besitzt, welche geeignet sind, schäd¬ 
lichen Einwirkungen entgegenzuarbeiten, ist 
so alt, wie die Kenntnis von der Krankheit 
selbst, denn die oberflächlichste Betrachtung 
lässt die Heilkraft dieser Mittel bei Verwun¬ 
dung und Krankheit erkennen. Der Begriff 
einer erhaltenden oder bekäippfenden Krank¬ 
heit spielte und spielt noch eine bedeutende 
Rolle in der Geschichte der Medizin. 

Noch bis heute ist die medizinische Praxis 
von dieser Theorie beeinflusst; die bekannten 
Sprüche: vis medicatrix naturae und medicus 
CSt minister naturae verdanken ihr den 
Urprung. 

Bevor man genaue Kenntnis von der 
Organisation und dem Mechanismus des 
Körpers halte, war ein exaktes Erkennen der 
sich in ihm vollziehenden Heil- oder Kom- 
pcnsaiionsvorgänge unmöglich. Obwohl Har- 
vey’s Entdeckung des Blutkreislaufes den 
Weg öffnete, verdanken wir doch den grössten 
Teil unserer Kenntnisse den in unserem Jahr¬ 
hundert gemachten klinischen, pathologischen 
und biologischen Studien und Beobachtungen. 

Die neueren bakteriologischen Entdeck¬ 
ungen haben bis jetzt ungeahnte Aufklärungen 
über das Wesen ansteckender Krankheiten ge¬ 
liefert, und wenn wir auch die Kraft der Lebe¬ 
wesen, sich innerlich und äusserlich den gege¬ 
benen Verhältnissen anzupassen, noch nicht zu 
begründen wissen, so haben uns doch diese 
Untersuchungen manches Neue in Bezug auf 
die erbliche Zellenorganisation und die Pro¬ 
zesse bei der Entwickelung, bei dem Wachs¬ 
tum und bei der Regeneration gelehrt. Da 
die Zellen die Träger der physiologischen 
Anpassung sind, so wirft sich die Frage auf, 
ob sie auch die Eigentümlichkeit besitzen, 
krankhaften Veränderungen entgegenzutreten. 
Wenn wir annehmen müssen, dass Variation 
und Zuchtwahl vereint mit Erblichkeit die 
jetzige normale Entwickelung herbeigeführt 
haben, ist es schwer, den Einfluss der Zellen 
in den meisten pathologischen Anpassungen 
zu finden. 

Zum Beispiel; Angenommen, die Menschen 
oder irgend eine tierische Spezies entbehrte 
der Fähigkeit, die durch eine kranke Herz¬ 


klappe verursachten Zirkulationsstörungen 
auszugleichen und ein Individuum würde mit 
der .Ausnahmsföhigkeit geboren, diese Aus¬ 
gleichung zu bewirken. Aller Wahrschein¬ 
lichkeit nach würde sich keine Gelegenheit 
zur Ausübung dieser neuen Fähigkeit bieten 
und es ist undenkbar, dass die Varietät ver¬ 
möge des Naturgesetzes des Überlebens des 
Vollkommneren fortgepflanzt würde, wenn 
löcherige oder kranke flerzklappen eine Eigen¬ 
heit der gesamten Spezies wären. 

Wenn wir aber wissen, dass die durch 
kranke Herzklappen verursachte Zirkulations¬ 
störung durch vermehrte Herzthätigkeit aus¬ 
geglichen wird, und dass es ein allgemeines 
Gesetz ist, dass diese Extrathätigkeit bei 
längerer Dauer eine Vergrösserung des Mus¬ 
kels bewirkt,! so erkennen wir sofort, dass 
diese Ausgleichung nur ein spezieller Fall 
einer allgemeinen Fähigkeit ist, die im ge¬ 
wöhnlichen Leben ständig sich wiederholt 
und an welcher Zuchtwahl und andere Ent¬ 
wickelungsfaktoren ihre volle Kraft entfalten 
können. 

Wir können diese Betrachtung auf andere 
pathologischen Hypertrophien *) ausdehnen 
und uns auf diese Weise die merkbare Un¬ 
vollkommenheit der pathologischen Anpas¬ 
sungen im Gegensätze zur Vollkommenheit 
der physiologischen erklären. 

Die Eigentümlichkeit der Zellen beruht 
also wie wir sahen, in ihrer Fähigkeit phy¬ 
siologische Anpassungen zu bewirken. In 
pathologischer Beziehung sind die Zellen von 
mangelhafter Wirksamkeit. Die Hypertrophie 
des Herzens stellt die normale Blutzirkulation 
nicht vollständig her; eine vergrösserte Niere 
ist empfänglicher für Krankheit, als die nor¬ 
male. Wie unvollständig und zuweilen ge¬ 
fahrvoll ist die Bildung von Narbengewebe. 
Wie oft sind Entzündungen, welche wir als 
Selbstheilversuche betrachten, erfolglos. 

Die Anpassung findet nicht immer zum 
Vorteil des Individuumsstatt;eine Gehirnnarbe 
kann Epilepsie verursachen. Neubildung von 
Knochen ist häufig sehr willkommen, aber von 
schweren Missständen begleitet, wenn z. B. 
durch Schädelverdickung bei dem Kinde die 
Gehirnentwickelung verhindert wird. 

Die Beantwortung der Fragen: „was be¬ 
zwecken diese Vorgänge und wodurch werden 
sie verursacht", ist bei unserer höchst mangel¬ 
haften Kenntnis dieser Prozesse nur unvoll¬ 
kommen. Die Hypertrophie bewirkt eine funk¬ 
tionelle Ausgleichung krankhafter Zustände. 
Die Zellen haben die Eigentümlichkeit, in 
heilsamer Weise sich den veränderten Zustand 
anzupassen, aber hauptsächlich in physio- 


*) Übermässiges Wachstum von Gewebeelementen. 


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Welch, Anpassung bei pathologischen Vorgäiigen. 


6 ii 


logischer und nicht in pathologischer Bezieh¬ 
ung. Unsere Kenntnis der Art und Weise 
wie ersetzende Hypertrophie bei verschiedenen 
Organen und Geweben hervorgebracht wird, 
steht daher in genauer Beziehung zu der 
Kenntnis, welche wir über die Physiologie 
dieser Organe und Gewebe besitzen. Die 
beste Einsicht haben wir in die sog. Arbeits- 
Hypertrophie bei Muskeln und Nieren. 

Die Bezeichnung „plastische“ Hypertrophie 
wird häufig beim Wachstum von Geweben an¬ 
gewendet, welches anderes, ausgefallenes Ge¬ 
webe ersetzt, wie z. B. das Wachstum eines 
fetten Gewebes rings um eine eingeschrumpfte 
Niere oder Brustdrüse oder zwischen schwin¬ 
denden Muskelfibrillen. Hier findet jedoch 
nur eine Platzausftlllung, aber keine Ersetzung 
der Struktur oder Funktion statt. Derartige 
Hypertrophien sind daher nicht funktioneller, 
sondern plastischer Art. 

Wie die Hypertrophie entsteht und der 
allgemeine Charakter ihrer Anpassung lässt 
sich am besten beim Herz erläutern. Gleich 
anderen Organen des Körpers entfaltet auch 
das Herz nicht seine volle Kraft bei seiner 
gewohnten Arbeit; diese Kraft würde zum 
drei- oder vierfachen Quantum dieser Arbeit 
ausreichen, und diesen Kraftüberschuss nennt 
man die „Reservekraft“. Durch Experiment 
bei einem Hunde wurde bewiesen, dass ein 
gesundes Herz im Stande ist, sich sofort 
oder nach einigen Schlägen bei eintretenden 
hohen Graden von Verstopfung der Herz- 
kiappenmündungen zu akkomodieren, ohne 
dass die Schnelligkeit des Blutumlaufs ver¬ 
mindert wird. Aber auch ein so unermüd¬ 
liches Organ wie das Herz, kann einen so 
hohen Druck auf die Dauer nicht aushalten, 
ohne zu erschlaffen und zu versagen. Wenn 
es die Überarbeit fortsetzen soll, muss es 
einen Kraftzuschuss erhalten. 

Die verschiedenen krankhaften Zustände, 
die Herz-H3rpertrophien herbeiftlhren, sind 
entweder eine vermehrte Blutausgabe bei je¬ 
dem Schlag durch ungenügenden Schluss der 
Klappen oder Widerstand bei dem Blutlauf durch 
verminderte Elastizität der Gefässwandung 
oder Verengerung einer Herzklappenmündung, 
oder auch beides. Wenn keine Regulierung 
einträte, so müssten diese Umlaufsstörungen 
dem Zusammenziehen des Herzmuskels einen 
grösseren Widerstand entgegensetzen und es 
ist klar, dass das Herz mehr arbeiten müsste, 
um das Blut mit Normaldruck- und Ge¬ 
schwindigkeit durch die Arterien zu pressen. 

Der Physiologie verdanken wir einen Ein¬ 
blick in den Herzniechanismus bei dieser 
vermehrten Arbeit. Alle diese erwähnten 
Störungen vergrössern die Spannung der 
Wände einer oder mehrerer Herzkammern, ! 


d. h. sie spannen den Herzmuskel mehr an, 
gerade wie ein gewöhnlicher Muskel durch 
ein Gewicht mehr angespannt wird. Nach 
physiologischem Grundgesetz verursacht eine 
grössere Muskelanspannung eine kräftigere 
Zusammenziehung derselben und dadurch ver¬ 
mehrte Arbeit. Wenn aber der Widerstand 
zu kräftig ist, kann die Zusammenziehung 
einer Herzkammer nur unvollkommen erfolgen, 
und diese sich nur teilweise entleeren. Es 
entsteht daher eine Ausdehnung, der stets 
Hypertrophie folgt, bei welcher durch die ver- 
grösserte Muskelfläche der Druck auf die 
einzelnen Fasern mehr verteilt und der Wider¬ 
stand gegen die Zusammenziehung verringert 
wird. Dadurch ist eine, wenn auch nicht 
vollkommene Kompensation geschaffen. Es 
ist mit Gewissheit anzunehmen, dass diese 
Regulierung vorzugsweise durch die Muskel¬ 
zellen und nicht durch Nervenwirkung her¬ 
vorgebracht wird. 

Die Drüsen-Hypertrophie Hesse sich in 
ähnlicher Weise veranschaulichen. • Interes¬ 
sant sind in dieser Beziehung die Beobacht¬ 
ungen der Leberhypertrophie durch Ponfick, 
welcher bewies, dass nach Wegnahme von 
selbst dreiviertel von diesem Organ, dieses 
sich wieder auf die nahezu ursprüngliche 
Grösse, mit normalen Funktionen, vervoll¬ 
ständigt. 

Bei Knochen, Gelenken und Blutgefässen 
finden ähnliche pathologische und physio¬ 
logische Anpassungen und Kompensationen 
statt. 

Die Pathologen und Bakteriologen haben 
aber die Zellenfrage noch von anderer Seite 
betrachtet. Ein schädlicher Mikroorganismus, 
welcher in die Gewebe eindringt und sich 
dort vermehrt, beginnt die umliegenden 
Zellen zu zerstören. Dagegen wehrt sich der 
Körper, indem die Blutgeftlsse und vielleicht 
auch die Zellen eine Armee von Leucocyten 
(weisse Blutkörperchen) absondern, welche die 
Fähigkeit besitzen, viele Mikroorganismen 
zu zerstören. Gleichzeitig sammelt sich Serum 
in und um die zerstörten Teile, welches, viel¬ 
leicht durch seine chemischen Eigenschaften, 
als Gegengift wirkt. Wenn diese Feinde der 
Mikroorganismen die Oberhand gewinnen, 
dann werden die Ruinen der zerstörten Teile 
von Phagocyten hinweggebracht und die 
umgebenden Zellen vermehren sich wieder 
und produzieren neues Gewebe an Stelle des 
zerstörten. Nicht immer aber siegen die 
Waffen des Körpers; die grössere oder ge¬ 
ringere Ausdehnung der Entzündung d. h. der 
Thätigkeit der Phagocyten zeugt voh dem statt¬ 
findenden Kampfe. 


') Zellen, die Mikroorganismen etc. aufzehren. 


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6 I 2 


Betrachtungen und kleine Mitteilungen. 



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Handschrift-Faksimile. 

Oberer Teil der Verso-Seite des Papyrus-Fragments 


Transskription. 
mit Sprüchen Jesu. 


Wenn wir auch in den Entzündungen eine 
Art der Anpassung finden müssen, so können 
wir dieselben doch nicht als vollkommenes 
Schutzmittel des Körpers gegen eindringende 
Mikroorganismen anerkennen. 

Alle diese Betrachtungen beweisen uns, 
dass die Naturheilkraft häufig unvollkommen 
und mangelhaft ist, und dass Systeme, welche 
darauf basiert sind, dass man die Natur 
allein walten lasse, auf schwankendem Grunde 
beruhen. 

Die Naturkraft thut was sie kann; aber 
ihre Wirkung ist nicht immer wohlthätig, 
häufig sogar störend und schädlich. 

Demnach bleibt Ärzten und Chirurgen 
noch weiter Spielraum zur Entfaltung segens¬ 
reicher Thätigkeit. Dr. Mehler. 


Betrachtungen und kleine Mitteilungen. 

• Die Sprüche Jesu. Durch die Freundlichkeit 
des Egypt Exploration Fund in London sind wir in 
der Lage, obenstehend ein Stück des vielbesproch¬ 
enen Handschriften-Fragmentes zu geben, welches 
die Herren Bernard P. Grenfeil und Arthur S. 
H u n t bei ihren Ausgrabungen in Ägypten am Rande 
der libyschen Wüste, 120 engl..Meilen südlich von 
Cairo, auf der Stätte, wo sich in römisch-christ¬ 
licher Zeit die blühende Stadt Oxyrhynchus — 
heute unter dem Namen Behnesa ein armseliger 
Weiler — erhob, unter einer grossen Zahl grie¬ 
chischer Papyri entdeckt haben. 

Das Fragment ist ein Blatt eines Papvrus-Buches, 
welches eine Reihe von Sprüchen Jesu enthält, 
von denen einige, obwohl dieselben neue Züge 


bieten, bekannt, während andere vollkommen neu 
sind. 

Die Entdecker und Herausgeber setzen die 
Entstehung der Handschrift nach dem Charakter 
der Schriftzüge in die Zeit von 150 bis 300 n. Chr. 
und halten es für besonders naheliegend, dass die 
Handschrift nicht viel später als 200 geschrieben ; 
worden ist. Wahrecheinlich ist dieselbe ein Aus¬ 
zug aus dem sogenannten Ägypter-Evangelium, von 
dem nur geringe Bruchstücke erhalten sind und 
das am Anfang des 2. Jahrhunderts geschrieben, 
längere Zeit in Ägypten in hohem Ansehen stand, 
aber später verworfen wurde. 

Einige andere Hypothesen, welche die Entdecket 
in ihrer sehr interessanten Broschüre *) ausserdem 
aufstellen — dieselben halten u. a,. eine direkt auf 
Aussprüche Jesu zurückgehende Cberlieferung ftir 
möglich, welche unabhängig vom Evangelien-Canon 
entstanden sei — werden von den Theologen für 
wenig wahrscheinlich erklärt. 

In unserer Abbildung ist der Schluss des ersten 
Spruches (hiermit fängt das Fragment an) enthalten, 
und der Beginn des zweiten Spruches. Mit dem 
Wortlaut des ersten stimmt genau Lukas 6,42 Ober¬ 
em „. . . und besiehe dann, dass du den Splitter 
aus deines Bruders Auge ziehest". Der zweite 
Spruch ist zu ergänzen: 

(oaß) ßftTov nvx ilwffsdf rov •rTitrtnn : Jesus sagt 
„wenn ihr nicht der Welt fastet, so werdet ihr nie¬ 
mals das Reich Gottes finden, und wenn ihr nicht 
den Sabbath haltet, so werdet ihr nicht den Vater 
sehen“. 

Für diesen Satz findet sich in den Evangelien 
keine Parallelstelle. Andere Stellen sind von einem 
mystischen Geist erfüllt, der dem Urchristentum 
jedenfalls fremd ist und auf gnostischen Ursprung 
deutet. Wenn es auch noch nicht feststeht, welche 


•) AOllA IH 20 T. Sayings of our Lord from an 
early greek papyrus discovered and edited, wilh translation and 
commenury by Bernard 1 ». Grenfell, M. A. and Arthur S. Hunt, 
M. A. WiUi two plates. 1897, Henry Fruwde. London W. C. 
Amen Corner. Price Sizpence net. 


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Betrachtungen und kleine Mitteilungen. 


Stelle dem neuen und wertvollen Funde innerhalb 
der christlichen Litteratur gebührt, so erh^t das 
Evangelium jedenfalls dadurch eine sehr willkom* 
mene Beleuchtung. ^ 

* 

Victor Meyer t- 

Im blühendsten Mannesalter von 48 Jahren starb 
am 8. August plötzlich der Chemiker Victor 
Meyer. Er wurde am 8. September 1848 in Berlin 
geboren, studierte unter Bunsen und Baeyer Chemie 
und erhielt bereits 1871 einen' Ruf als Professor 
nach Stuttgart, 1872 nach Zürich, 1885 nach Göt¬ 
tingen und 1889 als Nachfolger Bunsens nach Heidel¬ 
berg. Im grösseren Publikum wurde er mehr durch 
seine liebenswürdige Persönlichkeit, sein Lehrtalent 
und einige seiner für weitere Kreise bestimmten 
Vorträge ‘) bekannt Seine wertvollsten Arbeiten 
aber, die seinen eigentlichen wissenschaftlichen 
. Ruhm ausmachen, haben reines Fachinteresse. Da 
sind vor allem seine fruchtbaren Untersuchungen 
über Nitro-, Nitroso- und Isouitroso-Verbindungen, 
zu denen er eine neue analoge Körperklasse, die 
Jodo- und Jodoso-, sowie die giftigen, den Thallium¬ 
salzen ähnlichen, Jodoniumverbmdungen gesellte, 

. ferner über Hydroxylamin, mit welcher Substanz 
er ein vorzügliches Reagens an die Hand gab, um 
. zwei organische Körperklassen, die Aldehyde und 
Ketone, zu charakterisieren. Angeschlossen sei ein 
anderer wichtiger Fund Meyers, der des Thiothen. 

. Die Nachricht davon setzte die chemische Welt 
1882 in das grösste Erstaunen. Ging Meyer doch 
bei seinen Untersuchungen von einem Körper, dem 
Steinkohlenteer aus, der so oft und so genau wie 
wenige sonst noch untersucht worden ist. Meyer 
machte auf die sehr auffällige Thatsache aufmerk¬ 
sam, dass Benzol aus Steinkohlenteer sich anders 
verhalte wie das aus Benzoesäure gewonnene. 
Diese Wahrnehmung war der Ausgangspunkt von 
Untersuchungen, die schliesslich zu der Auffindung 
des Thiophens führten. Das Studium dieses Körpers 
erscIJoss der organischen Chemie ein neues 
Hauptstück, dessen Ausbau Meyer und seine Schüler 
sich zu ihrer Aufgabe machten. Im letzten Jahr¬ 
zehnt wendete sich Meyer vor allem Untersuchun¬ 
gen über Konfiguration (räumliche Lagerung der 
Atome im Molekül) zu, sowie über allgemeine Re¬ 
aktionen organischer Körper (Anlagerung von Ha¬ 
logenen, Esterifizierung). 

Ein grosser Zug geht durch Meyers Arbeiten; 
mit Vorliebe beschämgte er sich mit Grundpro¬ 
blemen. Von seinem zwanzigsten Jahr ab datieren 
seine Untersuchungen über Dampfdichten, Schmelz¬ 
punkte und Siedepunkte anorganischer Körper, die 
er bis zu seinem Tode verfolgte, unablässig immer 
und immer wieder mit verbesserten Hilfsmitteln. 
Die letzten Jahre brachten seine hochinteressanten 
Arbeiten über Verbrennung (Verbindung von Sauer¬ 
stoff mit Wasserstoff, Kohlenwasserstoffen, Kohlen¬ 
oxyd etc.) 

Dem rastlos schaffenden Mann war es nicht mehr 
vergönnt, den für die Naturforscher- und Ärzte¬ 
versammlung im September angesagten Vortrag 
<Umlagerung von Buttersäure in Jsobuttersäure) zu 
halten. b. 

• 

Eine interessante Fauna ♦)eherbergt der 7 a«- 
eanyika-See in Zentral-Afrika. Schon im Jahre 1893 
hat Böhm eine Schirmqualle in ihm gefunden, die 
doch sonst nur marine Tiere sind. Nun hat J. E. 

<) Chemische Probleme der Gegeowart (C. Winter, Heidel¬ 
berg); Ergebnisse und ZMi der Stereochemie; Probleme der 
Atomistik (Carl Winter, Heidelberg); ferner sei erwahat das 
leider noch nicht beendete, in Verbindung mit jacobson her- 
Au^e^ebene .Lehrbuch der organischen Chemie' (Veit & Co., 


613 

S. Moore die Fauna eingehender «htef|S9cht und 
gefunden, dass die meisten Tiere 'einen' durchaitö 
marinen Charakter zeigen. Mehrere Schnecken, die 
in ihm Vorkommen, haben ihre nächsten Verwandten 
im Meere, und unterscheiden sich durch ihre dicken, 
mit Wülsten, Domen oder Stacheln versehenen 
Schalen auffi^end von den anderen Süsswasser¬ 
schnecken. Sie sind alle lebendig gebärend. Im 
Schlamm finden sich überall die Nadeln eines Kiesel- 
Schwammes, der im See selbst noch nicht gefun¬ 
den wurdej wohl aber im Kongo vorkommt, hi den 
Tümpeln rings um den See leben Garaeelen, von 
denen einige dem ausschliesslich marinen Palaemon 
ähneln. Ein eigentümlicher Fisch (Chromis) hat 
Farbenst^eifen, Grösse und Schwimm weise eines 
Blutegels* so dass er von den häufigen Eisvögeln 
unbehelli^ bleibt. Abends bedecken ungez^te 
glitzernde pelagische Protozoen die Oberfläche. Die 

t anze Fauna scheint sehr alt zu sein, und eine 
chnecke erinnert an fossile Arten aus der Jura- 
Zeit Zugleich ist die ganze Tierwelt auch eine 
andere, wie die der übrigen zentral - afrikanischen 
Seen. Nature Vol. 56 Na 1444. — R. 

• * 

Eine gefährliche Milbe (Holothryus coccinella 
Gerv.) lebt auf Neuseeland, den malayischen Inseln, 
Mauritius und wahrscheinlich auch Madagaskar an 
feuchten Orten unter Steinen und Moos. Kommt 
sie in den Verdauungskana], so veranlasst sie heftige 
Entzündung der Schleimhäute. Besonders unter dem 
Geflügel richten sie Verwüstungen an, aber auch 
Menschen, besonders Kinder, die Ja immer gern 
mit den Händen in den Mund kommen, werden 
von ihnen befallen, wo sie dann Schwellungen des 
Gaumens veranlassen. c.R.Soc.Bioi., la mara 97.-R. 

* Nickelstahl ist das Material der Zu¬ 
kunft für den Schiffsbau, vorausgesetzt, dass 
der Preis dafür niedriger wird. Dazu müssten aber 
neue Nickellager aufgefunden und die Verhüttungs¬ 
spesen vermindert werden. (Vortrag von Prof. Biles 
in d. Institution of Civil Engineers 31. 5. 97.) 

'Nach einem Bericht der Carborun- 
dum Compai^ für 1896 wurden ca. 600 Tons 
krystallinischen Carborundums produziert. Dies dient 
zum Schleifen, während es für amorphes Carborun- 
dum‘bisher keine Verwendung gab. In letzter Zeit 
nun soll es an die Stelle von Ferrosilicium bei 
der Stahlfabrikation treten. Deutschland allein würde 
ca. 2500 Tons jährlich brauchen, wenn es zu 50 
Pfennigen pro Kilo zu liefern wäre. Die Carborun- 
dum (Company glaubt dies zu ermöglichen. 

(En^neeriog and Mining Journal.) 

• Einen M ond-Atlas auf Grundlage der 
photographischen Aufnahmen ' der Lickstemwarte 
beabsichtigt Professor Weinek in Prag heraus¬ 
zugeben. Derselbe soll im Ganzen 200 Karten im 
Format 26 x31cm in grossem Massstab (Mond¬ 
durchmesser — 4 m) enthalten. Die Herstellung er¬ 
folgt durch Lichtdruck nach Diapositiven von den 
Onginal-Aufnahmen. 


No. 3g der Dnuchau wird enthalten: 

Reh, Anleitung zu zoologischen und biologischen Beobachtungen. 
(Schluss). — MQsebeck. Die Geschichtsschreibung im vergang¬ 
enen Jahre III. — Walfling, Die wissenschaAlicbe Verwendung 
des Dracheö. — Grottewitz, Neuerungen im Gartenbau. — Ver¬ 
änderungen und Fortschritte im Aitilleriewesen im Jahre 1896« 
(Fortsetzung). 


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welche die beabsichtigte Russland- 
Reise Felix I. hervorgerufen hat, 
dürfte Ihnen beif. Reproduktion 
einer russischen Lektion gefallen. 
Auch die Friedenssitzung in Kon¬ 
stantinopel ist in dem anderen 
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entnommen, mit vielem Humor er¬ 
fasst. 


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DR. J. H. BECHHOLD. 


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Im Ausland nach Cours. 
Verantwortlicher Redakteur: 

Otto Adolf Wolters, Frankfurt a. M. 


35. I. Jahrg. 


Naehdruck m49 dtm Inßiall tUr Ztilachri/t ohm* Erlaukm» 
dtr Jifdakh'oH vtrbo/fti. 


1897. 28. August. 


Neuerungen im Gartenbau. 

Von CuRT Grottewitz. 

Der merkwürdige Zug der Zeit, der aus 
jeder Beschäftigung eine Industrie und aus 
jeder Arbeitsstätte eine Fabrik gemacht hat, 
ist auch im Gartenbau deutlich sichtbar. Zwar 
der Gartenbau wird nicht nur zum Zwecke 
des Erwerbs gepflegt, er ist sogar sehr wesent¬ 
lich eine Sache des Genusses, des Vergnügens. 
Aber selbst da, wo kein Unternehmer mit 
Gartenprodukten Geld zu verdienen sucht, im 
Garten des Villenbesitzers oder im Garten 
des Naturfreundes macht sich der kapitalistische 
Zug unserer Zeit mitunter sehr aufdringlich 
bemerkbar. Ja derselbe charakterisiert den 
Gartenbau der letzten Jahrzehnte, sowie fast 
alle die Neuerungen, die dieser hervorbringt. 

Es giebt in jeder Branche menschlichen 
Erwerbs ein gewisses Losungswort, das alles 
zusammenfasst, worauf der Erwerbende sein 
Augenmerk in erster Linie richtet. Dieses 
Losungswort heisst im modernen Gartenbau: 
Frühzeitigkeit. Ohne Zuthun des Menschen 
geht die Natur ihren gewohnten Gang. Die 
Rosen blühen im Juni, die Kirschen reifen 
Anfang Juli, die Zwetschen im September. 
Wir nahmen früher mit dieser Thatsache für- 
lieb und freuten uns jeder Blüte, jeder Frucht 
zu ihrer Zeit. Jetzt ist es plebejisch, sich 
Ober etwas zu freuen, was die Saison bringt. 
Nein, eben was die Jahreszeit nicht liefert, 
darüber, so lehrt die heutige Zeit, sollst Du 
Dich — freuen? Nun, freuen zwar nicht, denn 
die Freude hat unsere blasierte Welt schon 
längst abgeschafft, aber stolz sollst Du sein, 
auf eine Kirsche im Mai, Dich mit ihr rühmen 
sollst Du, der Geist des Fin de si^cle soll 
Ober Dich kommen, dass Du ausrufst: „Wie 
weit ist man doch heutzutage!“ Dabei füllt 
natürlich auch ein bischen Ruhm des Jahr¬ 
hundertendes auf Dich selbst. Wer Dich im 
Mai Kirschen essen sieht, der wird Dich 

Umtchau 1897. 


sicherlich für einen äusserst fortgeschrittenen, 
modernen Menschen halten. Doch was auch 
immer das Motiv sein mag, welches die heutige 
Generation zu dieser seltsamen Moderichtung 
treibt, Thatsache ist, dass jedes Gartenprodukt 
umsomehr begehrt wird, je früher es vor der 
gewohnten Erntezeit geliefert werden kann. 

Diese Thatsache veranlasst nun aber den 
Gartenbautreibenden, nach möglichster Früh¬ 
zeitigkeit seiner Erzeugnisse zu streben. Das 
hat nun die Pflanzenzüchter zu einem fieber¬ 
haften Wetteifer geführt, immer frühzeitigere 
Sorten zu züchten, die sie wieder teurer an 
die Gartenbautreibenden verkaufen können. 
Denn diesen ist ebenfalls an nichts mehr ge¬ 
legen, als frühtragende, frühblühende Pflanzen¬ 
sorten zu bekommen, für deren Ertrag ungleich 
viel höhere Preise gezahlt werden, als für den 
der späteren Sorten. So ist es nun gekom¬ 
men, dass jedes Jahr von jedem Hause eine 
oder mehrere Sorten in Handel gebracht wer¬ 
den, die noch früher sind oder sein sollen, 
als die des vorhergehenden Jahres. Es ist 
ja immerhin nicht uninteressant, Pflanzen durch 
Züchtung zu grösserer Frühzeitigkeit ihres 
Ertrages zu veranlassen. Aber im Grunde 
ist diese Sache doch lächerlich, wenn man 
sie nicht gar als einen Auswuchs unserer 
ungesunden Produktionsverhältnisse beklagen 
will. Denn was wird durch diese Frühzeitig¬ 
keit erreicht? Doch nichts anderes, als dass 
die Saison für eine bestimmte Pflanze ver¬ 
schoben wird. Ass man früher die Kirschen 
im Juli, so isst man sie jetzt im Mai, im Juli 
isst man jetzt die Pfirsiche, die man früher 
im September verzehrte. Hat das irgend 
einen Zweck? Ja, wenn cs nur Pfirsiche und 
Kirschen gäbe, so könnte man es noch er¬ 
klärlich finden, dass jeder diese Gartenprodukte 
so bald als möglich haben wollte. Aber da 
der Garten das ganze Jahr hindurch Erzeug¬ 
nisse liefert, so ist es doch das Vernünftigste, 
dass man sie in der Reihenfolge geniesst, 

35 




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6i6 


Grottewitz, NEurnuxcEN im Gartenbau. 


wie er. sie naturgemäss bietet. Indes könnte 
man die Zeitverschiebung und Modelaunc 
noch passieren lassen, wenn sie nicht ganz 
bedenkliche Erscheinungen im Gefolge hätte. 
Zunächst verführt die Sucht, möglichst früh¬ 
zeitige Sorten ,zu züchten, dazu, dercit. sonst¬ 
ige Beschaffenheit ganz ausser Acht zu lassen. 
Die Sorten, die z. B. in Brandenburg als 
früheste gelten, die Kirsche Früheste der 
Mark, die Erdbeere Teutonia u. v. a. sind 
minderwertige Waare von schlechtem Ge¬ 
schmack. Kein Mensch würde daran denken, 
sie anzubaucn, wenn nicht die Spekulation auf 
die Modethorheit des Publikums dazu ver¬ 
führen würde. Seltsame Ironie unserer so¬ 
zialen Verhältnisse: Diejenigen, die ihren Stolz 
darein setzen, alles so frühzeitig wie nur 
möglich zu haben, die viel Geld für frühe 
Waare ausgeben, geniessen thatsächlich die 
minderwertige! Mit wenig Ausnahmen, sind 
alle Gartenerzeugnisse am besten, wenn sie 
die nötige von der Natur vorgeschriebene 
Zeit zu ihrer Ausbildung haben. Bekanntlich 
sind alle Birnen und Äpfel, die im Spätherbst 
ihre Reife erlangen, ungleich wohlschmecken¬ 
der als das wässerige, fade Kernobst, die 
Birne Grüne Magdatene, die Äpfel Weisser 
Astrachaner und Charlamowsky, die schon 
im Sommer geniessbar sind. Freunde der 
Frühzeitigkeit könnten sagen, durch die Früh¬ 
sorten wird die Saison für ein bestimmtes 
Gartenprodukt verlängert, man kann sich also 
längere Zeit an denselben erfreuen. Indes 
selbst angenommen, dass die Frühsorten gut 
sind, ist diese Verlängerung der Saison gar 
kein Vorteil. Jede Sache wird weniger ge¬ 
schätzt, wenn sie längere Zeit zur Verfügung 
steht. Eine Erweiterung der Jahreszeit kann 
also nur dazu beitragen, die Blasiertheit, die 
sich in unserer Zeit ohnehin schon genug 
breit macht, noch zu vergrössern. Es steckt 
ein eigener Reiz in der festen Anlehnung an 
die Natur. Wer in ihr aufgewachsen ist, wer 
7 . B. die Ernte der Johannisbeeren noch aus 
eigener Kindheit her kennt, der hat ein be¬ 
stimmtes Bild von dieser Zeit, er weiss, wie 
die Natur um diese Zeit aussieht. Wenn nun 
die Jahreszeit für diese Früchte verschoben 
wird, so wird auch das eigentümliche in hol¬ 
der Erinnerung lebende Bild verwischt und 
das Naturgefühl getrübt, das mit diesem Bild 
von Kindheit an verknüpft war. 

Trotzdem wäre es thöricht, und vor allem 
unmöglich, sich Neuerungen zu verschliessen, 
die wirklich Verbesserungen sind. Dass man 
die gezüchtete, sehr feine und fruchtbare 
Zwetsche Anna Späth den gewöhnlichen 
kleineren Hauszwetschen vorzieht, dass man 
die mit grossen Hülsen überreich bedeckte 
Bohne Kaiser Wilhelm statt der älteren. 


weniger fruchtbaren Sorten lieber anbaut, ist 
selbstverständlich. Allerdings kann man sagen, 
dass fortgesetzt eine Menge Sorten gezüchtet 
werden, die einen reichen Ertrag liefern. Hier 
deckt sich entschieden das Interesse des Ver¬ 
käufers mit dem des Publikums. Es ist ohne 
Zweifel berechtigt, dass der Mensch von seinen 
Kulturpflanzen möglichst reichen Ertrag ver¬ 
langt. Aber wie heutzutage eben alles nicht 
zum'Nutzen der Menschheit, sondern zum 
Gewinn für den Produzenten hergestellt wird, 
so muss der Vorteil der Fruchtbarkeit in den 
meisten Fällen durch den Mangel anderer 
wichtiger Eigenschaften erkauft werden. So 
werden denn, viele Sorten angebaut, die er¬ 
staunliche Massenerträge liefern, aber die 
Eigenschaft, weshalb man ein Gartenerzeugnis 
überhaupt geniesst, nämlich die Schmackhaftig¬ 
keit, nicht besitzen. So liefert der neuge¬ 
züchtete Bismarckapfel, der von einer phä¬ 
nomenalen Ertragsfähigkeit ist, (er trägt schon 
an einer ganz kleinen einjährigen Veredelung) 
Früchte, die einfach fad schmecken. Trotzdem 
wird er jetzt in Menge angebaut. Er hat 
allerdings noch einen Vorzug, das heisst einen 
Vorzug, der eben wieder blos heutzutage in 
der Zeit der Fabrikwirtschaft als Vorzug be¬ 
trachtet werden kann: seine Früchte sind 
gewaltig gross, sehen infolgedessen sehr 
einladend aus. 

Man kann es niemandem verargen, wenn 
er wünscht, dass das, was er isst, sich ihm 
auch in angenehmer Form präsentiert. Aber 
etwas Schlechtes zu essen, blos weil es schön 
aussieht, das könnte nur einem Narren ein¬ 
fallen. Wenn also jemand schlechte Sorten 
ihres schönen Aussehens wegen anbaut, 
z. B. die Birne Schöne Angevine, die eine 
lachende Schaufrucht, aber ungeniessbar ist, 
so hat er keinen anderen Zweck als den, dem 
Publikum Sand in die Augen zu streuen, ein 
Zweck, der nun so modern geworden ist, dass 
er in alle Produkjtionszw'eige Eingang gefunden 
hat. Das Ehrgefühl, das früher jeder Hand¬ 
werker hatte, gute Waare zu liefern, ist eben 
jetzt abhanden gekommen. Das läppische 
Streben nach Frühzeitigkeit kommt nur in 
einzelnen Gewerben vor, die Sucht nach dem 
schönen Schein aber ist heutzutage überall zu 
finden. Welche unnötige Kraft, wieviel Zeit 
und Geld wird dadurch verschwendet. Der arg¬ 
lose Käufer in der berechtigten Annahme, die 
schönergestalteten Früchte werden auch besser 
schmecken, vergeudet sein gutes Geld für ein 
schön aussehendes Nichts. 

Was aber das Streben nach wirklich guten 
Neuerungen am meisten diskreditiert, ist die 
Sucht nach Neuheiten. In jedem Menschen 
ist eine gewisse Neigung vorhanden, zu den 
alten Schätzen neue zu fügen. Aber diese 


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Grottewitz, Neuerungen im Gartenbau. 


617 


neuen müssen eben Schätze sein. Leider 
geht «Tber der Mehrzahl der Neuheiten, die 
jährlich auf den Markt kommen, jeglicher 
Wert ab. Derjenige, der sie zum Verkauf 
anbietet, weiss wom in den meisten Fällen, 
dass seine Waare nichts taugt, aber er weiss 
auch, dass die heutige Zeit eine Menge Mittel 
hat, Reklame, schöne Namen, schöne Ver- 
heissungen, um eine schlechte Sache gut zu 
machen. Ein grosser Teil des Publikums fällt 
doch immer wieder herein, und damit ist der 
Gewinn, auf den man spekulierte, erzielt. Was 
hilft es, dass Gartenbauzeitungen auf den 
Schwindel aufmerksam machen, die wenigsten 
Gartenbesitzer, die Samen oder Pflanzen einer 
neuangepriesenen Sorte kaufen, lesen Zeit¬ 
schriften. Ja, was noch schlimmer ist, oft 
enthalten selbst Gartenbauzeitschriften recht 
trügerische Reklamen. Es ist einfach empör¬ 
end, dass jahraus, jahrein eine Menge von 
Neuheiten angeboten werden, die das, was sie 
versprachen, gar nicht halten. Der gewissen¬ 
hafte Gartenfreund kommt in grosse Verlegen¬ 
heit. Er würde gern den ehrlichen Entdecker 
oder Züchter einer guten Neuheit dadurch 
unterstützen, dass er sie ankauft oder weiter 
empfiehlt, aber wie kann er vorher wissen, 
dass sie anbauenswert ist, da doch erfahrungs- 
gemäss fast jede Neuheit, die er bis jetzt er¬ 
probt und die sich als wertlos erwies, mit 
gleichen glänzenden Lobesworten angeboten 
wurde. So muss das Gute mit dem Schlechten 
leiden, um so mehr leiden, als das Gute meist 
bescheiden und mit weniger Lärm auftritt. 
Da macht einer in den verbreitetsten Zeit¬ 
schriften eine ungeheure Reklame für eine 
Baum-Erdbeere, welche die Vorstellung er¬ 
weckt, als ob sie baumhoch wachse und einen 
Ertrag liefere, wie ein in gutem Boden stehen¬ 
der Pflaumenbaum. Und es ist nichts dran, an 
der ganzen Sache, ganz und gar nichts. 
Und die jüngst mit so viel Geschrei angeprie¬ 
sene Stachellose Stachelbeere hat doch Stacheln 
und — minderwertige Früchte obendrein. 
Oder es wird eine japanische Melone empfoh¬ 
len. Der Importeur selbst hat schon öffentlich 
ihre Wertlosigkeit ausgesprochen. Trotzdem 
wird noch immer im Handel von ihr gerühmt, 
dass sie sicher in Norddeutschland im Freien 
reife, so dass pun jede einfache Bäuerin im¬ 
stande wäre, in ihren Gärten Melonen heran¬ 
zuziehen. Die Frucht wird jedoch im freien 
Lande nicht reif, und wo man sie unter Glas 
wie andere Melonen zieht, da taugt sie nichts 
weder im Geschmack, noch sonstwie. Ohne 
Zweifel sind eine Menge guter Neuheiten im 
Laufe der Jahre gezüchtet worden, aber nur 
die eifrigsten Gartenfreunde, die in der Lit- 
teratur und den Praktiken der Gartbauwissen- 
schaft bewandert sind, haben diese guten 


Neuheiten aus der Fülle von schlechten heraus¬ 
zufinden gewusst. Derjenige, der keine Zeit 
oder Neigung hat, sich so eingehend damit 
zu beschäftigen, ist einfach der Betrogene. 
Er hat nur den Trost, dass er in jeder 
Branche, die er nicht kennt, ebenso betrogen 
wird. Das Unsolide steckt in der Zeit. Ein¬ 
mal wirklich ftlr sein Geld gute, in jeder 
Weise solide Ware zu bekommen, ist ein 
Glücksfall, den man festlich begehen sollte. 
Mittel zur Abhilfe hier zu finden, hiesse, die 
soziale Frage lösen! — 

Trotz all der vielen schlechten und zu 
schlechten Zwecken gezüchteten Neuheiten, 
muss man jedenfalls anerkennen, dass keine 
Zeit vorher auch soviel grosse Verbesserungen 
in den Gartenprodukten aufzuweisen hat. Wer 
in der Lage ist, alles anzuschaffen, alles zu 
prüfen und das Beste zu behalten, der weiss, 
welche gewaltigen Fortschritte’die Gegenwart 
auch im Gartenbau aufzuweisen hat. Die 
meisten Gartenprodukte sind vergrössert (vor 
allem Schoten, grüne Bohnen, Stachelbeeren), 
ergiebiger gemacht, (Erdbeeren, Laxtons No¬ 
ble, Treibgurke Prescott Wondp-) und in 
vielen Fällen auch in ihrem Geschmack ver¬ 
bessert worden. (Erdbeere König Albert von 
Sachsen, Stachelbeere Früheste von Neuwied). 
Eine willkommene Verbesserung ist ferner 
auch die Triumphweintraube, txcdz ihrer kleinen, 
grosskernigen Beeren, insofern als sie auch 
in nördlichen Gegenden Deutschlands noch 
sicher reift. Verschiedene neue Kopfsalat¬ 
sorten haben die löbliche Eigenschaft, nicht 
so schnell in Samen zu schiessen und sind 
somit den älteren Sorten vorzuziehen. Aus 
fremden Ländern sind besonders neue Blu¬ 
men, neue prachtvolle Sträucher und Bäume, 
auch vielfach neue Früchte und Gemüse einge- 
ftlhrt worden. Nur schade, dass sich das Gute 
unter dem Wust des Schlechten nicht genügend 
Bahn brechen kann, und dass es seiner ^ahl 
nach in keinem Verhältnis zu diesem Wust steht. 
Was könnte unsere Zeit leisten, wenn ein ver¬ 
nünftiges Prinzip alle Kräfte anstatt zur Er¬ 
zeugung schlechter Waare, zur Herstellung 
immer schönerer, soliderer, besserer Produkte 
antreiben würde! 

Ist also trotz aller Mängel und Schäden 
im Gartenbau doch ein Fortschritt in der 
Züchtung neuer Sorten nicht zu leugnen, so 
kann man gegenüber den Neuerungen, welche 
die Technik gebracht hat, bis jetzt nur skep¬ 
tisch sein. Die grossen Vorteile, welche die 
Technik dem Verkehr, vielen Fabrikations¬ 
zweigen gewährt, hat sie dem Gartenbau nicht 
gebracht. Spaten, Hacke und Harke sind 
noch immer wie zu Urvaters Zeiten, die wich¬ 
tigsten Geräte zum Gartenbau. Allerdings 
sind in der Form dieser Geräte eine Menge 

35 * 


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6 i8 


Veränderungen und Fortschritte im Artilleriewesen. 


Variationen eingeführt worden, die aber nichts | 
Epochemachendes an sich haben. Die ge* ] 
waltigen Fortschritte in maschineller Bezieh- j 
ung haben den Gartenbau nicht verändert. , 
Es giebt ja natürlich Drillmaschinen, allerhand . 
Bodenbe^beitungsmaschinen, aber sie werden 
selbst in grossen Gärtnereien noch wenig an¬ 
gewandt. Es liegt dies daran, dass im Gar¬ 
tenbau wie sonst kaum auf einem anderen 
Gebiete, eine grosse Mannigfaltigkeit in der 
Arbeit und in den Produkten vorliegt, so da^ 
jede einzelne Arbeit entweder zu klein ist, 
um Maschinenbetrieb nötig zu haben, oder 
dass es der Arbeiten zu viele giebt, um ftlr 
jede einzelne eine Maschine anschaffen zu 
können. Dazu kommt allerdings, dass sich 
alle Maschinen bis jetzt noch recht wenig 
bewährt haben. Am populärsten ist noch die 
Rasenmähmaschine. Vielleicht ist der Zu¬ 
kunft hier noch sehr viel Vorbehalten. Na¬ 
türlich hindert auch hier viel Schlechtes, viel 
trügerische Reklame und unsolide Arbeit das 
Fortkommen der besseren Sachen. Zu grosse 
Erwartungen hat man an die Verwendung der 
modernen Eisenkonstruktionen für den Garten¬ 
bau, speziell für die Herstellung von Gewächs¬ 
häusern geknüpft, Allein das Eisen ist zwar 
dauerhaft, infolgedessen billig, es steht aber 
als „guter Wärmeleiter“ dem von jeher ge¬ 
brauchten Holze ganz bedeutend nach. Hat 
sich so eigentlich kein Erzeugnis den moder¬ 
nen Technik für den Gartenbau bisher ?is 
unentbehrlich erwiesen, so giebt es doch eine 
Fülle kleiner Geräte und Werkzeuge, die 
immerhin mit Vorteil anzuwenden sind; er¬ 
wähnt seien hier die neuen Giess- und Spreng- 
Apparate und die Fanggläser zur Vertilgung 
von Schädlingen. Die ftir die verschiedenen 
Arbeiten verschieden geformten Messer, 
Scheren, Sägen u. s. w. können eventuell 
viel Mühe ersparen, und wenn unsere Zeit 
einmal die Schäden des jetzigen Produktions- 
Mirrwarrs überwunden haben wird, dann wird 
das thatsächlich Brauchbare auch in weitere 
Kreise dringen. 

Wirklich bedeutende Fortschritte wird der 
Gartenbau aber erst dann machen, wenn die 
Kenntnis der Naturwissenschaften allgemeiner 
geworden ist. Wir stecken noch zu sehr in 
der humanistischen, vom realen Leben abge¬ 
wandten Tradition. Darum legt die Jugend¬ 
erziehung, die Schule zu wenig Wert auf die 
Kenntnis der Naturwissenschaften und wir 
sehen Menschen heranwachsen, welche das 
um sie her wogende Leben, die sie umge¬ 
bende Natur nicht einmal sehen, geschweige 
•^enn verstehen. Eine Verallgemeinerung der 
fwissenschaftlichen Kenntnisse aber wird 
«ne Liebe zur Natur und eine Wür- 
-er Produkte hervorrufen. Es giebt 


heute, eine Menge von Menschen, die nicht 
wissen, dass die Kerne in den Schoten später 
Erbsen werden. Und sie gestehen ihre Un¬ 
kenntnis lächelnd als etwas Selbstverständliches 
ein. Entschieden müsste aber solche Ignoranz 
als brennende Schande empfunden werden. 
Der Mensch ist zunächst von der Natur ab¬ 
hängig und muss sich daher in erster Linie 
mit ihr beschäftigen. Thut er das nicht, dann 
stellt sich jene Ungesundheit, jenes blasierte 
und angekrtnkelte Wesen ein, das in unseren 
Gressstädten wie eine schlimme Seuche gras- 
siert. Wer aber wirklich die moderne Natur¬ 
wissenschaft als Lebensanschauung in. sich 
lebendig werden lässt, der wird auch danach 
streben, mit der Natur Fühlung zu behalten, 
und genau auf die Produkte achten, die 
sie hervorbringt. Vielleicht wird dann auch 
der Garten wieder jene Stelle einnehmen, die 
er im vorigen Jahrhundert bei unseren gröss¬ 
ten Dichtern und Geistern eingenommen hat. 
Zur leiblichen wie zur geistigen Gesundung 
giebt es kaum ein besseres Mittel als die 
Beschäftigung mit dem Gartenbau. Regt diese 
aber den Menschen direkt dazu an, auf die 
Schönheiten und Gaben der Pflanzenwelt mehr 
Wert zu legen als vorher, so wird auch der 
Gartenbau selbst mit der Zahl seiner kennt¬ 
nisreicheren Anhänger fortschreiten ! 


Veränderungen und Fortschritte 
im Artilleriewesen. 

Von HAuptmanD X* 

Feldartillerie II. 

Nachdem wir früher (Umschau Nr. 24) den 
Standpunkt der kontinentalen Staaten beleuchtet 
haben, den dieselben der Frage der Neube¬ 
waffnung der Feldartillerie gegenüber einge¬ 
nommen haben, wollen wir mit wenig Worten 
noch des Inselreichs England gedenken. 

Die englische Feldartillerie hat einen eigen¬ 
tümlichen Entwicklungsgang hinter sich. Be¬ 
reits 1860 gezogene Hinterlader einftüirend, 
Hess sie sich durch ungünstige Erfahrungen 
mit denselben verleiten, zu den Vorderladern 
zurückzugehen und 1870-dieses längst ver¬ 
altete System wieder einzuführenl Es war 
dies ein verhängnisvoller Rückschritt, der 
ausserordentlich folgenschwer war, — um so 
folgenschwerer, als er auch auf die schwere 
Artillerie ausgedehnt wurde. Die gesamte 
englische Artillerie kam dadurch arg ins 
Hintertreffen! Gegenwärtig hat die Feldartil¬ 
lerie nun in ihrem Feldgeschütz C/84 zwar 
wieder einen Hinterlader erhalten, die Kon¬ 
struktion desselben ist aber nicht auf sehr 
glücklicher wissenschaftlicher Grundlage auf- 


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Veränderungen und Fortschritte im Artillerie wesen. 


619 


gebaut and steht das Geschütz daher, auch- 
nach den unhangst getroffenen Verbesserungen, 
ballistisch noch nicht ganz auf gleicher Stufe 
gegenüber andern ähnlichen Geschützen. Man 
hatte aber unlängst einem Teil der Feld* 
artillerie ein neues Modell einer Lafette ge¬ 
geben, die bereits in verschiedenen Punkten 
einer modernen Feldschnellfeuer-Lafette ent¬ 
sprach. Es bewährte sich jedoch nicht und 
ist daher in den letzten Jahren sehr umge¬ 
staltet worden. Man ist nun gegenwärtig wie¬ 
der in Versuche mit einer neuen elastischen 
Lafette mit hydraulischer Rohr- und Anker- 
brerase eingetreten, über deren Ergebnis je¬ 
doch nichts bekannt ist. Ebenso verlautet 
nichts über Versuche mit einer modernen 
Feldschnellfeuer-Kanone, obgleich angenom¬ 
men werden darf, dass auch England solche 
betreibt. 

• Erwähnen möchten wir noch, dass Japan, 
das eifrig bemüht ist, sich nicht nur allge¬ 
mein in seiner Industrie und Kultur, sondern 
auch im besonderen in seinem . Militärwesen 
ganz auf europäischen Fuss zu stellen, eine 
Anzahl Feld- und GebirgsgeschOtze des von 
uns in No. 21 beschriebenen, Systems Canet 
angekauft hat und mit demselben in Versuche 
eingetreten ist, deren Ergebnis noch nicht 
bekannt ist. 

Wir wollen schliesslich kurz noch einiger 
Konstruktionen vonFeldschnellfeuergeschützen 
von Seiten von Privatetablissements gedenken. 

Bei der Besprechung Frankreichs hatten 
wir schon die Systeme Canet und Darmancier 
erwähnt, es erübrigt noch, die 7,5 Schnell¬ 
feuer - F^kanone C/93 des Creusot (System 
Schneider) zu nennen. Der Konstruktion ist 
nachzurOhmen ausgezeichnete ballistische Leist¬ 
ung, gute Trefflähigkeit, genügende Feuer¬ 
geschwindigkeit (6 Schuss pro Minute) und 
die geistvolle und dabei praktisch ausgearbei¬ 
tete Lafetten- und Bremskonstruktion, während 
ihr aber verschiedene Mängel anhaften, die 
sie zu einem nicht kriegsbrauchbaren Geschütz 
stempeln. 

Erwähnt sei noch die 7,5 cm Schnellfeuer- 
Feldkanone Maxim-Nordenfelt *) und die Arm- 
strongsche 8,4 und 7,6 cm Schnellfeuer-Feld¬ 
kanone,*) die konstruktiv recht viel bemerkens¬ 
wertes zeigen, die erstere aber durch die 
Wahl des Kalibers, die letztere ballistisch 
Missgriffe zeigen, die den General Wille zu 
dem Urteil veranlassen: „Der 8,4 cm ist ein 
ungeratenes, der 7,6 cm aber ein totgeborenes 
Kind.“ 


*) Näheres siehe Wi 11 e „ZurFeldgcschOtzfrage“. 
Berlin 1896, S. 285 u. ff. (Veriag von Eisenschmidt, 
Berlin) und Rivista d’artiglieria e genio. Februar 
1897. S. 311 u. ff. 

*) Wille, „Zur Feldgeschützfrage“, S. 294. 


Wir wenden, uns daher zu einer andern 
Klasse der Feldgeschütze, die von den Feld¬ 
artilleristen allerdings am liebsten verleugnet 
wird und über welche der Streit der Mein¬ 
ungen schon seit Jahren ein ungemein hitz¬ 
iger ist. Wir meinen die Steilfeuergeschütze 
der Feldartillerie, und möchten bei der grossen 
Bedeutung dieses Gegenstandes demselben 
eingehendere Beachtung schenken. 

Es dürfte auch in Laienkreisen bekannt 
sein, dass die Türken im russisch-türkischen 
Kriege sich mit derartigem Erfolge der flüch¬ 
tigen Feldbefestigung — d. h. der nyt den 
Mitteln des Feldkrieges, Hacke, Beil und 
Spaten, in kurzer Zeit zu schaffenden Erd¬ 
deckungen — bedienten, dass die russischen 
Feldgeschütze sich als ohnmächtig dagegen 
erwiesen (Plewna). Dies führte naturgemäss 
dazu, dass man allseitig in den Militärstaaten 
alsbald sich diese Lehre zu Nutze machte, 
die Truppen in der schnellen Ausführung 
wirkungsvoller Erddeckungen unterwies Und 
ihrer Ausrüstung das erforderliche Schanzzeug 
,in grosser Zahl und zweckentsprechender 
•Konstruktion beigab. 

j Dies brachte aber sämtliche Feldartillerieen 
in die Zwangslage, auf Mittel' zu sinnen, 
Truppen auch hinter solchen Verschanzungen 
zu bekämpfen und sich die Wiederholung des 
Fiaskos der russischen Feldartillerie vor Plewna 
zu ersparen und zwar handelte es sich wesent¬ 
lich um die sog. „Feldschanzen“, d. h. Erd- 
'deckungen, die ein zu hartnäckiger Verteidig¬ 
ung entschlossener Gegner, wenn ihm vor 
der Schlacht genügend Zeit zu Gebote steht, 
an wichtigen Punkten des Geländes anlegt, 
in dem er sich schlagen will. Diese Feld¬ 
schanzen dienen grösseren Infanteriemassen 
(Kompagnieen oder mehr) zum Aufenthalt; 
die Leute befinden sich teils in sog. Unter¬ 
ständen hinter dem Erdwall, deren Balken¬ 
decke stark mit Erde beschüttet ist, oder sie 
sitzen auf der feindabwärts gelegenen Seite 
des Walls, der sie dann vollständig deckt, 
bis die angreifende Infanterie so nahe her¬ 
angekommen ist, dass die Verteidiger auf¬ 
stehen, auf den Auftritt steigen und über den 
Wall hinweg die.AngreiferunterFeuer nehmen. 

Die Feldgeschütze sind nun so konstruiert, 
dass sie grosse Anfangsgeschwindigkeiten und 
relativ (kalibermässig) lange Geschosse mit 
grosser Umdrehungsgeschwindigkeit besitzen, 
die Flugbahnen sind also sehr rasante, d. h, 
sie streichen flach über den Boden hin. Die 
eigentlichen Feldgeschütze gehören also zu 
der Klasse der „langen Kanonen“. Da nun 
noch dazu kommt, dass die Schrapnels so 
konstruiert sind, dass sie ihre Kugelfüllung 
nach vorn, also nicht nach den Seiten oder 
nach oben und unten ausstreuen, so erhellt 


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620 


Veränderungen und Fortschritte im Aktii.lekiewesen. 


wohl ohne Weiteres, dass man mit Feldge¬ 
schützen und Schrapnels zwar vorzüglich alle 
lebenden Ziele bekämpfen kann, sofern die¬ 
selben ganz oder wenigstens teilweise unge¬ 
deckt sind, da die flach dahinfliegeriden Ge¬ 
schosse auf lange Strecken alles Lebende 
treffen werden, ohne überhaupt ein genaues 
Kennen der Zielentfernung zu verlangen, dass 
man mit den genannten Mitteln aber nicht 
Mannschaften treffen kann, die, wie die sitzen¬ 
den Infanteristen“' in der Feldschanze, sich 
dicht hinter Deckungen befinden, ohne auch 
nur einen Teil ihres Körpers zu zeigen. Die 
Feldartillerieen suchten nun also nach den 
verschiedensten Mitteln, um auch dicht hinter 
diese Deckungen treffen zu können. 

Die Einen (z. B. Belgien, Italien) führen 
für ihre Feldgeschütze ausser den gewöhn¬ 
lichen grossen Pulverladungen noch kleine 
dergl. mit; die Geschosse verlassen dann die 
Rohre nur mit kleinen Anfangsgeschwindig¬ 
keiten, erhalten eine stark gekrümmte Flug¬ 
bahn und daher grosse Fallwinkel, mittelst 
deren sie nun auch dicht hinter die Deckuiv- 
gen gelangen. 

Dasselbe erreichen andere (Deutschland) 
dadurch, dass sie der Feldartillerie für diesen 
Spezialzweck besondere Geschosse mitgeben 
(Sprenggranaten), die eine derartige starke 
Sprengladung haben, dass sie beim Krepieren 
die Sprengstücke nicht mehr nach vorn, son¬ 
dern nach oben und unten, daher also auch 
dicht hinter Deckungen schleudern. 

Eine dritte Gruppe erblickt ihr Heil darin, 
sogar besondere Geschütze mitzuführen, die 
ganz anderen, eigentlich nur in der Fuss- 
artillerie vertretenen Geschützklassen ange¬ 
hören, die „kurzen Kanonen" oder die „Mör¬ 
ser" (Russland, Frankreich). Diese beiden 
Geschützarten haben das Eigentümliche, dass 
ihre Geschosse nur geringe Anfangsgeschwin¬ 
digkeiten und mehr oder weniger stark ge¬ 
krümmte Flugbahnen besitzen. Es erhellt ohne 
Weiteres,, dass dieses Auskunftsmittel ein 
zweischneidiges Schwert ist; denn wenn auch 
ein derartiges Spezialgeschütz — eben weil 
es in der Fussartillerie eigens für verwandte 
Zwecke konstruiert war — die vorliegende 
Spezialaufgabe vielleicht am besten erfüllt, so 
lädt man doch damit der Feldarmee ein grosses 
Impediment auf, eine Spezialtruppe, die eine 
Sonderausbildung besitzen muss und die das 
Mitführen eigener Munitionstrains erfordert, 
und die ausserdem jedenfalls gerade da im 
entscheidenden Moment oft nicht zur Stelle 
sein wird, wo man sie braucht. Das ist eine 
alte Erfahrung! 

Wir haben etwas weit ausholen müssen, 
es Hess sich dies aber nicht umgehen, wenn 
die Bedeutung der Einfülirung einer kurzen 


120 mm-Kanone in die französische Feldartil¬ 
lerie in das rechte Licht gerückt werden 
sollte. Über die konstruktive Einrichtung des 
Geschützes wollen wir uns dafür um so kürzer 
fassen: Das Kaliber ist aus der Bezeichnung 
ohne weiteres ersichtlich; die MOndungsge- 
schwindigkeit beträgt 285 m. Die Lafette ver¬ 
dient ihrem ganzen Wesen nach den Namen 
einer SchnelUeuerlafette, da sie mit Sporn 
versehen ist, in Unter- und Oberlafette zer¬ 
fällt (letztere eine Seiteneinrichtung von 5® 
nach jeder Seite gestattend) und eine hydzo- 
pneumatische Rohrbremse trägt, welch letztere 
durch die am Ende des Rücklaufs stark zu¬ 
sammengedrückte Luft das Wiedervorgleiten 
des Rohres bewirkt. Es ist eine Feuerge¬ 
schwindigkeit von 6 Schuss in der Minute 
gewährleistet. Als Geschosse werden Schrapnels 
M/91 (mit 680 Hartbleikugeln von 12 kg Ge¬ 
wicht) und Sprenggranaten (mit 6 kg Melinit) 
verfeuert. Mit letzteren — welche nur Auf¬ 
schlagzünder besitzen, also nicht in der Luff 
krepieren können — will man Erdbrustwehren 
und Mauern zerstören, lebende Ziele aber 
teils durch die Sprengteile, teils durch den 
enormen Gasdruck kampfunfähig machen. 

Dieses Geschütz besitzt konstruktiv eine 
grosse Anzahl von Mängeln, von denen wir 
als den schwerwiegendsten das für ein Feld¬ 
geschütz viel zu grosse Gewicht hervorheben 
wollen. Wie man sich die gefechtsmässige, 
beschleunigte Fortbewegung eines 2365 kg, 
mit 3 aufgesessenen Kanonieren 2599 kg, mit 5 
dergl. aber sage und schreibe 2756 kg wie¬ 
genden Geschützes in durchweichtem Acker¬ 
boden durch 6 Pferde denkt, ist nicht recht 
klar; noch weniger klar ist es aber, wie die 
Geschützbedienung nach dem hinter der decken¬ 
den Anhöhe erfolgten Abprotzen die mit Rohr 
1475 kg wiegende Lafette in die Feuerstell¬ 
ung heraufschleppen soll. Jeder Feldartil¬ 
lerist weiss, was wir schon mit unseren re¬ 
lativ leichten Feldgeschützen in durchweichtem 
Boden für Mühe haben. Was nützt aber das 
wirkungsvollste Geschütz, wenn es nicht zur 
rechten Zeit an den rechten Ort gebracht 
werden kann? Dabet weist es artilleristisch 
noch eine solche Zahl von Mängeln und 
Schwächen auf, dass wir unsere westlichen 
Nachbarn um diese neue Errungenschaft nicht 
zu beneiden brauchen. 

Es ist vorläufig — soweit uns bekannt — 
erst ein Teil der Armeekorps mit kurzen 
i2omm-Batterien versehen; die Absicht scheint 
jedoch zu bestehen, in jedem Armeekorps eine 
Abteilung von je zwei dergl. Batterien zu 
errichten, die zur Korpsartillerie gehören und 
erst bei der Vorbereitung des Sturmes in 
Thätigkeit treten sollen, um dann gegen wich¬ 
tige Stützpunkte des Verteidigers zu feuern, 




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Reh, Zoologische und biologische Beobachtungen. 


621 


bezw. umgekehrt in der Verteidigung Punkte 
zu beschiessen, auf welche der Angreifer sich 
beim Vorgehen zum Sturm und bei Vorbe¬ 
reitung desselben stützt. 

Auch in uskrreich soll man gegenwärtig 
mit Versuchen beschäftigt sein, welche die 
Konstruktion einer kurzen Kanone (auch Hau¬ 
bitze genannt) oder eines Mörsers für den 
gleichen Zweck, welchem die französische 
kurze 120 mm-Kanone dient, zum Gegenstände 
haben. Wünschen wir unserem Bundesge¬ 
nossen besseren Erfolg, als ihn unsere Nach¬ 
barn jenseits der Vogesen bei ihren Bemüh¬ 
ungen zu verzeichnen gehabt haben! 

Wir wenden uns nunmehr kurz zu den 
Veränderungen in organisatorischer Bezieh¬ 
ung. 

In Frankreich hat man durch Dekret vom 
5. März 1896 2 Gebirgsbatterien in fahrende^) 
Batterien umgewandelt, so dass also die Ge¬ 
samtzahl der Batterien keine Änderung er¬ 
fahren hat. Die Zahlen sind daher jetzt: 
430 fahrende Batterien, 52 reitende, (davon 
14 dauernd den 7 Kavallerie-Divisionen zu¬ 
geteilt), 14 Gebirgsbatterien im europäischen 
Frankreich und 4 Gebirgs- und 8 fahrende 
Batterien in Algerien und Tunesien; diese 
Batterien sind verteilt auf 18 Brigaden und 
3 Kommandos der Artillerie (2 im Bereich 
des 6. Armeekorps, i in Algerien) mit zu¬ 
sammen 40 Regimentern. *) Von Oesterreich' 
Ungarn mit einem Stand von 226 fahrenden, 
16 reitenden und 14 Gebirgsbatterien, wäre 
nur bemerkenswert, dass man die Artillerie- 
Schiessschule nunmehr in 2 Abteilungen ge¬ 
trennt hat, deren eine für die Feld- und deren 
andere für die Fussytillerie bestimmt ist. 
Wir haben diese Trennung in Deutschland 
schon längere Zeit, und ist dieselbe auch un¬ 
umgänglich notwendig, da das Wesen und die 
Zwecke der beiden Waffen, und somit auch 

M Man unterscheidet bekanntlich zwischen Feld- 
artillerie und Gebirgsartillerie. Gebirgsartillerien 
haben natürlich nur Armeen, denen die Auf¬ 
gabe, in solchen Gegenden Krieg zu führen, wahr¬ 
scheinlich zufällt, also z. B. Österreich, Frankreich 
u. a. m. Deutschland braucht eine solche Spezial- 
wafl’e nicht. Die Feldartillerie teilt man wieder in 
fahrende und reitende; die erstere hat vielfach ein 
schwereres Geschütz als die letztere und transport¬ 
iert die Bedienungsmannschaft auf dem Geschütz 
sitzend mit sich, während bei der reitenden auch 
diese beritten ist, so dass das an und für sich eben 
vielfach schon leichter gehaltene Geschütz nun auch 
noch um das Gewicht der Kanoniere erleichtert 
und dadurch wesentlich beweglicher wird, und somit 
die reitende Artillerie ihrem Zwecke, die Kavallerie 
in allen ihren Gangarten auch qucrfelde n zu be¬ 
gleiten, zu entsprechen vermag. 

*) Deutschland besitzt — verglciclishalber be¬ 
merkt — 43 Regimenter mit 447 fahrenden und 47 
reitenden Batterien. Frankreich unterhält also trotz 
seiner bedeutend geringeren Bevölkerung im Frieden 
mehr Batterien wie Deutschland. 


ihr Ausbildungsgang von einander grundver¬ 
schieden sind. 

Italien (186 fahrende, 6 reitende, 15 Ge¬ 
birgsbatterien) hat keinerlei besonders wichtige 
organisatorische Änderungen zu verzeichnen, 
dafür haben wir aber nun von Russland (bis 
•jetzt 362 fahrende, 44 reitende, 3 Gebirgs-, 
24 Feldmörser- ^) Batterien in Europa, und 
Kaukasus 26 fahrende, 4 reitende und 1 Ge- 
birgsbatterie in Asien) als sehr bedeutsam 
hervorzuheben, dass durch Dekret vom i7.;'29. 
Januar die. Vermehrung der Feldartillerie um 
70 Batterien beschlossen ist und noch vor 
dem I. Januar 1898 durchgeführt sein soll. 

Bringt man dies in Verbindung mit der 
von uns bei Besprechung der Feldgeschütz¬ 
frage schon erörterten Verbesserung des rus¬ 
sischen Feldartilleriematerials, so wird man 
nicht leugnen können, dass Russland rastlos 
an der Verstärkung seiner ohnehin schon sehr 
viel stärkeren Heeresmacht arbeitet. 

So wenig daher an thatsächlichen organi¬ 
satorischen Änderungen zu verzeichnen ist, 
so lebhaft beschäftigt man sich jetzt schon 
allenthalben mit Erörterungen, welche Änder¬ 
ungen in der Organisation die Einführung des 
neuen FeldschnellfeuergeschOtzes im Gefolge 
haben wird. 

Auch was die Taktik der Feldartillerie 
anbetrifft, können wir ganz kurz sein, denn 
es haben sich auch auf diesem Gebiete neue 
grundlegende Anschauungen nicht gezeigt, 
insbesondere sind Änderungen der Regle¬ 
ments- und Schiessvorschriften, ausser in Eng¬ 
land und der Schweiz, nicht zu registrieren. Das 
neue Geschütz wird natürlich auch hier um¬ 
gestaltend wirken und man kann daher den 
jetzigen Zustand als die Stille vor dem Sturm 
bezeichnen. 


Anregungen zu Beobachtungen auf Spazier¬ 
gängen und Reisen. 

II. Zoologische und biologische 
Beobachtungen. 

Von Dr. L. Reh. 

(Schluss.) 

Wie kommen nun aber immer gerade 
die passenden Organismen an den passenden 
Ort? Auch diese naheliegende Frage hat 
man erst vor Kurzem zu beantworten ge¬ 
lernt. Es wird Jedem, der durch einen 
grossen Wald spazieren geht, und zufällig 
an eine Lichtung, wo erst kürzlich gerodet 

‘) Feldmörser sind in ihrer Wirkungsweise ähn¬ 
lich wie die kurzen Kanonen und gehören mit diesen 
zu den Steilfeuergeschützen. Vergl. das S. 619 
u. ff. über diese gesagte. 


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622 


Reh, Zoologische und biologische Beobachtungen. 


wurde, kommt, auffallen, dass er da lauter 
Pflanzen und Tiere findet, die vielleicht 
stundenweit im Walde ringsum nicht zu 
finden waren, wohl aber auf anderen, weit 
entfernteren Lichtungen und zum Teil auch 
am Waldrande. Wie kommen diese so plötzlich 
daher? Die Antwort kann man selbst finden. 
Man braucht nur Walderde, von der Ober¬ 
fläche weg, mit nach Hause au nehmen. Wenn 
man etwas davon mittelst einer guten Lupe 
oder eines Mikroskopes untersucht, wird man 
eine ziemliche Menge Sporen, Samen, Eier 
u. s. w. finden. Verteilt man nun die Erde 
auf mehrere Blumentöpfe, die man in Bezug 
auf Licht, Wärme und Feuchtigkeit verschie¬ 
denen Bedingungen aussetzt, so werden bald 
überall Pflanzen keimen, die nur zum Teil 
dem Wald angehören; und wenn man Glück 
hat und gut beobachten kann, wird man auch 
ebensolche Tiere sich entwickeln sehen. Diese 
allgemeine stetige Verbreitung von Organis- 
men-Keimen kann man ja ständig im Garten 
und Feld beobachten. Die Ausbreitung selbst, 
das „Verschleppen“ findet, wie der grosse 
Bahnbrecher der biologischen Wissenschaften, 
Darwin, zuerst und sehr ausführlich gezeigt 
hat, durch Wasser, Wind, Insekten und Vögel 
ständig in umfassendstem Masse statt. 

Tierische und pflanzliche Eier sind oft so 
klein und leicht, noch mit allen möglichen 
Einrichtungen zur Vergrösserung der Ober¬ 
fläche versehen, dass nicht nur das Wasser 
sie, fast ohne sie zu benetzen, wegschwemmt, 
sondern auch jeder Windstoss ungezählte von 
ihnen mit in die Höhe nimmt und weit hin- 
wegführt. Andere sind mit Borsten, Haaren, 
Widerhaken u. s. w. bewaffnet, so dass sie 
an jedem sie streifenden Tiere hängen bleiben 
und so von fliegenden Tieren weit wegge¬ 
tragen werden können. Ein Vogel, der in 
der Erde kratzt, oder ein Sandbad nimmt, 
behält in der zwischen seinen Zehen oder sei¬ 
nen Federn haften bleibenden Erde fast immer 
einige Keime, die dann ganz wo anders erst 
wieder zur Erde gelangen. Viele Samen und 
Eier (Frosch- und Kröteneier), sind mit einer 
harten, holzigen oder gallertigen unverdaulichen 
Schutzhülle versehen, so dass sie unverletzt 
durch den ganzen Verdauungskanal eines 
Tieres hindurchgehen und auch so weit ver¬ 
schleppt werden können. In der Untersuch¬ 
ung solcher Anpassungen von Keimen, 
besonders von tierischen, und in der Durch¬ 
suchung von Saugetieren, Vögeln und Insekten 
nach anhaftenden Keimen, ist fast noch nichts 
gethan, und sind leicht hübsche und wichtige 
Ergebnisse zu erhalten. 

Wenden wir uns nun wieder unserer Aus¬ 
beute zu. Es ist uns vielleicht schon beim 
Sammeln aufgefallen, wie schwer viele der 


Tiere zu sehen waren, wie sie ihrer Unter¬ 
lage oft äusserst ähnlich waren. Jetzt beim 
Vergleich sehen wir, wie die Erdtiere meist 
bräunlich, die der Rinde ebenfalls braun bei 
Nadelholz, grau bei Laubholz und zwar dunkler 
bei Eiche, heller bei Buche, und am hellsten 
bei der Birke sind, wie die von den Zweigen 
zum Teil grün oder auch bräunlich wie die 
Zweige selbst sind. Haben wir diese That- 
sache erst einmal bei der Ausbeute festgestellt 
und genauer studiert, so suchen wir sie noch¬ 
mals im Walde selbst zu beobachten. Hier 
wird sie uns jetzt ganz besonders auffallen, 
und beim genaueren Vergleich werden wir 
finden, wie selbst die kleinsten Zeichnungen 
oft die der Rinde: Flecke, Risse, Flechten 
u. s. w. nachahmen, oder wie die grünen 
Blatt-Insekten oft die Umrisse, Äderung u. s. w. 
der betreffenden Blätter selbst zeigen oder 
wie abgefressene Blätter oder Blattstiele aus- 
sehen. Noch mehr wird uns diese Nach¬ 
ahmung der Färb-, Licht- und Formverhält¬ 
nisse des Ruheplatzes bei Wiesen-, Gebüsch- 
u. s. w. -Insekten auffallen. Wie diese 
„Anpassung" entstand, wissen wir nicht. Die 
Hauptrolle wird wohl die individuelle Variation 
gespielt- haben. 

Aber nicht zu unterschätzen dürfte auch 
die-direkte Einwirkung der äusseren Beding¬ 
ungen sein. Den schliesslichen Entscheid wird 
man doch wohl in der natürlichen Auslese 
suchen müssen, wobei die Tiere, die schwer, 
zu entdecken sind, natürlich einerseits leich¬ 
ter Beute erlangen können, andererseits besser 
vor ihren Feinden geschützt sind. Die be¬ 
kanntesten Beispiele für diese Schutzfärbung 
und Schutzform betreffen tropische Tiere. 
Aber auch unsere Tierwelt bietet der besten 
Beispiele Übergenug; nur ist sie leider hoch 
sehr wenig daraufhin untersucht, und es bleibt 
der Forschung und Beobachtung noch sehr 
viel zu thun übrig. Um nur einige der auf¬ 
fallendsten Beispiele zu erwähnen, sei hinge¬ 
wiesen auf die Tannenglucke an. Föhren, 
auf den Buchenspinner, den Birkenspanner 
und besonders auf die Spannerraupen, die 
mit ihrer Gewohnheit, sich mit dem Hinter¬ 
ende an einem Zweige festzuklammern und 
sich in scharfem Winkel kerzengrade in die 
Luft zu strecken, abgefressenen Blattrippen 
oder dürren Zweigen so täuschend ähn¬ 
lich sehen, dass selbst der geübte Samm¬ 
ler sie oft übersieht. — Da, wo der Körper 
selbst eine Anpassung nicht auszuftlhren ver¬ 
mag, sucht er dies mit Fremdkörpern zu er¬ 
reichen, aus denen er sich ein Gehäuse baut. 
Ich erinnere nur an die Sackträgerraupen, die 
sich mit zerfressenen Substanzen umgeben 
und an die Larven der Köcherfliegen, die im 
Wasser auf dem Grunde leben und sich aus 


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Reh, Zoologische und biologische Beobachtungen. 


623 


kleinenSteinchen, Schilfstücken, leerenMuschel- 
und Schneckenschalen eine Röhre bauen, die 
wir auf dem Boden erst bemerken können, 
wenn die Larve anßlng^ zu kriechen. 

Doch nicht alle Tiere unserer Ausbeute 
waren so angepasst; einige waren darunter, 
die sich gerade sehr scharf von ihrer Unter¬ 
lage abhoben, und beim Weitersammeln wer¬ 
den wir eine ganze Anzahl solcher finden. 
Da sind die prachtvoll schillernden Laufkäfer, 
die kleinen Marienkäferchen, grosse bunte 
Schmetterlinge, ebenso bunte, oft auffallend 
gefärbte oder stark behaarte Raupen, die eben¬ 
falls meist sehr lebhaft gefärbten Blattwanzen, 
schillernde Fliegen, u. s. w. Alle diese be¬ 
dürfen also Vtmts äusseren Schutzes. Die einen 
sind selbst gefährliche flinke Räuber, andere 
gut bewaffnet mit Giftslachel, andere gute 
Flieger, die sich leicht den Nachstellungen 
entziehen können. Wie aber mit den Tieren, 
bei denen keiner dieser augenfälligen Gründe 
vorliegt? Nehmen wir eine Anzahl von ihnen, 
kleine bunte Käfer, bunte oder haarige Rau¬ 
pen oder Blattwanzen mit nach Hause und 
setzen sie zu Hause einem Singvogel oder 
den Hühnern vor. Die älteren, erfahrenen 
von diesen werden sich nach einem misstrau¬ 
ischen Blick auf die gleissenden Gesellen mit 
Abscheu von ihnen wenden; ein unerfahrenes 
Junges wird rasch zupicken, um aber noch 
rascher mit allen Zeichen des Ekels und 
Widerwillens den unschmackhaften Bissen 
wieder fahren zu lassen. Wir selbst hatten 
beim Fangen die Erfahrung gemacht, dass 
die meisten dieser Tiere hässlich riechen, 
einen scharfen, ätzenden Saft absondern, oder 
mit ihren Haaren brennen, ähnlich wie die 
Brennnesseln. Wir sehen also, dass alle diese 
Tiere durch besondere innere Eigenschaften 
geschützt sind; damit dieser Schutz aber vor 
allem der „Art" nütze, muss man ihn dem 
Tiere ansehen, und dazu hat es die bunte, 
auffällige Färbung, die dem lüsternen Feinde 
gleich zuruft: „Es ist nicht Alles Gold, was 
glänzt." Dieselbe Erscheinung haben wir ja 
auch bei Pflanzen, wo gerade die buntesten 
Blüten oder Früchte oft giftig sind, oder die 
ganzen Pflanzen, wie die giftigen Pilze. Aber 
nicht gegen alle Feinde hilft dieser Schutz; 
auch diesen Eigenschaften passen sich wieder 
andere Organismen an, Parasiten und auch 
äussere Feinde. Bekannt ist die Giftfestig¬ 
keit des Igels gegen die Kreuzotter; und der 
Kuckuck lebt fast ausschliesslich von den be¬ 
haarten Raupen unserer Wälder, deren Haare 
dann seinen Magen oft in einer dicken Schicht 
auskleiden. 

In das Gebiet dieser Warnfarben gehören 
auch die Gallen, auch Galläpfel wegen ihrer 
runden Gestalt und lebhaften Färbung ge¬ 


nannt, die wir so häufig an Blättern der ver¬ 
schiedensten Pflanzen sehen. Sie schmecken 
alle „gal]en“-bitter, weshalb sie auch für die 
meisten Tiere ungeniessbar sind. Und dieses 
Schutzes bedürfen sie gar sehr; denn sie 
bergen einen kostbaren Inhalt. Schneiden wir 
einen Gallapfel vorsichtig auf, so finden wir 
genau in seiner Mitte eine kleine weisse Larve, 
die einer Gallwespe oder -Mücke. Das Weib¬ 
chen hat das Blatt angestochen und in den 
Stich ein Ei gelegt. Durch diesen Reiz be¬ 
gann das Zellgewebe des Blattes zu wuchern 
und die Galle zu erzeugen, deren saftiger 
aber bitterer Inhalt der Larve zur Nahrung 
dient. Hier verpuppt sie sich auch und das 
fertige Insekt verlässt durch ein selbstge¬ 
bissenes Loch seine Kinderstube. Interessant 
ist nun, dass jedes gallenerzeugende Insekt 
seine eigene Galle hat, die sich von denen 
aller anderen, auch wenn auf derselben 
Pflanze befindlich, unterscheidet. Und doch 
ist die Galle nur indirekt das Werk des In¬ 
sekts, direkt das der betr. Pflanze. Auch hier 
steht die Wissenschaft noch vor einem der 
Lösung harrenden Rätsel. Einstweilen kann 
man die Gallenbildungen nur in das ebenso 
umfangreiche als interessante Gebiet der 
Wechselbeziehungen zwischen Tier und Pflanze 
stellen, auf die hier nicht eingegangen wer¬ 
den kann. 

Eine nicht minder interessante, aber 
auch nicht minder unbekannte Erscheinung 
sind die Figuren der Rinden^ und Borken¬ 
käfer, die sich leicht an alten Baumstämmen, 
Wegweisern oder Bänken beobachten lassen. 
Ihre Entstehung ist folgende: Ein trächtiges 
Käferweibchen bohrt sich zuerst ein Loch 
in oder durch die Rinde und dann einen 
senkrechten oder wagrechten Gang, den 
„Muttergang". Von diesem aus nagt es eine 
Anzahl Grübchen, in deren jedes es ein Ei 
legt. Dann stirbt es. Aus den Eiern ent¬ 
wickeln sich die Larven, die nun ihrerseits 
die Grübchen zu langen, meist geschlängelten 
Gängen, den sogenannten „Larvengängen", die 
mit dem Wachstum der Larven immer weiter 
werden, ausfressen. Ist die Larve fertig, so 
frisst sie sich ein grösseres Kämmerchen und 
verpuppt sich. Der ausgekrochene Käfer frisst 
sich durch ein Loch nach aussen, um einen 
dem andern Geschlechte angehörigen Art- 
Genossen zu suchen, damit der Kreislauf 
wieder von Neuem beginnen könne. — Wie 
wir sehen, bilden die meisten der Gang- 
Systeme schöne regelmässige Figuren, die 
Larvengänge laufen fast parallel oder strahlen¬ 
förmig an einem Mittelpunkte aus, ohne sich 
zu kreuzen oder durcheinander zu laufen. 
Nun hat jede Käferart ihre eigentümliche 
Figur, wobei doch also immer und immer 


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624 


WöLiiFiKG, Die wissenschafiliche Verwendung des Drachen. 


wieder von jedem Weibchen und von jeder 
Larve genau in der gleichen Weise und 
Richtung vorwärtsgefressen werden muss, w'ie 
von seinen Vorfahren und von seinen Ver¬ 
wandten. Wie kommt das? Warum bohrt der 
eine Käfer nur gerade so und der andere 
gerade anders, warum bohren die L^irven 
eines Systemes alle parallel weiter und nicht 
bunt und regellos durcheinander? Antw’ort 
darauf vermag man noch nicht zu geben. 
Gewiss werden es bestimmte Reize sein, die 
jede Art nur gerade ihr bestimmtes System 
liefern lassen. Aber diese Reize liegen nicht 
in der Umgebung, sondern in dem Organis¬ 
mus selbst. Wie mit diesen Käfern, so wird 
es sich mit allen Organismen verhalten, nur 
dass uns nicht immer ein so augenfälliges 
Schema die Wirkung dieser Reize verrät. 
Und etwas Nachdenken auf Grund dieser 
regelmässigen Borkengänge dürfte uns eigen¬ 
tümliche Streiflichter auch auf unsere Beweg¬ 
ungen und ihre Willkürlichkeit werfen und 
versuchen lassen, ob wir nicht auch bei an¬ 
deren Tieren Ähnliches beobachten können, 
wobei nur noch auf die eigentümlichen Wirbel 
der Tanzmäuse, auf die kreisenden Beweg¬ 
ungen der Taumelkäfer an der Oberfläche 
von kleinen Teichen, auf den schw’ankenden 
Flug der Schmetterlinge, den zickzackförm¬ 
igen der Libellen und das Rütteln der Falken 
hingewiesen sei. 

Ihren Bewohnern bietet die Erde die denk¬ 
bar grössten Gegensätze: himmelanstrebcnde 
Gebirge und schier unergründliche Meeres¬ 
tiefen, hoch oben den blauen Äther und tief 
unten die Höhlen und Klüfte, trostlos dürre 
Wüsten und üppige feuchte Tropenwälder, 
fast kochend heisse Quellen und die ewigen 
Gletscher der Polargegenden. Wunderbar 
muss es uns erscheinen, dass trotzdem an 
allen den Orten Organismen, und nicht zum 
wenigsten Tiere, sich den herrschenden Ver¬ 
hältnissen angepasst haben. Aber wie viel 
wunderbarer ist es doch noch, dass, wie wir 
gesehen haben, auch die kleinsten Verschie¬ 
denheiten in dem Antlitz der Erde sich ihre 
eigenen Tiere geschaffen haben. Etwas mehr 
oder weniger durchschnittliche Wärme, ein 
etwas geringerer oder höherer durchnitt- 
licher Feuchtigkeitsgehalt der Luft, eine andere 
Pflanze, oder auch nur ein neu sich ent¬ 
wickelnder Teil einer solchen, und sofort sind 
neue 'I'iere da, die wieder andern Platz 
machen, wenn wieder eine Verschiebung der 
äusseren Bedingungen stattfindet. In dieser 
unendlichen Mannigfaltigkeit der Tiefwelt, in 
ihrer leichten Reaktionsfähigkeit auf äussere 
Einwirkungen, liegt aber auch die Hauptbe¬ 
dingung ihres Vorhandenseins. Denken wir 
uns die Tiere alle nach einem Plan, nur für 


bestimmte Verhältnisse geschaffen, oder so. 
dass sie sich alle zu Nutze machen können: 
wie bald würden da die Stärkeren die 
Schwächeren verdrängt haben, um sich eben¬ 
so rasch selbst gegenseitig die Existenzmittel 
abzuschneiden. Aber gerade dadurch, dass sich 
jeder Vorgefundenen Summe verschiedenster 
Einzelheiten einige Organismen, aber auch 
nur gerade einige anpassen kÖnnen,'’wird ihnen , 
allen das Weiterleben gesichert. Und diese 
Nachgiebigkeit des Tierkörpers, der nicht starr 
am Überkommenen festhält, ist die sicherste 
und einzige Vorbedingung für die Weiter¬ 
entwicklung der gesamten Tierwelt. Die be¬ 
wegende Triebkraft hierzu ist der Kampf ums 
Dasein, in dessen Allgegenwart und Viel¬ 
seitigkeit unsere Beobachtungen uns haben 
einen Blick thun lassen. Was wir gesehen 
haben, können wir in der That nicht ver¬ 
stehen als das Werk eines planmässigen, über 
alles liebevoll waltenden Schöpfers. Überall fan¬ 
den wir den erbittertsten, raffiniertesten, rück¬ 
sichtslosesten, grausamsten Kampf Aller gegen 
Alle. Jedes Tier ist nur auf sich selbst an¬ 
gewiesen ; und nur dann, wann es voll und 
ganz die ihm angewiesene Stelle ausfüllt, allen 
an es gestellten Anforderungen genügt und 
sich auch nicht im geringsten etwas vergiebt, 
kann es sich erhalten. Beim kleinsten Fehler 
verschwendet es unrettbar aus dem Reiche 
des Lebens^.Aber dieser furchtjbare.Konktir- 
renzkampf, der alle Kräfte bis aufs äusserste 
anspornt, treibt jedes einzelne Tier und mit 
ihm die ganze Tierwelt vorwärts und immer 
vorwärts. Und nur so konnte der Mensch 
erstehen mit allen seinen scheinbar so ver¬ 
wickelten Lebensäusserungen, die aber im 
Grunde nichts anderes sind, als die der an¬ 
deren Tiere auch, nur so .konnte er sich zum 
Herrn der Schöpfung heranbilden. Aber auf 
wie lange wdrd er dies noch bleiben? Auf 
ewig oder nur auf kurze Dauer? 

Das sind so einige Beobachtungen, die 
wir auf Spaziergängen anstellen können, und 
die Gedanken, die sich unwillkürlich an sie 
reihen. Sie zeigen uns, dass Nichts in der 
Natur wert ist, dass man achtlos an ihm vor¬ 
übergehe. 


Die wissenschaftliche Verwendung des 
Drachen. 

Von Dr. K. W'flLFi'iNG. 

Der Papierdrache, das bekannte Kinder- 
spielzcug, führte über zwei Jahrtausende, die 
spielende Jugend erfreuend, ein harmloses 
Dasein; da, um die Mitte des vorigen Jahr¬ 
hunderts begannen ernsthafte Männer sich das 
Spielzeug auf seine Brauchbarkeit für wissen- 




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Wölffing, Die wissenschaftliche Verwendung des Drachen. 


625 


schaftliche Zwecke anzusehen. Wilson war reichbare Steighöhe vermindert. Der ame- 

der erste, der 1749 ein Thermometer mit rikanische Offizier Hugh Wise, der an- 

einem Drachen in die Luft hinaufschickte, um fangs ebenfalls mit malaiischen Drachen 

die Temperatur in den höheren Schichten experimentierte, stellte sich zunächst die Auf- 

der Atmosphäre zu messen. Drei Jahre später gäbe, dieselben zur militärischen Signalgebung 

machte Franklin seine berühmten Versuche, zu benützen, ln der That Hessen sich durch 

indem er die Luftelektrizität mittelst der verschiedene Stellung von Laternen und Flag¬ 
feuchten Drachenschnur zum Erdboden herab- gen, die mittelst einer Schnur reguliert wurde, 

leitete; dieselben führten ihn im weiteren Ver- weithin sichtbare Signale geben. Es ist da¬ 
lauf zur Erfindung des Blitzableiters. Diese mit bewiesen, dass der Drache für solche 

Dinge sind allgemein bekannt; weniger dürfte Zwecke einen willkommenen Ersatz des Fes- 

das von den merkwürdigen Versuchen gelten, selballons bietet, da er widerstandsfähiger ist 

welche im gegenwärtigen Jahrzehnt begonnen als dieser und zudem sein Aufstieg fast gar 

haben und ganz neue Perspektiven eröffnen, keine Kosten verursacht. Namentlich könnte 

Wir berichten über dieselben auf Grund von er an Bord kleinerer Kriegsschiffe Verwen- 

drei Artikeln, welche die nordamerikanische düng finden, zumal er auch bei Windstille 

Zeitschrift „Century“ über diesen Gegen- leicht durch die Bewegung des Schiffes allein 

stand enthält. zum Aufsteigen gebracht werden könnte. Aber 

Zu den betref- Wise blieb hier- 


fenden Versuchen 
dienten ausser 
Formen von ma¬ 
laiischem Typus, 
die den unsrigen 
ähnlich sind, auch 
sogenannte Zel¬ 
lendrachen. Diese 
bestehen aus je 
zwei durch Quer¬ 
leisten verbun¬ 
dene Schachteln 
von rechteckiger 
oder Zylinder- 
ischer Form, die 
Wände derselben 
sind vorn und 
hinten nach aus¬ 
sen gebogen. Die 
Zellendrachen 
wurden von Har- 
grave in Neusüd- 




bei nicht stehen; 
er wollte in eige¬ 
ner Person einen 
Aufstieg mit dem 
neuen Luftfahr¬ 
zeug wagen. 
Hierzu bediente 
er sich eines Ge¬ 
spanns von zehn 
Zellendrachen, 
die an einem Seil 
aus Manilahanf 
angebrachtwaren. 
Ein Vorversuch 
mit einer Glieder¬ 
puppegelang ganz 
gut; dieselbe kam 
unverletzt wie¬ 
der herab. Aller¬ 
dings zeigte der 
Korb,'in welchem 
dieselbe unterge- 


Wales erfunden und zeichnen sich durch grössere bracht war, starke Schwankungen. Nachdem je- 
Tragkraft aus. Die Drachen von malaiischem doch der Apparat stabiler gemacht worden war, 
Typus sind leichter, können aber, in grösserer erhob sich am 22. Januar 1897 derkühne Luft- 
Zahl zusammengespannt, ebenfalls eine bedeu- Schiffer in seinem drachenbespannten Korb bis 


tende Wirkung erzielen. Zu Blue Hill (Massa- aufdieHöhe von 14 m Ober dem Erdboden. Der 
chussets) wurden in den letzten Jahren von Aufstieg war mit keinen Beschwerden ver- 
Fergusson, Clayton und Sweetland mittelst bunden; die Bewegung glich ganz derjenigen 
solcher Drachen, mit welchen Registrier- in einer Schaukel. Das nächste Ziel ist nun, 
^parate emporgesandt wurden, meteorolo- weitere Erfahrungen, über Handhabung und 
gische Beobachtungen angestellt. Mit neun Steuerung des neuen Fahrzeugs zu sammeln 
Drachen gelang es 1896 eine Höhe von und es namentlich zu ermöglichen, dass der 
2900 m zu erreichen. Während die Drachen Luftschiffer ohne fremde Hilfe aufsteigen und 
sich in solcher Höhe befanden, erschienen wieder zur Erde herabgelangen kann. Übrig- 
am völlig klaren Himmel starke, blitzähnliche ens erheischt die Vorsicht, dass er mit einem 
Funken. Bei derartigen Versuchen muss der Fallschirm versehen ist, da bei raschem Nach¬ 
starken Spannung wegen die Drachenschnur lassen des Windes ein plötzliches Sinken 
durch ein Drahtseil ersetzt werden; dasselbe des Korbes nicht zu den Unmöglichkeiten 
erleidet freilich durch den Druck des Windes gehört. 

eine starke Krümmung, wodurch sich die er- Der Verbesserer des malaiischen Drachen, 


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6a6 


Müsebeck, Die Geschichtsschreibung im vergangenen Jahre. 


Eddy, hat mit demselben u. A. auch photo¬ 
graphische Aufnahmen gemacht, indem er eine 
Kamera mit dem Drachen in die Lüfte hin¬ 
aufsandte. Freilich waren hierbei grosse 
Schwierigkeiten zu überwinden; namentlich 
gelang es nicht, den Apparat in der richtigen 
horizontalen Lage festzuhalten und die Klappe 
mit der nötigen Präzision zu öffnen und zu 
schliessen. 

Auch das ungebärdige Fahrzeug spielte 
dem Photographen manchen Streich, obgleich 
er zur Vorsicht nicht Glasplatten, sondern 
Films anwendete. Mit der nötigen Ausdauer 
wurden endlich brauchbare Aufnahmen erzielt; 
dieselben sind echte Vogelschaubilder und 
zeichnen sich, ähnlich wie die Ballonphoto¬ 
graphien, durch eigentümliche landkartenartige 
Perspektive aus. Alle aufrecht stehenden 
Gegenstände machen durch ihre abgeplattete 
Gestalt einen überraschenden Eindruck. Mit¬ 
telst solcher Drachenphotographien könnte 
man zur See die Anwesenheit eines feindlichen 
Schiffes auf eine Entfernung von über 20 km 
feststellen. 

Eddy ging indes noch weiter. Am 5. De¬ 
zember 1896 Hess er ein Drachenpaar auf¬ 
steigen, von welchem ein Telephondraht zur 
Erde herabhing. Das andere Ende des Drahts 
lief längs der Drachenschnur zum Beobachter 
zurück. Auf diese Weise gelang es, eine tele¬ 
phonische Verbindung mit einem entfernten 
Punkt durch Vermittlung des Drachens herzu¬ 
stellen. Es liegt auf der Hand, dass eine 
belagerte Festung von diesem Mittel Gebrauch 
machen könnte, um mit einem Ersatzheer in 
Verkehr zu treten. 

Auch Verbindungen von Drachen mit 
Ballons hat man ausgeführt. Bei dem Projekt 
des preussischen Hauptmanns Gäde 1873, 
das von Archibald Douglas 1885 verwirklicht 
wurde, ist eine lanzettförmige Drachenfläche 
mit einem hinter ihr liegenden spindelförmigen 
Ballon durch ein Netz in Verbindung. Die 
Erfahrung lehrte, dass dieser sogenannte 
Drachenballon an viel mehr Tagen benützbar 
ist, als ein Fesselballon; ferner kann der In¬ 
sasse selbst die Höhe regulieren und endlich 
darf der Ballon wegen des Auftriebs der 
Drachenfläche bei gleicher Leistung weit 
kleiner sein, als ohne dieselbe. Schliesslich 
hat auch in die Ballontechnik selbst das 
Drachenprinzip Eingang gefunden. Bei dem 
unlängst patentierten Projekt der Herren 
Hauptniann v. Parseval und Ingenieur v. 
Siegsfeld wird ein walzenförmiger, mit Steuer¬ 
vorrichtung versehener Ballon unter einem 
bestimmten Neigungswinkel in den Wind 
gestellt. 

Die im Vorhergehenden skizzierten Ver¬ 
suche dürften die Behauptung rechtfertigen. 


dass dem Drachen im Dienste der Natur 
Wissenschaft, Technik und Militärwissenschaf- 
noch eine grosse Zukunft bevorsteht. 


Die Geschichtsschreibung im vergangenen 
Jahre. 

Von Dr. E. MCsebeck. 

III. Mittelalter und Neuzeit. 

Karl Lamprecht hat in 2 Halbbänden, 
die zusammen den 5. Band seiner deutschen 
Geschichte bilden, diese bis zum Schluss des 
dreissigjährigen Krieges geführt. Dieselben 
Mängel, wie in den ersten Bänden, machen 
sich, ganz* abgesehen von der Gesamtauf¬ 
fassung auch hier geltend: vielfache Ver¬ 
drehung und inkorrekte Darstellung der That- 
sachen, auf der alsdann unrichtige Anschau¬ 
ungen aufgebaut werden, und. Vernachlässig¬ 
ung der politischen und militärischen Begeben¬ 
heiten, obgleich gerade in diesen Jahrhunderten 
deutscher Geschichte die politischen Macht¬ 
kämpfe es gewesen sind, in denen sich die 
Geschicke unseres geistigen Lebens entschie¬ 
den haben.*) Die sozialen und wirtschaftsge¬ 
schichtlichen Verhältnisse werden allein aus 
der Perspektive eines schroffen Gegensatzes 
zwischen Stadt und Land betrachtet: auf dem 
Lande völlige Natural-, in der Stadt völlige 
Durchführung der Geldwirtschaft. Dass beide, 
Stadt und Land, vielfach von einander ab¬ 
hängig sind und einander gegenseitig bedin¬ 
gen, beachtet Lamprecht nicht; Nicht in diesem 
wirtschaftlichen Dualismus, der in seiner 
Schroffheit gar nicht durchzuführen ist, son¬ 
dern in der Überwältigung der Kleinen durch 
die Grossen, in der Bildung: der Territoriali¬ 
tät, der modernen Staatswesen liegt der Schwer¬ 
punkt der Geschichte dieser Zeit.*) Hervor¬ 
gehoben sei hier noch besonders die falsche 
Beurteilung der Bauernkriege; sie werden 
dargestellt als der Brennpunkt der deutschen 
Entwickelung jener Zeit, als die Folge eben 
der angeblich scharfen Trennung der Natural- 
und Geldwirtschaft. Wie wenig diese Hervor¬ 
hebung der Bewegung den thatsächlichen 
Verhältnissen entspricht, geht schon daraus 
hervor, dass die Bewegung auf Süd- und einen 
Teil von Mitteldeutschland beschränkt blieb. 
Nicht einmal die Schweiz hat sie, wie dies 
noch Ranke annahm, beeinflusst und ge-' 
fördert.*) 

') Wie weit die Urteile über Lamprecht heut¬ 
zutage auseinandergehen, ersehe man aus einem 
Vergleich mit Lorys Aufsatz in „Umschau* Nr. 26. 

Red. 

*) Vgl. die scharfe eindringende Kritik dieses 
5. Bandes von Max Lenz, Historische Zeitschr. 77. 

*) Fr. L. Baumann; y,Dit Stellung der Eid- 


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627 


Müsebeck, Die Geschichtsschreibung im vergangenen Jahre. 


Eine endgültige Lösung scheint nunmehr 
die Frage über die Verhaftung und Gefangen¬ 
schaft Philipps von Hessen 1547— 1550 durch 
G. Tuba gefunden zu haben (Archiv für 
österr. Geschichte 83). Die Schuld an sei¬ 
ner Gefangennahme ist lediglich in der Leicht¬ 
sinnigkeit zu suchen, mit der die Verhand¬ 
lungen von den protestantischen Fürsten ge¬ 
führt wurden; von einer absichtlichen Täusch¬ 
ung Philipps durth Karl V. ist, wie bisher 
noch vielfach angenommen wurde, keine Rede. 

Zur Kulturgeschichte des 16. Jahrhunderts 
liefert Treu sch v. Buttlar mit seinem Auf¬ 
satz über das „tägliche Leben an den deutschen 
Fürstenhöfen des 16. Jahrhunderts'* in der 
Zeitschrift für Kulturgeschichte Neue Folge IV. 
einen interessanten Beitrag. Zugleich giebt 
er uns reichlichen Aufschluss über die all¬ 
gemeine Geschichte des deutschen Beamten¬ 
tums, entwirft uns vor allem ein Bild von der 
Schwerfälligkeit und ' Unzuverlässigkeit der 
mittelalterlichen Finanzverwaltung. 

Dass uns Onno Klopp in der Fortsetz¬ 
ung seines Werkes; nDer dreissigjährige 
Krieg bis zum Tode Gustav Adolfs" III. Band, 
2. Teil keine neuen Gesichtspunkte in der 
Beurteilung der hervorragCTidsten Persönlich¬ 
keiten dieser Zeit bieten würde, stand zu er¬ 
warten. Derselbe ultramontane und preussen- 
Deindliche.Ton tritt uns hier in gleicherweise 
entgegen, wie in den vorgehenden Bänden. 

Eine zusammenfassende Darstellung des 
bedeutendsten deutschen Fürsten des 17. Jahr¬ 
hunderts, Friedrich Wilhelms des Grossen 
Kurfürsten, giebt uns der bekannte belgische 
Historiker Philippson, und zwar zunächst 
in einem ersten Bande bis zum Jahre 1660. 
Dieser erste Teil bleibt jedoch weit hinter 
den gleichen Abschnitten bei Erdmannsdörffer 
zurück, und es ist erst die Vollendung der 
Arbeit abzuwarten, ehe ein abschliessendes 
Urteil darüber gefällt wird. 

Es war einer der Lieblingspläne Gustav 
Adolfs, seine Thronfolgerin Christine mit dem 
Grossen Kurfürsten zu verheiraten. Armstedt 
zeigt uns nun in einem Aufsatz über den „schwed¬ 
ischen Heiratsplan des Grossen Kurfürsten" 
(Programm d. Altstädt. Gymnasiums zu Kö¬ 
nigsberg i. Pr.), dass Friedrich Wilhelm die¬ 
sem Plan äusserst sympathisch gegenüberstand 
und eifrigst auf eine Verbindung dieser Län¬ 
der um die Ostsee herum hinwirkte. Allein 
einen heftigen Gegner fand dieser Plan in 
dem schwedischen Kanzler Axel Oxenstierna; 
auch Christine war ihm im allgemeinen ab¬ 
geneigt. 

Einer der unaufgeklärtesten Punkte in der 

genossen zum deutschen Bauernkriege bis März 
152 Sitzungsberichte der Münchener Akademie, 
1896, Heft I. 


Geschichte des Grossen Kurfürsten war bis 
jetzt sein Verhältnis zu dem Graten Adam 
von Schwarzenberg, dem Leiter der branden- 
burgischen Politik unter Georg Wilhelm. All¬ 
gemein galt er als der Mann, der Branden¬ 
burg im dreissigjährigen Kriege zu einem 
willenlbsen Werkzeuge in der Hand des Kaisers 
gemacht habe. Wichtige Aufklärung aus den 
Archiven bieten zunächst die „Protokolle und 
Relationen des brandenburgischen Geheimen 
Rates aus der Zeit des Kurfürsten Friedrich 
Wilhelm" von O. Meinardus, denen nun 
eine Darstellung des Lebens Schwarzenbergs 
in den „Preussischen Jahrbüchern*' Band 86 
gefolgt ist. Schwarzenberg ist nicht mehr der 
böse Dämon Georg Wilhelms, als vielmehr 
der getreue Eckart des Kurfürstlichen Hauses, 
der zielbewusste Vertreter einer wehrhaften 
Politik Brandenburgs; er war vor allem ein 
Gegner des Ständetums und ein eifriger Vor¬ 
kämpfer der absoluten Monarchie in Branden- 
burg-Preussen. Demgegenüber ist zu betonen, 
dass die einzelnen Massnahmen Schwarzen¬ 
bergs nicht immer die richtigen waren, und 
es bedeutete eine gänzliche Abkehr von der 
bisherigen Politik, wenn Friedrich Wilhelm 
mit Schweden Waffenstillstand schloss und 
vorläufig seinem Lande Ruhe und Frieden 
zu erhalten suchte. Unaufgeklärt bleibt noch 
die Frage, wie weit Friedrich Wilhelm das 
Verdienst Schwarzenbergs um Brandenburg 
erkannt und anerkannt hat. 

Wichtig für die fernere Regierungsthätig- 
keit des Grossen Kurfürsten ist die Arbeit 
von F. Hirsch: Der Winterfeldzug in 
Preussen 16^8~ Ausser einer eingehen¬ 

den Darstellung der militärischen Ereignisse 
finden auch die politischen Verhältnisse im 
Herzogtum Preussen eine richtige Würdig¬ 
ung. Gerade dadurch treten die Bemühungen 
des Kurfürsten in ein noch helleres Licht. 
Seinen zentralistischen Bestrebungen treten 
eben hier die partikularistischen Anschauun¬ 
gen der preussischen Stände entgegen, die 
sogar bei der kurfürstlichen Behörde, der 
Regierung, hervortreten. Sie suchen die Be¬ 
drängnis des Landes zu benutzen, um einen 
lang gehegten Wunsch, die Errichtung der 
Landmiliz, durchzuführen und den Oberbefehl 
über sie ständischen Händen anzuvertrauen. 
Sie erweist sich jedoch als unbrauchbar und 
erregt sogar den Verdacht verräterischer Ge¬ 
sinnung, so dass gerade dadurch der Kur¬ 
fürst sich bewogen sieht, selbst nach Preussen 
zu eilen und die Leitung des Kampfes in die 
Hand zu nehmen. 

Eine glänzende Schilderung der Persön¬ 
lichkeit des grössten preussischen Königs in 
Bezug auf die wirtschaftlichen Fragen und 
die innere Organisation des Landes bietet 




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628 


Müsebeck, Die Geschichtsschreibung im vergangenen Jahre. 


uns G. SchmolJer in seiner Rede: 
politische Testament Friedrich Wilhelms I. von 
iy22“ (wiederabgedruckt in der „Deutschen 
Zeitschrift für Geschichtswissenschaft N. F. I), 
wo uns eine eingehende psychologische Cha» 
rakterisiik des Herrschers gegeben wird. 

Die in der letzten Zeit umstrittenste Frage 
der neueren Geschichte hat nunmehr end* 
gültigen Abschluss gefunden: die Frage nach 
dem Ursprung des siebenjährigen Krieges. 
Ich verweise für sie auf den in No. 22 dieser 
Zeitschrift erschienenen Aufsatz. Es steht nur 
noch aus, dass sicli das königliche Hausarchiv 
entschliesst, das Testament Friedrichs des 
Grossen ganz zu veröffentlichen und damit 
auch den letzten Zweifel an der Richtigkeit 
der Forschungen des leider so fiüh seiner 
Wirksamkeit entrissenen Professors Naud^ zu 
beseitigen. 

ln den Vordergrund derhistorischen Forsch¬ 
ung scheint neuerdings das 19. Jahrliundert 
zu treten; vor allem ist cs das Verh.’lltnis zu 
Frankreich, also besonders die Periode der 
Herrschaft Napoleons und des deutsch-fran¬ 
zösischen Krieges, die das Auge der Forscher 
auf sich gezogen hat. Vollendet ist nunmehr 
die umfassende Arbeit von v. Lettow*Vor- 
beck: Der Krieg von 1806 und iSoy, Band 
IV, der uns eine gründliche aktenmässige Dar¬ 
stellung dieses für die äussere und innere 
Reorganisation des preussischen Staates ver¬ 
anlassenden unglücklichen Kampfes giebt. — 
Dankenswert, wenn auch nicht immer auf 
eigenen Forschungen beruhend, ist die Arbeit 
von P. Bigelow: History of the german 
struggle for liberty, in der er der nordameri¬ 
kanischen und englischen Welt eine von 
Liebe und Begeisterung getragene Schilder¬ 
ung der Freiheitskriege am Anfang unseres 
Jahrhunderts giebt. Seine Auffassung ist we¬ 
sentlich anders als die Treitschkes; er lehnt 
sich mehr an Lehmann, Delbrück und Mein¬ 
ecke an; das monarchische Element, vor allem 
also Friedrich Wilhelm 'III., spielt in seiner 
Darstellung eine traurige Rolle. Die Befrei¬ 
ung wird als eine gewaltige Volkserhebung 
dai^estellt, die schliesslich den König mit sich 
fortreisst. 

In ein neues Stadium ist seit einigen 
Jahren die napoleonische Bewegung in Frank¬ 
reich getreten; trug sie früher einen, wenn 
auch bedeutungslosen politischen Charakter, 
so wird sie Jetzt vor allem durch künstler¬ 
ische und literarische Impulse angefacht, die 
der Geschichtsforschung vielfach zu Gute ge¬ 
kommen sind. Einen Überblick über die in 
den letzten Jahren veröffentlichten Schrift¬ 
stücke zur Geschichte Napoleons I. giebt uns 
P. Bai Heu in seinem Aufsatz in der Histor¬ 
ischen Zeitschrift 77 pag. 41: „Zur Geschichte 


Napoleons /.* Besonders auf die Jugendzeit 
dieses Mannes, der ein viertel Jahrhundert 
lang die ganze Welt in Spannung hielt, fällt 
ein neues Licht durch die Veröffentlichungen 
von Masson und Biagi: Napoleon inconnu. 
Papiers inedits publi/s par F. Masson et 
G. Biagi. Accompagn^s de notes sur la jeu- 
nesse de Napoleon par F. Masson I. IJ. Frei¬ 
lich erst mit dem Augenblick, wo er 1779 
französischen Boden betritt, gewinnen wir 
sichere Grundlagen für die Geschichte seines 
Lebens und seiner Entwickelung. Napoleon 
war in allem ganz und gar Autodidakt. Zwei 
Bewegungen sind es, die auf ihn in seiner 
Jugendzeit einen bestimmenden Einfluss aus¬ 
üben : der franzosenhassende Partikularismus 
des Korsen, der sein Vaterland von der 
Fremdherrschaft befreien will, und die Ideen 
Rousseaus. Daneben findet sich noch ein an¬ 
deres Moment: der „kalte napoleonische Kal¬ 
kül*. Sie wirken bis zum Jahre 1791 in 
gleicher Stärke und in gleicher Bedeutung 
zusammen. Mit diesem Jahre tritt eine Wend¬ 
ung ein: der beherrschende Kalkül gewinnt 
die Oberhand; jene beiden anderen Gedanken¬ 
reihen treten in den Hintergrund. Ohne Vater¬ 
land, ohne Partei steht er da und sucht imr 
sein eigenes loh in den Vordergrund zu drän¬ 
gen und sich in seiner ganzen Grösse geltend 
zu machen. Mit aller Wucht drängt er dieses 
sein Ich, dem sich alles beugen soll, in allen 
Verhältnissen vor, selbst in den intimsten 
Beziehungen zu seiner Familie, insbesondere 
seinen Brüdern. Das alte „oderint, dum me- 
tuant* gilt auch für ihn; alle verwandtschaft¬ 
lichen Beziehungen tretbn zurück; das unauf¬ 
hörliche FortschreitenseinesSystems beherrscht 
ihn vollständig. (Vgl. du Gasse: Les rois 
freres de Napoleon 1883 und Jung: Luden 
Bonaparte et ses memoires lyyj— 1840. 1882.) 
Mit diesen Veröffentlichungen stimmen in ihrem 
Resultate die Arbeiten des bekannten fran¬ 
zösischen Historikers Sorel überein, die er in 
seinem Buche „Bonaparte ct Hoche en lygy"* 
zusammengefasst hat. Feinsinnig ist besonders 
die Charakterschilderung, die er darin von 
dem Korsen entwirft. Napoleon war jedoch 
nicht nur ein Muster darin, alle seine eige¬ 
nen Kräfte auf ein vorgesetztes Ziel hin aut- 
zuwenden, er verstand es auch, die ihn um¬ 
gebenden Persönlichkeiten seinen Zwecken 
dienstbar zu machen. Ein interessantes Bei¬ 
spiel hierfür giebt uns Buchholz in den 
„Preussischen Jahrbüchern", Juni 1896: „Die 
Napoleonische Weltpolitik und die Idee des 
russisch-französischen Bundes", worin er nach¬ 
weist, dass seine Politik während der Allianz 
mit Russland gegen England nicht ein reines 
Produkt seines persönlichen Ehrgeizes war, 
sondern das Ergebnis einer Gedankenarbeit, 


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Müsebeck, Die Geschichtsschreibung im vergangenen Jahre. 


629 


an der die politischen Köpfe Frankreichs, an 
der die Natron selbst in hervorragender Weise 
leilgenommen habe. Kein Mittel war ihm zu 
schlecht und zu verworfen, um zu seinem 
Zweck zu gelangen. Planmässig, mit Hinter¬ 
list und Gewaitthat führte er den Untergang 
seiner Gegner herbei; ein hervorstechendes 
Beispiel hierzu bietet die Vernichtung der 
Lützower 1813 (vgl. Adolf Brecher: „A'«- 
poieon I. und der Uher/all des Lüteowschen 
Freikorps bei Kitzen am ij.Jiini 18tj"), wo 
er die Württemberger nur als blosse Werk¬ 
zeuge in seiner Hand behandelt. 

Für die kulturelle Entwickelung des preuss- 
ischen Staates nach der Reorganisation be¬ 
deutend ist die neue Biographie Wilhelm 
V. Humboldts (Br. Gebhardt: Wilhelm von 
Humboldt als Staatsmann Bd. i: bis zum Aus¬ 
gang des Prager -Kongresses). Freilich die 
Charakteristik des ersten Biographen jenes 
Mannes, Hayms, über seine Thätigkeit bleibt 
bestehen: sie war „mehr antik als preussisch, 
mehr allgemein menschlich als populär, zu 
perikleisch für einen preussischen Minister“. 
Nicht bestätigt findet sich dagegen die neue 
Anschauung Gebhardts, dass er „zum deutsch¬ 
gesinnten Preussen, zum nationalen Staats¬ 
mann“ geworden sei. Seine antik idealistische 
Weltanschauung blieb immer der Urgrund 
seines Strebens. • . .. 

Die gleiche Zeit wird von einer andern 
■Biographie behandelt, die uns in höchst 
vollkommener Weise die allmähliche Umwand¬ 
lung des preussischen Staates vor Augen 
führt; es ist „Das Leben des Gencralfeld- 
ntarschalls Hermann v. Boyen, Bd. i lyyi — 
/<?/.^“von F. Meinecke. Boyen war in erster 
Linie ein Mann der That, aber gerade indem 
uns Meinecke zugleich mit der Entwicklung 
der Persönlichkeit .seines Helden ein Bild der 
geistigen Strömurtgen seiner Zeit giebt, er¬ 
kennt man, wie diese auf ihn Einfluss er¬ 
langten. Am wichtigsten sind das erste und 
vierte Buch. Im ersten wird der von allen 
neueren Forschungen vertretene Gedanke mit 
allem Nachdruck ausgeführt, dass die Ideen, 
die die Wiedergeburt Preussens nach 1806 
bewirkten, bereits am Ausgang des 18. Jahr¬ 
hunderts, also in dem alten friedericiariischen 
Staate vorhanden waren. Zu den Männern, 
die dies erkannt haben, gehörte auch der junge 
Boyen; aber zugleich sehen wir auch, dass 
jene gewaltsame Herbeiführung der Reform¬ 
ideen nötig war. Männer wie Boyen — und 
auf seiner Stufe standen damals durchschnitt¬ 
lich die gebildeten Kreise Preussens — hätten 
nie die Initiative ergriffen, wenn nicht jene 
zwingende Notwendigkeit, jenes Rankesche 
Gesetz der geistigen Weltordnung, sie dazu 
geführt hätte. Das vierte Buch bringt uns 


Aufklärung über die Entstehung des Wehr¬ 
gesetzes von 1814, das eigentliche Lebens¬ 
werk Boyens. Scharnhorst hatte es in der 
Stille erdacht: Boyen war dazu ausersehen, 
ihm die Form zu geben und dessen Gedanken 
in Wirksamkeit umzusetzen. Eine willkommene 
Ergänzung zu diesem Werke bildet der Auf¬ 
satz desselben Historikers in der ,,Historischen 
Zeitschrift“ Bd. 77 über „Boyen und Roon, 
zwei prcussische Kriegsmimster'\ in welchem 
aus den umfassenden Werken von W. Graf 
Roon: Kriegsminister 'von Roon als Redner, 
und O. Perthes: Briefwechsel zwischen dem 
Kriegsminister Grafen v. Roon und Clemens 
Theodor Perthes aus den Jahren 1864 — 6’], 
d^ Resultat gezogen wird. Ein Gemeinsames, 
so schliesst Meinecke, verbindet beide Männer 
mit einander: „die fast zur Glaubensgewiss¬ 
heit sich steigernde Zuversicht, dass eine 
starke und umsichtige Regierung im Innern 
auch erreiche, was sie wolle. Aber sehr ver¬ 
schieden war das Ziel dieses Wollens. Für 
Boyen der intimste Bund zwischen Staat, 
Volk und Individuum, den man sich denken 
kann, zusammengehalten durch das in aller 
Herzen lebende Ideal der Humanität und des 
Sittengesetzes. Für Roon die straffe Konzen¬ 
trierung der nationalen Kräfte für die Zwecke 
von Macht und Herrschaft, sO dass Volk, 
Aristpltratie und Königtum sich zu einander 
verhielten wie Soldaten, Offizierkdrps ‘ und 
oberster Führer eines Regiments. 

Gleich Roon war auch Bismarck in den 
fünfziger Jahren zu der Überzeugung gelangt, 
dass die Beseitigung des deutschen Dualis¬ 
mus, die Einheit Deutschlands unter Preussen 
„wesentlich und eigentlich Deutschlands histor¬ 
isch-politische Aufgabe“ sei. Diese Gedanken 
treten uns auf das deutlichste entgegen in 
Bismarcks Briefen an den General Leopold 
V. Gerlach. Mit Genehmigung Sr. Durchlaucht 
des Fürsten v. Bismarck neu herausgegeben 
von Horst Kohl, dem verdienstvollen Be¬ 
arbeiter des Bismarck-Jahrbuchs, das uns in 
seinem 2. Bande 1896 wichtige Beiträge zur 
Jugendgeschichte des Altreichskanzlers giebt. 

Eine grosse Litteratur hat, wie 1895 die 
Erinnerungsfeier an die Wiedererrichtung des 
deutschen Reiches, 1896 und 1897 Cen- 
tennarfeier des Geburtstages Kaiser Wilhelms I. 
erzeugt. Sie trägt dem Zwecke gemäss, dem 
sie dienen soll, nicht einen rein wissenschaft¬ 
lichen Charakter, sondern sucht in volkstüm¬ 
lich^ Art der ganzen Nation die Gestalt 
Kaiser Wilhelms näher zu bringen. Das be¬ 
deutendste von allen erschienenen Werken 
ist offenbar das unter Mitwirkung des Kaisers 
selbst entstandene Buch von W. Oncken: 
Unser Heldenkaiser. Besonders wertvoll sind 
die im Kapitel VIll beigefügten Briefe des 




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630 


Betrachtungen und kleine Mitteilungen. 


Kaisers Wilhelm I. an seine Gemahlin wäh¬ 
rend des deutsch-französischen Krieges, aus 
dem Königlichen Haus-Archive und dem Kö¬ 
niglichen Staatsarchive mitgeteilt. Sie geben 
uns ein treues Bild von dem tiefen Seelen¬ 
leben dieses Herrschers, dessen erste Tugend 
die Demut war. Mit besonderem Nachdruck 
ist darauf hingewiesen, dass die Reorgani¬ 
sation des Heeres das eigenste Werk Kaiser 
Wilhelms war; „der Plan des Neubaus der 
Armee, den Roon vorgefunden und mit dem 
er sich leicht befreundet hat, war nicht sein, 
sondern des Prinzregenten Werk und zwar 
in solchem Masse, dass dieser nachher im 
Kampf ums Heer mit ebensoviel Recht als 
Nachdruck wiederholen konnte: Es giet^ kein 
Boninsches und kein Roonsches Projekt. Die 
Reorganisation ist mein eigenstes Werk.“ 
Dass eben Kaiser Wilhelm als Prinzregent 
1859 auch eine Reform der deutschen Kriegs¬ 
verfassung versuchte, ist der Inhalt eines Auf¬ 
satzes der Historischen Zeitschrift, Band 77, 
von P. Bailleu: „Der Prinzregent und die 
Reform der deutschen Kriegsverfassun^\ 

Wir können diesen Überblick über die Ge¬ 
schichtsschreibung im vergangenen Jahre nicht 
schliessen, ohne des Mannes zu gedenken, 
der wie kein anderer auf unsere Jugend ge¬ 
wirkt hat: Heinrich v. Treitschke, der 
nun von uns genommen ist. Eine Reihe von 
Veröffentlichungen führen uns das Bild dieses 
Mannes vor Augen; eben weil sich in seinen 
Werken sefne ganze Persönlichkeit kundgiebt, 
bilden sie zugleich Bausteine zu einer künf¬ 
tigen Biographie. Folgende Aufsätze, die sich 
mit ihm beschäftigen, sind zu nennen: i) Nach¬ 
ruf für Heinrich v. Treitschke in der Histor. 
Zeitschr. Bd. 77 von F. Meinecke, 2) Hein¬ 
rich V. Treitschke von P. Bailleu in der Deut¬ 
schen Rundschau, Okt. u. Nov. 1896, 3) Th. 
Schiemann: Heinrich v. Treitschkes Lehr- und 
Wanderjahre 1834—1866, 4) O. Mittelstadt: 
Reden von Heinrich v. Treitschke im Deut¬ 
schen Reichstage 1871 — 1884, 5) Deutsche 
Kämpfe. Neue Folge. Schriften zur Tages¬ 
politik von Heinrich v. Treitschke, 6) Histor¬ 
ische und politische Aufsätze Band IV von 
Heinrich v. Ireitschke, herausgegeben und 
gesammelt von Liesegang. Zwei Grundgedanken 
sind es, die sämtliche Werke Treitschkes durch¬ 
ziehen: die hohe Schätzung des Staates und 
das Recht der freien sittlichen Persönlichkeit. 
Beide sind einander nicht nebengeordnet als 
gleichwertige Faktoren der Geschichte, sondern 
der zweite ist der höchste. Sache dieser freien 
Persönlichkeit ist es, den Staat auszubauen. 
Die Verwirklichung beider, die Verbindung 
persönlicher und politischer Freiheit, galt ihm 
als das Ideal seines Lebens; ihm hat er von 
Jugend an nachgeeifert. Mit Abscheu wandte 


er sich von seinem Heimatlande Sachsen 
trotz des heftigen Konfliktes mit seinem Vater 
ab, wo sich Ideenlosigkeit und materielle 
Wohlfahrt, „das Grab aller Humanität und 
Sittlichkeit", mit einander verbunden hatten, 
dem waffengewaltigen Preussen zu, von dem 
allein er seit seiner Jugend mit nur wenigen 
Rettung für Deutschland erhoffte. Und diesem 
Staate ist er unwandelbar treu geblieben, 
mochte er auch. 1862 und 1863 nicht Ober¬ 
einstimmen mit den Bahnen, die die preuss- 
ische Regierung unter Bismarck einschlug. 
So ist er zu dem eigentlichen Nationalhistoriker 
des neuen deutschen Reiches geworden, ohne 
den selbst ein Bismarck niemals sein Werk 
würde haben vollenden können, denn er ist 
es gewesen, der der deutschen gebildeten 
Jugend den Weg zur politischen Einheit und 
"Freiheit gewiesen hat. 


Betrachtungen und kleine Mitteilungen. 

* Die Goldfunde in Alaska haben namentlich in 
den amerikanischen Staaten des Stillen Ozeans 
eine Erregung hervorgemfen, die in ihren Erschei¬ 
nungen lebhaft an das Goldfieber des Jahres 1848 
erinnert. Die Thatsache, dass Goldstaub im Be¬ 
trage von Millionen Dollars von der Klondyke- und 
anderen alaskischen Minen innerhalb weniger 
Wochen nach Seattle im Staate Washington ver¬ 
schifft worden ist, hat in Verbindung mit der Rück¬ 
kehr von Goldgräbern, welche mehr oder minder 
grosse Vermögen in ihrem Besitz haben, die ganze 
Pacific-Küste in Aufruhr gebracht und auch die 
übrigen Staaten Nordamerikas, und selbst Gross¬ 
britannien sind schon vom Goldfieber ergriffen. 
Die sehr verlockend lautenden Nachrichten, die bis 
jetzt über den Goldreichtum am Klondyke vorliegen, 
sind fast garnicht kontrollierbar, da das neue Gold¬ 
land ein bischen aus der Welt liegt. Die grössten 
bisherigen Goldfunde kommen von der Gegend 
75—Too engl. Meilen östlich vom 141. Meridian, der 
Grenzscheide von Alaska und Britisch-Kolumbien. 



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Betrachtungen und kleine Mitteilungen. 


631 


Das Land ist trostlos unwirtlich und nur von Indi* 
anern und Eskimos, die in Erdlöchem hausen imd 
im Sommer für den WinterunterhaJt jagen und 
fischen, bewohnt; verkümmerte Föhren und Moos* 
gewächse bilden die Vegetation. Das Klima ist 
arktisch: während des kurzen Sommers hat die 
Sonne beträchtliche Kraft, dann aber berinnt der 
arktische Winter mit allen seinen Schrecken, die 
Kälte ist so gross (45—50 Grad Cebius unter 
Null ist das Maximum), dass sie sich nur der vor¬ 
stellen kann, der sie erlebt hat, der Boden ist mit 
Schnee und Eis bedeckt und bis zu ziemlicher Tiefe 
gefroren. Am Anfänge des Septembers zeigt sich 
schon das Wintereis und im eigentlichen Winter 
verschwmdet die Sonne ganz. — Nach einer Mit¬ 
teilung der „Frankf. Zeitung“ befindet sich das gold¬ 
haltige Alluvium im Thale des Jukon-Flusses, der 
etwa 3000 englische Meilen lang ist und an manchen 
Stellen 10 englische Meilen breit. 1800 Meilen von 
seiner Mündung entfernt, auf dem Gebiete der 
Nordwest-Territorien von Kanada, ergiesst sich der 
Klondyke, d. h. der Hirschfluss in den Jukon, und 
hier am Zusammenflüsse beider, sind die reichsten 
Funde gemacht. Der Klondyke, der 300 englische 
Meilen Tang ist, hat an seinem linken Ufer mehrere 
kleine Nebenflüsse, zwei Meilen oberhalb seines 
Einflusses in den Jukon mündet der Bonanea') Creek 
in den Klondyke, und ein Nebenfluss des Bonanza 
Creek ist der Dorado. Beide führen ihren Namen 
mit Recht, denn der Goldreichtum des Erdreiches 
dort soll märchenhaft sein. Wo sonst nur Indianer 
und Eskimos und höchstens einige einsame Trapper 
und FVospektoren hausten, da steht jetzt schon eine 
sogenannte Stadt, Dawson City, die zukünftige vierte 
Goldstadt der Welt neben San Franzisco, Melbourne 
und Johannesburg. Man hört schon von Hotels und 
Bankhäusern, Telephonen und Telegraphen, Zei- 
■ tüngsdruckereien und Theatern, die cs in Dawson 
City geben soll, aber zu deren Existenz scheint die 
bewährte Phantasie mancher Auswanderungs- und 
DampfschifiTahrts-Agenten ihr gehöriges Teil beizu¬ 
tragen. — Die schwierige Frage ist die, wie Lebens¬ 
mittel während der Wintermonate nach den Gold¬ 
feldern befördert werden sollen. Während des 
äusserst strengen Winters ist auch nur beschränkte 
Arbeit möglich, da wo Holz erhältlich ist, um den 
gefrorenen Kies aufzutauen, so dass er zum Aus¬ 
waschen bereit ist, sobald die Wasser im Frühjahr 
€s erlauben. Der Kiondyke-Fluss mündet in den 
Jukon, im nordwestlichen Gebiet von Kanada un¬ 
gefähr 100 engl. Meilen von der Grenze zwischen 
•der Grenze Britisch-Kolumbia und Alaska. Es giebt 
zwei Wege nach den Goldfeldern: i) Im Dampfer 
nach Quebec und von da über die Canadian-Pacific- 
Eisenbahn nach Viktoria oder Vancouver in 15 
Tagen, niedrigster Fahrpreis etwas unter löl^tr.; 
von da vermittelst Dampfer zur Mündung des Jukon 
in Alaska, der vor dem i. Juli nicht offen ist; den 
Jukon hinauf (1800 englische Meilen) dauert die 
Fahrt 18—20 Tage. Dieser Weg ist nur vom Juni 
bis September offen, und die Reise von England 
würde wenigstens sechs bis acht Wochen in An¬ 
spruch nehmen. 2) Tm Dampfer von Viktoria oder 
vancouver Ober Inneau nach dem Ende des Lyme- 
kanals (ungefähr 1000 engl. Meilen von Viktoria); 
von da über den Chilcoot- oder Ober den White- 
pass (2 Tage) nach den Seen und den oberen 
Wassern des Jukon. Dieser Weg ist nur gangbar 
von Juni bis September, so lange die Wasser eis¬ 
frei sind. 

• • 

« 

Kaiser - Manöver 1897. 

Die diesjährigen Kaisermanöver finden zwischen 

Bonanza span, ist gleich grossrs GlDck, daher Bonanza- 
prioz ein durch GlQck reich gewordener Miaenbesitzer. 


dem VIII. und XI. Armeekorps*) gegen das 
Bayerische Heer (I. u. II. bayer. Armeekorps) an¬ 
dererseits statt und werden ein Aufgebot von Trup¬ 
pen bedingen, das bisher in dieser Grösse in Deutsch¬ 
land no^ niemals stattgefunden hat und im Übrigen 
nur von der Truppenversammlung gelegentlich der 
russischen Armeemanöver in WoThynien 1890 über¬ 
troffen wird. Während in früherer Zeit eine 
derartige Gegenüberstellung von preussischen und 
bayerischen Truppenkörpem schon an und für sich 
die gespanntesten Erwartungen hervorgerufen hätte, 
hat dieselbe heute in dem geeinten Deutschland 
keine andere Bedeutung, wie die Manöver gegen 
ii^end welche andere Armeekorps, die bayerischen 
Armeekorps sind ebensolche der deutschen Armee 
mit derselben Organisation und auf derselben Stufe 
der Ausbildung von Führer und Mannschaften wie 
alle anderen, welche vor dem obersten Kriegsherrn 
die Probe ihrer Tüchtigkeit ablegen sollen. — Von 
den Versuchen, die stets bei Gelegenheit der Ma¬ 
növer auf verschiedenen Gebieten stattfinden, wer¬ 
den diejenigen der Luftschiffer-Abteilungen, von 
denen je eine jedem Armeekorps zugeteilt wird, 
imd welche teilweise wohl mit FesseTballons von 
neuerprobter eigentümlicher (jestaltung — Drachen¬ 
form — ausgerüstet sein werden, sowie namentlich 
die Versuche der Radfahrer-Abteilungen das allge¬ 
meine Interesse erregen. Wie wir s. Zt. mitgeteilt 
haben, (Umschau No. 2) sind uns die Franzosen 
schon bei ihren vorjährigen Herbstübungen durch 
Bildung einer Radfahrer-Kompagnie mit gutem Bei¬ 
spiel vorangegangen. Für die jetzigen Kaiser- . 
Manöver soll nun bei jedem Korps , eine grössere . 
Abteilung (cä. 60 Mann) unter einem Offizier zu- 
sammengestellt werden, die bereits einige Zeit vor- -: 
her Übungen zu veranstalten hat. Die.tezügl. Ver¬ 
suche sollen hauptsächlich. Aufklärung verschaffen 
über den Wert solcher grösserer Abteilungen rad- 
fahrender Infanterie in Bezug auf Verwendung in 
Verbindung mit anderen Waffen, Ersatz der 
Kavallerie in bestimmten Fällen, Ausnutzung beson- • 
derer Gefechtslagen, Erkundungs- und Überrasch¬ 
ungs-Zwecken und die Möglichkeit ihrer Bewegungs¬ 
fähigkeit im Gelände, ln letzterer Beziehung sind 
schon ganz hervorragende Leistlingen der bayer¬ 
ischen Radfahrer-Kompagnie, welche bereits seit 
längerer Zeit in der Stärke von 10 Offizieren und ' 
100 Mann in München formiert ist, zu verzeichnen. 
Während des in den ersten Tagen des August un¬ 
unterbrochenen Regens wurde von derselben eine 
5 tägige Übungsfahrt durch Waldungen, über Berg 
und Thal unternommen, wobei alle Hindernisse, 
zu denen insbesondere auch hoch überschwemmte 
Strassenstrecken gehörten, von der geschlossenen 
Kompagnie in bester Verfassung überwunden 
wurden; schliesslich musste dieselbe in völlig durch¬ 
nässtem Zustande 25 km durchfahren und in Te¬ 
gernsee Zivilkleider anlegen. Man darf hiernach ~ 
in der That auf die Erfolge der Radfahrer-Kom¬ 
pagnien im Manöver gespannt sein. l. 

•) Vin. Armee-Kops: 15. Div. Köln u. 16. Div. in Trier; 

XI. . . ai. . Frankfurt a.M., aa. Div. Kassel 

u-ifl Gii'ssh. Hess. Div. Darmstadt. 


No. 36 der Uauchan wird enthalten: 

Below, Beobachtungen an Neugeborenen. — Veränderungen 
und Fortschritte im Artillcriewesen (Fiissartillcrie). - Ersatz 
Leipz'z. - Ferner enthalt Nr 36 einen Aufsatz (Iber „Die Be¬ 
deut.iiii r'er vjm Mahdis-nus unte.'jochten Lander“, den Herr 
K. Frietze nach frcundlichst mQndlich gemachten Mitteilungen des 
Herrn Pr./. Sc li we i nfu rth bearbeitet hat. In Anbetracht des 
VormckcMs der Engländer im Sudan machen wir auf die.sen 
Aufsatz ganz besonders aufmerksam, da Prof. Schwcinforth, der 
berühmte Reisende, wohl der beste Kenner des Sudan i.st. 


G. Horstcnaao’s Druckerei. Frankfurt il M. 




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^rechsaal. . .. - 

Herrn L. A. in S.-R. ad i). Leider müssen wir 
Ihnen auf Ihre gefl. Anfrage antworten, dass es sich 
bei dem in No. 29 der Umschau beschriebenen Hör¬ 
telephon ihr Taubstumme zunächst überhaupt nur 
um eine interessante Beobachtung, noch nicht um 
einen für faktische Verwendupg reifen Apparat 
handelt ^llte diese Verwendung demnächst mög¬ 
lich sein, so wird sie gewiss den blos Taubeneben- 
sowoÜ wie den Taubstummen zu ^te kommen. 

anderer, für ähnliche Zwecke bestimmter 
Apparat ist der kürzlich in der Zeitschrift „La 
Nature“ beschriebene Mikrophonograph von Dus- 
saud, ein Edison’scher Phonograph, in welchem 
die schwingende Membran durch eine mikrophon¬ 
artige Vorrichtung ersetzt ist Ein Mikrophon 
empfängt die aufzuZeichnenden Töne und setzt sie 
in bekannter Weise in Schwankungen eines elek¬ 
trischen Stromes um; dieser, umkreist einen vor 
dem Wachszylinder des Phonographen angeordneten 
Elektromagneten, dessen Anker darum viel stärkere 
Schwingungen vollführt, als es die gewöhnliche 


Membran des Phonographen vermag; ein mit dem 
Anker verbundener Stift zeichnet darum auch ent¬ 
sprechend tiefere Furchen in die Wachsschicht 
Umgekehrt werden behufs Wiedergabe der Töne 
die Bewegungen eines Stiftes, welcher auf der 
Wachsschicht gleitet und deren Furchen folgt, da¬ 
zu benutzt, den Widerstand eines Mikrophonkon¬ 
taktes zu variieren; in gleicher Weise ändert 
sich dann auch die Stärke eines durch das Mikro¬ 
phon zirkulierenden Stromes, und wenn dieser daniv 
durch ein Telephon geleitet wird, so giebt dasselbe 
selbst ursprOn^pich schwache Geräusche mit erheb¬ 
licher Intensität wieder. Nach unserer Quelle sollen 
sogar völlig taube Personen, wenn sie dieses Tele¬ 
phon an ihr Ohr hielten, Empfindung und Ver¬ 
ständnis für die Töne gezeigt naben, ad a) Em¬ 
pfehlen wir Ihnen die Messingteile auf Ihrer Yacht 
mit irgend einem Putzpulver zu putzen und 

dann mit Metalllack zu Oberziehen. Sämtliche nau¬ 
tischen Instrumente der deutschen Marine werden 
z. B. mit diesem Lack überzogen und halten sich 
so jahrelang blank. 


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Im Au.sland nach Cours. 
Verantwortlicher Redakteur: 

Otto Adolf Wolters, Frankfurt a. M. 


XR T T-iLi-rr Nachdruek aus dem Inhalt tUr ZtxtschnfI ahnt Erlaubttis a 

j\5 30 . 1 . janrg. der Redaktion verboten. ^^91’ 4* ^epcemDer. 


Die Bedeutung der vom Mahdismus 
unterjochten Länder. *) 

Von Rudolf Prietze, 

Die militärischen Massnahmen der Eng¬ 
länder haben den östlichen Teil des Sudan*) 



‘) Grösstenteils nach Angaben von Herrn Pro¬ 
fessor Dr. Georg Schweinfurth. 

*) Dieser von den Arabern so benannte (Be- 
led-es-Sudän „Land der Schwarzen") nördliche 
Tropengürtel, der ein klimatisches und ethnisches 
Mittelglied zwischen der Wüste und der wasser¬ 
reichen Aquatorialzone bildet, zieht sich in der 
Durchschnittsbreitc von 500 Kilometern vom Atlant¬ 
ischen Ozean bis zum Roten Meere. 

Umschau 1897 


wieder in den Vordergrund des Interesses 
gerückt. Man scheint entschlossen, die durch 
die Okkupation Ägyptens überkommene Auf¬ 
gabe mit um so grösserem Nachdruck wieder 
aufzunehmen, je schwächlicher man sie vor 
dreizehn Jahren den Händen entgleiten Hess. 
Die Frage, ob der Besitz dieser Erbschaft 
die Kosten ihres Erwerbes verlohnt, ist also 
inzwischen in bejahendem Sinne entschieden. 
Fielen nicht weitere politische Momente in die 
Wagschale, die Antwort w’ürde vielleicht 
anders gelautet haben. 

Man darf die Schwierigkeiten des unter¬ 
nommenen Frontalangriffs nicht unterschätzen. 
Eine Kooperation mit Streitkräften des Kongo¬ 
staats ist ausgeschlossen. Zwar wurde kürz¬ 
lich ein von den Forts längs des Ubangi 
nilwärts erfolgter Vorstoss von verschiedenen 
Zeitungen in diesem Sinne gedeutet. Allein 
selbst wenn er geglückt wäre, wenn sein 
Führer Chaltin jetzt Lado beherrschte, statt 
dort, von seinen meuternden Matetela ver¬ 
lassen, selber in verzweifelter Lage des Ent¬ 
satzes zu harren, ein weiteres Vordringen 
von Heereskörpern nach Norden durch das 
sumpfige, unwegsame Land mit seinen un- 
überbrückten Flussläufen, dichten Galerie- 
wäldern, feindseligen Bewohnern und der 
unlösbaren Proviantfrage bliebe ein Ding der 
Unmöglichkeit. Wären doch bis Chartum 
unter diesen Umständen nicht weniger als 
200 Tagemärsche zurückzulegen. Für den 
Wasserw'eg aber, der sich auf mindestens 
1400 Kilometer beläuft, würden sämtliche 
Fahrzeuge erst am Ausgangspunkt, also in 
Lado, herzustellen sein. Die Angloägypter 
sind, abgesehen etwa von der indirekten Wirk¬ 
ung der italienischen Flankenstellung in Kas- 
sala, durchaus auf die eigenen Kräfte und die 
gegebene Offensivlinie angewiesen. 

In der That sind Vorbereitungen grösseren 
Stils im Gange. Zwei Bahnlinien stehen im 
Bau. Die eine, die von Korosko über Wadi 

36 


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634 


PftiEizii, Die Bedeutung der vom Mahdismus unteujochten Lander. 


Haifa bis Dongola führen, also die zweite 
und dritte Katarakte umgehen soll, befindet 
sich noch in den Anfangsstadien. Die andere, 
von Wadi Haifa ausgehend, hat Abu Hammcd 
oberhalb der vierten Katarakte zum Ziel 
und wird 400 Kilometer lang werden, von 
welcher Strecke die Hälfte bereits fertig ge¬ 
stellt ist. Das englische Budget soll nur mit 
270,000 Pfund dafür belastet werden. Als 
Arbeitskräfte hat man die ägyptischen Sol¬ 
daten zur Verfügung, und das Terrain ist 
zumeist eben; doch bleibt die Leistung, bei 
der Schwierigkeit der Wasserzufuhr und der 
Herbeischaffung des Materials, das an der 
ersten Katarakte noch den Landweg zu pas¬ 
sieren hat, doppelt anerkennenswert. Der 
Mangel an Transportkamelen in Folge der 
mahdistischen Verheerungen wird zu dem 
Plane den Anstoss gegeben haben, und es 
dürfte hier der erste Fall vorliegen, dass bei 
Beginn eines Feldzuges noch ein Werk dieses 
Umfangs unternommen wird, um den ferneren 
Operationen dienstbar zu werden. Vor kurzem 
hat man auch, nicht ohne Kampf, Abu 
Hammed besetzt; der grosse Nilbogen ist so¬ 
mit gesichert und die erforderliche strategische 
Basis für ein weiteres Vorgehen geschaffen. 
Überdies werden nach Vollendung der Bahn 
Nachschübe von Kairo aus in 5 Tagen zur 
Stelle sein können. Ferner hat man die dem 
Chalifa aufsässigen Stämme der Hassanieh, 
Kababisch und Hawawir in der B.ajudasteppe 
südlich des Nilbogens mit Waffen versehen, 
und die Letztgenannten haben auch am Djebra- 
brunnen bereits einen Sieg erfochten. Anderer¬ 
seits aber sind die Djaalin, welche sich gleich¬ 
falls gegen die Mahdisten erhoben hatten, bei 
Mctemmeh, in der Mitte zwischen Berber und 
Chartum, zersprengt worden und sollen 2000 
Tote auf dem Platz gelassen haben. 

Der Kampf mit einem mörderischen Klima 
und einem mächtigen Feinde wird mit den 
vorhandenen Streitkräften schwerlich durch- 
zufllhren zu sein; von Verstärkungen aus 
Indien ist indessen noch nichts verlautet. Ks 
könnte -zu verhängnisvollen Fehlern verleiten, 
wollte man auf die Berichte Ohrwalders und 
Anderer hin den Thron des Chalifa für so 
unterwühlt ansehen, dass er beim ersten 
äusseren Anstoss zusammenbrechen müsste. 
Gewiss sind die Zeiten des aus religiösem 
Fanatismus und erlittenem Druck geborenen 
Elans vorüber. Sind aber dem Chalifa in der 
Familie seines Vorgängers und den umwoh¬ 
nenden Völkern, wie die obenerwähnten Er¬ 
eignisse darthun, erbitterte Gegner erstanden, 
so besitzt er andererseits in dem Araber¬ 
stamm der Baggara, dem er selbst entsprossen 
ist, eine sehr zahlreiche und unbedingte Ge¬ 
folgschaft. Er hat sein Interesse unzertrenn¬ 


lich mit dem ihrigen verknüpft, indem er sie 
zu Erben der ringsumher verdrängten oder 
ausgerotteten Nationen machte. Der Kampf 
für den Chalifa ist zugleich ein Kampf um 
ihre Existenz. Der Angreifer wird, um Om- 
durman, die jetzige Hauptstadt, zu erringen, 
einen verzweifelten Widerstand zu überwinden 
haben; denn dem Unterliegenden droht die 
Rache der so lange schonungslos Geknech¬ 
teten, 

Daneben bleibt zu beherzigen, dass die 
heutigen Bundesgenossen der Engländer gleich¬ 
wohl nichts weniger als ihre Freunde sind. 
Ihr instinktiver Fremdenhass wird nur durch 
die Todfeindschaft gegen die Partei des 
Chalifa gedämpft. Ein momentaner Triumph 
der Gewalt würde ohne anhaltende Kraftent¬ 
faltung nichts Dauerndes verbürgen. Und nur 
planvolle schrittweise Massnahmen können dem 
Nilunterlande die Hilfsquellen des östlichen 
Sudan wieder erschliessen. Denn zunächst 
ist es Ägypten selbst, dem sie zufliessen wür¬ 
den ; erst durch seine Vermittlung würden 
diese Länder mit ihren Rohprodukten und 
als Absatzgebiete auch für Europa von Be¬ 
deutung sein. 

Was hat nun Ägypten seiner Zeit in ihnen 
gesucht und gewonnen? 

Als 1820 Ismail Pascha, von seinem Vater 
Mehemcd AU zur Verfolgunp^ der Mameluken 
ausgesandt, die ersteh Eroberungen'im Sudan 
machte und durch Gründung von Chartum 
befestigte, war neben dem Wunsch eines 
Rückhalts für die Selbständigkeitsbestrebungen 
d,es ägyptischen Gebieters sowie einer vagen 
Hoffnung auf Goldgewinn in erster Linie ein 
durch seine unablässigen Kriege beständig 
reges Bedürfnis ergiebiger Rekrutierungsbe¬ 
zirke massgebend. Und in letzterer Hinsicht 
hat man sich nicht getäuscht. Die eingebore¬ 
nen Araber und Hamiten freilich blieben, 
gleich den ägyptischen Beduinen, wegen ihrer 
Disziplinlosigkeit unverwendbar; als vortreff¬ 
liches Material aber erwiesen sich die süd¬ 
lichen Negerstämme. Man verschaffte sich 
seine künftigen Soldaten hier anfangs, wie 
Palme (London 1844) schildert, gewalt¬ 
sam, durch Menschenjagden; später, als unter 
dem Chediw Ismail humanere Grundsätze 
solchem Vorgehen entgegentraten, fanden sich 
reichlich Freiwillige auch aus entlegenen 
Völkern, wie den Schilluk, Dinka, Bari, ja 
selbst den menschenfressenden Nyamnyam. 
Hier ist der Ausgangspunkt jener berühmten, 
weit gesuchten Sudaner, die sich in zahl¬ 
reichen Feldzügen, sogar unter Bazaine in 
Mexiko, bewährt haben. 

Auch die Steuerkraft der unterworfenen 
Länder würde von Wert gewesen sein, hätte 
nicht das Korruptions- und Plünderungssystera 


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PftiETzr, Die Bedeutung der vom Mahdismus unterjochten Länder. 


635 


ebenso begehrlicher als unfähiger Beamten 
den Gewinn illusorisch gemacht. Trotz allem 
dem Ägypter angeerbten Talent, Abgaben zu 
erpressen, überstiegen die Aufwendungen des 
Fiskus stets seine Einnahmen. Selbst unter 
dem Reformator Gordon hatten von allen 
zwölf Provinzen nur Dongola und Berber, 
vielleicht infolge geringerer Belastung mit 
Garnisonen, regelmässige Überschüsse. 

Wurde so der Mensch des Landes nur 
als Soldat verwertet, als Steuerobjekt miss¬ 
braucht, so fand seine dritte für gesittete Re¬ 
gierungen schätzbarste Leistung, die Arbeit, 
lange lediglich inForm der Sklaverei Verwend¬ 
ung. Und als der fortschrittsfreudige Chediw 
den Menschenhandel abgeschafll hatte, machte 
sich zunächst der Mangel an schaffenden 
Händen fühlbar. 

Hoffnungsvoller gestaltete sich die Ent¬ 
wicklung des Handels mit ihren wachsenden 
Zollerträgen. Der Gesamtwert von Ein- und 
Ausfuhr des ägyptischen Sudan war 1883 auf 
40 Millionen Mark anzuschlagen — eine Glanz¬ 
zeit, verglichen mit der heutigen, wo die 
Hafenspeicher von Bulak und Alt-Kairo leer 
stehen und der einst so segelbelebte Nil ver¬ 
ödet erscheint, doch immerhin ein beschei¬ 
denes Ergebnis, wenn man erwägt, dass es 
sich hier um ein Gebiet handelt, das den 
sechsten Teil Afrikas ausmacht, und dass 
allein das jetzige Reich des Chalifa die dop¬ 
pelte Ausdehnung von Deutschland hat. 

Es waren acht Artikel, die in grösserer 
Menge in Betracht kamen. Etwa 40 pCt. der 
Gesamtausfuhr, wenigstens in den früheren Jah¬ 
ren, entfielen auf Gummi arabicum. Diezweite 
Stelle nahm Elfenbein ein, damals von gegen 
2,700,000 Mark, Jahreswert; doch ist dies 
bei der unsinnigen Raubwirtschaft der Ein» 
geborenen, die ganze Elephantenherden durch 
Grasbrände ausrotten, kein sicherer Posten 
für die Zukunft. | Sodann Straussenfedern, 
früher ftlr Mill. Mark, Häute, Tamarinde 
aus Dar For, Kaffee aus Abessinien und den 
Gallaländern, Sesam und Zibeth. An Boden¬ 
erzeugnissen hatte der Sudan hauptsächlich 
nur Sesam und minderwertige Baumwolle aus¬ 
zuführen, welch letztere man, angeregt durch 
den während des amerikanischen Bürgerkrieges 
in Ägypten gezogenen Gewinn, mit grossen 
Anstrengungen auch im Sudan zu kultivieren 
bemüht gewesen war. Es dürfte sich schwer¬ 
lich empfehlen, diese seit 1863 mehrmals ange- 
stellten Versuche wieder aufzunehmen; die 
weite Entfernung, die geringe Güte, die durch 
den Mangel an Maschinen erschwerte Zu¬ 
richtung der Ware sind der Marktfähigkeit 
zu abträglich. 

Seinerseits vermochte der untere Nil seine 
landwirtschaftlichen Produkte zu guten Preisen 


in den oberen Gebieten abzusetzen, nament¬ 
lich Reis, Datteln, Linsen, sowie den so ein¬ 
träglichen, jetzt fiskalischen Rücksichten ge¬ 
opferten Tabak. Auch die Vermittlung des 
europäischen Imports brachte nicht unerheb¬ 
lichen Eingangszoll, vor allem die ausschliess¬ 
lich aus England bezogenen rohen und un¬ 
gefärbten Bauriiwollgespinste, die im Welt¬ 
handel eine hervorragende Rolle spielen, 
deutscherseits aber zu diesem Preise nicht 
zu liefern sind. Andere Einfuhrartikel waren 
Zucker, Roheisen und Rohkupfer, Eisenvvaren, 
Waffen, Messing- und Kupferdraht, Glas und 
Fayence, Glasperlen, rotesTuch, Farben,Seife, 
Gewürze. Vom roten Meere her kamen Kmirl- 
muscheln, Salz, persischer Tabak u. dergl. 

In der That hätte man sich unter fried¬ 
lichen Verhältnissen, nachdem der Sklaven¬ 
handel fast vernichtet war, eine Periode fort¬ 
schreitender Prosperität versprechen dürfen. 
Allein schon an sich wäre Ägypten sowohl 
pekuniär als militärisch viel zu schwach ge¬ 
wesen, die in überstürzten Anläufen eroberten 
Strecken zu behaupten. Wurden doch, nach¬ 
dem Baker 1872 Unyoro einverleibt und 
Ägypten zur Nachbarin Ugandas gemacht 
hatte, 1874 fast gleichzeitig Dar For und 
Gebiete bis zur Somaliküste erworben, un^cj 
erst, vor Lamu hemmte auf den Hilfeni/' 
Sansibars ein englisches Mahnwort den Sieges¬ 
lauf. Hätte man sich mit der Herrschaft über 
den Nil begnügt, die wirklichen Errungen¬ 
schaften würden ungefähr die nämlichen ge¬ 
wesen sein, und Kosten wie Risiko wären 
zum grösseren Teil vermieden worden. Doch 
der Ehrgeiz der jungen Kulturmacht überwog 
ihre Einsicht. Selbst die sich vervielfältigende 
Thatkraft eines Gordon war ausser Stande, 
die zusammengerafften Ländermassen in Ord¬ 
nung und gesichertem Besitz zu erhallen. 
Eine in den ersten Zeiten durch den Schrecken 
gedämpfte, dann stetig wachsende Unzufrie¬ 
denheit drängte zum Ausbruch. Ursache war 
nicht das Verbot des Sklavenhandels, wie 
man vielfach gemeint hat, sondern der Krebs¬ 
schaden der Verwaltung, die unkontrollierte 
Willkür einer gewissenlosen Beamtenschaft, die 
Tausende der angesehensten Familien ins 
Elend trieb und so allenthalben Zündstoff 
häufte. Das Auftreten des falschen Propheten, 
des Zimmermannssohnes von Dongola, war 
nur der Funke, der in ein längst bereit 
stehendes Pulverfass flog. In kurzer Zeit 
waren unter dem Ansturm der Mahdisten 

‘) Die französische und englische Presse nennt 
sie mit Vorliebe Derwische, eine Bezeichnung, die 
denjenigen, dem sie in der Bedeutung Bettelmönche 
geläufig ist, leicht verwirrt; denn wie sollten Bettel¬ 
mönche ganze Länder erobern können ? Es ist ein 
nom de guerre, wie einst der niederländische Name 

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PkJETZE, £)IE ßEDEUTliNG ÖER VOM MaHDISMUS UNtERJOCHTEN LXnDER. 


^36 


die letzten Spuren vo^i mehr denn sechzig 
Jahren ägyptischer Herrschaft hinweggefegt, 
und wenn Emin Pascha die südlichsten Trüm* 
mer noch bis 1889 zu sichern wusste und 
für eine „Rettung“ durch Stanley keinerlei 
Bedürfnis empfand, so lag seine Stärke ein¬ 
fach in der riesigen Ausdehnung jenes un 
wegsamen Geländes, das ihn damals ebenso 
vor dem Andrang des Mahdi schirmte, wie 
es heut einer Streitmacht vom Kongo verwehrt 
dem englischen Unternehmen zu sekundieren. 

Die Eigenart des ägyptischen Sudan ist 
wieder in ihre alten Rechte getreten, nur 
dass Krieg, Hunger und Schreckensregiment 
seine früher auf mindestens acht Millionen 
zu schätzende Einwohnerschaft um zwei Drittel 
verringert, den Besitz vernichtet, den Handel 
zerstört haben. 

Falls es England gelingt, die Wieder¬ 
eroberung zu vollziehen, bei der es sich 
hoffentlich, durch Ägyptens Beispiel gewarnt, 
auf die unmittelbaren Nilterritorien beschränkt, 
so . harrt seiner die namentlich finanziell un¬ 
gleich bedeutendere Aufgabe, die Verwaltung 
des verwüsteten Landes wieder herzustellen, 
und die notwendigsten Einrichtungen und 
Bauten, als Häfen, Brücken, Wege, Brunnen, 
Administrationsgebäude,Telegraphen-undPost- 
dienst, zu schaffen. Es würde, da Ägypten 
durch seine Schuldner an derartigen Auf¬ 
wendungen verhindert ist, zunächst unter eng¬ 
lischer Garantie eine eigene Anleihe für den 
Sudan aufzunehmen sein, ein Vorgang, der 
wiederum politischer Schwierigkeiten nicht 
ermangeln dürfte. 

Setzen wir aber den Fall, alle diese Vor¬ 
aussetzungen wären glücklich ohne Anstoss 
und Abzug erledigt, auf welchen Preis solcher 
Mühen würden der Sieger und die mit ihm 
an der Neuerschliessung des Sudan Interes¬ 
sierten zu rechnen haben? 

Hier gilt es nun vor allen Dingen, die 
so gern an tropische Gebiete geknüpften Hoff¬ 
nungen mit nüchternem Sinn aufdas vor späterer 
Enttäuschung schützende Mass zurückzuführen. 
Es ist ein alter Irrtum, von der Ergiebigkeit 
des afrikanischen Bodens zu viel zu erwarten. 
Selbst die gerühmte Weizenernte Ägyptens 
beträgt wenig mehr als die Hälfte des mitt¬ 
leren Durchschnitts guter Weizengegenden 
Europas. Die Alluvionen des oberen Nils aber, 
namentlich die des weissen, sind denen von 
Ägypten keineswegs gleichwertig. Man ent¬ 
sage zunächst den beiden Lieblingsträumen 
ungeduldiger Optimisten, d. h. der Aussicht 
auf Plantagenwirtschaft in grossem Massstabe 
oder gar auf Auswanderungskolonien. Muss 

Geusen. Die Anhänger des Mahdi heuchelten Armut 
im Dienste ucs Propheten und wünschten als Hei¬ 
lige im Flickgewande angesehen zu werden. 


schon Afrika physikalisch im grossen und 
ganzen als ein etwas abgelebter Erdteil be¬ 
zeichnet werden, zwar noch leistungsfähig im 
alten Stil, doch zu Neuschöpfungen niclit 
mehr berufen, so ist der ägyptische Sudan 
mit seinen verwaschenen Bergformen, abge¬ 
flachten’ Wasserscheiden, endlosen Ebenen 
für diesen greisenhaften Zug geradezu typisch. 
Die Wüste ist augenscheinlich im Vordringen 
begriffen. Nubien insbesondere wird in der 
Ausdehnung von Theben bis Dongola weder 
von den winterlichen Niederschlägen der sub¬ 
tropischen Zone, noch von den tropischen 
Sommerregen berührt, und auch südlich von 
Dongola, im Bereich der letzteren, hat der 
Sudan eine achtmonatliche Trockenzeit zu be¬ 
stehen, in deren Verlauf ein Anbau unmög¬ 
lich ist. Perioden glühendster Hitze, heftige 
Sandstürme, plötzliche Witterungsumschläge 
machen ihn zu einem der unwirtlichsten, un¬ 
gesundesten Länder der Welt. Gerade in der 
Hügellandschaft der ersten abessinischen Ter¬ 
rasse unter 1000 Meter Meereshöhe ist der 
Europäer dem Fieber, der Dysenterie und 
anderen Tropenkrankheiten vorwiegend aus¬ 
gesetzt. In Chartum pflegte man sich nicht 
nach dem Befinden, sondern nach der Krank¬ 
heit zu fragen. 1870 wurden daselbst fast 
alle angesiedelten Europäer auf einmal hin- 
weggeraflft. Nur Griechen und Osmanen schei¬ 
nen den klimatischen Gefahren des Sudan 
einigermassen gewachsen, und neben ihnen 
dürfte unter den nördlichen Afrikanern den 
Nubier (Baräbra) seine physische Widerstands¬ 
kraft und sein Unternehmungsgeist zum dor¬ 
tigen Kulturträger befähigen. So ist man auch 
augenblicklich im Begriff, 1000 Angehörige 
dieses Stammes .aus Ägypten wieder in ihrer 
alten Heimat südlich von Wadi Haifa sess¬ 
haft zu machen. Der Ägypter selbst, von 
dem man, zumal bei seinem Familiensegen, 
schnelle Fortschritte in der Besiedelung neuer 
Territorien erwarten möchte, ist zur Auswan¬ 
derung weder geneigt noch geeignet. Eine 
Einführung von Chinesen zur Feldarbeit wurde 
bereits dem Chediw Ismail vorgeschlagen und 
wäre auch wohl versucht worden,’ hätte die 
Finanzkrisis nicht allen weiteren Projekten 
ein jähes Ende bereitet. 

Doch es ist geboten, wieder und wieder 
die alte Wahrheit zu betonen, dass das wert¬ 
vollste Erzeugnis eines Landes sein Bewohner 
ist. Ihn auf diejenige Stufe der Einsicht und 
Leistungsfähigkeit zu erheben, auf welcher er 
die an Menge und Art sich steigernden Be¬ 
dürfnisse der wachsenden Volkszahl durch 
die Produkte seiner Arbeit zu bestreiten ver¬ 
mag, bleibt das vornehmste Ziel jeder vor¬ 
ausschauenden Kolonialpolitik. Allerdings ist 
der Mensch hier kaum sympathischer als das 


X 


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Prietze, Die Bedlutu.n'g der vom Mahdismus unterjochten Länder. 


637 


Land, das ihn gebar. Ehemals Bekenner eines 
entarteten .Christentums, ist er später dem 
Islam anheimgefallen, und dieser, obgleich 
schon wegen seiner rituellen Forderungen für 
Wüstenvölker die minder geeignete Religion, 
hat doch vermöge weitgehender Anpassung 
an ihre Eigenart tiefere Wurzeln geschlagen, 
erscheint dafür freilich auch hier in seiner 
barbarischsten Gestalt. Die verderblichsten, 
kulturwidrigsten Anschauungen des afrika* 
nischen Heidentums, wie das Amuletunwesen, 
der Hexenglaube, die Vorstellung, dass Wei¬ 
ber nachts zu Hyänen werden könnten, sind 
mit hinübergenommen worden. Und während 
er ursprünglich,, und auch jetzt in seinen ge¬ 
sitteteren Ländern, keine eigentliche Priester¬ 
kaste kennt, sind die Fuqiha (Plural von Faqih, 
der theologische Rechtsgelehrte, Schulmeister), 
deren Gemeinschaft für Erscheinungen von 
der Art des Mahdismus den Nährboden bildet, 
eine weithin durch den Sudan verbreitete Pest. 
Im südlichen Nubien giebt cs ganze Dörfer von 
ihnen, in denen das Lesen und Schreiben 
von Koransprüchen gelehrt wird; denn weiter 
erstreckt sich ihre Bildung in der Regel nicht. 
Daneben aber pflegen sie lohnendere Erwerbs¬ 
zweige, so das Schreiben von Amuleten und 
mit Vorliebe den Sklavenhandel. Chartum, 
wo sie gleichzeitig Schulen, Schenken, Braue¬ 
reien, öffentliche Häuser unterhielten, war ein 
glänzender Beweis ihrer Vielseitigkeit. In der 


ein schwierigerer Zögling, als der Sudaner, 
der europäischen Zivilisation kaum je beschie- 
den gewesen sein. Doch er ist das echte Kind 
seines Bodens, mit dessen Gunst und Un¬ 
gunst vertraut, und mit ihm muss man rechnen. 

Wenden wir uns nun zu den Gütern, 
deren Erzeugung seiner Hilfe bedarf, so wird 
zwischen blossen Möglichkeiten und dem im 
bisherigen Lauf der Dinge Erprobten zu unter¬ 
scheiden sein. Gewiss wird man mit dem An¬ 
bau von Pflanzen aus ähnlichen Gebieten Ver¬ 
suche anzustellen haben, so speziell mit vorder¬ 
indischen, von denen Opium und Jute einer 
starken Nachfrage schon in Ägypten begeg¬ 
nen würden. Von solchen, die eine intensive 
Kultur fordern, z. B. dem Zuckerrohr, lässt 
sich von vornherein annehmen, dass sie nur 
an vereinzelten und begrenzten Stellen ge¬ 
deihen werden. Man muss sich bei allen, 
diesen Entwürfen die Mängel der Bodenver¬ 
hältnisse stets gegenwärtig halten. 

Ein exakter Massstab für die Leistungs¬ 
fähigkeit des Landes lässt sich nur einem 
Überblick der bisher kultivierten Gewächs¬ 
arten entnehmen. , 

Gleich dem übrigen Sudan ist auch der 
ägyptische in erster Linie das Land der Neger- 


Schule derartiger Autoritäten und der geschichts¬ 
losen Starrheit jenes Milieus erwachsen, möchte 


Cerealien, d. h. der Durra (Sorghum) und des 
Duchn (Pennisetum tjqjhoideum). Von den nörd¬ 
licheren Getreidearten baut man noch Mais, 
während sich Weizen und Gerste nur im 
nubischen Nilthal stellenweise fcnden; Reis, 
von den Arabern in ihren besseren Zeiten 
anderswo so eifrig verbreitet, fehlt hier gänz¬ 
lich. Durra und Duchn sind die allgemeine 
Nährfrucht. Aus ihnen wird das Kissere be¬ 
reitet, das im Sudan die Stelle des Brotes 
vertritt, nämlich dünne Kuchen, die man durch 
Aufguss" des gesäuerten Breis auf eine Eisen¬ 
platte herstellt. Das angefeuchtete Korn hier¬ 
zu auf einem Reibstein zu zermalmen, wie 
in der Urzeit Europas, oder im Holzmörser 
zu zerstampfen, ist Aufgabe der Weiber und 
Sklavinnen, und die Schwerfälligkeit dieses 
Betriebes, die Notwendigkeit, aufjedem grösse¬ 
ren Marsche alles dazu gehörige mitzuschlep¬ 
pen, ist ein Hauptgrund für die starke Nach¬ 
frage nach letzteren. Neben dem übrigen 
Sorghum giebt es noch eine Spielart des 
Sorghum vulgare, das Zuckersorghum, dessen 
Halme in getrocknetem, von der Rinde be¬ 
freitem Zustand als eine Art Marmelade ver¬ 
kauft werden. Man hat neuerdings in Nord¬ 
amerika ähnliche Sorghumarten angebaut, um 
zu erproben, ob sie vermöge ihrer Anspruchs¬ 
losigkeit hinsichtlich des Bodens vielleicht 
geeignet sind, mit dem Zuckerrohr in Kon¬ 
kurrenz zu treten. Die Spezies des Sudan ist 
von besserer Qualität; immerhin ist auch über 
ihre Verwertbarkeit nach dieser Richtung 
heute noch kein sicheres Urteil möglich. Mit 
grösserer Wahrscheinlichkeit wird man laut 
vorläufiger Untersuchung bei einer grade in 
den trockenen Distrikten in Menge wachsen¬ 
den, von Milchsaft strotzenden Pflanze auf 
Kautschuk rechnen dürfen. 

Im Gemüsebau steht der viehzOchtende 
Sudan beträchtlich hinter Ägypten zurück; 
doch kultiviert er in geringerem Umfang die 
nämlichen Arten der Kürbisse, Gurken, Ret- 
tige, auch Corchorus, dessen Melochia ge¬ 
nannte Blätter, gleich denen von Kürbis und 
Bohne wie Spinat zubereitet, eine beliebte 
Zukost bilden, ebenso die Lubiabohne (Vigna 
sinensis), wogegen die für Ägypten wichtige 
Saubohne und Linse wenig zum Anbau ge¬ 
langen. In den einzelnen fruchtbareren Distrik¬ 
ten von Kordofan und auf den nubischen 
Nilinseln gedeiht noch die zum Export ge¬ 
eignete, ölspendende Sesamfrucht. Erdfrüchte 
und Knollengewächse dagegen werden durch 
Mangel an Bewässerung ausgeschlossen. 

Das Fazit dieser Überschau ist unleugbar 
ein spärliches. Die Hauptstärke des Sudan 
liegt im Sorghum, der ertragreichsten Brot¬ 
frucht der Welt. Sie würde selbst bei starker 
Volksvermehrung noch weit über den eigenen 


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638 


Veränderungen und Fortschritte im Artilleriewesen. 


Bedarf produziert werden können. Wenn einst 
die Kulturländer von heute in vorgeschritte¬ 
ner Übervölkerung die Nährfrucht hauptsäch¬ 
lich von ausserhalb erwarten müssen, wenn 
die bisher den Weltmarkt damit überflutenden 
Gebiete abgewirtschaftet oder dicht genug be¬ 
wohnt sein werden, um ihr Korn für den 
eigenen Bedarf zu behalten, dann wird auch 
das tropische Afrika mit jenem Brot der Zu¬ 
kunft eine bedeutsame Mission im Haushalte 
der Menschheit zu erfüllen haben. Vorläufig 
sei man zufrieden, wenn der Sudaner mit 
seinem Pfunde schalten und die bescheidenen 
Erzeugnisse seiner kargen Heimat hinreichend 
pflegen lernt, um sich zu weiteren Ansprüchen 
auf Güter einer höheren Gesittung ermutigt 
zu fühlen. 


Veränderungen und Fortschritte 
im ArtiUeriewesen, 

Von Hauptmaon X. 

F ussarti 11 eric. 

Hier liegen keine so stürmischen Entwick¬ 
lungskämpfe von tief einschneidendster Bedeu¬ 
tung vor, wie sie die Schaffung eines neuen 
Feldgeschützes oder der Steilfeuergeschütze 
darboten. 

Für diesen Bericht fassen wir unter den 
Begriff der Fussartillerie die ganzen Gebiete 
der Schiffs-, Küsten-, Festungs-, Belagerungs¬ 
und bespannten Fussartillerie zusammen, die 
unter sich teilweise sehr wesentliche Ver¬ 
schiedenheiten prinzipieller Natur aufweisen. 
Bekanntlich wird der Charakter eines Ge¬ 
schützes bestimmt durch die Natur des Zieles, 
welches es zu bekämpfen hat, und die Art 
der Verwendung. Schiffsgeschütze haben zu 
Zielen grösstenteils Schiffe, also schnell be¬ 
wegliche Gegenstände, von ausserordentlicher 
Widerstandsfähigkeit; sie werden ausserdem 
von Schiffen, also von ebenfalls schnell be¬ 
weglichen Aufstellungspunkten aus abgefeuert. 
Sie müssen also einesteils sehr wirkungsvoll, 
andernteils aber trotzdem sehr schnell zu 
handhaben sein; ferner brauchen sie an sich 
selbst nicht von derjenigen Stelle bewegt 
werden zu können, wo sie einmal stehen. Wir 
finden somit hier schwere Kaliber mit den 
denkbarsten hydraulischen und maschinellen 
Vorrichtungen zum Laden und Richten und, 
elektrischen Vorkehrungen, um in dem Augen¬ 
blick abfeuern zu können, wo die Richtung 
gerade stimmt und somit ein Treffer zu er¬ 
warten ist. Wir finden aber auch hier klein- 
kalibrige Maschinengeschütze, die vom Mast¬ 
korb aus das unbeschützte Deck vorbeifahren¬ 
der Schiffe aus nächster Nähe mit einem Hagel 
von Geschossen überschütten. 


■Ähnliche Geschütz-Typen weist die Küsten- 
Artillerie auf; wesentlich andere aber die 
Festungsartillerie! Denkt man sich eine mo¬ 
derne grosse Festung — einen grossen, den 
Ort umspannenden Hauptwall mit einem Kranz 
weit vorgelagerter Forts, — so ist es ganz 
klar, dass die Peripherie des sich dergestalt 
ergebenden Kreises mit einem Radius, der 
nicht mehr nach Kilometern, sondern nach 
Meilen zählt, eine derartige Länge besitzt, 
dass es weder für den Verteidiger möglich 
ist, diesen Kreis dauernd völlig mit Geschützen 
und Menschen zu besetzen, noch für den An¬ 
greifer eine solche Festung von allen Seiten 
her energisch anzugreifen. Er umschliesst 
sie nur im Ganzen und wählt sich einen Teil 
der Umwallung, gegen den er nun mit allen 
Mitteln seiner schweren Artillerie und mit 
allen Finessen der Ingenieurkunst vorgeht, 
während der Verteidiger wiederum die Ge¬ 
samtperipherie nur in der notwendigsten Weise 
besetzt hält und auf die „Angriffsfront“ — 
so bald er sie trotz der vom Angreifer thun- 
lichst geübten Verschleierung erkannt hat — 
fast all’ sein schweres, wirkungsvolles Ge¬ 
schützmaterial und seine menschlichen Streit¬ 
kräfte wirft. ‘ 

Es erhellt also, dass das Material der Be¬ 
lagerungsartillerie reich sein muss an weit- 
tragenden, wirkungsvollen Geschützen, um 
den Gegner schon von weitem in seinen An¬ 
griffsarbeitenzu stören und seine Erddeckungen 
zu vernichten, dass es aber auch Gechütze 
aufweisen muss, die im hohen Bogenschuss 
hinter die Erddeckungen reichen, (ähnlich dem 
Steilfeuer der neuen Feldgeschützgattung), dass 
es endlich Geschütze kleinen Kalibers mit 
Schnellfeuervorrichtungen besitzen muss, Ma¬ 
schinengeschütze, die beim Sturm des Feindes 
die Gräben der Forts und Festungswerke, in 
welche man vom Wall aus mit Gewehren 
nicht hinschiessen kann, aus Aufstellungs¬ 
punkten in den Gräben selbst (sog. Kapon- 
nieren) der Länge nach mit einem Hagel von 
Geschossen überschütten, um den Feind am 
Durchschreiten der Gräben zu verhindern. 

Fast alle diese Geschütze müssen aber 
mehr oder weniger eine gewisse eigene Be¬ 
weglichkeit haben, denn sie müssen — je 
nachdem der Angreifer die Angriffsfront 
wählt — mittelst Gürtelbahn oder Motoren 
oder Pferden nach dem bedrohten Punkt ge¬ 
schafft werden können. 

Anders liegen die Verhältnisse wieder bei 
der Belagerungsartillerie. Der Belagerer sieht 
seinen Geschützen sehr viel stärkere Vertei¬ 
digungseinrichtungen gegenüber, als sie der 
Verteidiger als Zielpunkte für die seinigen 
hat. Enorme Wälle, stark mit Erd-, Beton- 
und Panzerdecken geschützte Hohlbauten, 


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Veränderungen und Fortschrjtte im Artilleriewesen. 


639 


P.ijizertümic u. a. m. sind ftir ihn zu zer¬ 
stören. Dabei müssen aber seine Geschütze 
sehr viel transportfähiger und beweglicher, 
als die des Verteidigers sein. Denn er muss 
sic von weit her aus der Heimat holen und 
muss sie dann vor der Festung querfeldein 
auf ungebahnten Wegen zu ihrem beabsich- 
ligtcn Aufstellungsort schaffen. Solcher Trans¬ 
port muss ausserdem vielfach in einer Nacht 
erledigt sein, da er bei Tage durch das Feuer 
der weittragenden Verteidigungsartillerie un¬ 
möglich würde. 

Noch viel gesteigerter ist die Anforderung 
an die Beweglichkeit bei dem Kinde der 
Neuzeit: der bespannten Fussartillerie, die den 
Übergang zur Feldartilleric bildet und mit der 
Feldarmee vorgeht, um bei einem überrasch¬ 
enden Auftreten derselben vor Befestigungen, 
und bei dem sich daranschliessenden Versuch 
eines gewaltsamen Angriffs neben der Feld- 
aitillerie den Kampf mit den Geschützen des 
Verteidigers aufzunehmen und, falls dieser 
gewaltsame Angriff misslingt, und sich somit 
die planmässige Belagerung nötig macht, der 
Festungs-Artillerie so lange entgegen zu treten 
hat, bis die Belagerungsparks herangeschaflft, 
die notwendigen Kommunikationen hergestellt, 
die Batterien gebaut und die Munitionszu¬ 
fuhren im Gange sind. Da die bespannte 
Fussartillerie ein Glied, der Feldarmee ist, 
so wird sie aber nicht nur gegen Fest¬ 
ungen, sondern auch in der offenen Feld- 
Schlacht zur Verwendung gelangen und die 
fcldmässigen Verschanzungen des Gegners, 
von denen wir bei Erörterung der Steilfeuer¬ 
geschütze der Feldartillerie sprachen, zu be¬ 
kämpfen haben. Solcher bespannter Fuss¬ 
artillerie-Formationen giebt es aber naturge- 
mäss nur wenige, und es wird vielfach nicht 
möglich sein, sie zu diesem letzteren Zweck 
lechtzcitig am rechten Fleck zur Stelle zu 
haben. Auch muss immer die Rücksicht 
walten, sie für ihren eigentlichen Hauptzweck, 
dessen zuerst gedacht war, zu erhalten, und 
so kommt es, dass die Feldartillerie allerdings 
bestrebt sein muss, das Bekämpfen feldmäs- 
siger Verschanzungen unabhängig von der 
Fussai tillerie durchzuführen und sich dem¬ 
gemäss besondere Geschütze oder Geschosse 
oder sonstiges Material hierzu zu schaffen. — 

Dem Laien am interessantesten pflegt die 
Gattung d^T ' Riesengeschütze zu sein, die auf 
modernen Weltausstellungen immer der ge¬ 
bührenden Bewunderung sicher sind. Artil¬ 
leristisch ist man von dieser Richtung aber 
doch ein wenig abgekommen und man glaubt, 
durch die Aufstellung mehrerer Geschütze 
mittleren oder ziemlich grossen Kalibers mehr 
zu erreichen, als durch ein einziges Riesen¬ 
geschütz grössten Kalibers. Es kommen hier 


die Schwierigkeiten der Munitionsversorgung 
zur Sprache, ferner die Erwägung, dass ein 
Unbrauchbarwerden eines sölchen Geschützes 
sofort die gesamte Gefechtskraft raubt, wäh¬ 
rend, wenn eines der kleineren Geschütze 
gefechtsunfähig wird, eben nur ein Bruchteil 
fehlt u. a. m. Besonders spricht aber auch 
der Kostenpunkt mit, da diese Riesengeschütze 
infolge der chemischen und physikalischen 
Einwirkungen der enormen Pulverladungen 
überhaupt nur verhältnismässig ganz wenig 
ScliOsse aushalten, sodass mit jedem Schuss 
nicht nur die beträchtlichen Kosten des Ge¬ 
schosses und der Pulverladung entstehen, 
sondern auch noch ein grosser Bruchteil des 
Anschaffungskapitals abzuschreiben ist. So 
kommt es, dass man von Beschaffung von 
Riesengeschützen nur wenig mehr hört, und 
können wir uns daher gleich weiter zur Frage 
der Schnell/euergcschütze wenden: 

Wir finden diese Gattung Geschütze bei 
der Fussartillerie bereits in grosser Zahl vor¬ 
handen, namentlich in der Schiffs- und Küsten- 
Artillerie. Natürlich darf man sich von der 
Feuergeschwindigkeit solcher grosskalibrigen 
Schnellladekanonen nicht dasselbe Bild machen, 
wie von denjenigen der Feldschnellfeuer¬ 
kanonen, da doch hier infolge der teilweise 
schon enormen zu handhabenden Gewichte 
von Geschütz, Geschoss und Ladung ganz 
wesentlich, grössere Schwierigkeiten zu Ober¬ 
winden sind, wie bei der Feldartillerie. 

Wenn eine 15 cm Schnellladekanone 
6 — 8 Schuss, eine 21 cm dergleichen 3 Schuss, 
eine 24 cm iV» Schuss in der Minute abgiebt, 
so sind dies ganz hervorragende Leistungen! 
Die deutsche Marine ist darin allen anderen 
Marinen um ein Bedeutendes voraus, da sie 
bereits 24 cm Schnellladekanonen besitzt, 
während andere noch nicht über das 15 cm 
Kaliber hinausgekommen sind. In England 
besteht nur in der Privatindustrie (Armstrong) 
die Konstruktion eines 20,3 cm Schnelllade¬ 
geschützes, das jedoch eine Einführung in die 
Artillerie noch nicht gefunden hat. In 
Deutschland gebührt speziell vollste Anerken¬ 
nung dem Krupp’schen Etablissement, das 
sich seit vielen Jahren bereits der Ausbildung 
der Schnellladekanonen grösseren Kalibers — 
und wie man sieht, mit bestem Erfolge -- 
gewidmet hat und — dies muss ebenfalls ge¬ 
bührend hervorgehoben werden — bei unserer 
Marine vollstes Entgegenkommen und Ver¬ 
ständnis und Würdigung der vorzüglichen 
Leistungen fand. Es liegen gerade Ober die 
Entwicklung der Schnellladekanonen sehr in¬ 
teressante Versuchsbericlitc des Krupp’sclien 
Etablissements vor, die s. Zt. als Manuskripte 
gedruckt wurden. Leider hat die Firma in 


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640 


VkrAnderungen und Fortschritte im Aktilleriewesen. 


neuester Zeit die Veröffentlichung solcher 
Versuchsberichte eingestellt. 

Von neuen Erscheinungen auf demselben 
Gebiete wäre speziell nur des schon erwähn¬ 
ten Armstrong’schen 20,3 cm, der 4 Schuss 
pro Minute abgeben soll, zu gedenken, sowie 
des Umstandes, dass England künftighin alle 
Geschütze bis zum 15,2 cm als Schnelllader 
konstruieren und die vorhandenen Geschütze 
in Schnelllader umwandeln will. Das grösste 
eingeführte Kaliber ist bei der englischen 
Marine auch nur das 15,2 cm, also selbst 
bei diesem Marinestaate in dieser Beziehung 
W'escniliche Unterlegenheit gegenüber Deutsch¬ 
land! In Nordamerika haben ^Versuche mit 
12 cm Schnellfeuergeschützen der Systeme 
Schneider, Canet, Hotchkiss und Armstrong, 
sowie mit 4 zölligen System Driggs-Schneider 
stattgefnnden, wobei sich lediglich die Systeme 
Schneider und DriggS'Schneider bewährten. 

Wie wir schon aussprachen, braucht so¬ 
wohl die Marine- wie die Land-Fussartillerie 
Maschinengeschütze und Schnellfeuergeschütze 
kleinen Kalibers und finden wir dieselben 
auch allenthalben reichlich vertreten. Da hier 
die Schwierigkeit fortfällt, wie beim Feldge¬ 
schütz eine an und für sich leicht bewegliche 
Lafette als Untergestell fürs Rohr verwenden 
zu müssen, die zur Aufhebung des Rücklaufs 
geeignet sein muss, da man vielmehr über 
feststehende, event. eingemauerte Untergestelle 
verfügt, so gestaltete sich die , Konstruktion 
eines geeigneten Schnellfeuergeschützes in 
vieler Beziehung hier wesentlich leichter und 
treten diese hier auch schon seit Jahren in 
grosser Zahl auf. Grösstenteils handelt es 
sich dabei um reine Maschinengeschütze kleinen 
Kalibers, die eigentlichen Schnellfeuerge¬ 
schütze im ursprünglichen Sinne des Wortes, 
bei denen von der Beobachtung des Einzel¬ 
schusses abgesehen wird und dafür der Zweck 
in dem massenhaften Schleudern von kleinen 
Geschossen in kürzester Zeit besteht. Es 
handelt sich dementsprechend hier zumeist 
um 3,7 cm, 5,7 cm und ähnliche Kaliber. 

Wir wollen hier lediglich zweier Kon¬ 
struktionen Erwähnung thun, die ganz neuen 
Datums sind. Es ist dies zunächst die au¬ 
tomatische Mitrailleuse Colt, ') die unlängst 
in der Marine der Vereinigten Staaten einge¬ 
führt ist und von der Waffenfabrik der Ge¬ 
sellschaft Colt, in Hartford, Connecticut, 
hergestellt wird. Sie kann vermöge ihrer 
Leichtigkeit sowohl von Infanterie, als auch 
von Reitern gehandhabt bezw. transportiert 
werden, ja sogar vom Zweirad aus feuern. 

Ihr Gesamtgewicht beträgt nur 16 kg. 


') Beschreibung mit Abbildungen siehe Aprilheft 
1896 der Rivista d’artiglicria c genio. 


Die Konstruktion lässt sich ungefähr mit 
kurzen Worten dahin erläutern, dass das 
Rohr nahe der Mündung unten eine Öffnung 
besitzt, durch welche die dem Geschoss nach¬ 
dringenden Pulvergase von hoher Spannung 
teilweise nach unten entw.eichen, sobald 
das Geschoss diese Stelle passiert hat. Sie 
treten dadurch in ein zweites Rohr ein, in 
welchem ein Kolben sich befindet, der nun¬ 
mehr durch den Druck der Pulvergase nach 
rückwärts getrieben wird und dabei durch 
verschiedene an ihm befindliche Ansätze etc. 
die Mechanismen zum Öffnen, Wiederspan¬ 
nen und Wiederschliessen des Verschlusses, 
zum Patronenhülsen-Auswerfen, sowie zur 
Munitionszufuhr selbstthätig in Gang setzt, 
um schliesslich durch eine Feder wieder vor¬ 
getrieben zu werden, und dabei das Abfeuem 
des nächsten Schusses zu besorgen, worauf 
sich das Spiel von Neuem wiederholt. Waffen 
dieser Art haben 8000 Schuss ausgehalten, 
ohne dass die geringste Beschädigung auf¬ 
getreten wäre; um einen Beweis von der 
Treffsicherheit und Feuergeschwindigkeit der 
Colt-Mitrailleuse zu geben, führt die Rivista 
an, dass bei einem Präzisionsschiessen auf 
circa 200 m eine Mannsscheibe in 16 Se¬ 
kunden 100 mal getroffen worden ist; die 
Feuergeschwindigkeit beträgt rund 400 Schuss 
pro Minute. 

Das Charakteristische der Colt-Mitrailleuse 
mm: Unterschied von anderen- Konstruktionen 
dieser Art dürfte darin liegen, dass die Aus¬ 
trittsöffnung der Gase zum Ingangsetzen des 
Mechanismus sehr weit vorn liegt, wo also 
die Gase dem Geschoss bereits die volle er¬ 
forderliche Geschwindigkeit mitgeteilt haben, 
wahrend, wenn die Öffnung weiter hinten 
liegt, die Gase viel und vor allem unregel¬ 
mässig an Druck einbüssen, so dass das Ge¬ 
schoss von Schuss zu Schuss eine variable 
Anfangsgeschwindigkeit besitzt, was naturge- 
mäss die ballistische Leistung der Waffe 
wesentlich herabdrückt. 

Sehr ähnlich der Colt-Mitrailleuse ist 
die automatische Mitrailleuse Hotchkiss. *) 
Der Grundzug der Konstruktion ist völlig 
derselbe, wie bei der erstgenannten; die Mi¬ 
trailleuse ist gekennzeichnet durch die gerade¬ 
zu verblüffend geringe Zahl der Teile (31!), 
deren jeder ausserdem so charakteristisch ge¬ 
staltet ist, dass Verwechselungen oder falsche 
Zusammensetzung unmöglich ist. Unter diesen 
31 Teilen, deren Auseinandernehmen in 8—10 
Sekunden, deren Zusammensetzen in circa 
12 Sekunden mit Hülfe eines einzigen 
Schlüssels vorgenommen werden kann, be¬ 
finden sich nur 4 Federn, von denen Übrigens 


’) Rivista d’artiglieria e genio, Aprilheft 1897. 




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Veränderungen und Fortschritte im Aktilleuiewesen. 


641 


nur eine einzige ftlr das Funktionieren des 
Mechanismus absolut erforderlich ist, während 
die 3 anderen Federn, sowie verschiedene 
andere Teile lediglich dazu dienen, das 
Funktionieren besser zu gestalten und Un* 
glücksfälle durch vorzeitige Entzündung etc. 
auszuschliessen, zum automatischen Arbeiten 
aber nicht unumgänglich notwendig sind, da¬ 
her ruhig verloren gehen oder zerbrechen 
können. Die Mitrailleuse kann je nach 
Belieben auf kontinuierliches oder auf Einzel¬ 
feuer gestellt werden. 

Audi hier verliert das Geschoss durch 
den unteren Austritt der Gase nur ganz wenig 
(höchstens V**") an der Geschwindigkeit. Das 
Rohr ist übrigens in origineller Weise in der 
Gegend des Kartuschraumes mit einem Metall¬ 
teil, dem sogen. Irradiatör (Ausstrahler), ver¬ 
sehen, der so geformt ist, dass er der Luft 
möglichst viel Oberfläche bietet und derge¬ 
stalt die durch die Schüsse sich entwickelnde 
Erhitzung des Rohres schnell in die Atmos¬ 
phäre ausstrahlt. Infolgedessen steigt die 
Rohrtemperatur zwar erst rasch auf circa 
200« C., bleibt aber im weiteren Verlauf des 
Schiessens darin ziemlich konstant auf dieser 
Höhe. Die Feuergeschwindigkeit beträgt bei 
kontinuierlichem Feuer 5—600 Schuss in der 
Minute, während man bei Einzelfeuer in der¬ 
selben Zeit bjs zu 120 Schuss erreichen kann. 

Eine ganz eigenartige Geschützgaitung, die 
bfelärhg'^ur^ biei'"'deff Ahierntän^rn kültiviert 
und weitcrentwickeit wird, sind die 
matischen Kanofien, welche dem Wunsche ent¬ 
sprangen, möglichst abnorm grosse Massen 
hochbrisanter moderner Sprengstoffe fortzu¬ 
schleudern, die den heftigen Stoss der Pulver¬ 
ladung nicht vertragen können. Seit vielen 
Jahren experimentiert man an dieser Idee in 
Amerika herum, und, wenn wir uns nicht 
irren, hat man sogar vor längerer Zeit einen 
Dynamitkreuzer „Vesuvius“ gebaut, der ge- 
wissermassen nichts anderes war, als eine 
schwimmende Lafette ftlr ein oder zwei enorme 
Zalinski’sche Dynamitkanonen, die fest in das 
Schiff eingebaut waren. Die Geschosse, mit 
Riesenladungen Dynamit, wurden mittelst kom¬ 
primierter Luft fortgeschleudert; die Schuss¬ 
weite variirte man dadurch, dass man den 
Luftdruck änderte, denn die Erhöhung der 
unveränderlich fest eingebauten Rohre Hess 
sich eben nicht ändern. Die Seitenrichtung 
nahm man dadurch, dass man das ganze Schiff 
umsteuerte. Was aus dieser echt amerika¬ 
nischen Konstruktion geworden ist, wissen 
wir leider nicht. 

Die Rivista d’artiglieria e genio bringt in 
ihrem Aprilheft 1897 nun die Notiz, dass 
unlängst in San Franzisko eine Batterie von 
pneumatischen Kanonen System Rix gebaut 


worden sei. 2 —40opferdigc Dampfin:ischindn 
pressen die Luft, in 3 Stufen (3 — 27 — 136) aüf 
136 Atmosphären unter jedesmal dazwischen 
eingeschalteter Abkühlung. Die so zusamtnen- 
gepresstc Luft kommt dann in Akkumulatoren 
und von da in die für die einzelne« Kanonqn 
bestimmten Luftbehälter, in denen sie jedoch 
nur noch einen Druck von 68 Atmosphären 
hat. Die Behälter und die Akkumul.Ttorcn 
lassen sich nun in verschiedener Weise mit 
einander kombinieren, worauf wir hier nicht 
näher eingehen können. Die Geschütze haben 
ein Kaliber von 381 mm, verfeuern aber aucli 
Geschosse von kleinerem Kaliber, indem diese 
dann hölzerne Hüllen erhalten, mittelst deren 
sie auf das Kaliber der Kanonen kommen und 
die sich nach dem Verlassen des Rohres ab- 
streifen, eine übrigens längst bekannte Idee. 
Die Geschosse vom normalen (38,1 cm) Ka¬ 
liber haben eine Sprengladung von 453,6 kg 
Nitrogelatine, die von kleineren (20,3 cm) 
Kaliber 45,35 kg dieses Sprengstoffes. Das 
normale Geschoss soll bei der grösstmöglichen 
Erhöhung eine Maximalschussweite von 3 000 m 
erreichen und hat bei einem Versuchsschiessen 
auf 1800 m eine Wassersäule von 30 m Ba¬ 
sisbreite und Tio m Höhe aufgeworfen. Man 
will daraus schliessen, dass ein solches Ge¬ 
schoss eins der grössten Kriegsschiffe selbst 
noch auf 30 m Entfernung kampfuniähig 
machen könne. 

Wir sind' von Amerika schon seit vielen 
Jahren an derartige schreckliche Zahlen zu 
sehr gewöhnt, um uns sonderlich darüber auf¬ 
zuregen. Die Sache ist doch immer die, da$s 
man eben nicht mit 400 pferdigen Dampfma¬ 
schinen und grossen Kühleinrichtungen ins 
Feld oder vor Festungen rücken kann; sodass 
im besten Falle derartige Geschütze nur in 
ganz besonderen Ausnahmefällen verwendbar 
wären. Ausserdem will uns — namentlich 
im feindlichen Feuer — der Aufenthalt in 
einer derartigen amerikanischen Batterie we¬ 
sentlich gefährlicher erscheinen, als bei dem 
von ihr zu beschiessenden Feind! Endlich 
haben alle europäischen Artillerien so vor¬ 
züglich konstruierte Brisanzgeschosse, (d. h. 
Geschosse mit stark brisanten Sprengstoffen), 
die aber mittelst Pulverladungen verfeuert wer¬ 
den können, dass bei uns wohl Niemand .Tn 
derartig konstruierte Geschütze denkt, eben¬ 
so wenig, wie seiner Zeit an Zalinski’schc 
Dynamitkreuzer! 

Etwas anderes ist es schon mit einer an¬ 
deren pneumatischen Geschützkonstruktion, 
der 5 fws-Z)«rf/(ey-Kanone, die als Feldgeschütz 
konstruiert ist und ihrer Originalität halber 
hier nähere Erwähnung finden soll. Dieses 
Geschütz verfeuert nämlich hochbrisante 
Sprengstoffe zwar mit Pulver, ist aber inso- 


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642 


Vekänderungen und Fortschritte im Aktilleriewesen. 


fern doch pneumatisch, als zwischen das Pul¬ 
ver und das Gescho-s ein Luftraum geschaltet 
ist, der als elastisches Zwischenmittel den 
heftigen Stoss der Pulverladung gemildert auf 
das Gescliütz Obertrflgt. 

Man denke sich nämlich rechts und links 
neben dem eigentlichen Geschützrohr je ein 
weiteres Rohr. Im hinteren Teile des rechten 
der beiden wird die Pulverladung abgefeuert. 
Da nun dieses im vorderen Teile mit dem 
linken> und dieses wieder in seinem hinteren 
Teile mit dem hinteren Teile des Hauptrohres 
in Verbindung steht, so ist klar, in welcher 
Weise sich der heftige Stoss der Pulverladung 
ganz allmählich auf das im Hauptrohr befind¬ 
liche Geschoss überträgt. 

Eine ib cnl Sims-Dudley-Kanone verfeuert 
ein 14,5 kg schweres Geschoss mit 5,7 kg 
Sprenggelatine oder dergleichen und erreicht 
bei 210 m Anfangsgeschwindigkeit 2100 m 
Maximalschussweite. An diesem Geschoss ist 
speziell die komplizierte Konstruktion zu be¬ 
merken, die demselben gegeben ist, um seine 
Rotation zu sichern. Das Geschoss trägt 
nämlich vorn eine röhrenförmige Stange, die 
wiederum vorn Flügelansätze besitzt, auf die 
dann die Luft derart drehend wirkt, dass die 
Stabilität der Drehachse einigermassen ge¬ 
sichert wird. Unter diesen Umständen wird 
es wohl mit der Trefffähigkeit schlimm be¬ 
stellt sein, und was nützt das schönste Ge¬ 
schoss, wenn es wo anders hinfällt,’ als wo 
der Feind steht? 

Die kubanischen Insurgenten haben übri¬ 
gens eine 63 cm Sims-Dudley-Kanone im Ge¬ 
brauch gehabt und sollen die Ergebnisse aller¬ 
dings sehr grosse gewesen sein. 

Der Vollständigkeit halber wollen wir noch 
der ebenfalls in Amerika in Versuch befind¬ 
lichen Hurst-Kanonen Erwähnung thun, ob¬ 
gleich uns über deren Konstruktion nichts 
Näheres vorliegt. Sie sollen Dynamitgeschosse 
auf grosse Entfernungen in der Weise schleu¬ 
dern, dass die erste Bewegung des Geschosses 
im Rohr durch einen Bruchteil der Ladung 
erfolgt und erst, wenn diese Bewegung ein¬ 
geleitet ist, die Explosion der Hauptladung 
erfolgt. Man spricht von Schussweiten von 
8—11,5 englischen Meilen. Erfolge sollen 
aber noch ausstehen. 

Eine Versuchskonstruktion in England 
führt uns endlich zu einer dritten Sondergat¬ 
tung von Geschützen, den Drahtkanonen, 
denen wir einige Worte widmen müssen, um 
speziell auch deren Prinzip zu erläutern. Es 
ist in England eine 30,5 cm Drahtkanone 
konstruiert worden, welche, obgleich länger 
wie die gewöhnliche Kanone dieses Kalibers 
20 Tonnen (400 Zentner) leichter ist wie 
letztere, und ausserdem handlicher und ihr 


überhaupt überlegen ist. Sie besitzt die an¬ 
gesichts des sehr grossen Kalibers verhält¬ 
nismässig sehr bedeutende Feuergeschwindig¬ 
keit von I Schuss in iV* Minuten, die durch 
allerhand besondere Vorrichtungen, insbeson¬ 
dere automatisches Öffnen des Verschlusses 
nach dem Abschiessen erzielt wird. 

Der Gedanke der Drahtkanonen ist bereits 
viele Jahre alt, und stellt nichts weiter dar, 
als die in ihre äusserste Frequenz verfolgte 
künstliche Metallkonstruktion. Bekanntlich sind 
unsere modernen Rohre zumeist nicht einfache 
Massivrohre, sondern bestehen aus mehreren 
Lagen auf einander gezogener Ringe oder 
Mäntel, die im glühenden Zustande aufgezogen 
sind, sich beim Erkalten zusammenziehen und 
daher in unbeanspruchtem Zustande das innere 
oder Kernrohr zusammenpressen (Ring- oder 
Mantelrohre, „künstliche Metallkonstruktion“). 
Beim Schuss dehnt sich dann das innere Rohr 
aus und überwindet ^en ursprünglichen Druck 
der äusseren Lagen. 

Wenn nun auch die Widerstandsfähigkeit 
eines Rohres durch die Zahl der aufgebrachten 
Lagen steigt, so ergiebt doch die Rechnung, 
dass der Zuwachs an Widerstandsfähigkeit 
immer kleiner wird, während in der Praxis 
die Schwierigkeiten der Herstellung immer 
mehr wachsen, so dass sich bald eine Grenze 
von selbst ergiebt. 

Das vom Engländer Longridge erfundene 
System 'der I>rahtkaffilonen:.;bringt nun aufein- 
Kernrohr eine Drahtumhüllung in einer An¬ 
zahl von Schichten auf, deren Spannung beim 
Aufwickeln vollkommen gesetzmässig derart 
variirt wird, dass alle Schichten zur Bekämpf¬ 
ung des inneren Gasdrucks gleichmässig her¬ 
angezogen werden. 

Theoretisch jedenfalls sehr vollkommen, 
haften dem System doch Mängel an, die das¬ 
selbe trotz des langen Zeitraumes, der seit 
seiner Entstehung verflossen ist, doch noch 
keine grössere Verbreitung haben finden lassen. 

Das genannte englische Versuchsgeschütz 
ist aber nach demselben konstruiert und hat 
sehr befriedigt, so dass wir nicht unterlassen 
wollten, mit einigen Worten den leitenden 
Gedanken der Konstruktion zu erläutern. 

So reg auch auf all’ den anderen grossen 
Gebieten der Fussartillerie die Thätigkeit war, 
so beschränken wir uns darauf, die allgemeine 
Tendenz dieser Thätigkeit hervorzuheben, die 
durch Steigerung der Geschossgeschwindig¬ 
keit bei einzelnen Flachbahngeschützen, Ver¬ 
vollkommnung der Wurfgeschütze und weitere 
Verbesserung der Geschosskonstruktionen 
gekennzeichnet ist, nachdem wir der immer 
mehr Raum gewinnenden Schnellfeuer- und 
Schnellladegeschütze schon speziell gedacht 
hatten. 


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Veränderungen und Fortschritte jh Artilleriewesen. 


6^3 


Wir wenden uns nun zu den Änderungen 
in der Organisation der Fussartiüerie, die wir 
wie bei der Feldartillerie mit wenig Worten 
erledigen können, da Bemerkenswertes hier 
nicht zu verzeichnen ist. 

In Frankreich war bereits durch ein Ge¬ 
setz vom 25. Juli 1893 die Neuaufstellung 
zweier Fussartillerie-Bataillonc zu je 6 Bat¬ 
terien in Aussicht genommen worden, sobald 
die erforderlichen pekuniären und personellen 
Mittel hierzu vorhanden sein würden; von 
diesen 12 Batterien sind nun jetzt zunächst 
3 formiert worden, die dem sechsten Batail¬ 
lone zugeteilt worden sind, welches infolge 
dessen 9 statt 6 Batterien zählt. 

In Russland sind ein neues Belagerungs- 
Artilleriebataillon im Kaukasus und neue 
Festungsaitillerie-Kompagnien in Kars zur 
Aufstellung gelangt, wobei erläuternd bemerkt 
werden soll, dass Russland schon im Frieden 
die Festungs- und Belagerungs-Artillerie trennt 
und dementsprechend besondere Truppenteile 
beiderlei Gattungen unterhält, was man in 
anderen Militärstaaten nicht kennt. 

Was endlich die Taktik der Fussartillerie, 
ihre Verwendung im Kampf anlangt, so ist 
auch hier von besonderen neuen Erschein¬ 
ungen nichts zu berichten. Es wird auch 
hier stetig weiter gearbeitet und wer die ein¬ 
schlägige Litteratur verfolget, begegnet ein- 
gehen(kn)Eröriei?ungiea.iMHl Vorschlägen ttber^ 
Einführung neuer Geschütze und Änderungen 
in den gegenwärtig üblichen Formen des 
Festungskrieges. Als für weitere Kreise von 
Interesse dürfte aber hierbei lediglich hervor¬ 
zuheben sein, dass sich der Angriffsartillerist 
den ganz modernen Betonbauten und Panzern 
des Verteidigers gegenüber in einer ziemlich 
hülflosen Lage befindet, da er ihnen mit den 
jetzigen artilleristischen Mitteln einfach nicht 
mehr beikommen kann. Es hat sich z. B. bei 
Schiessversuchen gezeigt, dass der französische 
270 mm Mörser mit Brisanz-Granaten von 
200 kg Gewicht, (Sprengladung 66 kg Melinit!) 
gegen die neuen französischen Gewölbe keine 
Wirkung gehabt hat; ebenso erging es dem 
russischen 28 cm Mörser, der Geschosse von 
252 kg Gewicht, — dabei 72 kg Sprengladung 
— vergeblich verfeuerte. Man müsste also, 
um die neuen Gewölbe und GeschOtzpanzer 
zu durchschlagen oder wenigstens durch Er¬ 
schütterung ihres Unterbaues ausser Gefecht 
zu setzen, wahre Riesengeschütze konstruieren, 
die das feld- und kriegsmässige jedenfalls 
wesentlich überschreiten dürften. Da man es 
wohl nur mit wenig derart stark konstruierten 
Zielen zu thun haben wird, muss man sehen, 
wie man sich durch geeignete Taktik anders 
mit ihnen abfindet, oder man muss wieder, 


wie früher, mit Minen ihnen unterirdisch zu 
Leibe rücken. 

Es ist übrigens bemerkenswert, dass man 
immer mehr und mehr die Wichtigkeit grosser 
Festungsmanöver erkennt, und diese daher 
auch immer mehr in das alljährliche Übungs¬ 
programm hincinzieht. Dabei legt man die¬ 
selben in zweckentsprechender Weise nicht 
mehr blos so an, dass sich lediglich die 
technischen Truppen bekämpfen, sondern 
man gestaltet sie ‘durch Hinzugabe aller 
Waffengattungen zu wirklichen belehrenden 
Übungen im Ineinandergreifen aller Waffen 
zu gemeinsamem Zweck: Angriff einerseits, 
Verteidigung andererseits von Festungen. 

So haben im vergangenen Jahre in Frank¬ 
reich 3 tägige Festungsmanöver zwischen 
Montböliard und H^ricourt stattgefunden, bei 
denen die vereinigten Garnisonen von Beifort, 
Luce, Montb^liard und H^ricourt, unter Lei¬ 
tung des Gouverneurs von Beifort beteiligt 
waren und wobei der Zweck verfolgt wurde, 
den Einfluss der neuen Befestigung von Bei¬ 
fort zu prüfen. Ebenso ist von italienischer 
Seite bei Bologna ein Festungsmanöver ab¬ 
gehalten worden^ während in Österreich das 
grosse Festungsmanöver bei Przemysl das 
Interesse der weitesten Fachkreise erregt hat, 
sowohl durch die glückliche Anlage des ganzen 
Manövers, wie auch durch die energische 
Durchführung desselben und die infolge dessen 
gewonfhenen Ergebnisse. 

Loebell's Jahresberichte urteilen über das 
Manöver auf S. 389 wie folgt: 

„Diese Übung verfolgte einen ganz neuen 
Plan, indem sie nicht den ganzen Verlauf der 
Belagerung — und dieses Unternehmen 
scheitert stets an dem Mangel an Mitteln und 
Zeit, sondern nur die Periode umfasste, welche 
mit dem Artillerieaufmärsch beginnt, und dass 
sie ferner hierbei sprungweise nur die Haupt¬ 
momente herausgriff, diese aber zu ausseror¬ 
dentlich lehrreichen und anschaulichen Einzel¬ 
bildern gestaltete. Die Erfahrungen, welche' 
bei diesem Manöver gesammelt wurden, sind 
durch nichts Anderes zu ersetzen und wohl 
geeignet, die Fragen des Festungskrieges 
wesentlich zu fördern. Allerdings wird hier¬ 
bei am meisten die technische Frage gewonnen 
haben, in bei weitem Geringeren die der 
Leitung des Zusammenarbeitens der Waffen, 
weil diese infolge des Zusammendrängens der 
wichtigsten Momente zu wenig zur Geltung 
kommen konnte. Jedoch wird dieses in spä¬ 
teren Übungen nun leichter zu ergänzen 
sein, nachdem in den technischen Fragen be¬ 
stimmte Anhaltspunkte gewonnen wurden“. — 


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644 


BtLOW, Beobachtungen an Neugeborenen. 


Beobacbtuagen an Neugeborenen. *) 

Von Dr. E. Bclow. 

Neulich brachte ein Tageblatt interessante 
Beobachtungen über die erst spät nach der 
Geburt sich der Aussenwelt öffnenden äusseren 
Sinne gewisser Haustiere. 

Während das neugeborene Fohlen sich 
sofort auf seine vier Beine erhebt, etwas 
schwankt, dann aber gleich den Weg zur 
Mutter findet und den Saugapparat ergreift, 
liegen Hunde, Katzen u. a., auch der Mensch an¬ 
fangs noch hilflos da, wie taub und blind. 
Wie in jenem Aufsatz nachgewiesen wurde, 
zeigte der französische Forscher M6gnin deut¬ 
lich, dass die Gehörgänge bis zum 12. Tage 
beim Hunde, bis zum 9. Tage bei der Katze 
verklebt und verwachsen waren. 

Die Fortsetzung solcher Untersuchungen 
im grösseren Publikum wäre sehr erwünscht, 
um Material zu sammeln darüber, wie sich 
gewisse, vom Menschen leicht zu beobachtende 
Tiersorten wie Vögel und Vierfüssler (auch 
Aquariumtiere) hinsichtlich der Anwendung 
ihrer fünf Sinne, bald nach der. Geburt ver¬ 
halten, wobei auf genaue Zeiteinteilung nach 
Stunden und Tagen in den Berichten zu 
achten wäre. 

Es handelt sich hier nämlich um ein merk¬ 
würdiges Entwicklungsgesetz der stufenweisen 
Weiterbildung des zentralen Seelenorgans 
(Rückenmark und Hirn) in der organischen 
Wesensreihe, auf welches ich zufällig und 
beiläufig aufmerksam wurde im Jahre 1870 
im Laufe anderer Untersuchungen und auf 
welches auch der verstorbene Professor 
Du Bois-Reymond im Jahre 1887 die 
Gelehrtenwelt aufmerksam machte, indem er 
meine Korrespondenz mit ihm über diesen 
Punkt im physiologischen Archiv veröffent¬ 
lichte, um in dieser Richtung zur Weiter¬ 
forschung anzuregen. 

Um auch das Interesse des grossen Pu¬ 
blikums für die Sache zu gewinnen, wo 
ein Jeder Mitarbeiter sein kann, dem es Freude 
macht, Gewohnheiten Neugeborener zu be¬ 
obachten, will ich mich bemühen, in kurzem 


*) Es ist unser lebhafter Wunsch, dass unsere 
Abonnenten nicht nur die „Umschau“ lesen, son¬ 
dern sich auch an der Bearbeitung wissenschaftlicher 
Fragen, die in unseren Aufsätzen aufgeworfen werden, 
beteiligen. Wir empfehlen in diesem Sinne den 
nachstehenden Beitrag der freundlichen Aufmerk¬ 
samkeit unserer Leser. Herr Dr. Below behandelt 
hier ein höchst interessantes Problem, für dessen 
Lösung sich Du Bois Reymond lebhaft interes¬ 
sierte. Mitteilungen Ober Beobachtungen dasselbe 
betreflend, sind besonders erwünscht und werden 
von Herrn Dr. Below, Berlin, Potsdamerstr. 92, I. 
und von uns selbst mit Dank entgegengenommen. 
Das Resultat der Beobachtungsergebnisse soll s. Zeit 
in der „Umschau" veröffentlicht werden. 


klar zu machen, um welche wichtige Frage 
es sich hier handelt: 

Ziemlich allgemein verbreitet ist die irr¬ 
tümliche Anschauunig, als seien sämtliche 
Lebewesen so wie sie geboren werden, fertig 
und bis aufs Wachstum unveränderlich ein 
für allemal aus der Hand des Schöpfers 
hervorgegangen. 

Diese Anschauungsweise, welche alle Ver¬ 
schiedenheiten des einen Maschinchens vom 
andern gleichartigen einfach durch gewisse 
während des Lebens erworbene Erfahrungen 
und Angewohnheiten der einzelnen Lebewesen 
zu erklären sucht, heisst die empiristische. 

Dieser mehr oberflächlichen Anschauungs¬ 
weise gegenüber aber zeigt eine tiefer ein¬ 
gehende Naturbetrachtung, dass alle Typen und 
Arten, die geboren werden, ein Resultat ewiger 
allmählicher Umwandlungsprozesse bei Ahnen 
und Voreltern sind. Zwar wirken auf jedes Neu¬ 
geborene Umgebung und Lebensverhältnisse 
ein, so dass es selbständig neue Erfahrungen 
sammelt und sich danach anpasst, aber diese 
Art jder Anpassung ist schon vorher beein¬ 
flusst durch die im Zentrainervenorgan — der 
Seele — von den Voreltern wie in einem 
Samenkorn ein für allemal niedergelegten Re¬ 
sultate des Vorlebens der Rasse oder Art. — 
Diese Anschauung, welche im Neugeborenen 
keine Maschine, sondern einen Organismus 
im Kleinen sieht, wie für sie das AU ein be¬ 
seelter OrganiamüS' volh steter Weiterentwick¬ 
lung im Grossen ist, diese Anschauung, welche 
ausser der Teilseele des Einzelnen auch der 
Weltseele des Ganzen Rechnung trägt und 
den Keim nur als Etappe im ewigen Ent¬ 
wicklungsgänge dieses ewigen Lebensprozesses 
ansieht, diese Auffassung der Natur als eines 
beseelten, belebten Ganzen heisst im Gegen¬ 
satz zu jener empiristischen Anschauung, die 
alles auf Erfahrung des Einzellebens zuiück- 
führen wollte, die nativistische, weil sie die 
Geburtsobertragungen mit in Rechnung bringt. 

Der Streit zwischen beiden Auffassungen, 
der mechanischen und der organischen Physio¬ 
logie entbrannte noch lebhafter durch die 
berühmten Vorträge des geistvollsten aller 
Physiologen, Emil Du Bois-Reymond, Ober 
„ Leibnitzsche Gedanken in der modernen Natur- 
fbrschung“, wo erdurch Leibnitz’ „prästabilierte 
Harmonie“ beide Anschauungen zu versöhnen 
suchte und durch den epochemachenden 
Vortrag „über die Grenzen des Natur- 
erkennens", der mit dem „Ignorabimus“ 
schliesst, welches bedeutet: „Wir werden nie 
über das Begreifen rein mechanischer Vor¬ 
gänge mit unserer Erkenntnis hinauskommen*. 

Aber an dies Ignorabimus reihte sich ein 
Dubitemus, ein Cogitemus und ein Ergo 
Laboreinus. Zweifeln wir weiter, denken wir 


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BeLOW, ßEOBACHTU.NeEN AN NEUGEßORF.r^F>f. 


^45 


weiter, arbeiten wir weiter, das heisst: Ge¬ 
waltig gross ist darum noch immer das Feld, 
was das Ignorabimus unserer Gedankenarbeit 
übrig lässt und die Hoffnung ist nicht aus¬ 
geschlossen, dass unser geistiges Erkenntnis¬ 
vermögen nach Zweifeln, Denken und Arbeit 
wächst. 

Und dazu trägt jede, auch die einfachste 
Beobachtung jedes Laien ebensoviel bei, wie 
die des berufenen Forschers. Denn etwas 
vom Forscher hat Jeder in sich, dem Natur¬ 
betrachtung Freude macht. So steht Jeder, 
der aufmerksam ein Küchlein aus dem Nest 
kriechen und der ein neugeborenes Kälbchen 
aufstehen und zum Euter der Mutter laufen 
sieht, vor <j^r Frage: ist es Empirie oder 
Nativismusl Sollten da die Hirnzentren schon 
vorgebildet sein vor der Geburt und sind sie 
vielleicht bei den hilfloser Geborenen wie 
Mensch, Hund, Katze, Ratte noch nicht fertig 
vorgebildet und vervollständigen sich die 
betreffenden Zellen des seelischen Zentral¬ 
organs vielleicht bei diesen letzten Arten erst 
nach def Geburt? 

Dieses letztere nachzuweisen ist mir, wie 
oben angedeutet, bei Gelegenheit der Unter¬ 
suchung .des Gehirns eines sogenannten 
„Lithopädlons" vom Schaf (eines über die 
Zeit hinausgetragenen Schafsfötus) gelungen, 
der on^ abgekapselteny/> verhärletefn »Zustande- 
der Greifswalder Universität zur Untersuchung 
Obergeben wurde. 

Im Physiologischen Archiv von Du Bois- 
Reymond findet sich darüber Nachstehendes 
im 7. Heft vom Februar 1888 (Jahrgang 
1887/88): 

eHerr E. Du Bois-Reymond verlas 
Folgendes aus zwei Briefen (vom 19. Novbr. 
1887 und 5. Januar 1888), welche er von 
Herrn Dr. E. Below, Arzt in Mexiko, erhalten 
hat, und welche von dem verschiedenen Zu¬ 
stande der Entwicklung handeln, worin nach 
dessen älteren Beobachtungen die Ganglien¬ 
zellen *) des Gehirns bei verschiedenen neu¬ 
geborenen Tieren gefunden werden. — Bei 
Besprechung der nativistischen und empi- 
ristischen Theorie in Ihrer Rede über Leib- 
nitzsche Gedanken in der neueren Natur¬ 
wissenschaft fiel mir auf, dass der Rolle der 
Ganglienzellenentwicklung bei den hilflos und 
den weniger hilflos zur Welt kommenden 
Jungen keine Erwähnung geschah. Im Som¬ 
mer 1870 ermittelte ich über diesen Punkt 
Folgendes: 

Wenn man ;9fertige Ganglienzellen“ die¬ 
jenigen nennen darf, welche deutlich ausge- 

*) Die Nervenzellen, etwa wie Relais-Stationen 
in der elektrischen Telegraphenleitung, aufzufassen 
als Überträger und Vermittler der Willens-, Be- 
wegungs-, Empfindungs- und Reflex-Reize. 


bildeten Kern, Kernpünktchen und Ausläufer 
haben, so kommen hilflos geborene Junge 
mit unfertigen, dagegen die den Saugapp.'irat 
sofort aufsuchenden, aufstehenden, Itenim- 
laufenden, also weniger hilflos zur Welt 
kommenden Jungen mit fertig ausgebildeten 
Ganglienzellen zur Welt“. 

Zu diesem Ergebnis kam ich auf folgende 
Weise: 

Es fanden sich im Hirn dieses, ‘) über 
die Zeit ausgetragenen Fötus, der nie zur 
Welt gekommen wäre, „schöne fertige 
, Parkinjesche (GangHen-)Zellen“ in der Rinde 
des Kleinhirns. — Darauf machte ich unter 
Virchows Leitung eine Reihe Untersuchungen 
am Fötalgehirn vom Rind, Pferd, Schaf, 
Meerschweinchen, Kalb und von Hund, Katze, 
Ratte, Maus, Kaninchen und Mensch in den 
verschiedensten Stadien der Entwicklung. 

Es ergab sich eine gewisse Gesetzmässig¬ 
keit des fortschreitenden Entwicklungsganges 
der Hirnganglienzellen im Fötalleben: die 
Ganglienzellenentwicklung ist im Fötalgehirn 
am frühesten vorhanden im verlängerten Mark 
(wo es in das Gehirn eintritt) und am spätesten 
in der Grosshirnrinde. Sie schreitet fort vom 
„.verlängerten Mark“ zur Kleinhimrinde, dann 
nach dem Mittelhirn und zuletzt nach dem 
Grosshirn, der Ausbreitung der Rückenmark- 
stränge in das Gehirn folgend. 

Ich fand ferner, dass bei den hilfloser zur 
Welt kommenden (wie Mensch, Hund, Katze, 
Ratte, Maus, Kaninchen) die Ganglienzellen¬ 
bildung unvollendet ist zur Zeit der Geburt 
und noch kurz danach, dass dagegen die 
Gehirne der Föten von Pferd, Kalb, Schwein, 
Schaf, Meerschweinchen schon in früheren 
Fötalperioden, stets aber vor der Geburt in 
allen bezüglichen Hirnpartien (Medulla, Klein¬ 
hirn, Mittelhirn, auch schon in der Gross- 
hinrinde) fertige Ganglienzellenbildung zeigen. 
— Bei der Bedeutung, die man, ob Empirist 
oder Nativist, der Ganglienzelle als letzter 
Etappe auf der Forschung nach den letzten 
für uns erkennbaren Ursachen beilegen muss, 
kann doch wohl jenes Faktum, wenn es sich 
bestätigen sollte, nicht ganz ohne allen Wert 
sein. — — — “ 

Du Bois-Reymond mass ihr so hohen Wert 
bei, dass er auf Weiterführung der 1870 be¬ 
gonnenen und durch den Krieg unterbrochenen 
Untersuchungen drang. 

Leider hatte sich durch die Vergrösserung 
Berlins in den 25 Jahren, die Entfernung des 
Zentral-Viehhofs und verschiedene Weitläufig¬ 
keiten die Beschaffung des Hirn-Materials so 
erschwert, dass diese Arbeit für Einen allein 
nicht zu bewältigen ist, namentlich, wenn man 


‘) Es wird auf das Schatslithopädion verwiesen. 


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646 Vollmer, Aiv^gang der Galv er t s c iw» FoasanKSSEiSE im Innern Australiens. 


Ausdehnung der Untersuchungen auf alle 
möglichen Gattungen von Vögeln, Fischen, 
Amphibien und Beuteltieren bezweckte. Von 
Du Bois-Reymond wurde daher eine Preis« 
aufgabenstellung in Aussicht genommen, um 
Viele dafür zu interessieren. 

Aber nicht allein Forschungen des Labo¬ 
ratoriums, auch Privatbeobachtungen von Laien 
könnten für die interessante und wichtige 
Frage der Sinnesentwicklung kurz nach der 
Geburt Bedeutendes leisten. Wenn Jeder, der 
ein Aquarium hat, bei der Geburt neuer kleiner 
Lebewesen diese auf ihre Empfänglichkeit für 
Farben- und Gefühlsreize prüfte durch Be¬ 
obachtung, wie sie auf nahegebrachte Reize 
reagieren, könnte viel Wichtiges durch der¬ 
artige Berichte in Zeitungen, die es gerne 
nehmen würden, zu Tage gefördert werden. 

Nicht allein Frosch-Padden, auch Larven, 
verpuppte Schmetterlinge, würden zu prüfen 
sein auf ihre frühesten Reaktionen gegen Reize, 
die man ihnen nahe bringt. Und der Land¬ 
wirt wird immer Gelegenheit haben, zu sehen, 
wie sich ein neugeborenes Tier benimmt, wenn 
cs Juch der Mutter sucht, und wenn ihm 
Neues dabei entgegentritt, was das junge, er¬ 
fahrungslose Gehirn nicht ahnen und verstehen 
kann und Wfts es dennoch in richtigem Instinkt 
als Hindernis überwindet oder als Hilfe ent¬ 
gegennimmt und sich zu Nutze macht. Denn 
das, was wir bisher immer „Instinkt“ zu 
nennen gewohnt waren, ist das Resultat der 
Scelenthätigkeit der Vorahnen, die im Keime 
dieses neugebildeten Gehirns schon vorhanden 
sind, wie in dem Samenkorn, einem Stückchen 
Stärkemehl, die Eigenschaft ruht, eine wohl¬ 
gebildete Pflanze derselben Gattung hervor¬ 
zubringen, auch wenn es Jahrtausende zwischen 
Schutt und Steinen bei ägyptischen Mumien 
vergraben war. Jeder Laie ist hierdurch auf¬ 
gefordert , an der Enthüllung von diesem 
heiligsten aller Mysterien sich zu beteiligen. — 


Der Ausgang der Calvertschen Forschungsreise 
im Innern Australiens 1896197. 

VoQ Dr. A. VOLLMBR. 

(GlobuR vom 91 . August 1897). 

Im vorigen Jahre rüstete A. F. Calvert in Perth 
eine Expedition unter Führung von L. A. Wells aus. 
Sie bestand aus 5 Europäern, unter denen der 
Vetter des Führers, Charles Wells, ein erfahrener 
Buschmann, und ein junger Geologe, Georg L. Johns, 
waren, verschiedenen Schwarzen und Afghanen zur 
Pflege der 18 Kamele; sie hatte die Aufgabe, die 
drei Routen von J. Forrest {1874), Warburton 
(1873/74), Giles (1875 76) in nordöstlicher Richtung 
von Süden nach Norden zu durchkreuzen. Mitte 
November 1896 kam Wells mit der Hälfte der 
Expedition in der Gegend des Fitzroyflusses an. 


Unterwegs hatte maa stell ^rtreanC da Charles 
Wells und Johns mit einem Schwaram <mi. drei 
Kamelen einen westlichen Abstecher unternahm aaf^ 
sich bei Jonnna Springs mit den anderen wieder 
treffen wollte. Da beide Parteien aber Joanna Springs 
nicht erreichten, Wells wegen der furchtbaren Hitze 
und des grossen Wassermangels schleunigst vor¬ 
wärts eilen musste, so trafen sie nicht wieder zu¬ 
sammen, und als er nun ohne seine Freunde am 
Fitzroyfjusse herauskam, war es seine wichtigste 
Aufgabe, den Zurückgebliebenen zu Hülfe zu eilen 
und sie aufzusuchen. Nachdem verschiedene Ver¬ 
suche im Anfänge dieses Jahres fehlschlugen, 
wurden endlich im Mai die Leichen der beiden Zu- 
fückgebliebenen in der endlosen Wüste aufgefunden, 
worüber einige Telegramme Näheres mitteiltcn. 

Im Mai telegraphierte L. A. Wells aus Derby 
in Westaustralien: Die Gesellschaft •efindet sich 
wohl, und das Aufsuchen w'ar teilweise erfolgreich, 
aber ungenügend. Wir verliessen am 30. März die 
Gregorystation mit dem Naturforscher Keartland, 
Trainer, Bejah und zwei Eingeborenen Wandy 
und Dick, ferner einem Eingeborenen Peter, der 
einen früher telegraphierten Bericht nach Gr^ory 
brachte. Wir reisten den Merima Creek aufwärts 
nach Mt. Arthur und weiter 50 Meilen in südöstlicher 
Richtung. Peter fand hier einige Eingeborene, die 
die Wahrheit des früheren Berichtes leugneten und 
nur von Wells früheren Zügen durch ihr Land 
wissen wollten. Ich bewog mit Peters Hülfe zwei 
derselben, mitzukommen zum nächsten Kammara¬ 
stamme. Sie fürchteten ihr Land zu verlassen, doch 
versprach ich ihnen Je ein Beil, wenn sie mir einen ^ 
Kammaraschwarzen verschafften, und zugleich jeden 
Kammaraschwarzen zu fesseln oder zu schiessen, 
den wir fänden, da ich nur die weissen Männer 
finden wollte. 

Wir fragten andere Eingeborene, die wir trafen, 
die aber offenbar nichts von den Weissen wussten. 
Am 18. April musste ich die Kamele an einer 
Quelle ruhen lassen und vier Eingeborene kamen 
an. Ich sah, dass einer von ihnen ein Kleidungs¬ 
stück um den Leib trug, das ich als zu meines 
Vetters Hose gehörig erkannte, nahm es und einer 
von ihnen sagte?'„Tot, Weisser“, und wies dabei 
nach Südwesten. Ich fragte sie, ob einer tot sei, 
und sie verbesserten mich, indem sie sagten „zwei 
tot", wiederholten das oft und wiesen nach Sfld- 
westen. Auch versuchten sie zu erklären, dass nur 
Knochen da seien, nichts von den Leibern übrig 
sei. Keartland gab ihnen ein Tuch für das Zeug, 
keiner konnte ein Wort Englisch. Abends wollten 
zwei Kammaraleute mich zu den Toten führen, ich 
gab daher den beiden anderen ein Beil und ein 
Messer und schickte, wie sonst, alle aus dem Lager, 
mit der Auffordening, morgens wieder zu kommen. 
Am II. April fand ich, dass alle nachts we^elaufen 
waren und hörte nichts mehr von ihnen, so dass 
ich argwöhnisch wurde, sie fürchteten sich, mir die 
Stelle zu zeigen. Am 12. April zog ich in der ge¬ 
wiesenen Richtung 17 Meilen weit, am 13. noch 
9 Meilen weiter, indem ich über meine Wegspur 
vom Oktober kam, ohne weiteres zu bemerken. — 

Dann änderte ich meinen Kurs in südöstlicher 
Richtung und traf nach 8 Meilen eine frische Ein¬ 
geborenenspur. Vier bis fünf derselben lagerten 


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Ziehen, Zur Geschichte des Leiirci dxitifs. 


eine Meile weiter. Ich liess Keartland und Trainer 
im Lager und ging zu Fuss mit Bejah und zwei 
unbekleideten Schwarzen. Auf dem letzten Sand- 
hQgel fand ich eine geologische Karte von West- 
Australien, die ich meinem Vetter einst gab, und 
auf der Ebene 15 Ketten weiter zwei Schwarze 
stehend mit einigen anderen unter einem Baume. 
Auf mein Rufen kamen sieben derselben mit 
Speeren, Eoomerangs und Waddies bewaffnet und 
forderten uns zum Kampfe heraus. Bejah wurde 
erregt und wünschte zu schiessen, so dass die an¬ 
deren sagten; „Sieh, Boss, er ist zornig". Ich liess 
Bejah und die anderen zurück, ging vor und gab 
ihnen ein Zeichen, die Waffen niederzulegen. Sie 
weigerten sich, bis ich zu ihnen ging und ihre 
Speere fasste, worauf sie mein Gewehr zu ergreifen 
suchten. Bejah kämpfte mit dreien; ich sah im 
Lager zwei emaillierte Teller, einen Topf, meines 
Vetters Beil mit einem F gezeichnet, das er selbst 
vor unseren Augen in den Griff eingebrannt hatte, 
und anderes. Die Eingeborenen w’eigerten sich, 
uns zu antworten und hiessen uns gehen, obschon 
ich versuchte, sie durch Versprechungen in unser 
Lager zu locken, so dass wir wieder nach,Derby 
zurOckkehren mussten. — Vom 10. Juni: „Am 

10. Mai verliessen wir Derby aufs neue, kamen am 

11. auf Gregorystalion an, trafen hier Polizeiinspektor 
Örd mit Pferden uhd Bejah mit Kamelen. Unser 
Trupp, bestehend aus mir, Ord, Trooper, Nicholson, 
zwei schwarzen I^fadfindem, vier Pferden, Sandy, 
Bejah und Kamelen, zog am 14. über Mt. Arthuran die 
Stelle, wo die toten Weissen liegen sollten. Auf 
einer neuen Spur kamen wir nach Ngowaddapä und 
Ktügä’ tTgärih‘e,'''än '6irle’*SteITe '14 Meilen nordhörd-'^ 
östlich von Joanna Springs. Am 24. Mai gingen 
Sandy und Bejah mit einem Kamel nach Joanna. 
Ich selbst, Ord, Nicholson zogen bei 55® Hitze R. 
einer Stelle zu,- wo am vorigen Tage Rauch ge¬ 
sehen war, trafen einige Eingeborene in ihrem 
Lager und fanden Eisen von einem Kamelreitsattel, 
das von Weissen her rühren sollte, welche die Sonne 
tötete. Die Eingeborenen weigerten sich mitzugehen, 
bis ihnen Handfesseln angelegt wurden und ver¬ 
suchten alles, den Gang nach Joanna Springs zu 
vermeiden. Nach eintägigem Aufenthalt daselbst 
zogen wir in westlicher Richtung weiter 12 Meilen, 
bis zu einer Anhöhe mit guter Aussicht. Da die 
Eingeborenen sich immer noch weigerten, die Stelle 
zu zeigen, wo die toten Weissen lagen, mussten 
härtere Massregeln angewandt werden. Dann 
führten sie uns 5 Meilen in südöstlicher Richtung, 
fernere 2 Meilen südwestlich an eine Stelle, 6 Meilen 
von dem Brunnen, wo ich im April die Sachen 
fand, 20 Ketten nordwestlich von meiner ;Spur, 
zwischen Brunnen und Joanna Springs. Hier lagen 
die Toten. Ich erkannte Vetter Charles an Bart 
und Zügen, da die Haut an Gesicht und Körper 
vertrocknet war. Er lag unter einem einsamen 
Gummibaum auf einem Sandhügel. Auch Jones’ 
Überreste fanden wir. Der Körper war offenbar 
mit Sand bedeckt von Charles, der dann zu dem | 
Baume gegangen war, um selbst den Tod zu er¬ 
warten. Die Schwarzen hatten alles Brauchbare 
weggetragen. Wir fanden nur noch Teile von 
einem Kamelpacksattel, einen Reilsattel, einen Leder¬ 
beutel, Jones’ Kompass, Gebetbuch, Zinnbüchse, Me- 


647 


dizin, Journal und einen Brief an seine Eltern, aber 
keinen Plan oder Brief von Vetter Charles; alle Ge¬ 
wehre waren gestohlen. Jones’ Tagebuch war nur 
neun Tage lang nach unserer Trennung bei Sepa¬ 
rationbrunnen geführt. Danach waren sie in 4*/* 
Tagen 81 Meilen -weit ntarschiert, dann 13 Meilen 
nordöstlich, dann ohne weitere Angaben südöstlich 
wieder zum Separationbi unnen. Das Tagebuch er¬ 
zählt von der furchtbaren Hitze, von dem Fehlen 
allen Futters für die Kamele; auch klagt Jones, 
dass sie vergeblich nach Wasser gesucht hätten 
und er sowohl wie Charles sich krank fühlten. Nach¬ 
dem sie fünf Tage am Separationbrunnen geruht 
hatten, zogen sie auf Spuren weiter, bis ein Kamel 
starb und sie nach kurzem Fussmarsche erschöpft 
wurden. Am Platze, wo die Leichname gefunden 
wurden, verloren sie auch die anderen Kamele und 
fanden sich zu schwach, ihren Spuren zu folgen. 
Als er sein Journal schrieb, hatten sie nur noch 
zwei Quart Wasser, das wohl für ihre kurze Lebens¬ 
zeit ausreichen würde. Der Brief ist ohne Datum, 
doch da sie am 23. Oktober vom Separationbrunnen 
fortzogen, nachts reisten und so Wells Spur ver¬ 
loren, müssen sie in 15 Tagen den Platz erreicht 
haben, wo sie ihrem Schicksal erlagen, also am 
8, November. Die Leichen wurden in Särge gelegt 
und werden nach Adelaide gebracht werden. Die 
Kamele befinden sich wohl. Das in Oakover ge¬ 
fundene Kamel ist ohne Zweifel Jones’ Reitkamel. 
Der Eingeborene, den ich im April mit einer Arm¬ 
wunde sah, schoss sich selbst, als er das geladene 
Gewehr handhabte. Polizeiinspektor Ord machte 
überall auf der Reise photographische? Aufnahmen, 
die wohl von wissenschaftlichem Nutzen sein werden. 
Als wir die Eingeborenen, die wir fingen, entlicsien, 
gaben wir ihnen Geschenke und schieden von ihnen 
als gute Freunde." — 

Mit den beiden Verunglückten ist die Zahl der 
kühnen Männer, die, wie Leichhardt, Kennedy, 
Burke, Wills u. a., in der australischen Forschungs¬ 
geschichte ihr Leben Hessen, um zwei vermehrt, und 
nur gezeigt worden, dass der Landstrich, durch den 
sie zogen, eine vollständige Wüste ist, in der ein¬ 
zelne Wasserlöcher, auch wohl eine Quelle sich 
vorfanden, an der einige halbverhungerte Einge¬ 
borenenstämme ihr trauriges Dasein fristen. Aber 
nur durch solche Züge wurden die grossen austra¬ 
lischen Goldfelder, wie Coolgardie, entdeckt und die 
Frage beantwortet, ob diese Landstriche durch ar¬ 
tesische Brunnen gang- und nutzbar zu machen 
sind, abgesehen von den wertvollen Entdeckungen 
auf dem Gebiete der Fauna und Flora, die alljähr¬ 
lich noch gemacht werden. — Gerade in letzter 
Zeit haben die Nachrichten von grossen Goldfunden 
in der Mine Bagleys Rewardt, Blair Atholmine, 
Gerilla Grube, Queen of Earth bei Coolgardie (W. A.) 
die Gemüter Australiens erregt und so wird es auch 
trotz der Opfer nicht leicht an freiwilligen Forschem 
in Zukunfi fehlen. 


Zur Geschichte des Lehrgedichtes. 

Das Lehrgedicht! — Den Menschen unserer Tage 
kommt es wie ein leises Grausen an, wenn er den 
Namen hört; endlose, Langeweile, verwerflichster 
Missbrauch der Dichtkunst, das sind die Vorstell- 


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SetrachtüngEn ünd kleine Mitteilungen, 


6 [8 


ungen, die sich Hlr uns heutige Menschen mit dem 
Begriffe des Lehrgedichts verbinden, und nirgends¬ 
wo wird uns Geschmack und Bemühung früherer 
Zeiten weniger verständlich als gerade bei dieser 
Gattung poetischer Produktion. Das i8. Jahrhundert 
ist das goldene Zeitalter der Lehrdichtung: es lässt 
sich eine ergötzliche Zusammenstellung von Titeln 
didaktischer Gedichte dieser Zeit gebep, die deut¬ 
lich zeigt, dass Alles, einfach Alles ftlr brauchbaren 
Stoff solcher Dichtungsart gehalten wurde; und da¬ 
neben die dichtenden Persönlichkeiten! Friedrich 
der Grosse schreibt an seiner „Kriegskunst“ in 
Versen, Kant will durch Herder als seinen Pope 
die Schwerfassbarkeit seiner Lehren gemildert ha¬ 
ben, Gelehrte aller Fächer setzen den Kern ihrer 
Wissenschaft in Versen auseinander — ganze 
Schränke sind zu fiSllen mit der uns so ungeniess- 
baren, von den Zeitgenossen aber schwärmerisch 
bewunderten poetisch - didaktischen Litteratur, die 
trotz Leasings und anderer Kritiker Einrede über 
1806 hinaus üppig ihre Blüten trieb. 

Wenn die Litteraturgeschichte dem Auftreten 
des Lehrgedichtes in verschiedenen Geschichts¬ 
epochen, seinem gänzlichen Verstummen zu anderen 
Zeiten mit wirklichem Verständnis nachgehen will, 
so muss sie sich die Forschungen der Poetik, der 
Lehre vom dichterischen Schaffen, dienstbar machen; 
ich vermisse in unseren litteraturgeschichtlichen 
Darstellungen die Heranziehung dieses unentbehr¬ 
lichen Hilfsmittels, durch das die sonderbare Ge¬ 
schichte des Lehrgedichtes allein begreiflich ge¬ 
macht werden kann: Wo man der didaktischen 
Poesie näher nachgehen, ihre Lebensbedingungen 
und Lebenszwecke klarer erkennen kann, da ist 
Popularisierung wissenschaftlicher oder lernbarer 
Dinge die Aufgabe, die sie ins Leben ruft und ihre 
Formen bestimmt; im 3 inne solcher Popularisier¬ 
ung sind die Paraphrasen alt- und neutestament- 
licher Erzählung entstanden, in denen die altchrist¬ 
lichen Dichter die Anziehungskraft und Einprägbar- 
keit der biblischen Prosaberichte -erhöhen wollen; 
in demselben Sinne dichtete der Römer Serenus 
Sammonicus sein medizinisches Lehrgedicht, — als 
blosse „Spielerei eines formgewandten Mannes", 
wie ein Litterarhistoriker es genannt hat, w’ürde es 
ein Monstrum sein — und in demselben Sinne end¬ 
lich, um ein Beispiel aus einem ganz anderen Lit- 
teraturgebiet heranzuziehen, entstand von 1650 bis 
1800 ein Lehrgedicht nach dem andern über Auf¬ 
gaben und Ausdrucksmittel der bildenden Kunst. 
Wenn die litteraturgeschichtliche Forschung ftlr die 
Beurteilung des Lehrgedichtes diesen Gesichtspunkt 
festhält, wird sie vor falschen Einreihungen ge¬ 
sicherter sein, als sie es bisher ist; Teuffel bezeich¬ 
net in seiner Geschichte der rölnischen Litteratur 
das schöne Reisegedicht des Nutilius Mamatianus 
als Lehrgedicht — der Zweck der kleinen Dicht¬ 
ung scheint mir damit völlig verkannt zu sein; ein 
anspruchsloses Erinnerungsbild beinahe lyrischen 
Charakters dürfte das Werk viel eher zu nennen 
sein. Es handelt sich hier nicht um einen blossen 
Streit um den Namen: vielleicht wird der Kern der 
Sache durch eine Nebeneinanderstellung zweier 
berühmter „Reisegedichte" der englischen Litteratur 
klarer: Byrons Harald gehört, wie unermesslich er 
dem eben besprochenen Werk des römischen Dich¬ 


ters überlegen sein mag, der Gattung lyrischer 
Dichtung an, die Italy seines Zeitgenossen Rogers 
hingegen ist ein Lehi^edicht. Als kleiner Beitrag 
zur Poetik kann die vorstehende Betrachtung viel¬ 
leicht von Nutzen sein. 

Julius Ziehen. 


Betrachtungen und kleine Mitteilungen. 

Das Darwinsche Spitzohr. Nicht allzu selten 
findet sich am äusseren um^ebogenen Rande der 
menschlischen Ohrmuschel, ziemlich weit oben, eine 
kleine Verdickung, etwas seltener schon läuft d ese 
nach innen zu in eine mehr oder minder deutliche 
Spitze aus. Darwin machte zuerst auf deren wahr¬ 
scheinliche Bedeutung, als letzten Rest der beweg¬ 
lichen Ohrspitze unserer tierischen Vorfahren, auf¬ 
merksam. Später wurde, besonders von anthropo¬ 
logischer Seite, diese Deutung bekämpft, während 
sie von anatomischer Seite auf Grund entwicklungs¬ 
geschichtlicher Untersuchungen als richtig erkannt 
wurde. Jetzt hat H. M. Wa 11 i s die Frage von einer 
vei^leichend-amorphologischen Seite aus ebenfalls 
bejaht zu Gunsten der Ansicht Darwins. Es war 
ihm aufgefallen, dass kleine Kinder häufig auf der 
Rückseite der Ohrmuschel Haare haben, die nicht 
alle in gleicher Richtung laufen, sondern die sich 
an dem Orte, wo die Darwinsche Spitze sich findet, 
bezw. sich finden müsste, kreuzen, Indem die oberen 
von hinten-oben nach vorn-unten, dje unteren von 
hinten-unten nach vöm-oben stehen. Bei Erwachse¬ 
nen sind diese Haar« auch, obwohl seltener, vor¬ 
handen. Wallis untersuchte nun Affen und konnte 
feststellen, dass die Haare genau so zu der Ohr- 
spitze gestellt sind, wie beim Menschen, was als 
ein Beweis für die Gleichartigkeit beider Bildun¬ 
gen aufgefasst werden dürfte. Eine Ausnahme 
machen nur die Menschenaffen, bei denen das Ohr 
hinten nackt und so anliegend ist, dass es von der 
Kopfbehaarun^ verborgen wird. Dies ist nun ein 
weiterer Beweis dafür, dass wir die Menschenaffen 
nicht als unsere direkten Vorfahren betrachten 
dürfen, sondern nur als einen Seitenzweig unseres 
phylogenetischen Stammbaumes (siehe Umschau 
Wr.3). (Proc. zool. ^c. London 1897 Pt. a.) Reh. 

• « 

• 

Über den Wert der Prämien-Ausschreibung 
für die Vertilgung schädlicher Tiere hat T. S. 
Palmer, erster Assistent an dem Departement für 
Landwirtschaft, biologische Abteilung der Ver. 
Staaten, Untersuchungen und eingehende statistische 
Erhebungen angestcllt (Yearboofe U. S. Dept. Agric. 
for 1897), wobei er zu recht eigenartigen Ergeb¬ 
nissen gelangte: Die Gesetzgebung für Prämien be¬ 
steht in den Vereinigten Staaten seit mehr als a'/g 
Hundert Jahren. Belohnungen wurden ausgegeten 
für grosse Tiere (Wölfe, Bären, Panther), kleine 
Tiere (schädliche Nager) und einige Vögel (Krähen, 
Sperlinge, Habichte, Eulen). Im letzten Vierteljahr¬ 
hundert wurden 3,000,000 Doll, ausgegeben, und 
die Ausgaben scheinen im Zunehmen zu sein. Ein¬ 
zelne Gesetze veranlassten in weniger als a Jahren 
die Ausgabe von fast 200,000 Doll., und jedes Ge¬ 
setz, das eine genügend hohe Belohnung ausschreibt, 
kostet jährlich 5—20,000 Doll. Folgende pnwürfe 
wurden dieser ganzen Gesetzgebung seither ge¬ 
macht: Die Ausgaben stehen in keinem Verhält¬ 
nisse zu dem erreichten Nutzen; man kann weder 
in allen Verbreitungsgebieten der betr. Tiere gleiche 
noch überhaupt zu jeder Zeit Belohnungen aus? 


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Betrachtungen und kleine Mitteilungen 


649 


setzen; es ist unmöglich zu verhindetn, dass Prä¬ 
mien bezahlt werden ftir aus andern Staaten ein- 
geführte Tiere. Die Prämien "haben nicht die Ver¬ 
tilgung auch nur einer Tierart herbeizuflJhren ver¬ 
mocht, weder in den Ver. Staaten, noch auf der 
nur 20 Quadratmeilen (engl.) messenden Insel Ber¬ 
muda. Die Prämien für grosse Tiere haben ver¬ 
hindert, dass diese häuhg werden, die für kleine 
haben wenig oder nichts genützt, und durch die für 
Vögel sind auch viele nützliche Vögel aus Unkennt¬ 
nis getötet worden. Die Ausrottung schädlicher 
Tiere geht gewöhnlich langsam vor sich und kann 
besser erreicht werden durch die Massnahmen der 
einzelnen Landbesitzer, als durch gesetzmässige 
Aufwendung öffentlicher Gelder. Reh. 

• • 

• 

Über die elektrischen Eigenschaften von 
Haaren und Federn. Seit vielen Jahren ist es 
allgemein bekannt, dass Haare besonders leicht 
el^trisch werden. Es giebt Menschen, an deren 
Haaren das Kämmen mächtige elektrische Ladun¬ 
gen erzeugt. Es kann zu Funken kommen, deren 
Überspringen man hört und im Dunkeln sieht; die 
Haare stossen sich wegen der Ladung mit gleich¬ 
namiger Elektrizität gegenseitig so kräftig ab, dass 
sie sich sträuben.') Auch die Federn findet man in 
der Regel elektrisch; es genügt, eine geriebene 
Siegellackstange den Federn eines Damenhutes zu 
nähern, um gewöhnlich Abstossung oder Anziehung 
derselben erkennen zu können, was auf elektrische 
Ladungen negativer oder positiver Art zurückzu¬ 
führen ist. Bei der grossen Verbreitung von Haaren 
und Federn im Tierreiche drängt sich nun die 
Frage auf, ob die Elektrizität im Haushalte des 
Tieres, in dessen Haar- oder Federkleid sie haftet, 
auch eine Rolle spielt. Diese Frage hat S. Exner 
durch eine Reihe von Untersuchungen an Tieren 
aller Art zu prüfen gesucht (Pflügers Archiv f. d. 
ges. Physiologie, Bd. 61 u.363) und gefunden, dass 
Haare und Federn in ihrem oberen Teile eine weit 
grössere Neigung haben, positive Ladung anzu¬ 
nehmen, als in dem der 'Haut näher gelegenen. 
Flaumhaare und Flaumfedern werden negativ 
elektrisch, wenn sie an Deckhaaren resp. an Deck- 
federn sich reiben, die letzteren dagegen positiv. 
Die biologische Bedeutung der elektrischen Eigen¬ 
schaften dieser Hautgebilde sieht Exner nun darin, 
dass sie eine gleichmässige Anordnung und Ver¬ 
teilung des Haar- und P'ederpelzes bewirken, die 
einerseits eine Sch'cht von schlechter Wärmelekung, 
andererseits eine dichte, gegen Wasser und mancher¬ 
lei Insekten schützende oberflächliche Lage der 
derberen Horngebilde über der Haut schaffen. Die 
Vogelfedern, besonders die Schwanzfedern, laden 
sich, durch die Luft’ geschwenkt, mit positiver 
Elektrizität: dasselbe tritt ein, wenn der Vogel seine 
Federn durch den Schnabel zieht oder an den Bart¬ 
haaren vorbeifOhrt. Gewisse Gewohnheiten der 
Tiere, z. B. das Schütteln des ganzen Gefieders 
oder Pelzes, die Bearbeitung der Federn mit dem 
Schnabel, das sog. Putzen des Pelzes, scheinen dem¬ 
nach nicht nur der Reinlichkeit halber zu geschehen, 
sondern vielleicht auch eine, mit der Erneuerung 
oder Verstärkung der Ladungen zusammenhängende 
biologische Bedeutung zu haben, über deren Wert 
wir allerdings nur Vermutungen ansiellen können. 
Die Ladung des Flaumes mit Elektrizität dient nach 
Exner dazu, jedes Härchen aus den untersten 


*) Die Haar-Entzandungeo, welche beim Waschea des Haares 
mit Petroleum • Spiritus wiederholt vorKekomniea sind, (jüngst 
wieder in London) erklärt Lord Kelvin mit den elektrischen 
EigenschaAen des Haares. Da Petroleum-Spiritus sich sehr 
schnell verflüchtigt, entsteht bei Anwendung desselben ein leicht 
explosibles Gemenge, zu dessen Entzündung ein ganz schwacher 
elektrischer Funken ausreiebt 


Schichten eines Pelzes, ebenso Jedes kaum oder 
nicht mehr mit freiem Auge sichtbare Strählchen 
aus dem Federpelz von seinen Nachbarn zu isolieren, 
also möglichst frei zu stellen und eine gleichmässige 
Verteilung des Flaumes zu erzielen. Wer Federn 
auf dem Hute trägt, kann bemerken, dass die feinen 
Strahlen des Flaumes beim Regen zusammenklcben, 
um, sobald sie wieder trocken sind und dann vom 
Winde oder auf andere Weise bewegt werden, 
die alte Schönheit und die zierliche Verteilung der 
feinen und feinsten Strahlen wieder anzunehmen. 
Die nassen Federn, in den Kasten geleg^t, bleiben 
unförmlich, so lange sie nicht bewegt werden, wie 
Ja unsere Damen wissen. Die schöne Ordnung 
wird durch die Elektrizität wieder hergestellt und 
wo die sie erzeugende Reibung ausbleibt, stellt sich 
auch die alte Zierlichkeit nicht wieder her. Die 
tierischen Hautgebilde sind nach Exner an das po¬ 
sitive Ende der Spannungsreihe zu stellen und 
zwar in der Reihenfolge: 1) Haare, 2) Federn. 

F. ROmer. 


Die Bildung der Stassfurte^ Salziger. Neben 
Steinsalz und Karnällit, dem wichtigsten Rohpro¬ 
dukt für Kalisalze, finden sich in den mächtigen 
Stassfurter Salzlagern noch eine grosse Menge der 
verschiedensten Salze, deren wesentliche Bestand¬ 
teile Chlorkalium, Chlorcalcium, Chlonnagnesium, 
schwefelsaures Magnesium, schwefelsaures Natrium, 
schwefelsaures Kalium sind, die in den verschie¬ 
denen Lagen in verschiedenen Mengenverhältnissen 
zu Doppelsalzen verbunden sich finden. Man hat 
diesen natürlichen Doppelsalzen bestimmte Namen 
gegeben, z. B. heisst das Doppelsalz aus schwefel¬ 
saurem Magnesium und schwefelsaurem Kalium 
Schönit, ein Salz aus zwei Teilen Chlormagnesium, 
einem Teil Chlorcalcium und 12 Wasser heisst Tach- 
hydrit u. s. f. — Die Einzelbestandteile der Stass¬ 
furter Salzlager finden sich sämtlich auch im Meer¬ 
wasser, es ist also kein Zweifel, dass die Stass¬ 
furter Salzlager ozeanischen Ursprungs sind. Lässt 
man Jedoch Meerwasser verdunsten, so erhält man 
nie und nimmer die eigentümlichen Doppelsalze, 
die in Stassfurt sich finden. Van t’ Hoff, sowie 
Bakhuis Roozeboom und deren Schüler unter¬ 
suchen schon lange die Bedingungen für die Bild¬ 
ung und den Zerfall der Doppelsalze im allgemei¬ 
nen und in neuerer Zelt speziell der Stassfurter 
Vorkommen.*) Weiss man, unter welchen Beding¬ 
ungen sie existieren oder sich gebildet haben kön¬ 
nen, so ist ein grosser Schritt für die Erkenninis 
der Entstehung dieser merkwürdigen Lager ge¬ 
schehen. — Als Beispiel sei der oben erwähnte 
Tachjiydrit angeführt. Er ist eine der letzten Stufen 
der oceanischen Salzausscheidung, er enthält die 
leichtest löslichen Bestandteile des Meerwassers. 
Versuche haben ergeben, dass er sich nicht unter 
einer Temperatur von 21,95" gebildet haben 
kann. Die Temperatur der Lösung, aus der er 
sich herausgeschieden hat, muss also mindestens 
21,95 , kann aber auch wesentlich höher gewesen 
sein, denivTachhydrit bildet sich noch bei 167'. b. 


Eine der wichtigsten Aufgaben im Eisenbaho- 
verkehrswesen ist die Sorge dafür, dass der ge¬ 
samte Watrenpark für den Güterverkehr, der be¬ 
kanntlich die Haupteinnahmequelle der Eisenbahnen 
bildet, soweit als möglich stets umläuft und dass 
seine Verteilung dem jeweiligen Bedarf entspricht. 
Im preussischen Staatsbahnnetz erfolgt die Verteil¬ 
ung der Wagen auf die vier grossen Verkehrs- 


I I) Sitzungsbericht« der Berliner Akademie 1897 S. 69, 137, 
1 487 und 508. 


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650 


Betrachtungen und kleine Mitteilungen. 


gebiete, in welche dasselbe eingeteilt ist, von einer 
Zentralstelle in Magdeburg aus, bei welcher täglich 
die gesamten Anmeldungen auf Wazen sowie die 
Nachrichten über den B^tand an Wagen für den 
ganzen Umfang des Verkehrsgebietes zusammen* 
laufen. Sie teut auf Grund dieser umfassenden 
Kenntnis von Soll und Ist an die mit der Leitung 
des Wagenverkehrs jener vier grossen Verkehrs¬ 
gebiete betrauten Direktionen die nach dem Ver* 
kehrsbedOrfnis auf sie entfallende Zahl an Wagen 
zu, und für diese Direktionen erfolgt dann die 
Unterverteilung der Wagen innerhalb ihres Ver- 
kehrsMbietes. Sie berichten hierüber sowie über 
ihren Bedarf alsbald an die Magdeburger Wagen- 
verteilungsstelle telegraphisch, so dass diese an je¬ 
dem Abend ein voUständiges Bild von der Ver¬ 
teilung des ganzen Wagenparkes und dem Bedarf 
erhält, welches sie in den Stand setzt, so über die¬ 
sen Park zu verfügen, dass er dem Verkehr mög¬ 
lichst nutzbar gemacht wird. Erschwert wird diese 
Aufgabe sehr erheblich durch den Umstand, dass 
nicht sehen einem starken Bedarf in einem der 
Hauptverkehrsgebiete, welcher zu einer starken 
Ansammlung von rollendem Material in demselben 
geführt hat, rasch ein starker Mehrbedarf in einem 
entfernten anderen Gebiete fol^; es ist dann meist 
mit erheblichen Schwierigkeiten verbunden, die 
vollständige Wagenzahl so rasch als erforderlich 
von dem einen Ende des Staatsgebietes in das 
andere, z. B. von der Ruhr in das oberschlesische 
Kohlenrevier, zu dirigieren, so dass das Verkehrs- 
bedOrfnis nicht sofort befriedigt werden kann. 

• • 

Fahrbare elektrische Bohrmaschine. In Fa¬ 
briken kommt es häufig vor, dass in Gegenstände, 
welche man zu einer feststehenden Bohrmaschine 
nicht transportieren kann, Löcher mit der Hand 
gebohrt werden müssen, welche Arbeit sehr müh¬ 
sam und zeitraubend ist. Alle grösseren Fabriken 
besitzen jetzt eine elektrische Maschinenanlage zur 
Erzeugung von Strom für die Beleuchtung. Da nun 
in einem solchen Falle elektrischer Strom immer 
zur VerfiSgui^ steht, hat die Firma Siemens u. 
Haiske in Berlin eine transportable Bohrmaschine 
konstruiert, welche durch Elektrizität betrieben 
werden kann, ln der Abbildung sieht man rechts 
den Bohrer und links den Karren, auf welchem 
sich die elektrische .Maschine befindet. Die Säule, 
an welcher der Bohrer befestigt ist, steht auf einer 
schweren gusseisernen Grundplatte, welche ent¬ 
weder als Bohrtisch zum Aufschraiiben von Gegen¬ 
ständen benutzt wird oder mit ihrer unteren Fläche 
an Gegenstände angeschraubt werden kann. Den 
Bohrer selbst kann man nach allen Richtungen hin 
verstellen und durch Einsetzung anderer «Räder 
verschieden schnell gehen lassen. Auf dem Karren 


sieht man links eine Trommel oder Rolle, auf 
welcher die Drähte, durch die die; Elektrizität der 
Maschine zugeiührt wird, aufgewickelt sind. Die 
elektrischen Leitungsanlagen für die Beleuchtung 
werden an den Mauern der Fabrik entlang geführt, 
und es muss für diese Zwecke die Einrichtung ge¬ 
troffen werden, dass man die Drähte der elektri¬ 
schen Bohrm.^chine an die Lichtleitung ansetzen 
kann. Die Übertragung der Bewegung von der 
elektrischen Maschine zum Bohrer erfolgt durch 
eine Kreuzgelenkwelle. Um in der Entfernung von 
Bohrkopf und Karren nicht beschränkt zu sein, ist 
die Gelenkwelle ausziehbar eingerichtet, so dass 
sie sich von 1,5—2,4 m verlängern lässt. Im unteren 
Teil des Karrens sind Spiralen aus NeusÜberdraht 
gespannt. Soll die elektrische Maschine langsamer 
gehen, so lässt man den elektrischen Strom zuerst 
durch diese Spiralen gehen, wodurch er geschwächt 
wird. Wird eine Bohrmaschine an irgend einem 
Orte der Fabrik gebraucht, so wird der Bohrer 
mit der Grundplatte auf den Karren gesetzt und 
dieser an den betreffenden Ort gefahren. Hier an¬ 
gelangt, nimmt man den Bohrer vom Karren, 
wickdt die Drähte von der Trommel und verbindet 
sie mit der zunächst liegenden Lichtleitung. Durch 
Drehung einer Kurbel am Karren gelangt der elek¬ 
trische Strom in die Maschine und bringt diese 
und damit auch den Bohrer in Drehung. Diese 
Bohrmaschine eignet sich für kleine und grössere 
Löcher bis zu 40 mm in Stahl und Eisen. Für 
kleinere Bohrarbeiten dient eine kleinere und etwas 
anders konstruierte Bohrmaschine. Es genügt hier 
die Verwendung einer einfachen Brustleier, welche 
durch eine biegsame Welle mit einer kleinen elek¬ 
trischen Maschine in Verbindung steht. r. 


* Der Hauptgrund, warum Acetylen 
noch keine grössere Verbreitung gefunden 
hat, liegt nach Wimmer darin, dass das Ausgangs¬ 
materim Cakiumcarbid noch nicht in genügender 
Menge und nicht billig genug hergestellt werden 
kann. Die gesamte deutsche Fabrikation sei z. B. 
durch eine Bestellung der Eisenbahnbehörden für 
die Beleuchtung von Zügen in Anspruch genom¬ 
men. Doch dürfte der Nachfrage bald genügt wer¬ 
den können, nachdem man begonnen hat, die in 
den Niagara-Fällen aufgespeicherte Kraft der Fa¬ 
brikation von Calctumcarbid dienstbar zu machen. 
Grössere Mengen können schon jetzt zu 65 M. pro 
100 kg aus Amerika bezogen werden. Der Selbst¬ 
kostenpreis soll sich dort auf 16 M. pro 100 kg 
stellen. Etwas höher dürften die Erzeugungskosten 
in den deutschen Werken Neuhausen und Bitter¬ 
feld sein. Zeitschr. d. Ver. d. Ingenieure, 91 . Aug. 1897. 



Elektrische Bohrmaschine. 


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Betrachtungen und kleine Mitteilungen. 


651 


« 

• Bekanntlich enthalten die meisten 
Akkumulatoren eine flQssigeFüllung, was 
die Einführung für gewisse Zwecke, wie für trag¬ 
bare Laternen, Fanrradakkumulatoren unmöglich 
macht. Der Firma Akkumulatoren-Werke „System 
Heyl“ Zinnemann, Berlin fV, ist es nun gelungen, 
eine Trockenfüllung herzustellen, welche die nasse 
Füllung total ersetzen soll, denn es wird behauptet, 
dass die Kapazität in keiner Weise beeinträchtigt 
wird, und das Laden in prompter Weise geschieht. 

ElektriziUU, 14. Aug. 1897. 

••Die städtischen Abfuhrstoffe (Haus¬ 
und Küchenabfälle) der Gemeinde Shore- 
ditsch im östl. London werden jetzt verbrannt, 
und die dabei erzeugte Wärme zum Betrieb von 
Dynamomaschinen Elektriaitätserzeugung be¬ 
nutzt. Elektrizität, 14. Aug. 1897. 

•Die europäische Anilin-Farben-Fa- 
brikatioQ hat, nach einer Mitteilung des „Engineer“, 
in Indien das Färber-Gewerbe fast ganz beseitigt, 
da die Eingeborenen es vorziehen, ihre Kleider mit 
den einfach zu behandelnden Farben selbst zu 
färben und auch an den glänzenden Anilin-Pro¬ 
dukten mehr Geschmack finden als an den voll¬ 
kommen zurückgebliebenen einheimischen Leistun¬ 
gen. Es wird übrigens nur eine Frage der Zeit 
sein, dass dieFarben-Grossindustrie in Indien selbst 
sesshaft wird. Dafür dürfte auch als Zeichen gelten, 
dass von dem bekannten Werk „Lehne, Die Chemie 
der künstlichen Farbstoffe" eine indische Übersetz¬ 
ung erschien. 

• In den letzten Jahren wurden die 
Brände in chemischen Wäschereien zum 
Gegenstand genauer Untersuchungen gemacht und 
man fand, dass die Hauptentstehungsursache elek¬ 
trische Funken waren, entstanden beim Durchziehen 
besonders ron Seide durch Benzin, die das Benzin 
in Brand setzten. Verteilt man Seife in dem Bezin, 
so wird die Elektrizitätsbildung aufgehoben. Man 
besass jedoch bisher noch wenig geeignete benzin- 
lösliche Seifen. R. Gartenmeister hat nun ein 
Patent auf benzinlösliche saure Oleate (Seifen aus 
Ölsäure), Saponoleine genannt, genommen, das 
diesem Mangel abzuhelfen geeignet scheint. 

(D. R. P. Nr. 9X>\-}.) 

• Die neue kaukasische Eisenbahn, die 
Petrowsk mit Baku verbinden wird, soll noch Ende 
des Jahres in Betrieb kommen. Hierdurch werden 
verschiedene neue Naphtafundorte der Ausbeutung 
zugänglich, so die Ulu-Neut, wo man bei 47 Faden 
Tiefe schon auf Öl stiess. 

Olissen und Philipson haben vor kurzem 
^fuf dem Hochplateau von Pamir einen zwerg¬ 
haften Volksstamm entdeckt, der dadurch ein 
besonderes Interesse erregt, dass auch die Haus¬ 
tiere dieses Liliputanervolkes ausserordentlich klein 
sind. Die Ochsen sind nicht grösser als die ägyp¬ 
tischen Esel, die Esel haben etwa die Grösse unse¬ 
rer Hunde und die Rinder und Ziegen sind wahre 
Miniaturformen. Die Ursache dieser Kleinheit von 
Menschen und Tieren soll in der besonderen Lebens¬ 
weise und ärmlichen Emähnmg liegen. 

Revue scientifi<{ue. 

• Ein Land ohne Haustiere nennt M. E. 
Müller Japan. Die Japaner essen kein Fleisch 
und trinken keine Milch, sie reiten nicht und halten 
keine Hunde, ebensowenig ziehen sie Schweine, 
Ziegen oder Schafe auf; sie tragen keine Wolle, 
sondern die billige Seide." Geflügel wird eigentlich 
nur für Fremde gezüchtet. 

Revue scieotiSque, ai. Aug. 1897. 

Der japanisch-chinesische Krieg hat 
die Kartographie Ostasiens und damit die Kenntnis 


der betreffenden Länder erheblich gefördert. Wie 
Herr Konsul Müller-Beeck in der Juli-Sitzung 
der Gesdlschaft für Erdkunde in Berlin mitteilte, 
ist besonders die koreanische Westküste durch die 
regelmässigen Kriegstransporte der Japaner gut 
bekannt geworden. Die europäischen Geschwader, 
die während des Krieges dort sich aufhielten, ha¬ 
ben gleichfalls Aufnahmen der Küstengebiete ge¬ 
macht, und es kann wohl sein, dass auch von der 
noch jetzt recht wenig bekannten Strecke Port 
Hamilton-Fusang (Südostküste) schon Aufnahmen 
vorhanden sind. Vielleicht die wertvollste Errungen¬ 
schaft des Krieges ist die Aufschliessung der Mand¬ 
schurei-Provinzen durch die bevorstehenden russ¬ 
ischen Eisenbahnbauten, ferner die weitere Frei- 
gebung Chinas für den Handel. Das gewaltige 
Reich der Mitte wird sich nunmehr langsam, aber 
unaufhaltsam dem Welthandel erschliessen. Be¬ 
merkenswert ist die Thatsache, dass die chines¬ 
ischen Küstengewässer noch sehr wenig bekannt 
sind, so dass die starke dort beschäftigte deutsche 
Handelsflotte in beständigen Gefahren schwebt. 
Auch die Eisenbahnbauten in China, um deren 
Konzessionierungen ein allgemeines kaufmännisches 
und industrielles Wetdaufen zwischen Amerika, 
England, Russland u. a. beginnt, werden zur besse¬ 
ren Kenntnis des Landes wesentlich beitragen. 
Was die gleichfalls noch sehr wenig bekannte Insel 
Formosa betrifft, so wird die Legung des Kabels 
von Japan nach Formosa (jap. Kaiwang) demnächst 
voUenaet sein. Um den Handel dieser reichsten 
Insel der Welt reisst sich jetzt alles. Namentlich 
Zucker und Thee sind vielumstrittene Ausfuhr-Er¬ 
zeugnisse. Zum Schlüsse ist der Expeditionen zu 
gedenken, die namendich Russland, aber auch 
andere Staaten, in Innerasien veranstalten, um neue 
Verkehrswege aufzufinden und die noch unbekann¬ 
ten Landstri<me aufzuklären. Auch diese Forschungs¬ 
reisen haben durch den japanisch-chinesischen Krieg 
einen neuen lebhaften Anstoss bekommen. Allent¬ 
halben tritt an Deutschland die Frage heran, ob 
und wie weit es sich an entsprechenden Unter¬ 
nehmungen beteiligen soll, und wenn so dieser 
Krieg eine Menge von Errungenschaften und Fort¬ 
schritten im Gefolge gehabt hat, so hat er uns 
andererseits auch vor neue Aufgaben gestellt, die 
sowohl auf dem Gebiete des Handels äs auf dem 
der Kultur überhaupt liegen. 

• Die Lepra verbreitet sich mit erschrecken¬ 
der Geschwindigkeit in Nord-Ost-Sibirien. 

Okrftina (Tascbkend). 

• Anderson in Edinburg hat einen neuen ver¬ 
änderlichen Stern im ,Haar der Berenice" 
gefunden. 

• Der erst seit kurzem ausgestorbene 
Alk (Alca impennis), jener Vogel, dessen Eier 
mit Gold aufgewogen werden, scheint früher 
eine weite Verbreitung gehabt zu haben. Man hat 
neuerdings in den Kjoekkenmoeddinger*) in Irland, 
Schottland, England, Dänemark und Nord-Amerika 
zahlreiche Reste gefunden. 

Revue scientiGque, 91. Au^. 1897. 

I) Speisereste eines Volks aus der Steioaeit. 


No. 37 der Umschan wird eothaltea: 


Sully-Stimpil, Studien Ober die Kindheit. - Russner, Blitzab¬ 
leiter. Hauptmann X, Artillerietechnik und Ballistik. — 
Ramsay, Ein unentdecktes Element. 


G. Horstmann's Druckerei. Frankfurt a. M. 


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652 


Sprkchsaal. 


Anzeigen. 


Ein kleines Abenteuer in Tschitral. 



Nur nicht ängstlich Mylady, es ist ja nur ein verrückter Mullah. 

(KUdderftdatsch.l 

Herrn R. in Z. Die Engllnder, die jetzt so unangenehme Erfahrungen in Indien machen, 
verbreiteten nach den ersten Aufständen io der Presse, jene seien nur den Reden 
.eines vetrOckten" Mullah zuzuschreiben; darauf bezieht sich die Karrikatur im Klad¬ 
deradatsch. 


men wird gewöhnlich als Schmerz* 
empfinduiu gedeutet; es ist aber 
gar kein Grund einzusehen, warum 
nur der hintere Teil Schmerz em* 
pfinden soll. Vielmehr scheint die 
durch den Schnittreiz ausgelöste Er¬ 
regung nach rückwärts unregel¬ 
mässige Zusammenziehungen der 
Längsmuskeln hervorzurufen, wäh¬ 
rend nach vom geordnete Ortsbe¬ 
wegung erfolgt. (PflOgers Archiv f Phy. 
siologie 1897, Bd. LXVII S. {37) 

* Der endgültige Nachweis, dass 
Calcium inderSonnen-Atmosphäre 
vorhanden ist, ist nunmehr Wil¬ 
liam Huggins, unserem verehr¬ 
ten Mitarbeiter, und seiner Gemahlin, 
durch eine geniale neue Untersuch¬ 
ungsmethode geglückt. 


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empfehlen wir Ihnen „Haym, Hegel 
und seine Zeit“ (Berlin, 1857, »Ro¬ 
senkranz, Apolope Hegels" (Berlin, 
1858), sowie „Michelet, Geschichte 
der letzten Philosopheme in Deutsch¬ 
land" (Berlin, 1837/38). 

Herrn Oberlehrer Z. in K. 
Sie sind Zoologe und hnden beim 
Studium Ihrer Fachschriften häufig 
botanische, chemische, pharmazeu¬ 
tische, medizinische etc. Ausdrücke 
und Abkürzungen, die Ihnen unbe¬ 
kannt sind, derentwegen Sie aber 
die Lektüre nicht unterbrechen l 
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Verantwortlicher Redakteur: 

Otto Adolf Wolters, Frankfurt a. M. 


Neue Kräme I9>3i. 


37. 1 . Jahrg. 1897. II. September. 


Das Kind als Künstler. 

Nichts ist amüsanter, als die Zeichnungen 
von Kindern, sie mit dem Bleistift in der 
Faust auf eip Blatt Papier kritzeln. So wenig 
ein solches Opus auch mit dem wirklich ge¬ 
schauten Gegenstand Ähnlichkeit hat, so muss 
jedem Beobachter auffallen, dass die Zeich¬ 
nungen verschiedener Kinder untereinander 
doch viele gemeinsame Merkmale haben; noch 
mehr, sie ähneln in hohem Grad den Zeich¬ 
nungen der modernen Wilden und der frühen 
.Kunst. Auch hier kann man wieder jenes 
merkwürdige Naturgesetz beobachten, dass eia 
höheres Wesen in seiner Entwicklung eine 
ganze Reihe Stadien durchmachen lässt, 
dem niedere Klassen stehen geblieben sind. 
Sully hat in einem vorzüglichen Werke*) 
die Zeichenversuche von Kindern zwischen 
2 und 6 Jahren einer systematischen Unter¬ 
suchung unterzogen. Er berücksichtigte da¬ 
bei besonders die Lieblingsgegenstände von 
Kindern: den Mann, das Pferd und einige 
andere Haustiere. Im nachstehenden geben 
wir seine Ausführungen teils wörtlich wieder: 

„Es ist von einem italienischen Schrift¬ 
steller über die Kunst der Kinder geistreich 
bemerkt worden, dass sie die Ordnung der 
natürlichen Schöpfung umkehren, insofern sie 
mit dem Menschen beginnen, anstatt mit ihm 
aufzuhören. Wir können noch • hinzufügen, 
dass sie mit dem erhabensten Teil dieser 
Krone der Schöpfung anfangen, nämlich mit 
dem menschlichen Kopf. Der erste Versuch 
beginnt meinen Beobachtungen gemäss, mit 
dem Zeichnen der Vorderseite des Kopfes. 

‘) Untersuchungen über die Kindheit. Psycho¬ 
logische Abhandlungen für Lehrer und gebildete 
Eltern von Dr. James Sully, übersetzt von Dr. 
J. Stimpfl. (Leiprig, Ernst Wunderlich 1897). 
Broch. M. A-—, gha. M. 4.80. (Die Abbildungen in 
diesem AufMtz verdanken wir der Freundlichkeit 
des Veriegers). 

Uoiachftu 1897. 


Diese bringt es mittelst eines plumpen Kreises 
mit ein paar hineingeworfenen Punkten, welche 
im allgemeinen die Gesichtszüge andeuten 
sollen, zu Stande. Ein Paar Linien können 
als Stützen eingefügt werden, die sowohl für 
den Rumpf, als auch für die Beine Dieftst 
leisten. Die kreis- oder eifbrraige Form ist 
meiner Ansicht nach bei weitem die häufigste. 
Der viereckige Kopf tritt in meiner Sammlung 
nur ganz zufällig und blos bei Schulkindern 
auf, welche wahrscheinlich einige Übung im 
Zeichnen wagerechter und senkrechter Linien 
gehabt haben. (Fig. i). 



Fig. I. Fig. a. 


Wenn wir zur Darstellungsweise der Ge¬ 
sichtszüge Obergehen, so beobachten wir den 
Versuch, dieselben nicht blos durch Verleih¬ 
ung einer bestimmten Lage, sondern auch 
durch eine rohe Nachahmung der Form zu 
unterscheiden und zu individualisieren. Auf 
diese Weise erhalten wir die senkrechte Linie, 
um die Richtung der Nase, die wagerechte, 
um die des Mundes anzudeuten und einen 
Punkt oder eine KreisUne, um den bogen-» 
förmigen Umriss des Auges darzustellen. Die 
Proportionen werden natürlich nicht sehr 
scharf eingehalten. Auge und Mund sind oft 
widersinnig gross (Fig. 2), der Versuch, die 
Zähne (Fig. 3), Haare oder gar Ohren ein- 
zuftlgen, führt zu den grausigsten Gebilden. — 

37 


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654 


Das Kind als Künstler. 



Fig. 3. Fig. 4. 

Einen erheblichen Fortschritt zeigt schon die 
Zeichnung eines 7jährigen Mädchens, das 
das krause Haar (Fig. 4) wohl charakterisiert. 

Die verhältnismässige Gleichgiltigkeit des 
Kindes gegen den Körper oder Rumpf kön* 
nen wir an dem hartnäckigen Beharren auf 
dem Kopf- und Beinschema wahrehmen. Das 
Kind wird vor allem die Zeichnung des Kopfes 
durch Hinzufügung der Haare oder einer 
Kappe vervollständigen und wird sogar Füsse 
und Hände anbringen, ehe es sich um die 
Einführung des Rumpfes kümmert. (Fig 5). 



Fig. 5. Fig. 6. 


Mit dieser Vernachlässigung des Rumpfes von 
Seiten der Kinder kann die Weglassung des¬ 
selben — als ob es etwas Verbotenes wäre — 
in einer Zeichnung des General Pitt-Rivers 
verglichen werden, welche von einem Zulu- 
Weib ausgeführt wurde. (Fig. 6). — Wenn 
der Rumpf deutlich unterschieden wird, so 


Fig. 7. Fig. 8. 


pflegt er im Verhältnis zum Kopf zu klein 
zu bleiben. (Fig. 7). Auf dieser Stufe wird 
noch kein Versuch gemacht — die Verbind¬ 
ung des Kopfes mit dem Rumpfe mittelst des 
Halses zu zeigen. — Die Arme sind sowohl 
für das Kind, wie auch für den Wilden Neben¬ 
sache und werden daher häufig ausgelassen. 
Ist der Zeichner aber so weit vorgeschritten, 
dass er sie andeutet, so pflegt er ihre Schlank¬ 
heit, ebenso wie die der Beine, durch eine 
einfache Linie zu charakterisieren. 

Besondere Schwierigkeiten macht das An¬ 
heften der Arme: Bald geschieht es am Kopf, 
bald in der Mitte des Rumpfes, oder gar in 
der Nähe der Beine. (Fig. 8). — Hand und 
Finger werden meist nur symbolisch durch 
eine Anzahl von Querstrichen angedeutet, 
wobei es mit der Zahl der Finger nicht sehr 
genau genommen wird; doch tritt auch eine 
merkwürdige Anordnung, bei w'elcher sich die 
verdickten Arme in fächerförmige, flossen- 
artige Hände verbreitern, mit grosser Häufig¬ 
keit auf. (Fig. 9). — Eine ähnliche Mannig- 


Fig. 9. Fig. ro. 

faltigkeit zeigt sich in der Darstellung der 
Beine. 

Nach Sully giebt das Kind zuerst die 
Vorderansicht wieder, erst bedeutend später 
bemüht es sich die Seitenansicht der mensch¬ 
lichen Gestalt zu zeichnen. „Wenn man“, 
schreibt eine Kindergärtnerin mit reicher Er¬ 
fahrung, „für ganz kleine Kinder Zeichnungen 
in der Seitenansicht macht, werden sie nicht 
zufrieden sein, wenn sie nicht die zwei Augen 
sehen und zuweilen drehen sie ein Bild um, 
um die andere Seite zu sehen“. Das erinnert 
an die Geschichte, welche Catlin von einem 
Indianerhäuptling erzählt; dieser wurde über 
ein ihn in der Seitenansicht darstellendes 
Bild so zornig, dass der unglückliche Künstler 
für sein Leben fürchtete. 

Das erste, was dem Kind in der Seiten¬ 
ansicht charakteristisch auffällt, ist die Nase: 
diese zeichnet es an die Seite, während es 
meist den ganzen übrigen Körper (Mund, 
zwei Augen) etc. in der Vorderansicht lässt. 

Besondere Schwierigkeiten macht die Pla¬ 
zierung der Augen; es gehört ein grosser 
Entschluss dazu, das eine Auge wegzulassen. 
Selbst dann aber, wenn nur ein Auge ge- 





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Das Kind als Künstler. 


655 


zeichnet wird, erscheint dieses meist rund 
oder spindelförmig, wie in der Vorderansicht 
(Fig. 10); man kann dies selbst bei einem so hoch 
zivilisierten Volk, wie die Ägypter beobachten. 
— Mit die grösste Schwierigkeit bieten wieder 
die Arme in der Seitenansicht; bald setzen 
sie vorn am Leib an, bald wieder kreuzen 
sieden ganzen Rumpf. (Fig. n). — Auffallend 



ist, dass sowohl Menschen wie Tiere in der 
Seitenansicht fast stets nach links blickend 
gezeichnet werden. 

Sobald auch die Beiveguytg ausgedrückt 
werden soll, tritt vollkommenster Symbolis» 
mus auf. Einige der Entwürfe, durch welche 
das Kind eine Handlung anzudeuten sucht, 
sind sehr belustigend: scy stellte ein fünf¬ 
jähriger Knabe die Vereinigung der Hände 
von 2 Personen dadurch dar, dass er sie mit 
einer Linie verband. (Fig. 12). Damit kann 



der wohlbekannte Kunstgriff verglichen wer¬ 
den, die Richtung des Blicks durch das 
Ziehen einer Linie von dem Auge zum Ge¬ 
genstand anzudeuten. — Die unmöglichsten 
Haltungen kommen vor, wenn die Bewegungen 



der Beine beim Laufen, (Fig. 13) Knien oder 
Spiel versucht werden. 

Wir wollen die menschliche Figur nicht 
verlassen, ohne noch die Behandlung der 
Kleidung zu berücksichtigen. Im allgemeinen 
wird diese vom Kind vergessen; es begnügt 
sich damit, seine Figur mit dem Würdenhut 
zu krönen, ihm möglichst eine Pfeife in den 
Mund zu stecken, und noch den Rumpf 
mit einer Knopfreihe zu schmücken. (Fig. 
14}. In der Pitt - Rivers’schen Sammlung 
ist eine Zeichnung von einem zehnjährigen 
Knaben, welche trotz der Bekleidung der 
Figur die Glieder naiv durch ihre Hülle hin¬ 
durch andeutet. Das stimmt mit der von 
K. v. d. Steinen mitgeteilten Art und Weise 
überein, wie die brasilianischen Indianer ihn 
und seine Gefährten zeichneten. Mädchen 
pflegen noch auf Federhut und Sonnenschirm 
grossen Wert zu legen. (Fig. 15). 



Viele Merkmale, welche bei der kindlichen 
Behandlung der menschlichen Figur beobachtet 
werden können, erscheinen bei der Darstel¬ 
lung der Tiergestalten wieder. (Fig. 16 u. 17). 




Am schwierigsten aber wird der Fall, wenn 
Menschen und Tiere mit einander kombiniert 
werden sollen, z. B. ein Mann zu Pferde. 
Ein charakteristisches Beispiel bildet nach- 
stehendeZeichnung eines fünQährigen Knaben: 
der Mann steht einfach Ober dem Pferd (Fig. 18); 
nur die Nase zeigt den Versuch, die Seiten¬ 
ansicht darzustellen, im übrigen ist er voll¬ 
ständig von vorn betrachtet. 

Einen wesentlichen Fortschritt zeigt schon 
(Fig. 19), doch erkennt man daraus deutlich 
den Mangel an Verständnis für die Proportion; 
besonders schwierig aber ist für den jungen 

37* 


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656 


Neuerungen in der Artillerietechnik und Ballistik. 



Künstler das Begreifen, dass ein Ding das 
andere verdeckt. — Der Wilde steht im all¬ 
gemeinen in der Darstellung der Tiere, wie 




des Reiters hoch über dem Kinde, doch 
treten Spuren ähnlicher Verworrenheit zweifel¬ 
los auf. K. V. d. Steinen sagt, seine Bra¬ 
silianer zeichneten den Reiter so, dass sich 
beide Beine zeigten. Andree bietet unter 
den Steinzeichnungen (Felseninschriften) der 
Wilden eine Illustration, in der die mensch¬ 
liche Figur in der Vorderansicht ist, die 
Beine jedoch fehlen. (Fig. 20). Sogar bei 
den Zeichnungen der nordamerikanischen In¬ 
dianer, in welchen das Pferd im allgemeinen 
sehr gut entworfen ist, findet man grosse 
Verworrenheit. (Fig. 21). 



Beim Zeichnen von Häusern findet man 
natürlich die Menschen darin voll ausgezeich¬ 
net, wie wenn das Gebäude keine Vorder¬ 
wand hätte, den Fenstern widmet das Kind 
eine liebevolle Fürsorge: das Fensterkreuz 
wird stets mitgezeichnet und selbst Gardinen 
und Blumenstöcke nicht vergessen. — 

Suchen wir uns die Eigentümlichkeiten 
der kindlichen Kunst zu erklären, so müssen 
wir vor allem eins beachten: das Kind zeich¬ 
net aus dem Gedächtnis, hat jedoch eine nur 
geringe Vorstellung von dem, was es zeich¬ 
nen will, es symbolisiert, umso mehr als seine 
Beobachtungsgabe nur wenig entwickelt ist. — 
Das Kind interessiert sich wohl für neue 



meist ganz ausgefallene, nebensächliche Dinge, 
doch fehlt ihm die systematische Beobachtung 
und man wird diesen Mangel gerade an den 
alltäglichsten Dingen bemerken können. 

Zunächst ist alles nur Spiel: es vermeint 
einen Mann oder ein Pferd zu zeichnen und 
infolge dessen wird für seine Phantasie das 
formlose Liniengewirr zu einem Mann oder 
einem Pferd ebenso, wie die Puppe ohne 
Arme und Beine ebensogut noch sein liebes 
Julchen oder seine Anna ist, wie zu der Zeit, 
als sie noch ganz war. — ^ür das wahre 
Aussehen seiner Kunstprodukte ist es blind, 
die kindlichen Sinneswahrnehmungen sind 
durch eine zu grosse Beimischung an Wissen 
verfälscht, ebenso wie Erwachsene z. B. sagen, 
dass ein ferner Bergabhang „grün“ sei, weil 
sie erkennen können, dass er mit Gras be¬ 
deckt ist, und Gras in der NäW'grün aus- 
sieht. — Dabei bilden sich gewisse stereotye 
Formen heraus, die einem Fortschritt recht 
hinderlich sind. Erst wenn das Kind sein 
Opus mit dem Original zu vergleichen beginnt, 
kann man eine Entwicklung zur richtigeren 
Darstellung bemerken. Bechhold. 


Neuerungen in der Artillerietechnik und 
Ballistik. 

Von Hauptmana X. 

Es ist hier zunächst der grossartigen Fort¬ 
schritte in der Stahlfabrikation zu gedenken, 
und wir sehen gerade hier, wie der mensch¬ 
liche Erfindungsgeist sich immer selbst zu 
höheren Leistungen anspornt, da der An¬ 
greifer den Verteidiger, und der Verteidiger 
den Angreifer wechselsweiiäe zu besiegen 
bestrebt ist. So spielt sich ein steter 
Wettlauf zwischen Panzern und Panzerge¬ 
schossen ab. Die Panzerplattenfabrikation hat 
sich speziell den Nickelstahl dienstbar gemacht, 
eine Legierung des Stahles mit Nickel, die 
eine wesentlich höhere Elastizitätsgrenze be¬ 
sitzt wie reiner Stahl. Gelingt es nun, solchen 
Nickelstahl in geeigneter Weise zu härten. 


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Neuerungen in der Artillerietechnik und Ballistik. 


657 


so kombiniert man damit Härte und Zähig¬ 
keit, zwei sich eigentlich feindlich gegenüber¬ 
stehende Eigenschaften, und dieses Problem 
zu lösen ist der Kruppschen Firma mit ihren 
gehärteten Platten aus Nickelstahl in so voll¬ 
kommener Weise geglückt, dass Brialmont, 
diese bekannte belgische Autorität, diese 
Kruppschen Platten über alle ähnlichen Panzer¬ 
erzeugnisse Amerikas und Englands stellt, 
die nach dem Harveyverfahren hergestellt 
werden. Gewiss ist es von Interesse, wenn 
wir hierunter eine Tabelle über im Jahre 
1895 stattgehabte Schiessversuche gegen ge¬ 
härtete, nach Kruppschem Verfahren herge¬ 
stellte 15 cm • Stahlplatten der Werke von 
Dillingen bei Saarlouis anführen. 

Es ergaben sfch nun in der Praxis erheb¬ 
liche Schwierigkeiten dadurch, dass die Platten 
mit Oberflächenhärtung vor dem Härten ihre 
endgültige Form erhalten müssen und sich 
während des Prozesses des Härtens unbeab¬ 
sichtigte Formenveränderungen nicht ganz 
vermeiden lassen. Von Bedeutung ist es da¬ 
her, dass man gehärtete Panzerplatten an ein¬ 
zelnen Stellen wieder zu enthärten vermag, 
indem man sie mittelst starker elektrischer 
Ströme (3 — 6000 Amp.) erwärmt und aus¬ 
glüht. 

Diesen Bestrebungen zur Herstellung von 
äusserst widerstandsfähigen Panzerplatten ge¬ 
genüber steht nun die Herstellung von wirk¬ 
samen Panzergeschossen. Man hat hier vor¬ 
zügliche Ergebnisse durch geringen Zusatz 
von Chrom zu kohlenstoffhaltigem Eisen er¬ 
zielt, wodurch dessen Festigkeit wuchs, ohne 
dass die Zähigkeit nennenswert geringer wurde, 
So liefert in Russland das Putiloff-Werk Stahl¬ 
geschosse aus Tiegel-Chromstahl nachHoltzefs 


Verfahren, wobei das Material 41 — 50 kg 
Festigkeit an der Elastizitätsgrenze, 86 — 97 kg 
Bruchfestigkeit pro qmm und 6,5 —8°/o Dehn¬ 
ung auf 100 mm Stablänge besitzt. 

Im Anschluss an diese Panzergeschosse, 
die ihre Qualifikation hierzu den physikal¬ 
ischen Eigenschaften ihres Metalls verdanken, 
wollen wir einer neuen Erfindung Erwähnung 
thun, der Borchardtschen Kern^ und Panzer' 
geschosse,^') die ihre hohe Leistungsfähigkeit 
durch ihre mechanische Konstruktion erlangen 
sollen. Der Grundgedanke ist der, dass dem 
Geschoss lediglich durch seine mechanische 
Anordnung und Gliederung, ohne irgendwelche 
Steigerung der Pulverkraft und Mündungs¬ 
geschwindigkeit, ein viel höheres Mass von 
Arbeit und Durchschlagsleistung gegen sehr 
widerstandsfähige Ziele erteilt wird,_ als einem 
gewöhnlichen, aus derselben Waffe und unter 
gleichen ballistischen Bedingungen verfeuer¬ 
ten Geschoss.*) Zu dem Zweck ist in der 
Längsachse des Geschosses ein an beiden 
Enden scharfkonisch geformter Bolzen („Kern") 
— Länge gleich 10—i6mal Durchmesser — 
derart durch Einpressen oder dergl. eingesetzt, 
dass er sich beim Schuss nicht etwa nach 
vorn loslöst, während er, infolge scharfer Ver¬ 
jüngung von vorn nach hinten, das Ge¬ 
schoss beim Auftreffen aufs Ziel leicht ab¬ 
streift. Die relativ enorme Länge des Bolzens 
belastet diesen derartig mit Gewicht und 
Arbeit, wie es für Geschosse gar nicht denk¬ 
bar wäre, da diese, um im Verhältnis zum 
Querschnitt die gleiche Arbeit zu leisten, 

‘) D.-R.-P- Nr. 85148 v. 18. Jan. 1896, göl^g vom 
19. Juni 1895 ab. 

•) Siehe Wille, .ZurFeldgeschützfrage“, S. 161 
u. ff. 


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Geschoss 

Sc-S.ti 

Lebendige 

Kraft 

Wirkung 
gegen die Platte 

Geschütz 

Art 


}2 JZ 
'S w bß 

^ bJD 

m 

Total 

mt 

pro cm 
Um¬ 
fang 

mt 

pr.cm* 

Quer¬ 

schnitt 

mt 

I 

21 cm-Kan. L/22 

Stahlpr. 

L/ 2,5 

96 

467,2 

1068 

16,24 

3 »io 4 

57 mm tiefer Eindruck, Rückseite 
30 mm Ausbauch. 

4 

n 

ff 

95,2 

504,0 

1232 

18,73 

3 » 58 i 

Stück fast ganz ausgestanzt, doch 
an Rückseite noch Testsitzend. 
1. Balkenlage eingedrückt und 
zersplittert.*) 

2 

15 cm-Kanone 
L/30 u. L'35 

Stahlpr. 

L/3,4 

51 

478,8 

595,9 

12,72 

3 » 4 I 3 

Vorderseite 17 mm Eindruck, 
Rückseite 10 mm Aufbauch. 

3 

ff 

n 

51 

579.3 

872.3 

18,62 

4^998 


5 

ff 

n 

51 

607 

957,8 

20,45 

5,485 

Eindringungstiefe 30 mm, Riss, 
Rückseite 45 mm Aufbauchung, 
I. Balkenlage 30mm Eindruck, 
Platte horizontal und vertikal 
durchgebogen. 

*) Schuss I war bereits in Dillingcn erfolgt. In Meppen war die Platte 
40 mm Inneohaut und schmiedeisernem tTiuterbau verbolzt. 

mit eine 

60 cm starken Eisenhotzhinterlage mit 


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658 


Neuerungen in der Artillerietechnik und Ballistik. 


nicht nur eine ausserordentlich grosse Mönd- | 
ungsgeschwindigkeit, sondern auch einen en¬ 
ormen Drall erhalten müssten, was zu nicht 
zu leistenden Anstrengungen der Waffe füh¬ 
ren würde, ganz abgesehen von der Frage, 
ob das Geschoss- und Führungsmaterial dies 
überhaupt aushalten würde. 

Es scheint nicht ausgeschlossen, dass diese 
Kerngeschosse einerseits für die Infanterie, 
andererseits aber für die Artillerie, die gegen 
Panzer wirken soll, noch eine Zukunft haben, 
während sie naturgemäss für Feldartillerie, 
die lediglich oder wenigstens in der grossen 
Hauptsache mit Streugeschossen gegen lebende 
Ziele arbeitet, belanglos sind. 

Eine weitere originelle Konstruktion von 
Panzergeschossen stellen die Geschosse mit 
weichen Kappen (Loft capped projectiles) vor, 
die von einer New-Yorker Firma hergestellt 
und in Indian Head erprobt wurden. Ein 
15,2 cm-Stahlgeschoss mit weicher Kappe 
(48,8 kg, 640 m Auftreffgeschwindigkeit) wurde 
gegen eine 15,2 cm gehärtete Nickelstahlplatte 
der Carnegie-Werke verfeuert, welche bereits 
beim Probeversuch mit 15,2 cm-Geschossen 
belegt worden war. Das Geschoss ging durch 
die Platte, 61 cm Eichenholz, 1,8 m lose und 
0,9 m abgelagerte Erde und war nur um 2,2 
mm an der Wulst gestaucht, 10 cm in der 
Länge verkürzt, während die Platte, welche 
allerdings bereits Sprünge hatte, erheblich 
weiter riss. 

Da keine neueren Angaben Ober diese 
Geschosse vorliegen, so lässt sich nicht be¬ 
urteilen, ob und inwieweit sie mit denverbesser¬ 
ten russischen Stahlgeschossen mit Kappe zu¬ 
sammenfallen , hinsichtlich deren Loebells 
Jahresberichte*) S. 451 annehmen, dass sie 
an sich flachköpfig und nach der Art ausge¬ 
höhlt sind, dass ein Rand entsteht, der die 
dünne Härteschicht der Harvey-Platte zu 
durchschlagen vermag. „Ist dies geschehen, so 
hat das Geschoss nur noch die weichen 
Massen vor sich zu durchbrechen und wirkt 
wie der Stempel einer Stanze, während die 
gewöhnliche Geschossspitze an der Härte¬ 
schicht zerschellt. Die Kappe soll nur den 
Luftwiderstand vermindern und die Schuss¬ 
präzision sichern.“ 

Als letzte der neuesten Geschosskonstruk¬ 
tionen sei endlich die Gathman-Granate ge¬ 
nannt, abermals eine Verkörperung des von 
uns schon gelegentlich der Dynamit- und pneu¬ 
matischen Kanonen erwähnten Bestrebens der 
Amerikaner, Geschosse mit hochbrisanten 
Sprengstoffen zu verfeuern. Das Prinzip des 

•) V. Loebellsche Jahresberichte Ober die Fort¬ 
schritte und Veränderungen im Militärwesen 1896. 
Herauseegeben von v. Pelet-Narbonne. Berlin, 
E. S. Mitder & Sohn. 


Geschosses, dessen genaue Beschreibung nebst 
Abbildung im Märzheft 1897 der Rivista 
d’artiglieria e genio S. 460 zu finden ist, be¬ 
ruht darin, dass dasselbe mit seinem Ogival 
im Rohr zur festen Anlage kommt und hinten 
nur durch Flügelansätze zentrirt wird, so dass 
der Stoss der Pulvergase sich gegen diesen 
vorderen Teil äussert und die Wände sehr 
schwach gehalten werden können, was zu 
einer derartigen Ausnutzung des Geschosses 
führt, dass dasselbe bis zu 50"/,, des Eigen¬ 
gewichts an Schiessbaumwolle oder einem 
sonstigen Sprengmittel aufnehmen kann. 

Dieses Sprengmittel ist nun innerhalb der 
Granate in Büchsen von Kupfer unterge¬ 
bracht und die Zwischenräume zwischen die¬ 
sen Büchsen einerseits und den Geschoss¬ 
wänden andererseits sind mit Wasser ausge¬ 
füllt. Da nun weiter das Geschoss hinten 
offen ist, und lediglich durch eine zwischen 
zwei Stahlplatten eingeschlossene Asbestschicht 
einen gewissen Abschluss erhält, so folgt, 
dass der Stoss der Pulvergase sich durch die 
Vermittlung des Wassers dergestalt auf die 
Wände überträgt, dass dieselben auch bei 
geringer Stärke vollkommen haltbar genug 
sind, da speziell, infolge des geringeren Durch¬ 
messers des Geschosses in seinem Teil vom 
Geschosskopf nach hinten, die Gase ja auch 
von aussen auf die Geschosswände drücken. 

Gathman verfeuert z. B. aus einem 33 cm- 
Geschütz eine 2,13 m lange Granate von 
363 kg Gewicht und 185 kg feuchter Schiess¬ 
wolle, während eine gewöhnliche Granate 
eines solchen Geschützes nur 22,7 kg fassen 
soll. Das Ergebnis dieser Versuche bleibt 
abzuwarten. 

- Recht beachtenswert erscheint die Fort¬ 
entwicklung des vor einigen Jahren erfunde¬ 
nen Erhardtschen Pressverfahrens und seine 
Ausdehnung auf die Geschoss- und Rohrher¬ 
stellung. Der Vorgang bei diesem Verfahren 
spielt sich wie folgt ab: *) „In das glühende 
massive Stück, aus welchem das Rohr gebil¬ 
det werden soll, wird ein Dorn eingetrieben 
und dadurch die Höhlung hergestellt. Dabei 
befindet sich das vierkantige Materialstück in 
einer Form vom Querschnitt des Rohres, die 
also rund ist, eingesetzt und wird der Dorn 
in das Zentrum desselben eingepresst, sodass 
das Material nach aussen gedrängt wird und 
den zuvor leergebliebenen Teil der Form 
(die Segmente) erfüllt. Der Querschnitt des 
Doms muss demnach gleich der Summe der 
freien Flächen der Form sein. Das Material 
wird für diese Arbeit rotwarm gemacht. Für 
das Eintreiben des Doms dienen hydraulische 


*) Jahrbücher für die deutsche Armee und Ma¬ 
rine. Dezemberheft 1895. S. 357 u. ff. 




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Neuerungen in der Artillerietechnik und Ballistik. 


659 


Pressen. Ist auf solche Art das Rohr her- 
gestellt, so wird es durch Ziehen auf die ge¬ 
wünschten Abmessungen gebracht. Gewehr- 
lüufe werden in einem Moment derart ge¬ 
locht. Das Verfahren ergiebt sofort eine glatte 
Innenfläche, und, was für Feuerwaffen gewiss 
wertvoll ist, verdichtet das Metall, besonders 
.Tn der Innenwand; es erfordert nur eine ver¬ 
hältnismässig geringe Betriebskraft und ge¬ 
linge Anlagekosten." 

Die PoUiihütte in Österreich hat dieses 
Verfahren erworben und man erwartet nach 
neueren Nachrichten, dasselbe nicht nur auf 
die Anfertigung gepresster Stahlhohlgeschosse, 
sondern sogar auf die Herstellung von Be¬ 
lagerungskanonen grösseren Kalibers ausdeh¬ 
nen zu können. 

Es darf überhaupt bei dieser Gelegenheit 
nicht übergangen werden, wie ausserordent¬ 
lich die Stahlfabrikation in Österreich sich 
geiade in allerletzter Zeit entwickelt hat. 
Dieser Staat macht sich hinsichtlich der Er¬ 
zeugung von Stahl für Kriegsmaterial mehr 
und mehr unabhängig vom Ausland, so dass 
er hinsichtlich der Herstellung des Feldartillerie¬ 
materials als bereits ganz selbständig, hin¬ 
sichtlich der Fabrikation von Geschützen 
mittleren Kalibers aber demnächst für selbst¬ 
ständig erklärt werden muss, während er 
sch^Yererel^aliber allerdings wohl noch länger? 
Zeit vom Ausland wird beziehen müssen. 

Endlich müssen wir noch eines Fabrika¬ 
tionsverfahrens gedenken, das in engem Zu¬ 
sammenhänge mit den von uns auf Seite 
642 besprochenen Drahtkanonen steht, dass 
man mittelst besonderer Verfahren die Er¬ 
folge der künstlichen Metallkonstruktion 
auch auf anderem Wege zu erreichen be¬ 
strebt sei. Es handelt sich hier um die Hiram 
Maximschen Massivrohre, die sich, wie aus 
dem Namen ersichtlich, in direkten Gegen¬ 
satz stellen zur modernen künstlichen Metall¬ 
konstruktion und zur Drahtkonstruktion. 

„Der über den Kern gegossene und ge¬ 
schmiedete Rohrblock wird grob vorgebohrt, 
abgedreht und dann in einem Glühofen stehend 
in kreisförmige Bewegung um seine Achse 
versetzt. Sobald er bis zur dunklen Rotglut 
angewärmt ist, lässt man ihn langsam ab¬ 
kühlen, giebt ihm durch die weitere mechan¬ 
ische Bearbeitunj; nahezu seine normalen Ab¬ 
messungen und schneidet die Züge ein. 

Hierauf wird das Rohr abermals in den 
Glühofen gebracht und wiederum in Achsen¬ 
drehung versetzt, während man einen Strom 
Steinkohlengas in die Seele leitet; ein Teil 
des in dem Gas enthaltenen Kohlenstoffs wird 
dabei frei und verbindet sich mit der innersten 
Schicht, die hierdurch eine grössere Härte 
erhält. Nachdem das Rohr bis zur Rotglut 


erhitzt ist, treibt man das Gas aus und lässt 
einen Strom kalten Öls unter hohem Druck 
durch die Seele gehen.“ 

Dem vorzüglichen Verhalten zweier 14,5 mm 
Versuchsrohre, die eine Gasspannung von 
3430 Atni. anstandslos aushielten, gegenüber, 
kann man doch eine grosse Zahl von Be¬ 
denken nicht zurückhalten, die Wille in sehr 
klarer Weise eingehend ausführt und denen 
wir nur beizutreten vermögen. Mag man 
sagen, was man will, und mag man die bril¬ 
lantesten Versuchsergebnisse anführen, so lie¬ 
fern dieselben immerhin nur den Beweis für 
eine ausserordentlich geistvolle Erfindung; die 
ganze Entwicklung der Geschützkonstruktion 
drängt aber unfehlbar zur künstlichen Metall- 
bezw. zur Drahtkonstruktion, und Erfindungen 
wie die Maximsche vermögen diesen Ent¬ 
wicklungsgang schwerlich aufzuhalten. 

Wir wenden uns nun zum Schlüsse zu der 
Ballistik, wo mehrere bemerkenswerte Ver¬ 
suche in der letzten Zeit zu verzeichnen sind, 
die wohl geeignet sind, die ballistische Wissen¬ 
schaft wieder um einen Schritt in der Erkennt¬ 
nis und rechnungsmässigen Beherrschung der 
Bewegungsvorgänge des Geschosses nament¬ 
lich ausserhalb des Rohres (äussere Ballistik) 
vorwärts zu bringen, und damit der Empirie, 
die in einer so ausserordentlich schwierigen 
und komplizierten Wissenschaft, wie die Bai-, 
listik ist, noch immer einen gewissen Platz 
behauptet, wieder ein Stückchen Boden zu. 
entziehen. 

Es gehört hier, zeitlich geordnet, an die, 
erste Stelle die Photographie fliegender Ge' 
schosse, die in ihren ersten Versuchen weit 
in die 80er Jahre hinaufreicht und zu einem 
gewissen Abschluss im Jahre 1893 gekommen 
ist. Die abschliessenden Versuche wurden 
aber erst im Juli 1896 in der Akademie der 
Wissenschaften in Wien vörgelegt.®) Sie grün¬ 
den sich auf die Toeplersche Schlieren¬ 
methode ’) und beruhen auf folgendem Grund¬ 
gedanken : 

Gehen von einem leuchtenden Punkt 
Strahlen in einem Strahlenbündel aus und 
treffen dieselben auf ihrem Weg eine Sammel¬ 
linse, so werden dieselben bekanntlich nach 
einem Punkt jenseits der Linse hingelenkt 
und dort wieder vereinigt. Aus diesem Brenn¬ 
punkt heraus divergieren sie dann wieder und 
beleuchten beispielsweise einen etwa noch 
jenseits des Brennpunktes aufgestellten Schirm. 

•) Wille .Zur FeldgeschQtzfrage" S. 299 u. ff. 

®) „Weitere Versuche über Projektile" von Dr. 
Ludwig Mach. Sitzungsberichte der Kaiserlichen 
Akademie der Wissenschaften in Wien. Mathem.- 
naturw. Klasse. Bd. CV. Abt. II a. Juli 1896. 

*) ,Schliere"* Stelle abweichender Dichte in 
einem sonst gleichartigen Medium. 


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660 


Neuerungen in der Artillerietechnik und Ballistik. 


Blendet man den Brennpunkt ab, so ist auch 
der Schirm dunkel. Ist nun aber z. B. in dem 
Medium, welches die Strahlen bis zum Brenn¬ 
punkt durchlaufen, irgend eine Stelle von ab¬ 
weichender Dichte, so werden diejenigen 
Strahlen, die gerade diese Stelle passieren, 
anders abgelenkt, wie die übrigen. Sie ge¬ 
langen also nicht in den Brennpunkt, sondern 
etwa beispielsweise etwas unterhalb desselben, 
gehen also um die Blende herum und zeich¬ 
nen somit auf dem sonst dunklen Schirm 
nicht nur das Vorhandensein, sondern sogar 
die Gestalt der Stelle abweichender Dichte 
auf.®) Da ein fliegendes Geschoss in der 
umgebenden Luft wesentliche Dichtenänder¬ 
ungen hervorruft, die einesteils durch die 
schnelle Verdrängung der Luftteilchen, an¬ 
dererseits durch die durch die Reibung er¬ 
zeugte Wärme ohne weiteres verständlich 
werden, so ist klar, dass wenn man den Ver¬ 
such so anordnet, dass das Geschoss etwa, 
wenn es an der Blende vorbeikommt, einen 
scharfen elektrischen Funken auslöst und der 
Schirm durch eine photographische Platte 
ersetzt wird, auf dieser letzteren die Bilder 
der das Geschoss umgebenden Dichtenänder¬ 
ungen entstehen werden. 

Es bedarf wohl kaum der Andeutung, 
dass dieser so einfach erscheinende Grund¬ 
gedanke bei seiner Übersetzung in die Praxis 
ausserordentlichen Schwierigkeiten begegnete, 
und dass es so eminent geschickter Experi¬ 
mentatoren wie der österreichischen Professoren 
Salcher, Riegler, Mach und des letzteren 
Sohnes Dr. Ludwig Mach bedurfte, um wissen¬ 
schaftlich so glänzend verwertbare Versuchs¬ 
ergebnisse zu gewinnen, wie es thatsächlich 
der Fall ist. 

Die gewonnenen Photographien zeigen 
nämlich deutlich, dass bei Geschossgeschwin¬ 
digkeiten, welche die Schallgeschwindigkeit 
übersteigen, dem Geschoss eine Verdichtungs¬ 
welle vorauseilt, deren Stärke und Krümmung 
durch die Geschossgeschwindigkeit bedingt 

*) Es besteht über diese höchst geistvollen Ver¬ 
suche, die von dem Gebiete der Ballistik auf das 
Gebiet der Akustik und speziell auch der Wellen¬ 
lehre ausgedehnt worden sind („Interferenz der 
Schallwellen mit grosser Exkursion“, „Über longi¬ 
tudinal fortschreitende Wellen im Glas'* u. s. f.) 
eine reiche Litteratur, teils streng wissenschaftlich, 
teils mehr allgemein verständlich gehalten. Zu erste- 
ren gehören die schon genannten Sitzungsberichte 
und deren Vorläufer: Band XCV. Abt. 11 , Band 
XCVII. Abt. II, Band XCVIII. Abt. II, zu letzteren 
die Aufsätze: „Über die in Pola und Meppen an- 
gestellten ballistisch-photographischen Versuche“, 
Intcmat. Rev. d. ges. Armeen u. Flotten. April 
1890; „Über die infolge der Geschossbewegung in 
der Luft eiogeleiteten Vorgänge“ und „Die Photo¬ 
graphie fliegender Geschosse“, Jahrbücher f. d. 
deutsche Armee u. Marine, ersterer 1887, letzterer 
1896. 


wird und daher ein Mittel an die Hand giebt, 
die letztgenannte Geschwindigkeit zu bestim¬ 
men. Ebenso tritt am Ende des Geschosses 
eine solche Welle auf, die man ebenfalls zur 
Geschossgeschwindigkeitsbestimmung heran¬ 
ziehen kann. Ausserdem sieht man weitere 
Wellen vom Geschossmantel ausgehen, die 
Jedenfalls durch Unregelmässigkeiten in dessen 
Gestaltung (z. B. Führungsringe, u. s. w.) 
hervorgerufen werden, sowie grosse Luft¬ 
wirbel im Schusskanal hinter dem Geschoss, 
die vermutlich dem Einströmen der Luft in 
den luftverdünnten bezw. teilweise luftleeren 
Raum hinter dem Geschoss zuzuschreiben 
sind. Jedwede Änderung in der Form des 
Geschosses (Abplatten des Kopfes, Zuspitzen 
des Endes u. s. f.) führt zu besonderen Er¬ 
scheinungen auf den Bildern, die mit steigen¬ 
der Vervollkommnung der Versuchsanordnung 
und mit wachsender Deutungsfähigkeit zu 
immer weiter gehenden Aufschlüssen gerade 
auf dem noch sehr aufklärungsbedürftigen und 
ballistisch so unendlich wichtigen Gebiete des 
Luftwiderstandes und des Einflusses der Ge¬ 
schossform auf denselben führen. So bringt 
die schon erwähnte neueste Veröffentlichung 
vom Sommer 1896 die Schilderung der Ver¬ 
bindung der Schlierenmethode mit Interferenz¬ 
versuchen, und die rechnerischen Schlüsse, 
die sich dadurch auf die ziffernmässige Grösse 
der das Geschoss umgebenden Verdichtung 
und Verdünnung ergeben. Sie gipfeln darin, 
dass das Geschoss im Ganzen nach aussen 
und vorn keine allzugrosse Verdichtung er¬ 
zeugt, dass aber unmittelbar am Geschossende 
ein Vakuum nachweisbar ist, und dass die 
Luftverdünnung im Schusskanal mit der Ent¬ 
fernung vom Geschoss rasch abnimrat. Die 
früher fast allgemein gehegte Ansicht, dass 
grosse Geschosse von hoher Geschwindigkeit 
einen derartigen Luftdruck erzeugten, dass 
schwere Verletzungen und Tötungen — wohl¬ 
verstanden allein durch das Vorbeifliegen 
eines solchen Geschosses — entstehen könnten, 
ist also irrig, höchstens sind Schädigungen 
des empfindlichen Gehörorgans möglich. Eben¬ 
so war es eine nicht zutreffende Annahme, 
dass die in den Wunden auftretenden Zer- 
reissungen durch die vom Geschoss mitge¬ 
führte verdichtete Luft hervorgerufen würden, 
man muss deren Ursache vielmehr in dem 
hydraulischen Druck in den Geweben suchen. 

Eine andere Methode der Photographie 
fliegender Geschosse ist unlängst in Italien*) 

*) „Fotografia di projetti in modo“. Von Doltore 
ing. 0 . Majorana-Calatabiano und Dottore A. Fon¬ 
tana. Rivista d’artiglieria e genio. Januar 1806. 
Siehe auch den schon genannten Aufsatz der Jahr¬ 
bücher für die deutsche Armee und Marine. Sep¬ 
tember 1896. 


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Neuerungen in der Artillerietechnik und Ballistik. 


66 i 


versucht worden. Sie beruht auf der unmittel¬ 
baren Photographie des fliegenden Geschosses 
auf die photographische Platte und ist daher 
an die Vornahme der Versuche im dunkeln 
Laboratorium gebunden, so dass die Verwend¬ 
ung von Geschützen nahezu ausgeschlossen er¬ 
scheint und die Studien mit Infanteriegeschossen 
vorgenommen werden müssen- Dieser Um¬ 
stand würde weniger schwerwiegend erschei¬ 
nen, da die Erfahrungen — wie schon die 
Mach-Salcherschen Versuche, die in ihrer 
Anwendung die vorgedachten Beschränkungen 
ja nicht erleiden, zur Evidenz dargethan haben 
— sich unbedenklich und ohne Fehler von klei¬ 
nen auf grosse Geschosse übertragen lassen, 
sofern die Geschwindigkeitsverhältnisse über¬ 
einstimmen. Die Bilder geben aber natur- 
gemäss alle die feinen Dichtenänderungen der 
Luft nicht wieder, deren Reproduktion die 
Mach-Salchersche Methode so wertvoll macht, 
sondern bringen nur in allerdings sehr scharfer, 
klarer und daher zur Vornahme' der Geschwin¬ 
digkeitsmessungen sehr geeigneter Weise die 
stationäre Kopfwelle. 

Gleichwohl sind aber auch diese Versuche 
vom Standpunkte des Ballistikers mit leb¬ 
hafter Freude zu begrüssen, da es sich ins¬ 
besondere so kurze Zeit nach ihrer Entsteh¬ 
ung noch gar nicht übersehen lässt, inwiefern 
auch sie sidh weiter ausbauen und welche 
Fragen sich mit ihrer Hilfe klären lassen. 

Sehr berechtigtes Aufsehen erregte end¬ 
lich in der ballistischen Welt ein neues Mess¬ 
verfahren, welches die Drehung der Polari¬ 
sationsebene des Lichts im Magnetfeld dazu 
verwertet, den Anfang und das Ende eines 
zu messenden Vorgangs zu markieren. Die 
Schöpfer dieser geistvollen Methode, deren 
Tragweite weit über das blosse ballistische 
Gebiet reicht und die jedenfalls eine grosse 
Zukunft besitzt, sind Cushing Crehore 
und Owen Squier in Amerika, die das neue 
Instrument den Polarisations-Photo-ChronO' 
graph nennen. 

Die Versuche, welche ihren Ursprung im 
Dezember 1894 haben, sind stetig und ziel¬ 
bewusst in scharfsinnigster Weise weiter ent¬ 
wickelt worden und haben eine erschöpfende 
Darstellung ihres bisherigen Ganges und der 
bislang auf dem Gebiete der Ballistik und 
der Elektrotechnik gewonnenen Ergebnisse 
in einem Werke gefunden, welches Anfangs 
1897 erschienen ist.**) 

*“) Auf andere praktische Verwendbarkeit für 
Schnelltelegraphie haben wir in der Umfechau Nr. 28, 
Seite 504 hingewiesen. 

'*) „The new polarizing photo-chronograph.“ 
Albert Cushing Crehore und George Owen Squier. 
New-York. JonnWiIlj^ & Sons. London. Chapman 
& Hall. 1897. Vergleiche auch verschiedene Auf¬ 
sätze derselben Autoren im Journal of the United 


Der Grundgedanke ist folgender: Stellt 
man zwei Nicol-Prismen hintereinander, so 
geht bekanntlich gar kein Licht hindurch, so¬ 
bald die Prismen „gekreuzt“ sind. Bringt man 
zwischen die beiden jedoch eine mit Schwefel¬ 
kohlenstoff gefüllte Röhre, um welche eine 
Drahtwicklung geführt ist und schickt man 
durch die letztere einen elektrischen Strom, 
so wird die Polarisationsebene gedreht, so dass 
somit durch beide Nicols und die Schwefel¬ 
kohlenstoffröhre Licht hindurch geht. Sowie 
der elektrische Strom aufhört, kann kein Licht 
mehr durch die gekreuzten Prismen hindurch. 
Fixiert man diese Lichterscheinungen auf einer 
rotierenden photographischen Platte, so kann 
man aus den Abständen der einzelnen Licht¬ 
bilder und der Umdrehungsgeschwindigkeit 
der Platte die Zeiten berechnen, welche von 
einem Stromschluss zum andern verflossen 
Sind. Schaltet man nun in den Stromkreis 
Draht-Rahmen ein, welche man in genau ge¬ 
messenen Entfernungen vor der GeschOtz- 
oder Gewehrmündung aufbaut, so führt beim 
Abfeuern das die Rahmen durchschlagende 
Geschoss bei entsprechender Versuchsanord¬ 
nung offenbar Stromunterbrechungen herbei, 
die sich auf der rotierenden photographischen 
Platte kennzeichnen. Es lässt sich dann unter 
Berücksichtigung der Rahmenabstände die 
Geschwindigkeit genau berechnen, welche das 
Geschoss in den einzelnen Rahmenintervallen 
besessen hat. Bringt man weiterhin an dem 
Geschoss etwa eine lange, entsprechend zu¬ 
gerichtete Stange an, so ist ersichtlich, 
dass man auch durch diese Stange die Strom¬ 
unterbrechungen bewirken lassen und somit 
dann die Geschwindigkeitsverhältnisse des 
Geschosses während seiner Bewegung auch 
im Rohr bestimmen kann. Auch diese Ver¬ 
suche sind von Crehore und Squier durch¬ 
geführt worden, ihre Ergebnisse bleiben aber 
wesentlich hinter dem zurück, was die „innere 
Ballistik“ (d. h. die Lehre von der Bewegung 
des Geschosses im Rohrinnem) mittelst an¬ 
derer Methoden bereits gefunden hat, und 
dürfte auch unseres Erachtens nach dieser 
Richtung von der neuen Methode nicht viel 
erwartet werden. Anders liegt es auf dem 
Gebiete der „äusseren Ballistik“, die sich mit 
den Verhältnissen beschäftigt, die nach dem 
Verlassen der Rohrmündung vorliegen. Es 
ist hier, da die Methode es gestattet, die Ge¬ 
schossgeschwindigkeit zwischen zwei sehr 
nahen Punkten zu messen, bereits das ausser¬ 
ordentlich wichtige Resultat gefunden worden. 


States Artillery. Juli 1895, Mai-Juni 1896 und No¬ 
vember-Dezember 1896, sowie deren deutsche Be¬ 
arbeitung im „Archiv für Artillerie- und Ingenieur- 
Offiziere des deutschen Reichsheeres“, Dezember 
1895 und Oktober 1896. 


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662 


Russnkk, Ueber Blitzableiiek. 


dass das Maximum der Geschossgeschwindig¬ 
keit nicht in der Rohrmündung liegt, sondern 
dem Geschoss durch die nachströmenden 
Pulvergase noch ein Geschwindigkeitszuwachs 
erteilt wird, der etwa 2,5®/o der Mündungs¬ 
geschwindigkeit betragt. Das Maximum trat 
bei dem Versuchsgeschütz erst auf i,8 bis 
2,1 m (25 Kaliber-Längen von der Mündung) 
auf und die Geschwindigkeit war erst 30 m 
von der Mündung wieder gleich der Münd¬ 
ungsgeschwindigkeit. 


Über Blitzableiter. 

Von Or. Jo II. Russner. 

Als der Physiker Wall im Jahre 1698 
zum ersten Male an einem grossen geriebenen 
Harzzylinder einen etwas lebhaften elektrischen 
Funken und ein stärkeres Geräusch wahr¬ 
nahm, sprach er alsbald die Idee aus, dass 
dieser Funken und dieses Knacken den Blitz 
und den Donner darzustellen schienen. Den 
Beweis für die Richtigkeit dieses Ausspruches 
hat aber erst der Amerikaner Franklin ge¬ 
liefert. Er kam auf den glücklichen Gedanken, 
die Elektrizität in den Gewitterwolken selbst 
aufzusuchen. Da sich in Philadelphia damals 
kein für seine Zwecke passender Turm befand, 
so machte Franklin seine ersten Versuche mit 
einem Drachen, den er steigen Hess, als sich 
Gewitterwolken am Himmel zeigten. 

Franklin hat seinen Versuch im Jahre 

1752 angestellt und derselbe wurde überall 
mit demselben Erfolge wiederholt. ') Diese 
Versuche bewiesen also, dass der Blitz ein 
mächtiger elektrischer Funke und das Ge¬ 
witter ein Prozess ist, bei welchem grosse 
Mengen Elektrizität zur Wirkung kommen. 

Aber auch wenn kein Gewitter stattfindet, 
selbst bei wolkenlosem Himmel und ruhiger 
Luft enthält die Atmosphäre Elektrizität. Die 
Beobachtungen ergaben, dass für gewöhnlich 
in der Luft positive Elektrizität sich befindet. 
Die Menge wechselt jedoch mit der Zeit, dem 
Orte und mit der Beschaffenheit der Atmo¬ 
sphäre. Zusammengefasst kann man sagen, die 
Menge der Elektrizität in der Luft befolgt den 
umgekehrten Gang, wie Temperatur und 
Feuchtigkeit. Bei niederer Temperatur ist 
somit viel, bei hoher Temperatur wenig Elek¬ 
trizität in der Luft. Woher diese Elektrizität 
kommt, darüber sind die Ansichten noch ge¬ 
teilt, etwas Bestimmtes weiss man nicht. Die 
grösste Wahrscheinlichkeit besitzt die An- 

*) Prof. R i c h m a n n in St. Petersburg wurde 

1753 durch einen Funken aus einem Blitzableiter, 
welchen er zu Versuchszwecken unterbrochen und in 
sein Arbeitszimmer geleitet hatte, getötet. 


nähme, dass die in der Luft vorhandene 
Elektrizität bei der Verdunstung des Wassers 
von der Erde in die Luft gelangt. Der Wasser¬ 
dampf in der Luft besteht aus ausserordent¬ 
lich kleinen unsichtbaren Bläschen und auf 
der Oberfläche derselben befindet sich die 
Elektrizität. Warme Luft ist leichter als kalte, 
und steigt deshalb aufwärts. Nach oben zu 
nimmt der Druck der Luft ab und die auf¬ 
steigende warme Luft kann sich deshalb auf 
einen grösseren Raum ausdehnen. Hierbei 
sinkt die Temperatur und es vereinigen sich 
jetzt Millionen Wasserbläschen zu einem ein¬ 
zigen Wassertröpfchen, es bilden sich Wolken. 
Da sich auf einem Wassertropfen sämtliche Elek¬ 
trizität ansammelt, welche in den Millionen 
Wasserbläschen war, so enthält ein Wasser¬ 
tropfen verhältnismässig viel Elektrizität. 

Wir hätten demnach in dem Aufsteigen 
von Dunstmassen und in der darauf eintreten¬ 
den Bildung von Wolken eine ausreichende 
Erklärung für das Auftreten sehr grosser 
Elektrizitätsmengen bei einem Gewitter. Damit 
soll aber nicht behauptet werden, dass nicht 
auch noch andere Ursachen mitwirken. Nach 
einer neueren von Prof. Sohnke aufgestellten 
Theorie wäre es die Reibung zwischen Wasser 
und Eis, welche die Elektrizität in den Ge¬ 
witterwolken liefert. Nach dieser Theorie 
findet diese Reibung in Höhen statt, wo die 
Temperatur unter Null-Grad liegt. Auf die 
Schwierigkeiten, auf welche man bei der 
weiteren Durchführung dieser Theorie stösst, 
hat Prof. Exner aufmerksam gemacht. 

Zur Erklärung der elektrischen Erschein¬ 
ungen nimmt man zwei Arten Elektrizität an, 
positive und negative. Ein elektrischer Funke 
entsteht nur zwischen zwei Körpern, von 
denen der eine positiv, der andere negativ 
elektrisch ist. Zur Entstehung eines Blitzes 
zwischen Wolke und Erde müssen die¬ 
selben verschieden elektrisch sein. Wie 
wir uns die Entstehung der Wolkenelektri¬ 
zität erklären, ist oben angegeben worden. 
Es bleibt daher jetzt noch übrig zu erklären, 
woher die Elektrizität in der Erde kommt. 
Man nimmt an, dass in jedem Körper gleich 
viel positive und negative Elektrizität sich 
befindet. Ist dies der Fall, so ist der Kör¬ 
per unelektrisch, die Wirkung der beiden 
entgegengesetzten Elektrizitäten nach aussen 
hebt sich auf. Enthält ein Körper von einer 
Art mehr Elektrizität als von der andern, so 
sagt man: er ist elektrisch. Die Erfahrungen 
lehren nun, dass gleiche Arten Elektrizität 
sich gegenseitig abstossen und ungleichartige 
sich anziehen. Ist eine positiv elektrische 
Wolke entstanden, so wird die positive 
Elektrizität derselben die in der Erde befind¬ 
liche negative anziehen und die gleichartige 




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Russner, Ueber Blitzableiter. 


663 


posittve abstossen. Die positive Elektrizität 
der Wolke und die negative aus der Erde 
wollen sich jetzt durch die Luft vereinigen. 
Durch die Luft kann aber die Elektrizität 
schwer hindurch und die Vereinigung oder 
ein Blitz wird nur zu Stande kommen, wenn 
auf der Wolke viel Elektrizität angesammelt 
ist. Je mehr Elektrizität auf einem Körper 
ist, desto grössep. ist das Bestreben derselben 
den Körper zu verlassen. Auf das Zustande¬ 
kommen eines Blitzes hat somit ferner 
die Entfernung der Gewitterwolken von 
der Erde Einfluss, welche 200 bis 5000 m 
betragen kann. Je niedriger die Gewitter¬ 
wolke ist, desto eher kommt ein Blitz zu Stande. 

Es ist leicht einzusehen, dass die von der 
Wolke aus der Erde angezogene Elektrizität 
an die höchst gelegenen Orte der Erde sich 
begeben wird, bevor dieselbe durch die Luft 
zur Wolke strömt. Alle Körper, welche über 
die Erdoberfläche hervorragen, sind deshalb 
am meisten der zerstörenden Wirkung eines 
Blitzschlages ausgesetzt. Daher kommt es, 
dass oft Tiere und Menschen mitten in der 
Ebene erschlagen werden und dass vorzugs¬ 
weise der Blitz in Häuser und Bäume schlägt. 

Kann die Elektrizität bei der Strömung 
von einem Ort zu einem anderen verschiedene 
Wege Einschlägen, so ist dieselbe wählerisch; 
man unterscheidet gute und schlechte Leiter. 
Durch Metalle geht die Elektrizität am leich¬ 
testen hindurch, dieselben sind gute Leiter. 
Trockene Erde, Mauerwerk und besonders 
trockenes Holz sind schlechte Leiter für die 
Elektrizität; sind diese Körper aber nass, so 
sind dieselben gute Leiter. Wird die Elek¬ 
trizität gezwungen, durch schlechte Leiter 
hindurchzugehen, so werden dieselben von 
ihr zertrümmert und wenn sie brennbar sind, 
entzündet. 

Die Gefährdung durch Blitz ist in Deutsch¬ 
land merkwürdiger Weise in beständiger Zu¬ 
nahme begriffen, so dass von 1850 bis 1880 
eine durchschnittliche Vermehrung der Blitzge¬ 
fahr um das dreifache anzunehmen ist. Der 
jährliche durch Blitzschlag angerichtete Scha¬ 
den wird jetzt auf 10 Millionen Mark für 
Deutschland veranschlagt. Hierbei sind nur 
diejenigen Blitzschläge gezählt, welche bei 
Feuerversicherungs-Gesellschaften angemeldet 
waren. > 

In flachen Gegenden sind Gebäude dem 
Blitzschläge mehr ausgesetzt, als in Hügel- 
und Gebirgsgegenden. So findet Prof. Holtz 
ftir Süddeutschland eine durchschnittliche Blitz¬ 
gefahr von 97, für Norddeutschland eine solche 
von 227 für eine Million Gebäude. Die Er¬ 
klärung hierfür ist darin zu suchen, dass in 
Gebirgsgegenden die Ortschaften meist in den 
Thälern liegen, so dass die dem Blitzschläge 


ausgesetzten höchsten Punkte in der Regel 
unbewohnt sind, während gerade in der Ebene 
die einzelnen Gebäude hervorragende, dem 
Blitze ausgesetzte Punkte sind. Die Nähe 
von grösseren Wassermengen, wie Flüsse und 
Teiche, bedingen im allgemeinen auch eine 
Vermehrung der ßlitzgefahr. Höhere Gebäude 
sind ferner dem Blitzschlag mehr ausgesetzt, 
als niedere. Der beste Beweis hierfür ist, 
dass die Blitzgefahr für Kirchen eine ausser¬ 
ordentliche grosse ist. Nach Prof. Holtz ist 
weiter die Gefährdung für ländliche Gebäude 
im Durchschnitt doppelt so gross, wie für 
städtische. 

Nach dem Gesagten wird jeder Leser leicht 
einsehen, wie man ein Gebäude vor Blitz¬ 
schlag schützen kann. Da die Elektrizität die 
zerstörende Kraft ist, so muss man dafür 
Sorge tragen, dass dieselbe nicht durch Teile 
eines Gebäudes geht. Wir müssen der Elek¬ 
trizität einen besseren Weg, als die Gebäude¬ 
teile sind, anlegen, damit sie aus der Erde 
in die Luft gelangen kann. Am besten geht 
die Elektrizität durch Metalle. Ein Blitzableiter 
wird daher aus einer metallischen Leitung 
bestehen, welche aus der Erde Über das Dach 
des Gebäudes führt. 

Für gewöhnlich und der Einfachheit wegen 
spricht man so, als strömte bei einem Blitz- 
, schlag Elektrizität nur von der Wolke in die : 
Erde; in Wirklichkeit strömen aber, wie'wir 
schon wissen, gleiche Mengen positiver und 
negativer Elektrizitäten zusammen. Ob nun 
die eine oder andere Art Elektrizität durch 
ein Gebäude oder einen Blitzableiter geht, 
bleibt sich in der Wirkung gleich. 

Ein Blitzableiter vermag bei gehöriger Aus¬ 
führung ein Gebäude gegen Blitzschlag voll¬ 
ständig zu schützen. Diese Thatsache wird 
zunächst durch Experimente bestätigt, welche 
sich mit künstlichen Elektrizitätsquellen an¬ 
stellen lassen. Versieht man nämlich einen 
beliebigen Gegenstand mit einigen, um die 
Aussenfläche desselben herumlaufenden Dräh¬ 
ten und lässt die kräftigsten Funken ein- 
schlagen, so wird der Gegenstand nicht 
getroffen. 

Der beste Beweis für den durch die Blitz¬ 
ableiter gewährten Schutz besteht aber in der 
durch mehr als 100 Jahre gemachten Erfahr¬ 
ung, dass Gebäude, welche mit Blitzableitern 
versehen sind, fast nie beschädigt werden, 
und dass namentlich solche Gebäude, welche 
in früheren Zeiten wiederholt und fast regel¬ 
mässig vom Blitze getroffen wurden, nach 
Anbringung eines Blitzableiters keinen Scha¬ 
den mehr erlitten. 

An einem Blitzableiter unterscheidet man 
drei Teile, die Erdleitung, die Luft- oder 
Dachleitung und die Auffangstangen. 


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664 


Rüssner, Ueber Blitzableiter. 


Die Erdleitung soll mit dem feuchten Erd¬ 
reich möglichst innig und mit grosser Fläche 
in Berührung sein. Die Auffangstangen müs¬ 
sen die höchsten Teile eines Gebäudes über¬ 
ragen und in der Weise beherrschen, dass 
der kürzeste Weg von den Wolken bis zum 
Gebäude der zur Fangstange ist. Die Luft¬ 
leitung muss auf dem kürzesten Wege Fang¬ 
stangen und Erdleitung verbinden. Es giebt 
zwei Systeme, nach welchen man eine Blitz¬ 
ableitung anlegen kann, nach Gay-Lussac und 
nach Meisen. 

Nach dem System von Gay-Lussac errichtet 
man eine oder zwei, dafür aber sehr hohe 
Fangstangen und führt von diesen starke 
Leitungen in das Grundwasser. 

Das System Meisen kennzeichnet sich 
durch eine möglichst grosse Verzweigung der 
einzelnen Teile, wodurch grösserer Schutz 
vorspringender Gebäudeteile bewirkt wird und 
wegen der Teilung der Elektrizitätsmenge 
schwächere Leitungen zulässig sind. Die Auf¬ 
fangstangen werden hier durch niedrigere 
aber viele Stangen gebildet. Die Luftleitung 
führt in vielfachen Drähten möglichst an allen 
Seiten des Gebäudes nach unten und die Ver¬ 
bindung mit dem Erdreich wird auch auf 
allen Seiten des Gebäudes hergestellt. Ein 
Melsen’scher Blitzableiter nähert sich also 
einem das Gebäude umhüllenden Metallnetze. 

Es fehlte noch an genügenden Erfahrungen, 
um einen entscheidenden Vorzug des Systems 
von Meisen vor dem älteren von Gay-Lussac, 
das bei guter Ausführung sich wohl bewährt 
hatte, behaupten zu können. Man hält jetzt in¬ 
dessen das Melsensche System für das bessere. 

Für das eigentliche Material zum Blitz¬ 
ableiter kommen nur Kupfer und Eisen in 
Betracht; andere Metalle sind entweder zu 
teuer, nicht haltbar genug oder zu wenig 
leitend. Das Kupfer empfiehlt sich durch 
seine Dauerhaftigkeit, seine bessere Leitungs¬ 
fähigkeit und seine leichtere Bearbeitung und 
Verlegung. Das Eisen empfiehlt sich durch 
seine grössere Festigkeit, seinen weit höheren 
Schmelzpunkt und seinen geringeren Preis, 
wodurch es der Gefahr, gestohlen zu werden, 
weniger als das Kupfer ausgesetzt ist. Da 
die Elektrizität durch das Eisen schwieriger 
hindurchgeht, muss man eine eiserne Leitung 
wenigstens doppelt so stark nehmen, als eine 
aus Kupfer. 

Nach dem System von Gay-Lussac würde 
man eine Blitzableitung wie folgt anordnen: 
Bei einem kleinen Gebäude errichtet man auf 
dem First eine oder zwei, bei einem grösseren 
Gebäude noch mehr Fangstangen von 4 — 5 
Meter Höhe. Die Fangstangen macht man 
aus Eisen und so stark, dass dieselben vom 
Wind nicht verbogen werden. Bisher hat 



Fig. I. 


man auf die Spitzen der 
Fangstangen sehr grosse 
Sorgfalt verwendet, indem 
man dieselben aus Platin 
machte oder vergoldete. 
Nach den neueren Anschau¬ 
ungen ist dies durchaus 
nicht notwendig, weil bei 
einem Blitzschlag doch die 
äussere Spitze abgeschmolzen 
wird und man dieselbe im¬ 
mer erneuern müsste. Früher 
glaubte man nämlich, dass 
durch eine gute Spitze die 
angezogene Elektrizität der 
Erde aus derselben ausstrahle 
und dann überhaupt kein 
Blitz zu Stande kommen 
könne. Dieses ist nicht rich¬ 
tig, denn die Wolkenelektri¬ 
zität entsteht so schnell, dass 


eine grössere Menge Elektrizität in dieser kur¬ 
zen Zeit aus einer Spitze nicht ausstrahlen 
kann. Da die Bäume sehr viele Spitzen haben, 
dürfte über einem Walde überhaupt kein 
Blitzschlag entstehen können, was mit den 
Thatsachen nicht stimmt. Es genügt, wenn 
man das Ende der Fangstange zu einer Spitze 
ausschmiedet, öfters verwendet man Gasleit- 
üngsröhren zu Fangstangen (Fig. l); in diesem 
Falle kann man eine kupferne Spitze anwen¬ 
den. Die Fangstangen werden an den Dach¬ 
sparren sorgfältig befestigt, und muss zu 
diesem Zwecke das untere Ende dazu einge¬ 
richtet werden. Jeder Klempner, Schlosser 
oder Schmied wird sich hier zu helfen wissen. 

Mit den Fangstangen verbindet man die 
Luft- oder Dachleitung, je mehr Luftleitungen 
man macht, umso dünner kann man dieselbe 
nehmen. Würde man bei einem kleinen Ge¬ 
bäude nur eine Luftleitung machen, so müsste 
man ein Kupferdrahtseil nehmen, das aus 
wenigstens 15 einzelnen Drähten von je 2 mm 
Stärke besteht. Bei zwei und mehr Luftlei¬ 
tungen verwendet man zweckmässig ein Draht¬ 
seil mit 10 Drähten. Wählt man als Material 
Eisen, so muss man verzinktes Eisen nehmen, 
damit dasselbe nicht rostet. Verwendet man 
statt Drahtseil massives Kupfer, so soll das¬ 
selbe wenigstens 6 mm und Eisen 8 mm 
stark sein. 

Jede Luftleitung führt auf dem kürzesten 
Wege in die Erde, und zwar möglichst bis 
zum Grundwasser und endet hier in eine 
grosse Platte oder gestaltet das Drahtseil zu 
einem grösseren Drahtnetz (Fig. 2). Ist das Mate¬ 
rial Kupfer, so wird der Teil, welcher in die Erde 
kommt, verzinnt und Eisen verzinkt, wodurch 
die Dauerhaftigkeit bedeutend vermehrt wird. 

Ganz besonders wichtig ist es, alle Fang- 


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Russner, Ueber Blitzableiter. 


665 



* Fig. 2. 

Stangen untereinander durch eine Luftleitung 
zu verbinden und diese über alle, den First 
öberragende Gegenstände zu legen. Nach 
einem Vorschläge von Werner Siemens 
soll dieses auch mit den Erdplatten geschehen. 
Dieses ist sehr empfehlenswert, da hierdurch 
die Erde auf einer grossen Länge mit dem 
Blitzableiter in Verbindung kommt. 

Da man eine Blitzableitung nicht aus einem 
Ganzen hersteilen kann, so sollen die Stellen, 
wo zwei Teile mit einander verbunden werden 
müssen, recht solid und dauerhaft gemacht 
werden. Vernieten und verschrauben allein i 
genügt nicht, "^weiL sich an diesen- Stellen 
Rost oder Kupferoxyd bildet, welches die 
Elektrizität nicht leitet. Aus diesem Grunde 
ist es erforderlich, alle Verbindungsstellen zu 
löten. Die Luftleitung braucht von einer 
Mauer nicht abzustehen, sondern kann mit 
Haken so an derselben befestigt werden, dass 
Berührung stattfindet. Sollte ungeachtet des 
Blitzableiters Elektrizität aus der Erde in die 
Mauer gelangen, so hat dieselbe noch Gelegen¬ 
heit, in die Blitzableitung Überzugehen. 

Soll die Blitzableitung jede Beschädigung 
des Gebäudes sicher verhüten, so haben die 
Erfahrungen gelehrt, dass ausgedehntere Me- 
tallmassen am Gebäude mit der Luftleitung 
des Blitzableiters zu verbinden sind. Solche 
Metallmassen sind Dachrinnen, Sims- und 
Dacheindeckungen, Geländer, eiserne Dach¬ 
konstruktionen u. a. Zu diesen Verbindungen 
kann man dünnere Drähte als zur Hauptlei¬ 
tung verwenden. 

Nach dem System von Meisen wird man 
mehrere kleine Fangstangen anordnen, und 
mehr dünnere Luftleitungen ziehen. Zu die¬ 
sen Leitungen kann man gewöhnlichen ver¬ 
zinnten Telegraphendraht nehmen, welcher 
5 mm stark ist. • 

Bis vor etwa 15 Jahren hat man dem 
Blitzableiter recht wenig Aufmerksamkeit ge¬ 
schenkt, und sind deshalb die alten Blitz¬ 


ableitungen recht schlecht angelegt. In neu¬ 
ester Zeit neigt man zur Ansicht, dass ein 
schlechter Blitzableiter immer noch besser ist, 
als keiner, da hochgespannte Elektrizität 
grössere Widerstände mit Leichtigkeit über¬ 
windet. 

Da eine gut angelegte Blitzableitung ein 
Haus sicher vor Beschädigung schützt, so 
sollte jeder Hausbesitzer danach streben, sein 
Haus in der angegebenen Weise mit einer 
Blitzableitung zu versehen. Die Kosten sind 
in kurzer Zeit wieder gedeckt, indem ein 
Haus mit guter Blitzableitung niedriger in 
die Brandkasse eingeschätzt wird. Besonders 
ist es den Landbewohnern zu empfehlen, für 
gute Blitzableiter Sorge zu tragen, da bei 
ländlichen Gebäuden die Gefahr, vom Blitz 
getroffen zu werden, grösser ist, als in Städten. 
Wenn ein Gutsbesitzer bei der Anlage eines 
Blitzableiters selbst mit behilflich ist, so sind 
die Kosten ziemlich mässige. 

Eine erhöhte Bedeutung erlangen in letzter 
Zeit die Blitzableiter für elektrische Leitungen 
mit hochgespannten Strömen. Solche An¬ 
lagen sind ganz besonders Blitzschlägen aus¬ 
gesetzt und können dadurch höcht unange¬ 
nehme Betriebsstörungen eintreten. Die Firma 
Siefnens & Halske in Berlin - Charlottenburg 
hat einen Blitzableiter für Hochspannungs- 
Anlagen konstruiert, der sich nach den bis¬ 
herigen Erfahrungen ftlr Leitungen über 
1000 Volt Spannung gut zu bewähren scheint. 
Er besteht aus 2 Drähten, die unten nahe 



zusammenstehen, deren Spitzen aber weil von 
einander abstehen. Der eine Draht ist mit 
einer Leitung der elektrischen Anlage ver¬ 
bunden, der andere führt in die Erde. 

Der Blitz findet durch den Apparat einen, 
soweit es Oberhaupt erreicht werden kann, 
induktionsfreien Weg zur Erde, indem er die 
Luftstrecke zwischen den beiden vertikalen 
Teilen der Drähte durchschlägt. Leitet der 
Blitzschlag dabei einen elektrischen Lichtbogen 
ein, so wird dieser durch die aufsteigende 
warme Luft und durch die elektrodynamische 
Wirkung des in den Drähten fliessenden 
Stromes nach oben getrieben. Da die Drähte 


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666 


Ein unentdecktes Gas. 



nach oben auseinander weichen^ muss er da¬ 
bei immer länger werden und schliesslich er¬ 
löschen, was im Verlauf von wenigen Sekunden 
erfolgt. 

Die Abbildungen 4 und 5 stellen photo¬ 
graphische Aufnahmen eines bei 10000 Volt 
kurzgeschlossenen Blitzableiters dar. Fig. 4 
ist eine Daueraufnahme von etwa 3 Sekunden, 
in welchen der Lichtbogen in die Höhe 
getrieben worden ist, da bei jedem Strom¬ 
wechsel die Fusspunkte des Lichtbogens 
abwechselnd etwas nach oben wandern. 


Fig. 5 ist eine Aufnahme, die mit Hilfe 
einer rotierenden radial geschlitzten Scheibe 
gemacht wurde. Von den vielen Licht¬ 
bogen, in die man sich die bei dem Kurz¬ 
schluss auftretende Flammenerscheinung auf¬ 
gelöst denken muss, sind in der Abbildung 
nur wenige sichtbar. Sie lassen erkennen, 
dass der Lichtbogen in jedem Augenblicke 
ein dQnnes Band bildet, das sich den Wirbeln 
der Luft folgend, in mahnigfacher Weise 
verschlingt. 


Fig. 4. 

Ein unentdecktes Gas. 

(Rede von Prof. W. Ramsay vor der British Association. 

Nature, 19. August 1897.) 

Die chemischen Elemente zeigen gruppenweise 
grosse Ähnlichkeiten unter einander; so haben 
z. B. Kalium, Natrium und Lithium sowohl als 
Elemente, wie auch als Verbindungen viele Ana¬ 
logien, ebenso Chlor, Jod und Brom, ferner Eisen, 
Kobalt und Nickel. Mendelejeff und der ver¬ 
storbene Lothar Meyer haben sämtliche Ele¬ 
mente nach ihren Eigenschaften gruppiert (das sog. 
periodische System der Elemente) und merkwür¬ 
dige Beziehungen zwischen den einzelnen Gruppen 
nachgewiesen. — An einzelnen Stellen diesesSystems 
ergaben sich jedoch Lücken, d. h. man kannte keine 
Elemente, die sich als Übergangsglied zwischen zwei 
benachbarten Elementen hätten erweisen können, 
wie z. B. das flüssige Brom das Übergangsglied 
zwischen dem gasförmigen Chlor und dem festen 
Jod ist. Man konnte ganz genau sagen, welche 


^•ig- 5 - 

Eigenschaften, welches Atomgewicht das betr. Ele¬ 
ment haben müsste — aber man hatte es noch nie 
gesehen. Als man später einige neue Elemente fand 
(Gallium, Germanium u. a.), zeigte es sich, dass 
sie genau die Eigenschaften besassen, welche die 
fehlenden Elemente aufweisen sollten, mehrere 
Lücken wurden also durch die Entdeckung ausge- 
fbllt. Nun gehören die Elemente Argon und Helium 
offenbar in eine gemeinsame Gruppe. Das Atom¬ 
gewicht von Helium ist 4, das von Argon 40. Der 
Analogie nach muss zwischen beiden ein Element 
existieren mit dem Atomgewicht ao, ebenfalls ein 
Gas und chemisch ebenso indifferent, wie die bei¬ 
den vorerwähnten. 

Das englische Sprichwort „looking for a 
needle in a hay stack“ (in einem Heuhaufen eine 
Nadel suchen) würde in der modernen Wissen¬ 
schaft zu Schanden werden: mit einem gehörigen 
Magneten ausgerüstet, wäre das eine Kleinigkeit. 
Da ist es doch ein ganz anderes Problem, auf der 


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Betrachtungen und kleine Mitteilungen. 


667 


ganzen Welt nach einem neuen Gas zu suchen, das 
voraussichtlich nur negative Eigenschaften besitzt. 
Es ist hochinteressant zu hören, was Ramsay und 
seine Schüler alles gethan haben, um dies unbe» 
kannte Gas aufzutinden. Helium wurde bisher nur 
in Mineralien gefunden. Ramsay und Morris Travers 
erhitzten daher jedes Mineral, das sie nur aufgabeln 
konnten, im Vakuum und untersuchten das daraus 
erhaltene Gas. Fast alle Mineralien entwickelten 
hierbei Gase; meist Wasserstoft’, etwas Kohlen¬ 
säure, Stickstoff und Kohlenoxyd. Andere ergaben 
noch Helium, das sich als ein, allerdings stets nur 
in Spuren vorhandener, weitverbreiteter Bestand¬ 
teil erwies. Ein Mineral — Malakonit — ergab er¬ 
hebliche Mengen Argon; beiläufig das einzige Mi¬ 
neral in dem, ausser einmal in einem Stück Meteor¬ 
eisen, Argon gefunden wurde. Die anderen Meteor- 
cisen enthielten nur Wasserstoff. Vielleicht giebt 
das einmal ein Unterscheidungsmerkmal für die 
verschiedenen Meteoritenschwärmc. - Aut einer 
Tour in Island im Jahre 1895 sammelte Ramsay Gas 
aus den dortigen heissen Quellen) ausser Luft ent¬ 
hielt es nur etwas Argon. - Im Frühjahr iSpöreiste 
er mit M. Travers nach den Mineralquellen von 
Canteret in den Pyrenäen, weil er gehört hatte, 
dass sie viel Helium enthielten, aber vergebens. 
Nun packte der Gelehrte das Problem von einer 
andern Seite an: ist vielleicht Helium ein Gemisch 
zweier verschiedener Gase? — Um zwei Gase, die 
keine chemisohen Verbindungen eingehen, zu trennen, 
giebt es k'fem anderes Mittel als das der D^ision, 
d. h. man bringt sie in ein Gefäss, das etwa durch 
eine unglasierte, poröse Thonplatte abgeschlossen 
ist; sg wird ,das, leichtere. Gas. . SchaeUgr, durch, die 
Thonplatte dringen, als das schwerere. Etwa 180- 
mal nahmen Ramsay und Dr. Collie solche Dif¬ 
fusionen mit dem gleichen Quantum Helium vor und 
erhielten schliesslich in der That zwei Gase von ver¬ 
schiedener Dichte. Die Dichte des leichteren Anteils, 
die nicht mehr vermindert werden konnte, betrug 
1,98, während die von Helium nahezu 2 ist. Sein 
Spektrum entsprach genau dem des Helium. Es 
war deshalb anzunehmen, dass sie nun reines lielinm 
vor sich hatten. — Nun gingen sie an den ^hwe- 
reren Anteil. Aus diesem konnten sie stets wieder 
einen leichteren Bestandteil herausdiflfundieren, der 
sich als Helium erwies. Und schliesslich behielten 
sie einen ganz kleinen Prozentsatz (ca. 1,5 pCt. der 
Gesamtmenge) eines schweren Gases, das sich als 
— Argon zu erkennen gab. — Das Mittelglied 
zwischen Argon und Helium ist also noch nicht 
entdeckt. Bechhold. 


Betrachtungen und kleine Mitteilungen. 

Der Aufstand !n den indisch • afghanischen 
Grenzgebieten. Eingeklemmt zwischen Britisch¬ 
indien und Russisch-Asien liegt Afghanistan, auf 
dessen Kosten sich die beiden vorgenannten Reiche 
immer mehr zu nähern suchen. — Russland treibt 
hier offenbar eine geschicktere Politik und der 
Russe ist auch ein besserer Kolonisator als der 
Engländer; wälirend ersterer sich dem neuen Volk 
anpasst und mit ihm verschmilat, steht ihm der 
Engländer fremd gegenüber und bewahrt seine von 
Hause mitgebrachten Gewohnheiten aufs strengste 


auch in der Feme. Es ist daher nicht zu verwun¬ 
dern, dass die Kunde von den Siegen des Khalifa 
in Konstantinopel einen mächtigen Eindruck auf die 
strenggläubigen mohammedanischen Grenzvölker 
macht und dass die Predigten fanatischer Priester 
jene Stämme, deren Element schon an sich Krieg und 
Raub ist, leicht zum heiligen Krieg gegen die 
Fremdlinge, die Engländer, aufzustacheln vermag. 



Dass es sich um ein weites Aufstandgebiet handelt, 
sieht man bei einem Blick auf die Karte. Von 
Quetta bis zum Swai erstreckt es sich, eine Ent¬ 
fernung etwa wie von Basel bis;Hamburg, ein wil¬ 
des unwegsames Land, das nur an einzelnen Pässen 
und Flussthälern Zugänge bietet. In der That 
existiert auch keine grössere Strasse nach dem 
Indus, auf der nicht jene Bergvölker einen Vorstoss 
wagen. Durch das Kuram-Thal, das Tochi-Thal und 
über den Khaiber-Pass ergiessen sich die Afridi 
und Orakzai, der Kohat-Pass zwischen Peschawar 
und Kohat ist in ihren Händen, andere Stämme 
versuchen einen Vorstoss im Kabul-und Swat-Thal. 
Gerade mit den mächtigsten Bergvölkern, auf deren 
Zuverlässigkeit sie gerechnet hatten, haben es die 
Engländer zu thun, mit ausdauernden, unerschrocke¬ 
nen Leuten, geborenen Kriegern und fanatischen 
Mohammedanern. Ob es nur der Glaubenseifer ist, 
der die Stämme zum Angriff treibt, ob Emir Abd 
ur Rahmän sich als ein fauler Freund erweist, der 
die Unzufriedenheit in Indien richtig erkannt hat, 
oder ob der Rubel im Lande rollt, das wird erst 


' 1 1 


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668 


Betrachtungen und kleine Mitteilungen. 


die weitere Entwicklung der Dinge zeigen; viel¬ 
leicht wirken auch alle diese Faktoren gemein¬ 
schaftlich. 


* Ein neuer photographischer Refraktor wird 
für das astro^ysikalische Observatorium in Pots¬ 
dam gebaut. Der Refraktor besteht aus zwei paral¬ 
lelen Fernrohren, von denen das eine zu photo¬ 
graphischen Aufnahmen, das andere als Leitfem- 
rohr dient. Nun haben die Untersuchungen Vogels 
ergeben, dass der Lichtverlust der gegenwärtig 
besten, nämlich der Jenaer Gläser, welche zu 
Fernrohrobjektiven Verwendung finden, trotz ihrer 
grossen Durchsichtigkeit und Farblosigkeit mit der 
Zunahme der Grösse (und daher auch der Dicke) 
dieser Gläser ein so enormer ist, dass die Leistungs¬ 
fähigkeit der Riesenobjektive bei einer weiteren 
Vergrösserung der Linsen nur ganz minimal ge¬ 
winnt, und es ist daher beschlossen worden, bei 
dem photographischen Hauptrohr des neuen In¬ 
strumentes bei einem ObjeKtivdurchmesser von 
8o cm stehen zu bleiben, dafür aber dem für op¬ 
tische Strahlen achromatisierten Leitfemrohr ein 
Objektiv von 50 cm Durchmesser zu geben, wo¬ 
durch dies allein alle bisher in Deutschland vor¬ 
handenen Beobachtungsinstrumente für wissen¬ 
schaftliche Zwecke an optischer Leistungsfähigkeit 
übertreffen und eben das grösste deutsche Beob¬ 
achtungsinstrument im Dienste der Forschung sein 
w'ird. Bei dem für chemische Strahlen achromati¬ 
sierten Hauptfemrohr des neuen Instrumentes be¬ 
trägt nämlich nach Vogels Untersuchungen der 
durch die Absorption in dem 80 cm breiten und 
12 cm dicken Objektiv hervorgebrachte LichtverlusU 
für die chemisch wirksamen Strahlen des Sternen¬ 
lichtes bereits 40 v. H. Die Länge der beiden 
Rohre wird aber nahe dieselbe sein, indem das 
photographische Rohr eine Brennweite von 12 m, 
das für direkte Okularbeobachtungen konstruierte 
eine solche von 12V* m haben wird. Für das neue 
Fernrohr ist ein Bauplatz von 2000 qm durch Ab¬ 
holzung der Bäume geschaffen, zu dem jetzt eine 
neue Fahrstrasse angelegt ist. Die Kuppel, unter 
der das Rieseninstrument aufgestellt werden wird, 
soll einen Durchmesser von. 21 m bekommen, der 
Pfeiler, auf dem das Instrument zu stehen kommt, 
wird 8 m hoch, mit einer kreisförmigen Grundfläche 
von 7'/« m. Durch das neue Instrument wird die 
deutsche Himmelsforschung in den Stand gesetzt 
werden, nun auch mit den Leistungen der ameri¬ 
kanischen Füesenfemrohre zu wetteifern, was mit 
ihren beschränkten Mitteln bisher ausgeschlossen 
war. Eine der wichtigsten Untersuchungen, die das 
neue Instrument ermöglicht, ist die Ausdehnung der 
Potsdamer Untersuchungen über die Bewegung der, 
hellen Fixsterne auf unser System zu, oder von 
uns fort, auf die Sterne der schwächeren Grössen¬ 
klassen, wodurch ein ganz wesentlicher Fortschritt 
in der Erkenntnis der Bewegungsverhaltnisse im 
Fixsternsystem geschaffen werden wird. 

• 

— Wie uns die chemische Fabrik von W, 
Katz & Co. (Frankfurt a. M.) mitteilt, beruht die 
Angabe des Herrn Wimmer (Zeitschr. d. Ver. d. 
Ingenieure, vgl. Umschau No. 36, S. 650), auf Irr¬ 
tum. Sie selbst liefert Calcium-Carbid zu M. 45.— 
per 100 Kilo, bei grösseren Quantitäten sogar zu 
M. 40.—.bis M. 36.—. Während die amerikanischen 
Fabrikate nur 270 Liter Acetylen, geben, erzielte 
man aus dem Kilo deutschem und schweizerischem 
Calcium-Carbid bis 320 Liter. Ein wesentlicher 
Grund, der die Einführung des Acetylen als Beleuch- 
iungstniiiel hindere, sei der Mangel eines Apparates 


zur Erzeugung desselben, der allen Anforderungen 
— besondfers bezüglich der Sicherheit — entspreche 
und eines geeigneten Brenners, auch wirkten die 
strengen Polizeivorschriften sehr hemmend. Ferner 
schreibt die Firma: „Es dürfte die Leser Ihres ge¬ 
schätzten Blattes noch interessieren, dass sich am 
29, August in Frankfurt a. M. ein Verein konstituiert 
hat, dem erste Autoritäten auf dem Gebiete des 
Calcium-Carbid und Acetylen als Mitglieder beige¬ 
treten sind. — Dieser Verein stellt sich die Aufgabe, 
die Behörden durch wissenschaftliche Beweise und 
durch praktische Vorführungen .von der Ungefähr¬ 
lichkeit des Acetylengases zu überzeugen; ferner 
durch Vorträge und durch die Presse dahin zu 
wirken, dass das grosse Publikum dieses schönste 
und billigste Licht kennen lernt*. 

• 

• • 

* Eine Schiffsfähre von gewaltigen Dimen¬ 

sionen, die gleichzeitig als Eisbrecher dient, wird 
zum Übersetzen der Züge der transsibirischen Bahn 
Ober den Baikalsee in England gebaut. Dieselbe 
wird eine Länge haben von 290FUSS (= 88,3 m), 
eine Breite von Fuss (= 17,3 m), einen Raum¬ 
gehalt von 4200 Tonnen, eine Maschine von 3750 
Pferdestärken und drei Schrauben und soll 13 Knoten 
zurOckl^en. Auf dem Verdeck wird sie einen Zug 
von 25 ftickwagen aufnehmen können, um ihn von 
Listwinitschnoje (der künftigen Endstation der si¬ 
birischen Eisenbahn am Westufer) und Myssowaja 
(der künftigen Endstation am Ostufer) und umge¬ 
kehrt überzuführen. Die Brechkraft des Schiffes ist 
so berechnet, dass es Eis von \ m Dicke bewäl¬ 
tigen kann. Zum Schutze gegen den Druck wird 
der Rumpf mit einem daumdicken Eisenpanzer von 
neun Fuss Breite und von Oberaus fester Konstruk¬ 
tion versehen sein. Dieser'Umfassung nach erinnert 
das Schiff an die berühmte „Fram“ Nansens, aber 
seinem Umfang und seiner Konstruktion nach steht 
es bisher ohne Beispiel in der Geschichte der Eis¬ 
brecher da. Beides ist durch die äusserst schwier¬ 
igen Verhältnisse, unter denen die Schifffahrt auf 
dem gefährlichen Baikalsee steht, bedingt und durch 
die besonderen Aufgaben des Fahrzeuges, das als 
Schiffsfähre, ohne Rücksicht auf die Witterung, 
täglich eine bestimmte Anzahl von Fahrten machen 
muss und genötigt ist; seine Fahrten möglichst weit 
in den Winter hinein fortzusetzen, nicht niff ohne 
die schwimmenden Eismassen zu fürchten, sondern 
geradezu unter Aufnahme eines Kampfes mit dem 
Eise, das schon im Spätherbst fest wird und im 
zeitigen Frühjahr seine Festigkeit zu verlieren be¬ 
ginnt. Globus vom 4. Sept. 1897. 

•Mosaiken. In Sparta sind im Hause des 
Chrestos Grillos in einer Tiefe von anderthalb 
Metern unter dem Fussboden zwei grosse Mosaiken 
aus guter Zeit und von vorzüglicher Erhaltung auf¬ 
gefunden worden. Daseine von ihnen stellt Orpheus 
dar, wie er die Leier spielt und die wilden Tiere 
zähmt, auf dem andern sind Blumengewinde zu 
sehen. Wenige Meter von dem Hause hat man ein 
drittes Mosaik entdeckt, das den Raub der Europa 
zum Gegenstände hat. 

Mitteil. d. k. k. Österr.Museums (. Kunst u. Industrie, 97 H. VIII. 

• ln demKampfe um dasZeichnen nach 
Gyps sind kürzlich Äusserui^en zweier Meister 
bekannt geworden, die jede Partei als Autoritäten 
anerkennt. Die „Gegenwart“ hatte ein Zirkular an 
berühmte Meister gerichtet mit der Frage, ob sie 
das Zeichnen nach Gyps für ein Studium nach der 
Natur und ob sie es für nützlich halten. Darauf 
antwortete Menzel: „N. B. Alles Zeichnen ist nütz¬ 
lich und Alles zeichnen auch“, — und Böcklin: 
„Einem intelligenten, begabten Menschen kann jede 


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Betrachtungen und kleine Mitteilungen. 


669 


Übung im Zeichnen zum Nutzen gereichen. Einem 
Scha^kopf ist alles schädlich.“ 

Zcitschr. d. bayer. Kunst.Gewerbe-Vereins, H. 7. 

* Eine grosse Eisenbrücke im Gewicht 
von 40oTonnenin einer Nacht aufzustellen, .wird 
in Paris beabsichtigt. Es handelt sich um Über* 
brückung des ^ MetCT breiten Einschnittes der 
Nordbahn zwischen Rue Stephenson und Rue de 
la Chapelle. Die aus einem Bogen bestehende 
Brücke wird, um den Zugsverkehr nicht zu stören, 
in der Nähe fix und fertig aufgebaut und über den 
Einschnitt geschoben. Damit der Schwerpunkt des 
Kolosses bis zum Gewinnen beider Stützp)unkte auf 
fester Grundlage ruht, erhält derselbe eine provi¬ 
sorische Verlängerung von 26 Metern. 

* Neue Liebhaberkunst. Zu den zahl¬ 
reichen künstlerischen Beschäftigungen, welche na¬ 
mentlich von Damen geübt werden, scheint eine 
neue Technik zu kommen, die bei einiger zeich¬ 
nerischer Fertigkeit hübsche Wirkungen verspricht 
Sie besteht in einer Art Lederätzung, indem mit¬ 
telst alkalischer Beizen auf lohgarem Leder dunkel¬ 
braune bis nahezu schwarze Zeichnungen hervor- 

ebracht werden. Letztere lassen sich sowohl in 

trichmanier als auch in getuschter Manier dar¬ 
stellen, und erhalten damit manchen Vorzug gegen¬ 
über dem Verfahren mit dem Brennstift, der ähn¬ 
liche Effekte von geringerer Vollkommenheit zu 
geben vermag. Nach einem Bericht des „Alle. An¬ 
zeiger für Buchbindereien" sind zu dieser Kunst¬ 
technik nur eine Lauge in verschiedener Verdünn¬ 
ung und an Stelle eines Pinsels ein Filzstift zur 
Anlegung von Flächen erforderlich und wären da¬ 
mit die Nachteile, welche der Gebrauch des Benzin- 
Brennstifts im Gefolge hat, auch als beseitigt an- 
zusehen., 

* Die Arbeiten am Kanal von Panama 
werden, wie Prof. Regel, der von seiner* Forsch¬ 
ungsreise in Columbia glücklich zurückgekehrt ist, 
in einem in Petermanns MtteUungen veröffentlichten 
Briefe mitteilt, durch die Nordamerikaner langsam 
aber sicher gefördert. Es sollen 4000—5000 Arbeiter 
jetzt beschäftigt sein, hach anderen Angaben sogar 
8000 und 2000 Beamte, die namentlich an der Boca 
bei Panama tüchtig schaffen, ebenso bei Culebra. 

General Ph. Sheridan, der vor einigen Jahren 
die Ver. Staaten-Truppen im Westen befehligte, 
besuchte damals den Stamm der Spokanesen und 
erzählte, vermittelst eines Dolmetschers, den India¬ 
nern die Wunder der Eisenbahn und wartete dann, 
Tim zu sehen, welche Wirkung dieses auf sie aus¬ 
üben würde. „Was sagen sie?“ fragte er den 
Dolmetscher, „sie sagen, sie glauben es nicht", 
war die Antwort Sheridan schilderte dann ein 
Dampfschiff, und der Dolmetscher wiederholte dies 
den Indianern. „Was sagen sie dazu?“ fragte der 
General wiederum, indem er sah, dass die Indianer 
ungläubig dreinschauten. „Sie sagen, sie glauben 
das auch nicht“. Dann beschrieb der General das 
Telephon und erklärte ihnen, wie ein Mann an 
einem Ende eines langen Drahtes mit einem andern 
spräche. Der Dolmetscher blieb still. „Nun“, sagte 
der General, „warum verdolmetschen Sie ihnen 
das nicht“. „Weil ich die Sache selbst nicht glaube“, 
antwortete der gewissenhafte Mann. 

Die Freunde eines unverfälschten Volkstums 
freilich eines etwas vom europäischen Horizont ab¬ 
seits liegenden, seien auf die treffliche Sammlung 
von australischen Erzählungen und Legenden auf 
merksam gemacht, die am Ende des vorigen Jahr- 
res (London, David Nutt, übrigens auch mit Illu¬ 
strationen versehen) mit einer Einleitung des be¬ 


kannten Folkloristen Andrew Lang versehen, 
durch Parker, einem langjähri'gen Beobachter aus¬ 
tralischen Lebens und Denkens, veröffentlicht ist 
Auch hier befindet sich wieder, was auch ander¬ 
weitig hervortritt, eine Ursprünglichkeit und Naive- 
tät des Empfindens und der Anschauung, die uns 
an die Entwicklungsstadien der primitiven Kultur 
zurückführt, wie sie eben in insularer Isolierung sich 
hier ungestört durch fremde Einflüsse entfalten 
konnte. Und ebenso geht mit zwingender Deut¬ 
lichkeit aus diesen uralten Liedern hervor, (was 
Kurs und andere eindringende Forscher auch be¬ 
stätigen), dass die Australneger durchaus nicht so 
bestial sind inbezug auf ihr Gefühl, ihre Lebensan- 
schauimg, Sitten und Gebräuche, wie sie eine mit¬ 
leidslose Ethnologenschule gelegentlich wohl schil¬ 
dert, vielleicht um die über alles empörende. Be¬ 
hausung dadurch in ein milderes Licht zu rücken, 
welche die Eingeborenen von den Vertretern der 
überlegenen Zivilisation, besonders von den Eng¬ 
ländern, erfahren haben, die sie z. Z. totschossen, 
wie wilde Hunde. .Dr. Tiw Achius. 

— Von dem Hausschatz moderner Kunst, den 
die Gesellschaft für verviel^tlgende Kunst ln 
Wien herausgiebt, sind vor Kurzem die Lieferungen 
mvei und drei erschienen. Sie werden dem schönen 
und echt volkstümlichen Unternehmen gewiss zahl¬ 
reiche neue Freunde erwerben, denn es ist in ihnen 
eine Reihe ganz hervorragender Blätter enthalten. 
Wir nennen Schindleris sonnige, träumerische Land¬ 
schaft „Aus dem Süden“, die in einer Radierung 
von W. Unger erscheint; das ergreifende Tendenz¬ 
bild von Gabriel Max „Der Wviseetör,; Kuehls 
„Lübecker Waisenmädchen“, ein Bild, dessen kolo¬ 
ristische Eigenart die Stichradierung von Krüger 
vortrefflich wiederaebt; Rottmann’s „Griechische 
Meeresküste“ und Schwind’s phantastischen „Rübe¬ 
zahl". Dankenswert ist es, dass der Hausschatz 
nicht nur Reproduktionen von Bildern, sondern 
auch Originalradierungen- bringt. Schönleberis pit¬ 
toresker „Kanal Rotterdam“ zeigt, dass der berühmte 
Landschaftsmaler Licht und Luft nicht nur mit den 
reichen Mitteln der Farbe, sondern auch mit dem 
einfachen Kontraste von Schwarz und Weiss über¬ 
zeugend darzustellen versteht — Wir möchten 
neuerdin^ darauf hinweisen, dass der Ladenpreis 
pro Lieferung Mk. j.— ein aussei^ewöhnlich 
mäs^er ist, wodurch weitesten Kreisen die An- 
schafmng dieses künstlerisch wertvollen Haus¬ 
schatzes ermöglicht wird. 


Sprechsaal. 

Herrn kgl. Hauptlehrer B in E. Ein Körner 
kann gleichzeitig saure und basische Eigenschaften 
besitzen, wenn er sich nämlich sowohl mit Säuren 
als auch mit Basen zu sogen. Salzen verbindet In 
der oi^anischen Chemie giebt es unzählige Bei¬ 
spiele dafür; der einfachste derartige Körper ist 
wohl die Amidoessigsäure (GlycocoU), ein anderes 
Beispiel sind die Eiweisskörper. Behufs Einreihung 
in em Sjrstem wird man den Körper, wenn der 
Kern basisch ist, zu den Basen zählen. 


No. 3S der Umsclian wird eotfaeltea: 

Busse, Ober Theorie und Praxis der Graphologie. — Werner, 
Epik und Lyrik im vergangenen Jahre, — Pasig, Das moderne 
ägyptische Volkslied. — Ersatz Leipzig. 


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Im Ausland nach Cours. 
Verantwortlicher Redaktear: 

Otto Adolf Wolters, Frankfurt a. M. 


38. 1. Jahrg. '^-^**^* 1897. 18. September. 


Über Theorie und Praxis der Graphologie. 

Von Hans H. Busse. 

Die Graphologie wird heutzutage von den 
einen als eine Wissenschaft (Kunst wäre viel¬ 
leicht der richtigere Ausdruck) angesehen, 
an deren Prinzipien nicht zu zweifeln sei, der 
es nur noch an einer weiteren Ausbildung 
fehle. Auf der anderen Seite stehen die 
Skeptiker, die sie mehr oder minder als 
„Humbug" betrachten. Wir halten es immer¬ 
hin für angemessen, unseren Lesern von einem 
der bekanntesten Vertreter des Faches, Herrn 
Hans H. Busse, ein Bild von den Grund- 
lehren und dem heutigen Stand der Grapho¬ 
logie geben zu lassen. Die Redaktion. 


Immer zahlreicher werden die Berührungen 
der Geisteswissenschaften mit den Naturwissen¬ 
schaften. Von verschiedenen Punkten aus 
wird dem Wechselverhältnisse von Körper 
und Seele nachgespürt. Hierher gehören be¬ 
sonders auch die Forschungen bezüglich der 
Übersetzung von individuell-psychischen Zu¬ 
ständen in körperliche Erscheinungen. La- 
vater’s „PhysiognomischeFragmente“ bezeich¬ 
nen den epochemachenden, gegenwärtig aller¬ 
dings nicht mehr aktuellen Anfang dieser 
Forschungen. Aus den Handschriften Rück¬ 
schlüsse machen auf den seelischen Charakter 
der Handschriften-Urheber, das will die 
Graphologie. So nämlich wurde dieser Zweig 
der allgemeinen Physiognomik vom Abbe 
Jean Hippolyte Michon genannt, welch letz¬ 
terer in den Jahren 1872—1881 die bereits 
vielhundertjährigen Ansätze zu dieser Wissen¬ 
schaft zusammenfasste, möglichst systematisch 
ausbaute und in einer Anzahl erster grund¬ 
legender Werke veröffentlichte. Seitdem sind 
anderthalb Jahrzehnte verstrichen, und dieser 
Zeitraum hat bereits genügt, um der Grapho¬ 
logie eine modern-wissenschaftliche Behand- 

UitnehBB 1897. 


lungsweise angedeihen zu assen und dadurc'i 
eine bedeutungsvolle Weilteröntwicklung zu 
geben. *) 

Die Theorie der Graphologie hat aus em¬ 
pirischen und induktiven Beobachtungen die 
Grund-Gesetze der’ Handschriften-Bildungen 
und der seltsamen Umsetzungen individueil- 
seelischen Lebens zu graphischen Darstel¬ 
lungen entwickelt. Bekanntlich gehört das 
Schreiben zu den willkürlichen Bewegungen, 
ihm eignet die Vorstellung von dem, was und 
wie geschrieben werden soll. Dem schreiben¬ 
den A-B-C-Schützen wird die Bewegungsart 
. von Arm, Hand und Fiiiger, welche zum 
Schreiben der einzelnen Buchstaben und zu 
ihrer Zusammenordnung ftihrt, nur durch 
grosse Übung geläufig. 

Alle willkürlichen Bewegungen fallen nie¬ 
mals — zu verschiedenen Zeiten und von 
verschiedenen Personen ausgeführt — völlig 
gleich aus; sie unterscheiden sich in bestimmter 
„charakteristischer“ Weise. So ist bei den 
Bewegungen des Gehens und Laufens der 
Zweck für alle Menschen der gleiche; die 
bezüglichen Bewegungsgesetze sind nur im 
allgemeinen bestimmt, und demnach geht 
der Eine langsam, mit weiten festen Schritten, 
ein Anderer aber langsam mit weiten, schwan¬ 
kenden, schleifenden Schritten. Ähnlich ver¬ 
hält es sich beim Laufen. Und ähnlich ver¬ 
hält es sich auch bei ' den willkürlichen 
Bewegungen des Marschierens und des Tan- 
zens, obwohl die Bewegungen hier viel genauer 
bestimmt sind und keine wesentlichen Modi¬ 
fikationen zuzulassen erscheinen. 

Die Herstellung der willkürlichen Beweg¬ 
ungen wird beeinflusst von gleichzeitigen 
Vorstellungen und Gefühlen, d. h. von der 
angeborenen und durch vielartige Erziehung 

*) Vgl. Prof. W. Preyeris „Zur Psychologie 
des Schreibens'*, Crepieux-Jamin’s „ÜEcriture 
et le Caraetdre", und Hans H. Busse’s „Die 
Handschriffen-Deutiings-Kunde“. 

38 


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672 


Busse, Ueber Theorie und Praxis der Graphologie. 


modifizierten Individualität; alle Vorstellungen wiein ihrerZusammensetzungzuSilben,Worten 

und Gefühle einer vorübergehenden Stimm- und ganzen Seiten, ermöglicht eine ausser- 

ung aber stehen in engem Zusammenhänge ordentliche Summe scheinbar nebensächlicher 

mit jener seelischen Gesamt-Verfassung. Die Modifizierungen der Schreibbewegungen. Diese 

psychische Beeinflussung willkürlicher Bewe- Modifikationen mögen vielfach der Aufmerk¬ 
gungen besteht in nebensächlicheren, den samkeit des Schönschreiblehrers entgehen. 

Bewegungs-Zweck zumeist nicht hindernden Das Wort »Glaser“ (Fig. i) istvon einem sieben- 

Veränderungen: in Beschleunigung oder Ver- jährigen Knaben geschrieben; Modifikationen 

langsamung, in kürzerer oder längerer Dauer, jener scheinbar nebensächlichen Art sind z. B. 

in grösserer oder geringerer Kraftverwendung, die kleinen Haken unten am »]“ und am 

in Fortlassungen oder Hinzufügungen von ersten „e“ Striche; auch die ungemein spitze 

unwillkürlichen Mitbewegungen. All’ diese, Winkel-Bildung in der Zusammensetzung des 

zumeist völlig unwillkürlichen und unbewussten yry/? / zweiten ,,e“ Striches 

Veränderungen harmonieren mit psychischen hierher zu rechnen. 

Eigenheiten. Es dürfte sich kein Mensch / Derartige Abweichung¬ 
finden lassen, der mit schnellen, grossen und ^ § en von der Norm der 

festen Schritten zu gehen pflegt, der als Fig. i. Schreibbewegungen 

Tänzer besonders in den leidenschaftlich- lassen sich für die auch im scheinbar Klein¬ 
wilden Rythmen ungarischer Walzer eine ihm liehen der Genauigkeit bestrebten Forsch- 

entsprechende Musik-Begleitung empfindet, — ungs-Beobachtung leicht konstatieren durch 

und der dennoch in seinem ganzen Denken, Vergleichung mit den Vorlagen der Schul- 

Fühlen und Wollen, phlegmatisch, geduldig, Schönschrift. 

teilnahmslos wäre! Das Schreiben hat nur in der ersten 

Man hat zwar erkannt, „dass jede freudige Schulzeit seinen Zweck in sich selbst. Später 

Erregung mit einer Bewegung aufwärts ver- dient es als Mittel zur Fixierung unseres 

bunden zu sein pflegt, während Enttäuschung, Denkens und zur Vermittelung an andere. 

Betrübnis, Verstimmung mit abwärts gerich- Die Eigenart aller Handschriften beruht 
teten Bewegungen Zusammengehen.“ (Preyer). darin, dass jeweils verschiedene Eigenheiten 

Genauere Einzelforschungen scheiterten an mit den Schulvorlagen übereinstimmen oder 

der Schwierigkeit, das Forschungs-Material zu von ihnen abweichen. In der Probe „München 

beschaflfen und zu den notwendigen zahl- Neureutherstr. 3“ (Fig. 2) überwiegen im 

reichen Vergleichungen beliebig benutzen zu allgemeinen die Übereinstimmungen; die wich- 

können. Alle Willkür-Bewegungen und mit tigeren Abweichungen liegen besonders in 

ihnen ihre zumeist unwillkürlichen Charakter- der sehr ausgeprägten Strichbreite, (sogen, 

istischen Modifikationen und Mitbewegungen „kräftige“ Handschrift), in der nach rechts 

haben nur sekundenlange Dauer; ihr materielles oben verlaufenden Linienrichtung und in dem 

Sein scheint der Verköi*perung zu spotten, spitzen Zulaufen gewisser Endstriche, (z. B. das 

Ein Gebiet aber ist im Bewegungsleben, des- „h“ in „München“, das erste und das letzte 

sen Eigenart gerade darin besteht, dass hier „r“, sowie der „t“-Querstrich in „Neureuther- 

dic willkürlich-bestimmten 
und unwillkürlich-modifi¬ 
zierten Bewegungen indem 
Moment der Entstehung 
die körperliche Dauer er¬ 
halten: das ist das Sc/rrr/- 
b.'n. 

In den letzten Jahrzehn¬ 
ten hat die cxpeiiinen- 
tellc Physiologie zahl¬ 
reiche unwillkürliche und 
willkürliche Bewegungen .gezwungen . zu 1 str.“). In der Probe „Handschriften“ (Fig. 3) 
graphischer Fi.vicrnng in sCei^ enden und .sin- | ii - Oberwiegen hin¬ 
kenden, geraden und gebr>gencn Linien (Car- j rrlL.<«AA aAXaA/ zweifel- 

diograph, Myograph). All d iej e Bewegungen I I los die Abwei- 

sind in ihrer graphischen Fixie rung — ausser ' 3 * chungen; man 

durch die experimentelle Willkür ihrer Ent- ' beachte besonders die nach links zurOckge- 
stehung — besonders dundi folgendes Mo- lehnte Schriftlage, die Einführung der Druck¬ 
ment vom Schreiben und von den Hand- schrift-Majuskel „H“,den mangelnden Wechsel 

sciiriften verschieden. Die komplizierte Bild- zwischen Druck- und Haar-Strich, die gerade 

ung der Schriftzeichen, sowohl im einzelnen verkehrte Rundung der „n“, welche das 



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Busse, Ueber Theorie und Praxis der Graphologie. 


673 


„Hawdschriften* zu „HaMdschrifte«“ machen. 
Es ist vielfach behauptet worden, dass 
derartige eigenartige Abweichungen in den 
Handschriften das Ergebnis der Bildung und 
Übung von Arm, Hand und Finger seien; 
diese Behauptung ist nicht richtig. Jeder 
Mensch vermag, ohne vorherige Übung, mit 
der linken Hand, mit dem rechten oder linken 
Fusse, mit dem Munde u. s. w. zu schreiben, 
und zwar ~ trotz gewisser Ungelenkigkeiten 
— in der charakteristischen Weise seiner 
„Hand“schrift. Den Ausbau dieser Erkennt¬ 
nis verdanken wir besonders Preyer, wel¬ 
cher die experimentellen Beweise dafür 
erbrachte. 

Die Aufgabe der Handschriften-Kunde ist 
die Zusammenstellung aller Handschriften- 
Eigenheiten, gemäss den Preyer’schen vier 
Grundelementen des zweidimensionalen Schrei¬ 
bens, und die Darlegung ihrer Ursprungs- 
Bewegungen. Für diesen Forschungszweig 
dürfte der Maack’sche Terminus „Grapho- 
kinetik“ geeignet sein. Die Voraussetzungen 
der Graphologie sind die Graphokinetik und 
die Psychologie. 

Alle Schriften und alle Handschriften, die 
sich auf Grund jener Schriftsysteme entwickeln 
können, lassen sich — wie oben gesagt — 
in vier Grundelemente zerlegen. Diese sind: 
die Richtungen der Schreibbewegungen, so¬ 
wie ihre Zusammensetzung durch Winkel¬ 
oder Bogen-Bildung, die Länge oder Dauer 
der einzelnen Richtungen der Schreibbeweg¬ 
ungen, die Strichbreite und endlich die man¬ 
gelnde Fixierung einzelner Schreibbewegungen, 
d. h. die Unterbrechungen. Die Handschriften- 
Abweichungen — sowohl diejenigen in den 
einzelnen Schriftzeichen, wie auch diejenigen 
in der Schriftzeichen-Zusammenordnung zu 
Worten etc. lassen sich stets in diese Elemente 
zerlegen und sodann mit den entsprechenden 
Elementen der Vorlagen der Schulschönschrift 
vergleichen. 

Die psychischen Voraussetzungen einer 
grossen Anzahl von individuellen Schreib- 
Bewegungen sind gegenwärtig bereits erkannt. 
An die Stelle mystischer Analogie-Schlüsse 
aus der Gestaltung einzelner Handschriften- 
Eigenheiten auf entsprechende Charakter¬ 
bildung treten vorzüglich Analogie-Schlüsse 
aus den Deutungen der Bewegungen im 
Mienen- und Gebärden-Spiel. Von vielen 
„Graphologen“ wurden und werden noch 
Endstriche, die in flachem nach links gewen¬ 
deten Bogen, mit kräftigem, aber allmählich 
sehr spitz auslaufenden Drucke ge¬ 
schrieben sind, (Fig. 4) als „Säbel- 
Striche" bezeichnet und in Folge 
dessen auf Kampflust, rücksichts- 
Fig. 4. lose, gewandte Aggressivität ge¬ 


deutet. Ebensowenig aber, wie man für die 
Leistungen gewisser HeilkOnstler die medi¬ 
zinische Wissenschaft verantwortlich zu machen 
pflegt, ebenso sollte man nicht jeden „Grapho¬ 
logen“ als berufenen Vertreter der Graphologie 
betrachten und Irrtümer und Mängel des 
Ersteren der letzteren in die Schuhe schieben. 
Wir sahen oben, dass jede Bewegung nach 
oben als Zeichen freudiger Erregung aufge¬ 
fasst wird. Dieser Bewegung entsprechen in 
den Handschriften eine grosse Anzahl leicht 
zu beachtender Eigenheiten; die nach rechts 
oben verlaufenden Quer-, End-und Überstriche, 
wie Fig. 2 zeigt; hier hat auch die ganze Linien¬ 
führung einen nach rechts oben gerichteten 
Verlauf genommen. Diese Eigenheiten würden 
also deuten auf: fröhliche Erregung. Sofern 
nun hiermit andere seelische Zustände in ur¬ 
sächlichem Zusammenhänge stehen, wird auch 
gedeutet auf: Thätigkeit, Ehrgeiz, Eifer, Unter¬ 
nehmungslust, Optimismus u. s. w. Die näh¬ 
ere Deutung, die durch Bestimmung von 
Intensität und Dauer dieser Eigenschaften er¬ 
zielbare Nuanzierung in der Deutung, — 
die ergiebt sich erst durch Vergleich mit den 
übrigen Handschriften-Eigenheiten und deren 
möglichen Deutungen. Diese Zusammensetz¬ 
ungen erfordern nicht nur allseitige theoret¬ 
ische Beherrschung des Gebiets, sondern 
auch selbständige Konstruktions - Thätigkeit 
und Übung. 

Gegen die Graphologie wurde und wird, 
— besonders in jüngster Zeit — ein Moment 
auffallend häufig geltend gemacht. Die po¬ 
pulären Einteilungen des Seelen-Lebens und 
noch mehr die gangbaren Eigenschaftsbezeich¬ 
nungen (— Ausdauer, Egoismus, Güte, Nach¬ 
giebigkeit, Stolz u. s. w. —) werden vielfach 
verschieden aufgefasst. In ihrer Zusammen¬ 
gesetztheit entsprechen sie nicht wissenschaft¬ 
lichen Forderungen. Die Graphologie muss 
sich trotzdem dieser nicht eindeutig-genauen 
und nicht genügend einfachen, sondern in¬ 
haltlich sehr zusammengesetzten Ausdrücke 
bedienen, so lange es keinen besseren Ersatz 
daflir giebt. 

Übrigens ist der Wortschatz sehr gross 
und enthält vielfache volkstümliche Andeut¬ 
ungen über Beziehungen einzelner Eigenschafts- 
Komplexe. Auch ist zu berücksichtigen, dass 
die Sprache mehrere Ausdrücke für die gleiche 
Eigenschaft hat; die etwaige Nuanzierung 
dieser Ausdrücke ist häufig nur eine indivi¬ 
duell-verschiedene. Solche Gruppen von Aus¬ 
drücken sind z. B.: Einfachheit, Natürlichkeit, 
Schlichtheit; Flüchtigkeit, Oberflächlichkeit, 
Unüberlegtheit; Starrsinn, Hartnäckigkeit. 

Es dürfte angezeigt sein, das bisher Ge¬ 
sagte durch Besprechung einiger grapholo¬ 
gischer Thatsachen zu erläutern. Zunächst 

38* 



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674 


Busse, Ueber Theorie und Praxis der Graphologie. 


wollen wir verschiedene wichtige einfache 
Zeichen angeben, um sodann deren Bezieh¬ 
ungen und Verbindungen kurz zu beleuchten. 

Die meisten Schulvorlagen verlangen eine 
Neigung der Buchstaben nach rechts, unter 
einem Winkel von ca. 450. (Fig. 2). Die 
Grunddeutung der Schriftrichtung geht auf 
das Verhältnis von Verstand und Geftlhl. Um 
die Gegensätze zu zeigen, vergleiche man 
Fig. 3 mit Fig. 5 („sehr schlecht“). Dort 



F'ig- 5 - 


lehnte sich die Schrift nach links hinüber; 
hier liegt die Schrift unter sehr kleinem, 
spitzen Winkel nach rechts; Fig. 3 deutet auf 
Verstandesherrschaft, Selbsterziehung, Zurück¬ 
haltung, gesellschaftliche Unterdrückung von 
Gefühlsäusserungen. Fig. 5 hingegen deutet 
auf völlige Gefühlsherrschaft, auf Mangel an 
nüchterner Verstandsruhe, auf übertriebene 
Empfindsamkeit. Zwischen diesen beiden Arten 
bewegen sich die meisten Handschriften in 
ihrer Richtungslage. Zahlreiche besondere 
Unterarten kommen vor. So giebt es Men¬ 
schen, die im geschäftlichen, gesellschaftlich¬ 
formellen Verkehr, auch in wissenschaftlichen 
Excerpten und Arbeiten ziemlich steil schreiben 
(Winkel von ca. 80—100®); in ganz intimen 
Briefen oder in Schriftstücken, während wel¬ 
cher eine grosse GemOtsaufregung ihnen die 
kühle Überlegung geraubt hatte, zeigt ihre 
Handschrift jedoch eine sehr rechts-schräge 
Lage (Winkel von 30 — 45®). Das Laienauge 
würde kaum glauben, dass Fig. 6 und Fig. 7 



Fig. 6. 


von ein und demselben Urheber herrühren; 
trotzdem ist das der Fall. Eine auffallende 
Ähnlichkeit, die trotzdem in beiden Hand¬ 
schriften vorkommt, zeigt die Art und Weise, 
wie der i-Punkt gesetzt wird, nämlich: un¬ 
mittelbar nach dem i-Strich, sehr niedrig und 
in gedrungener Kommata-Gestalt, ein klein 
wenig nach rechts vorgerückt. Diese Eigen¬ 
heit der Handschrift ist nämlich nicht abhängig 
von stärkerer oder geringerer Geftthlsherr- 
schaft; somit musste sie bestehen bleiben. 
Bestehen geblieben sind in ähnlicher Weise 
die ziemlich dicke Schrift, welche auf Sinn¬ 
lichkeit, Willenskraft und Lebensernst deuten, 
(wenigstens im vorliegenden Falle); ferner 
die eigenartige Bindung der Schriftzeichen, 
welche in Isolierung des Anfangs-Buchstabens 
und in nicht-silbenmässiger Bindung der 


übrigen Schriftzeichen besteht, — diese Eigen¬ 
heit deutet auf einen scharfblickenden, nicht 
streng-logischen, sondern mehr grüblerischen 
Kopf, der seine Gedanken nicht immer sach- 
gemäss und einfach-natürlich entwickelt, son¬ 
dern vielfach sogenannte Einfälle hat, d. h. 
seltsame, viele Zwischenglieder überspringende 
Associationen der Vorstellungen. Diese in¬ 
tellektuelle Eigenheit, sowie jene des Willens 
und der Lebensauffassung sind unabhängig 
von der scheinbaren Kälte und Gefühlslosig- 
keit, von der Selbstbeherrschung und Zurück¬ 
haltung, welche durch die steile Richtung von 
Fig. 6 graphologisch erschlossen werden; 
aber sie sind auch unabhängig von vorüber¬ 
gehenden Geftlhlsaufregungen leidenschaftlich¬ 
zorniger Art, welche zur rechtsschrägen 
Schrift in Fig. 7 führten. Ähnlich liegt die 
Erklärung im Wechsel vieler anderer Hand- 
schriften-Eigenheiten und ihrer zahlreichen 
oft seltsamen Komplizierungen. Das nämlich 
muss als Grundsatz erster Ordnung aufgestellt 
werden: jede Handschrift entspringt nur dem 
bei ihrer Fixierung vorhandenen Gesamtbilde 
der Seele, und zumal den darin gerade vor¬ 
herrschend gewesenen Funktionen und Stimm¬ 
ungen. Nun ist zwar in diesem vorüber¬ 
gehenden Charakter stets auch etwas von 
dem Dauer-Charakter vorhanden. Und so¬ 
fern es das ist, ist also auch dessen Schil¬ 
derung möglich. Im allgemeinen aber, wenn 
der Dauer-Charakter aus der Handschrift eri 
schlossen werden soll, ist die Vorlage von 
mehreren zu verschiedenen Zeiten, Zwecken 
und Umständen entstandenen Schriftstücken 
dringend erforderlich. 



Die Richtung der Handschrift ist nun aber 
— trotz ihrer zahlreichen mehr oder minder 
konstanten Abstufungen und oft seltsamen 
Nuanzierungen — nur eine von sehr vielen 
Eigenheiten, die dem Graphologen Aufschluss 
über das Verhältnis von Verstand und Gefühl 
geben. Wenn wir aus einer Richtung der 
Federbewegung zu einer anderen übergehen, 
so können wir dieses, indem wir entweder 
die beiden Richtungen unter gleichzeitiger 
Bildung eines verschieden spitzen Winkels 
mit einander schroff verbinden, (Fig. 8) oder 
indem wir die Winkelbildung durch Bildung 
von sehr schnell wechselnden Übergangsricht¬ 
ungen vermeiden, (Fig. 9). Im ersteren Falle 



Fig 8. Fig. 9. 


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Busse, Ueber Theorie und Praxis der Graphologie. 


675 


haben wir eine sogen, „eckige" Handschrift, 
(vgl. auch Fig. i das „e")» welche auf Härte, 
Festigkeit, Egoismus, Unabhängigkeit, Selbst¬ 
ständigkeit deutet. Im zweiten Falle entsteht 
die sogen, „runde" Handschrift, (vgl. auch 
Fig. 3), welche auf Gemütsweichheit, Nach¬ 
giebigkeit, Beeinflussbarkeit, Gutherzigkeit 
und verwandte Eigenschaften (Dankbarkeit, 
Mitleidsfähigkeit) gedeutet wird. Der aufmerk¬ 
same Leser mag uns jetzt vielleicht eines 
Widerspruches zeihen wollen; wir haben oben 
ja aus der linksschrägen Richtungs-Lage der 
Buchstaben von Fig. 3 auf Verstandesherr¬ 
schaft gedeutet und jetzt soll diese, soeben 
als „runde" Handschrift bezeichnete Probe 
auf Gemütsweichheit deuten?! Da scheint 
ein Irrtum zu liegen. — Hier haben wir einen 
Fall, der besonders für die „moderne" Psyche 
charakteristisch ist und uns zugleich die Ab¬ 
hängigkeit und gegenseitige Beeinflussung 
der einzelnen Zeichen • Deutungen illust¬ 
riert: die Gemütsweichheit ist in Wirklichkeit 
und in hohem Grade vorhanden, aber die 
Bildung und Lebenserfahrung zeigte, dass es 
unpraktisch und fast schamlos wäre, die Gefühle 
immer zu zeigen, und mitsprechen zu lassen. 
Es entwickelte sich eine äusserliche Verstandes¬ 
herrschaft und nüchterne Urteilsklarheit, die 
mit der Zeit sogar dahin führte, dass es dem 
Schreiber unmöglich wurde, das „Unsagbare" 
der Gefühlserregungen durch die Sprache und 
ihre logischen Fügungen auszudrücken. Na¬ 
turen dieser Art werden oft für kalt, stolz und 
reserviert gehalten und sind es doch nur 
scheinbar, wie der Graphologe auf den ersten 
Blick erkennen kann. — Auch in dem Ge¬ 
biete dieser Eigenheit (ob „rund‘‘ oder ob 
„eckig") finden sich zahlreiche Abstufungen. 
Erst jüngst hat Prof. Preyer auf eine neue 
überaus charakteristische Unterart hinge¬ 
wiesen, *) im „H" der Fig. 10 sehen wir. 



dass die un¬ 
terste linke 
Schleife nicht 
in einem wei¬ 
ten schwung¬ 
vollen Bogen 
verläuft, son¬ 
dern 2 spitz¬ 
winkelige Ek- 
ken a und b 
zeigt. Dieses 
wurde auf besonders scharf ausgeprägtes Un- 
abhängigkeitsgeftlhl gedeutet. Die übrigen 
Eigenheiten dieser für eine Frau wahrhaft 
königlich-eigenherrlichen Handschrift bestä¬ 
tigen jene Deutung. Der Druck ist sehr 


^) vgl. „Berichte der Deutschen graphologischen 
Gesellschaft“, 1897, V. 


kräftig, (= Energie, Entschlossenheit); das„H‘t 
überragt die kleinen Buchstaben bedeutend, 
diese selbst aber zeigen schon eine Grösse, 
wie wir sie aus der klassischen Handschrif, 
Bismarck’s allgemein kennen, (= Freimut, 
hochgesteckte Ziele, Freiheit von Kleinlich¬ 
keiten und Engherzigkeiten). 

Es ist uns, wegen des geringen zur Ver¬ 
fügung gestellten Raumes, unmöglich, weitere 
und näher ausgeführte Angaben über die 
zahlreichen anderen zu charakteristischen Deut¬ 
ungen berechtigenden Handschriften • Eigen¬ 
heiten zu machen. Besonders interessant wäre 
z. B. gewesen, die oben schon angedeuteten 
Arten der Bindungen der Schriftzeichen zu Wor¬ 
ten zu beleuchten, (vgl. Fig. 6 und 7). Hier 
existieren zur Zeit ca. 20 verschiedene Arten, 
die in ihren Deutungen ein höchst interes¬ 
santes Licht werfen auf die individuellen Ver¬ 
schiedenheiten der Vorstellungs-Bildung und 
der Vorstellungs-Association. Auch die oft 
seltsamen Hinzufügungen, Fortlassungen und 
gänzlichen Neubildungen von Schriftzeichen- 
Teilen und ganzen Schriftzeichen hätten des 
Interessanten viel geboten, zumal gerade von 
hier aus ein Blick in die Pathologie des 
Schreibens hätte geworfen werden können; 
höchst instruktive Proben bietet das kleine, im 
übrigen ziemlich wertlose Werkchen von 
Lombroso, welches in der bekannten Rec- 
lam'schen Universal-Bibliothek erschienen ist. 

Damit kämen wir zu einem letzten Punkt, 
zur Geschichte und Litteratur der Grapho¬ 
logie. Die drei gegenwärtigen Hauptwerke 
haben wir bereits Eingangs erwähnt, auch 
haben wir das offizielle Geburtsjahr der 
Graphologie — 1871 — bereits angegeben. 
Aus der Vorgeschichte verdienen besonders 
Erwähnung die Namen: Camillo B a 1 d o (1622), 
welcher das erste selbständige Werkchen Ober 
die Möglichkeit von Handschriften-Deutungen 
verfasste; Lavater (1777), dessen weltbe¬ 
rühmten, viel belächelten, aber für das nächste 
Jahrhundert wohl wieder in ungeahnter Weise 
aktuell werdenden „Physiognomische Frag¬ 
mente“ den eigentlichen Anstoss zur Entwick¬ 
lung der Graphologie erregten; Moreau de 
la Sarthe, Hocquarth, Flandrin, 
Grohmann und Henze. Von Michon’s 
Schülern ist E. de Vars besonders zu er¬ 
wähnen. Seit 1885 hat J. Cr^pieux- 
Jamin in Frankreich die Führer-Rolle 
übernommen. In Deutschland haben sich 
graphologische Bedeutung errungen: Dr. E. 
Schwiedland, W. Langenbruch, L. 
Meyer; in den letzten Jahren entwickelte 
sich hier, durch Prof. Preyer’s Eintreten und 
exakt-wissenschaftliche Behandlungsweise, ein 
ernsteres Interesse für die Graphologie, wo¬ 
für u. a. auch die Gründung einer „Deutschen 


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676 


Werner, Epik und Lyrik im vergangenen Jahre. 


graphologischen Gesellschaft" (in München) 
Zeugnis ablegt. Das Ausland hat berufene 
und bewährte Graphologen u. a. in: H. W. 
C or nel is (Holland), Johannes M a r er (Däne¬ 
mark), Dolph. Poppte (östereich), John H. 
Schooling (England). Die Littefatur-Fülle, 
die sich bereits — zumeist an die genannten 
Namen geknüpft — vorfindet, beläuft sich 
nach den Aufstellungen in meiner „Biblio¬ 
graphie" *) auf ca. 100 selbständige Werke 
und Broschüren, sowie auch ebenso viele wich¬ 
tigere Aufsätze in Zeitschriften. Wer sich 
des Näheren hierüber, sowie ausführlicher 
über die Prinzipien der Graphologie, ihre 
bisherigen Leistungen und noch auszuftlllenden 
Mängel orientieren will, dem darf ich wohl 
meine Abhandlung: „Die Graphologie, eine 
werdende Wissenschaft" ®) empfehlen. Wer 
aber gründlich in die Thatsachen-Fülle der 
Graphologie und deren Erklärungs- und 
Systematlsierungs-Versuche eindringen will, 
dem müssen die Eingangs erwähnten drei 
Lehrbücher als „Standard works" zitiert 
werden. 


Epik und Lyrik im vergangenen Jahre. 

Von Professor Dr. Richarp Maria Werner. 

Wenn man rückblickend die litterarischen 
Ereignisse zu überschauen sucht, die sich 
während eines Jahres abspielten, dann sieht 
man wohl eine bunte Mannigfaltigkeit, aber 
es ist nicht leicht, sich vor Verwirrung zu 
schützen. Eines ist nämlich wieder einmal zu 
bemerken, was vor etwas über einem Jahr¬ 
zehnt erstorben schien: wir haben in Deutsch¬ 
land wenigstens Anfänge eines reicheren lit¬ 
terarischen Lebens. Der Kampf zwischen Alten 
und Jungen ist zwar längst nicht mehr hef¬ 
tig, die lärmenden Gewitter haben sich ver¬ 
zogen, dafür beginnen sich die Früchte zu 
zeigen, die während der Frühlingsstürme her¬ 
anreiften. Natürlich aber lassen sich die lit¬ 
terarischen Ernten nicht gut nach Jahrgängen 
sondern, wie die Weinernten, cs enthüllt sich 
vielleicht erst nach einiger Zeit, dass irgend 
ein Jahr ein „Kometenjahr“ gewesen sei. 
Trotzdem kann man einer zusammenfassen¬ 
den Betrachtung ihren Wert nicht absprechen, 
wenn sie sich auch nur auf einzelne Gebiete 
der Dichtung beschränkt. Der Schlachtendonner 
unserer jüngsten litterarischen Revolution um¬ 
toste besonders das Drama und den Roman als die 
Lieblingsgattungen derProduktion. Unterdessen 


*) Beilage zuin oben zitierten „brieflichen Unter¬ 
richts-Kursus*', 2. Auflage. 

•) München, 1895, Schüleris Verlag. 


zog aber gerade die Lyrik Gewinn aus dem 
Umschwung des Geschmacks und errang zu¬ 
erst einen wirklichen Fortschritt von anschei¬ 
nend bleibender Dauer. Nicht als ob auch 
hier schon ein neuer Blütenstand erreicht, 
ein neues goldenes Zeitalter erschlofesen wäre, 
aber hier stellte sich der Ausgleich zwischen 
Alt und Neu, zwischen Vergangenheit und 
Gegenwart ein, und das kann als eine Ver- 
heissung der Zukunft gelten. Deshalb vermag 
ein Rückblick auf die lyrischen Erscheinungen 
eines Jahres manches Interessante zu ent¬ 
decken. Und das soll im Folgenden versucht 
werden, wobei sich vielleicht der Reichtum 
des Schaffens enthüllen wird. 

1 . Die Epik. 

Bevor aber auf ihn eingegangen wird, 
sollen unsere Augen ein Gebiet streifen, das 
wie ein verzaubertes Schloss, dicht mit Dornen- 
gestrüpp umwachsen, in der modernen Ge¬ 
gend daliegt. Ists nur ein Trümmerhaufen, 
ists eine malerische Ruine, die Freude der 
Romantischen, oder ists ein Palast, aus dem 
einstens der verborgene Kaiser ausziehen 
wird, um siegreich die alte Pracht und Herr¬ 
lichkeit wieder herzustellen? Vielleicht wird 
es nur das Baumaterial für moderne Fabriken 
hergeben, damit dann der Pflug über die 
Stätte seine Furchen graben kann, wie einstens 
über Schloss Boncourt? Dieses Gebiet ist 
die Epik. 

Vielleicht wird eingewendet, der Roman sei 
das Epos der Gegenwart, die Novelle, die Skizze, 
das Feuilleton, die short story vertreten die 
kleineren Gattungen der Epik, anderes existiere 
nicht mehr. Freilich wird man dann zugeben 
müssen, dass die Zeiten der Versepik ver¬ 
schwunden scheinen, dass ein Geschlecht 
mit der Unrast des unsrigen nicht befähigt sei, 
ein grosses Epos mit seinem Sinn für das 
Behagen hervorzubringen; nur wird man wohl 
zweifeln, ob wirklich das Versepos für ewige 
Zeiten zu den Toten zähle, weil immer wie¬ 
der Lebenszeichen zu bemerken sind; auf der 
einen Seite das Bemühen der Dichter, Epen 
zu schaffen, auf der andern die Freude der 
Geniessenden, des Publikums, an einzelnen 
Schöpfungen dieser Art. Ältere Dichtungen 
können neu aufgelegt werden, finden also 
immer noch Käufer, aber auch Neueres, das 
sich erst einen Namen erwerben muss, macht 
seinen Weg. Dies lehren deutlich die That- 
Sachen des verflossenen Jahres. 

Wir können auch in der Versepik das 
Schwanken des Geschmacks beobachten, das 
allen Gattungen eigentümlich ist. Da be¬ 
merken wir vor allem die Epen nach dem 
Muster des Scheffelschen „Trompeter von 
Säkkingen“, ja man hat scherzhaft von einem 


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Werner, Epik und Lyrik im vergangenen Jahre. 


677 


„Scheffelbazillus“ gesprochen/) der nicht blos 
gewuchert hat, sondern noch fortwuchert. 
Richard Weitbrecht gab mit Humor das Re¬ 
zept, nach dem sich ohne grosse Schwierig¬ 
keiten solche Dichtungen mit lyrischen Ein¬ 
lagen verfassen lassen. An diesen Werken 
kann man getrost vorübergehen, denn sie be¬ 
deuten keinen Fortschritt der deutschen Lit- 
teratur, sind aber meist recht harmlose Gaben, 
die kaum in weitere Kreise dringen, sondern 
mehr lokale Verbreitung finden; sie verherr¬ 
lichen meist eine bestimmte Gegend, was schon 
als Spekulation auf den Lokalpatriotismus im 
Titel vermerkt wird. Es dürfte kaum mehr 
eine halbwegs praktikable Landschaft in Deutsch¬ 
land geben, die nicht ihren Spezial-„Scheffel“ 
besässe. Im vergangenen Jahre hat, soviel 
ich weiss, denn manches entgeht dem Beob¬ 
achter, das Lahnthal seinen Paul Warncke,*) 
das Eisass seinen Gustav Adolf Müller,*) 
Franken seinen H. Säusele^) und der 
Rhein einen Karl Protzen*) erhalten. Alle 
sind Söhne Scheffels, untereinander verwandt 
durch den Typus der Erfindung und nur ver¬ 
schieden durch geringeres oder grösseres 
Talent. 

Besonders zu nennen wäre der mir bis¬ 
her unbekannte Ferdinand Wittenbauer, 
dessen Epos „Der Narr von Nürnberg'^ sich 
durch feinere psychologische Motive und den 
Stoff auszeichnet.*) In der Mitte steht Meister 
Jürgen Namenlos, ein Findelkind, der körper¬ 
lich missgestaltet, hässlich, ein Zwerg ist, 
aber durch Gaben des Herzens und Verstan¬ 
des, durch Witz und poetische Begabung her¬ 
vorragt. Das anfangs heitere Werk verdüstert 
sich immer mehr und endet grausam. Zwar 
findet Jürgen seine Mutter, die Edelfrau Edel- 
trut von Hüttenbeck, seinen Vater, einen 
Priester, aber er bringt das schwere Opfer, 
sich nicht zu verraten, um der Mutter Schmerz 
zu ersparen. Der Vater ist geblendet worden, 
denn Jürgen ist eine Frucht der Sünde, zum 
Unglück geboren, vom Unglück verfolgt. Eine 
kurze Zeit scheint ihm das Glück zu winken, 
die schöne Zigeunerin Imre wird sein Weib, 

‘) Litteraturbilder fin de siede. Herausgegeben 
von A. Breitner. Erstes Bändchen: Schettel. Mit 
Beiträgen von H. M. Rabenlechner, B. Münz, A. 
Breitner. München, J. Schweitzers Verlag. M. 1.50. 

*) Peler Melandervon Holzappel. Eine Geschichte 
aus dem Lahnthal. Mit Federzeichnungen von Karl 
Röhling. Berlin, Felix Pfennigstorff. M. 480. 

•) Der Pfeifer von Dusenbach. Eine Liebesmär 
aus dem Eisass. München, Seitz u. Schauer. M. 3. 

*) Walther, der Scholar. Ein Sang aus Franken. 
Schwäbisch-Hall, Wilh. Germans Verlag. M. 1.50. 

*) Mathildes. Ein rheinischer Minnesang aus der 
Zeit der Hohenstaufen. Schleswig, J. Bergas Ver¬ 
lag, M. 4.50. 

•) Ein Lied aus deutschem Mittelalter. Wien, 
Verlag von Carl Konegen. M. 4. 


aber um so tiefer wird sein Sturz, bis er 
durch Selbstmord im Nürnberger Narrenturm 
endet. Abgesehen von den Gräueln, die etwas 
zu sehr gehäuft werden, ist das Epos ernster 
zu nehmen, als die anderen ähnlichen Ge¬ 
bilde; vor allem die Figur des Narren ist 
rund her^usgearbeitet, einzelne Szenen ver¬ 
raten durch ihre Mischung von Scherz und 
Ernst grösseres Geschick und verschiedene 
Naturschilderungen eine feingestimmte Natur. 
Wittenbauer erscheint als Scheffelianer, lässt 
aber noch selbständige Entwickelung hoffen. 

Auch aus der Familie stammt ein Epiker, 
dem sofort überraschender Erfolg zu Teil 
ward, obwohl auch er nur eine bescheidene 
Gabe darbrachte. Theodor Herolds „Gret- 
chen. Ein Sang aus der Zeit der Freiheits¬ 
kriege*^ ’) ist rasch hintereinander in vier Auf¬ 
lagen erschienen. Der Stoff ist keineswegs 
aufregend: der Liebe zwischen dem Grafen 
Ludwig Brondenhorst und der Försterswaise 
Gretchen Burkard stellen sich Bedenken und 
Wünsche des alten Grafen Waldemar Bronden¬ 
horst entgegen, die aber schliesslich eine 
Vereinigung der Liebenden nicht mehr hin¬ 
dern. Vielleicht giebt es Leser, die sich eines 
ähnlichen Stoffes schon erinnern. Und trotz¬ 
dem vier Auflagen binnen weniger Monate! 
Wie lässt sich wohl diese Thatsache erklären? 
Herold versteht es in anmutigen Versen die 
Stimmungen zu entfalten; er bedient sich 
nicht, wie echte Scheffelianer, des ermüden¬ 
den reimlosen vierhebigen Trochäus, sondern 
wechselt, wie Wittenbauer, mit dem Versmass; 
die eingestreuten lyrischen Gedichte bilden 
einen integrierenden Bestandteil der Dichtung, 
sie sind nicht eingelegte Nummern, sondern 
aus der Situation heraus geschaffene lyrische 
Ergüsse. Die sympathischen Figuren — und 
alle Figuren sind sympathisch, ein Bösewicht 
fehlt ganz! — werden ohne viel Aufhebens 
lebendig; es sind Alltagsmenschen, auch die 
Heldin Gretchen keineswegs besonders her¬ 
vorragend. Wirkungsvoll, aber durchaus nicht 
aufdringlich und tendenziös schlägt der Dich¬ 
ter die patriotische Saite an.*) Wir werden 
in den Befreiungskrieg geführt und kommen 
mit Ludwig in die Gesellschaft des Lützow- 
schen Freikorps. Dabei zeigt Herold künst¬ 
lerischen Sinn, indem er die Ereignisse nur 
andeutet, die historischen Helden nur epi¬ 
sodisch verwertet, auch Körners Auftreten 
und Tod, und sich hütet, versifizierte Zeit¬ 
geschichte zu geben. Der Hauptvorzug seiner 


Münster i.W., Verlag von Heinrich Schöningh. 
M. 4.50 geb. 

") Das ist auch der Fall in dem mir unzugruig- 
lichen „deutschen Heldenlied‘‘ von August Sturm, 
„Kaiser Friedrich der Edle". (Naumburg a. S. Albin 
Schirmer. M. 0,60.) 


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678 


Werner, Epik und Lyrik im vergangenen Jahre. 


Dichtung ist aber ein echt volkstümlicher 
Ton; Herold lehnt sich an das deutsche Volks¬ 
lied an, nicht in „Butzenscheibenmanier“, 
wohl aber in jener Freiheit, die einstens 
Uhland, Eichendorff, W. Müller u. a. aus¬ 
zeichnete. Und das vor allem scheint im Her¬ 
zen des deutschen Publikums ein Echo ge¬ 
weckt zu haben; man freute sich wieder ein¬ 
mal die liebvertrauten Töne zu vernehmen, 
man fühlte sich wohl in der gewohnten an¬ 
ständigen Gesellschaft und erfreute sich der 
schlichten Erzählung. Wir dürfen darin ein 
Zeichen sehen, wie sich die deutsche Dicht¬ 
ung entfalten muss, um wieder einen Platz 
im Herzen der Deutschen zu finden. Nicht 
weil etwa Herolds „Gretchen“ nun wirklich 
eine Leistung wäre, die einen mächtigen 
Schritt nach vorwärts bedeutete: im Gegenteil 
gerade weil sie sich so wenig über den Durch¬ 
schnitt erhebt, aber dort wieder anknüpft, wo 
das Band abgerissen wurde. Wir werden auch 
bei der Lyrik beobachten können, dass die 
verheissungsvollsten Erscheinungen sich mit 
der Zeit der Befreiungskriege berühren. 

Als ein Schüler der Goethischen Epik er¬ 
wies sich Ernst Rauscher, der in Hexa¬ 
metern „Die Erzählung des Werksherrn^ gab,*) 
auch einen idyllischen Stoff mit tragischen 
Motiven. Der Erzähler Rudolf hat gegen den 
Willen seines Vaters Maler zu werden versucht, 
ist aber in Rom von der Unzulänglichkeit 
seines Talents überzeugt worden und heim- 
gekehrt, um die väterlichen „Werke“ zu über¬ 
nehmen. Mit ihm kontrastiert sein genialerer 
Freund Heinrich, der im Duell mit dem von 
ihm betrogenen Gatten der schönen Fürstin 
Brandini erstochen wird. Das wenig umfang¬ 
reiche Gedicht sucht den Wert des Menschen 
darzustellen, der nicht in seinen Leistungen 
besteht, sondern in seiner inneren Treftlich- 
keit. „Das Höchste ist Gutsein“, lautet der 
Schluss des Werkchens. So prächtig also 
seine Tendenz, so lieblich manches Detail 
ist, das Ganze nimmt sich doch recht fremd¬ 
artig in unserer Zeit aus; schon der oft recht 
harte Hexameter verweist auf früheren Ge¬ 
schmack, dann die breit ausgeftShrten soge¬ 
nannten homerischen Bilder zu Beginn des 
dritten und des siebenten Gesanges, die sich 
stark an Goethe anlehnen, endlich die ganze 
beschauliche Art, eine Folge des Goethischen 
Einflusses. Erfreulich erscheint aber die Sin- 
nigkeit, die geklärte Lebensauffassung, die 
sich in Erfindung und Ausführung zeigt und 
dem Alter des Dichters entspricht. Schade, 
dass ihr der humoristische Hauch fehlt. 

Dieser zeichnet Josef Victor Wid- 


•) Dresden, Leipzig u. Wien. E. Piersons Ver- 
ag. M. 1.50. 


mann aus, der mit immer gleicher Frische 
und gefestigter Selbständigkeit seine reichen 
Erfindungen zum Besten giebt. In seinem 
Idyll „'Bin, der Schwärmer" *®) versteht er es, 
ein kleines Jugenderlebnis ganz einfach zu 
gestalten und doch symbolisch zu durch¬ 
leuchten. Es sind drei Tage aus dem Leben 
des Pfarrersohnes Sabinus, genannt 'Bin, die 
dem angehenden Manne — er ist seit sechs 
Wochen Student — einen „schönen Schmerz“ 
verschaffen. An dem einen verliert er sein 
Herz an Sibylle, den lieblichen Backfisch, 
den er durch ein Parkthor beobachtet, an 
dem andern wird er durch die schöne Witwe 
Diotima bei einer Hochzeit entflammt, an dem 
dritten findet er beide als Mutter und Tochter 
beisammen und gleicht nun einem langge- 
ohrten Tiere, unter dessen Gestalt er auch 
auf dem Umschlagbild erscheint. Mit voll¬ 
endeter Grazie hat Widraann diese Schwär¬ 
mereien des angehenden Dichters erzählt und 
die lieblichsten Szenen entworfen, ohne durch 
einen gekünstelten Schluss das Idyll zu 
entstellen. Allerliebst ist das Verhältnis des 
Schwärmers zu der schönen Witwe geschil¬ 
dert, der es Spass macht, von einem solchen 
bartlosen Jüngling angeschmachtet zu werden, 
der aber dann das Bewusstsein aufgeht, dass 
sie altere, da sie nun sieht, wie ihr Töchter¬ 
lein Liebe zu wecken versteht. Hier hat 
Widmann wieder erreicht, was ihm so gut 
gelingt, vom scheinbar Alltäglichen zu. dem 
Ewigen sich zu erheben und die Verhältnisse 
durchscheinend zu machen; hier hat er wie¬ 
der einen Beweis dafür erbracht, dass er 
wirklichen Humor besitzt: er zeichnet einen 
Helden als „Jung“ und „dumm“, vermag ihm 
trotzdem unsere Sympathie zu gewinnen; er 
führt uns eine flirtende Frau vor, giebt ihr 
aber zum Schluss einen bedeutsamen Ruck 
nach aufwärts und versetzt sie dadurch in 
die Höhe der kleinen und doch so wahren 
Tragik des Lebens. Das wenig umfangreiche 
Gedicht ragt aus der Masse der neueren Lit- 
teratur durch alle diese Eigenschaften mäch¬ 
tig hervor und ist ein wirklicher Gewinn 
unserer Dichtung. Widmann geht ganz eigene 
Wege, lehnt sich nicht an Muster an, philo¬ 
sophiert nicht, aber er schafft, und das ist 
ein Zeichen des Dichters. 

In das ferne Indien führt uns Leopold 
Jacoby mit seiner lieblichen und tiefsinnigen 
Dichtung „Qmita", die Karl Henckell mit 

*®) Mit Zeichnungen von Fritz Widmann. Frauen¬ 
feld, Verlag von J. Huber. M. 3 geb. 

Zu nennen wären noch die versifizierten No¬ 
vellen von O. F. Gensichen: „Pfarrhaussegen. 
Dichtung.* (Berlin, Alex. Duncker. M. 2.A0) und von 
H.Carmer: .Dirk Kluin. Episches Geoicht." (Kös¬ 
lin, Alfred Hoffmann. M. i), die mir nur aus Re¬ 
zensionen bekannt sind. 


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Werner, Epik und Lyrik im vergangenen Jahre, 


679 , 


einem schlichten Nekrolog des am 20. Dez. 
1895 verstorbenen Dichters ausstattete.'*) Ja* 
coby beherrscht mit voller Sicherheit den 
Ton orientalischer Poesie, den Rückert uns 
Deutschen mundgerecht machte, hütet sich 
aber, in leeres Spielen mit der Form zu ver¬ 
fallen. Auch bei ihm ein mit tragischen Mo¬ 
menten ausgestattetes Idyll, die Liebe zwischen 
Amru, dem Sohn eines Hindu, und Kheri, 
der Tochter eines Rajas, und zwischen ihrem 
Bruder Siddhar und Amrus Pflegeschwester 
^unita. Die einzelnen Szenen geben anschau¬ 
liche, anmutige Bilder, die Figuren werden 
mit wenigen Strichen lebendig gezeichnet 
und alles ist durchtränkt mit tiefer Weisheit, 
die sich ohne Aufdringlichkeit aus der Dicht¬ 
ung entfaltet. Die Macht der Liebe gegen¬ 
über der „Ichsucht“, die Macht der Natur 
gegenüber Verstiegenheit und Konvention, 
die Macht gesunder Lebensauffassung gegen¬ 
über beschränkter Einseitigkeit und ständischem 
Vorurteil, das ist die Tendenz und die Idee 
dieses Gedichtes. Sprüche der tiefen indischen 
Weisheit sind geschickt eingestreut, auch der 
Humor findet sein Recht, wofür der Zwerg 
Siddhars, der gescheite Narr Wamman, sorgt. 
Jacobys Werk wird natürlich nicht populär 
werden, denn es erscheint in fremdartigem 
Gewand, es ist eine Frucht vertiefter Bildung, 
aber es verdient von Allen genossen zu wer¬ 
den, denen Dichtung eine Herzenssache, Er¬ 
bauung, weihevoller Genuss ist. Henckell hat 
sich ein Verdienst dadurch erworben, dass 
er Jacobys Werk in einer billigen und trotz¬ 
dem schönen Ausgabe leicht zugänglich machte. 

Wundersame Naturbilder wie Jacobys 
^unita bietet auch ein japanisches, ursprüng¬ 
lich chinesisches Epos „Weissaster'*, das Karl 
Florenz'*) frei übersetzt hat. Es ist un¬ 
zweifelhaft die merkürdigste Erscheinung auf 
unserem Gebiete, ein prachtvolles Buch, origi¬ 
nell und zugleich geschmackvoll in der Aus¬ 
stattung. In Japan auf echt japanisches Papier 
sehr schön gedruckt, von zwei japanischen 
Künstlern, Mishima Yunosuke mit dem Künstler¬ 
namen Shösö und Arai ShQjiro, genannt 
Yoshimune, genial illustriert, von Florenz ge¬ 
schickt verdeutscht, bildet es ein ebenso lieb¬ 
liches als empfehlenswertes Geschenkwerk 
und wird jeden Leser durch die stimmungs¬ 
volle Belebung der Landschaft erfreuen. Die 
Erfindung ist romantisch: Weissaster kommt 
auf der Suche nach ihrem verschollenen 
Vater Aki-toschi zu einem Mönch, der sich 


'*) (^unita. Ein Gedicht aus Indien. Zürich u. Leip¬ 
zig, Verlag von Carl Henckell Ä: Co. M. 1,50. 

Japanische Dichtungen. Weissaster. Ein ro¬ 
mantisches Epos. Nebst anderen Geschichten. Frei 
nachgebildet. Leipzig; C. F. Ainelangs Verlag. 
Tokyo: T. Hasegawa. M. 6. 


als ihr verstossener Pflegebruder Aki-hide ent¬ 
puppt und sie aus der Gewalt ^von Räubern 
befreit. Er wird wieder von ihr getrennt, und 
sie kommt zu einem greisen Landmann, der 
sie an Kindesstatt annimmt und nach einigen 
Jahren dem reichen Präfekten verlobt. Weiss¬ 
aster jedoch trägt die Liebe zu ihrem Pflege¬ 
bruder im Herzen und will sich deshalb in 
den Fluss stürzen, woran sie der zufällig er¬ 
scheinende Aki-hide hindert. Natürlich wird 
alles zu glücklichem Abschluss gebracht. Nicht 
der Stoff giebt dem Epos seine Bedeutung, 
sondern die freiempfundene und zartabge¬ 
stimmte Landschaftsschilderung; sie wird mit 
solcher Zartheit und doch so anschaulich ge¬ 
geben, begnügt sich nicht zu sagen: „morgen 
früh“, sondern lässt gleich den Morgen all¬ 
mählich erwachen, ermüdet nicht, ein und 
dasselbe Naturereignis, z. B. den einbrechen¬ 
den Abend, aufs Glücklichste zu variieren, 
dass man willig folgt und sich in diese fremd¬ 
artige und doch bald vertraute Welt versenkt. 
Florenz hat auch einige Proben japanischer 
Lyrik angeschlossen, die gleichfalls, ob sie 
nun volkstümlich oder kunstmässig ist, das 
Stimmungselement vertritt. Er hat durch die 
Bearbeitung des Buches unsere Litteratur be¬ 
reichert, es wäre nur interessant zu sehen, 
wie sich das nicht übermalte Original aus¬ 
nimmt; vielleicht >verden die in Aussicht ge¬ 
stellten weiteren Dichtungen ein Urteil über 
die Art seiner Bearbeitung ermöglichen. Je¬ 
denfalls muss uns jede Kunde vom geistigen 
Leben des merkwürdigen Volkes erfreuen und 
interessieren. Es ist eine Welt, nur schein¬ 
bar anders, im Wesen aber ähnlich wie unsere 
eigene. Die Dichtung mischt aufs Glücklichste 
Trauriges und Freudiges, Idyllisches und 
Tragisches, wenn auch die Abenteuer nicht 
unserem modernen Geschmack entsprechen. 

Oder vielleicht doch? Soll man nicht aus 
allen Proben, aus allen Erfindungen schliessen, 
dass wieder der Geschmack für das romantisch 
Phantastische aufzuleben beginnt, nachdem 
einige Zeit das nüchtern Realistische ge¬ 
herrscht hatte. Ist es nicht merkwürdig, dass 
von Arthur Pfungsts romantisch-philosoph¬ 
ischer Dichtung „Laskaris" die beiden ersten 
Teile „Laskaris Jugend" nnd „Der Aichymist" 
noch bevor das Werk durch den letzten Band 
„Philalethes“ abgeschlossen war, in zweiter 
Auflage'*) erscheinen konnten? Und diese 
Dichtung stellt an den Leser keine geringen 
Anforderungen; sie behandelt in rhetorisch 
gehobener, wohlklingender Sprache das Rätsel 
des Menschenlebens und hält die Hauptmo- 

**)Laskaris. Eine Dichtung. Zweite durchgesehene 
Auflage. Berlin, Ferd. Dümmlers Verlagsbuchhand¬ 
lung. Erster Teil: La.skaris Jugend. M. 2. Zweiter 
Teil: Der Alchymist. M. 2. 


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68 o 


Werner, Epik und Lyrik im vergangenen Jahre. 


mente aus dem Leben des einzelnen Menschen 
in Bildern fest, die zwar an sich verständlich, 
aber doch erst bei tieferer Deutung ganz 
wirksam sind. In Laskaris ist das mensch¬ 
liche Individuum verkörpert; könnte er sich 
die Erfahrungen des grossen Pessimisten Phi- 
lalethes, seines Lehrers, zu nutze machen, 
dann würden ihm viele Schmerzen erspart 
werden, aber er muss eben selbst Erfahrun¬ 
gen sammeln, damit sie ihm lebendig werden, 
er muss sein eigenes Leben führen, nur ge¬ 
leitet von treuen Führern. Er kommt zu Ba¬ 
silius und erstrebt das Glück im Wirken für 
andere als treuer Krankenpfleger; der Zufall 
lässt ihn Charis finden, in die er sich ver¬ 
liebt. Da erwacht in ihm der Egoismus; um 
die Geliebte zu erlangen, die ihm von den 
Nereiden entrissen wird; regt sich die Gold¬ 
gier, die Sehnsucht nach dem Besitz. Der 
sterbende Philalethes enthüllt ihm das Ge¬ 
heimnis der Panacee und giebt ihm dadurch 
die Macht des Goldes. So ausgestattet, ver¬ 
lässt Laskaris zum Schlüsse des ersten Teils 
den Orient und taucht im zweiten Teil als 
Gehilfe des Dresdner Apothekers Heinrich 
von der Linden wieder auf. Der starke Kur¬ 
fürst und sein Hof werden glänzend charak¬ 
terisiert. Laskaris findet mne Zeit des Glückes 
und der Ruhe, da ihm Heinrichs Tochter 
Irene, um die sich der Provisor Walter ver¬ 
gebens beworben hat, als Gattin zu Teil wird. 
Schon hofft er auf ein Glück voll Dauer, doch 
er hofft umsonst. Als Alchymist kommt er 
an den Hof und verfällt dem Zauber der 
kurfürstlichen Geliebten Aurora. Der Ruhm 
lockt ihn und veranlasst ihn, dem Kurfürsten 
mit seiner Kunst zu helfen. Nur kurze Zeit 
ist er der gefeierte Liebling, bald regt sich 
der Neid bei den Höflingen, der Hass in 
seinem eigenen Herzen, denn die Eifersucht 
um Aurora bemächtigt sich seiner. Er weigert 
die weitere Hilfe und wird auf der Albrechts- 
burg gefangen gesetzt. Indess hat ihm Irene 
einen Sohn geboren und Philalethes getauft. 
Trotz seiner Untreue hält sie fest an Laskaris 
und befreit ihn aus dem Kerker. Zum Schlüsse 
des zweiten Teils fliehen Laskaris, Irene und 
der kleine Philalethes aus Sachsen, um anders¬ 
wo das Glück zu suchen. 

Wie man sieht, verlangt das Epos eine 
allegorische Auffassung, sind doch schon die 
Namen der Personen deutsam und beziehungs¬ 
voll. Ist das Leben wert gelebt zu werden? 
Diese Frage, die sein Lehrer Philaledes ver¬ 
neint hatte, möchte Laskaris bejahen lernen, 
aber er wird von Enttäuschung zu Enttäusch¬ 
ung geführt. Wohin er blickt, thun sich ihm 
Abgründe der Menschennatur auf, Schuld und 
Gier sind verquickt, den Sterblichen ist nichts 
Ewiges beschieden. Noch hält jedoch Laskaris 


an seiner Zuversicht fest, noch hofft er auf 
die Zukunft und erwartet das dauernde Glück. 
Der letzte Teil, der im Jahre 1897 erschien, 
bringt dann die Entscheidung. Es ist in ge¬ 
wissem Sinn das Faustproblem, das sich 
Pfungst wieder vorgesetzt hat, um es anders 
als Goethe zu lösen. Was der ganzen Mensch¬ 
heit zugeteilt ist, muss Laskaris durchleben, 
auch er unbefriedigt jeden Augenblick. Aber 
ihm fehlt die eigene 1‘hat, er wirkt nur als 
ein Erbe der Vergangenheit, nicht als kraft¬ 
voller Titane. So wird er eine Verkörperung 
eines schwachen Geschlechtes, das trotz aller 
Lebensbejahung mit der Lebensverneinung 
enden muss. Ein trübes trauriges Bild des 
Menschenlebens enthüllt uns ein Dichter, der 
sich mit indischer Philosophie bekannt und 
vertraut zeigt. Er ist ein ernster Denker, der 
meist mit Geschick die Gefahren einer philo¬ 
sophischen Dichtung überwindet, freilich manch¬ 
mal statt der Poesie tiefere geschichtliche 
und philosophische Auffassung giebt. 

Darin gleicht er dem Dichter Heinrich 
Hart, der sich einen noch weiteren Plan 
gesetzt hat. Er will uns in 24 Teilen ein 
Bild der Menschenentwicklung geben und hat 
im Berichtsjahr den dritten Teil**) des Ge¬ 
samtwerkes, „Mose*^, veröffentlicht. Auf ep¬ 
ischem Gebiet sucht er also zu leisten, was 
auf dramatischem der ungarische Dichter 
Emerich Mädach mit seiner „Tragödie der 
Menschheit“ in grossen Strichen gezeichnet 
hat. Es wurde ausgerechnet, dass Hart, die 
bisherige Schnelligkeit des Erscheinens 
angenommen, noch dreiundsechzig Jahre 
brauchen müsste, ehe sämtliche vierundzwanzig 
Bände den Lesern als Ganzes vorliegen wür¬ 
den, und man hat den Zweifel ausgesprochen, ob 
ein solches Werk dann noch den Eindruck 
machen könnte, es sei eine Einheit. So viel 
wir erfahren, gedenkt übrigens Hart gar nicht, 
die einzelnen Teile in arithmetischer Reihen¬ 
folge zu publizieren, sondern seine dichterische 
Freiheit zu wahren. Man darf begierig sein, 
ob ihm das Publikum bei seinem kolossalen 
Epos folgen wird, dürfte jedoch kaum allzu¬ 
viel Zuversicht hegen. Hart hat sich übrigens 
mehr ein künstlerisches als ein kulturhistor¬ 
isches Problem stellen wollen und daher aus 
der Entwicklung des „Menschentums“ jene 
Epochen herausgegriffen, die sein Empfinden 
und seine Phantasie erregten. Die stimmungs¬ 
volle Widmung des „Mose" an seine Eltern 
lehrt, wie sehr ihm gerade die Welt des alten 
Testamentes vertraut und lieb sein muss, wie 
weit sie ihm nichts Vergangenes, sondern 
etwas Gegenwärtiges ist. Im Zusammenhang 

'^) Das Lied der Menschheit. Ein Epos in 24 
Dichtungen. Band 3: Mose. Grossenhain, Baumert 
und Ronge. M. 2. 


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Werner, Epik und Lyrik im vergangenen Jahre. 


68 i 


des ganzen „Lieds der Menschheit“ bezeich¬ 
net der Stoff des Mose das Problem: Sieg 
des Monotheismus über den Polytheismus, 
vertreten durch den Sieg des Mose über Korah. 
Da aber nach Harts Ansicht natürlich'die 
Menschenerscheinung in keiner Entwicklungs¬ 
phase vollendet auftritt, so stellt sich in 
Mose die Einseitigkeit des nur für sein aus¬ 
erwähltes Volk errungenen Fortschrittes dar, 
es fehlt ihm die Liebe zum Menschen¬ 
geschlecht, darum die Milde, er ist ein 
Mann des Kampfes, und wenn er auch 
die Religion des Lebens erstrebt, bedient er 
sich ähnlicher Mittel wie die Religion des 
Todes, Dies hat Hart als kulturhistorisches 
Motiv mit Geschick behandelt. Als künstler¬ 
isches Problem seines Epos muss ihm er¬ 
schienen sein, die Macht eines leidenschaftlich 
wollenden, und zwar das Gute für sein Volk 
wollenden Individuums sinnlich zu machen 
und die Schwierigkeiten im Innern wie im 
Äussern zu entfalten. Das hat er in einzelnen 
Partieen mit hinreissendem Pathos und einer 
mächtig ergreifenden poetischen Rhetorik zu 
lösen verstanden. Er setzt mit der Anbetung 
des goldenen Kalbes ein, holt Moses äusseres 
Leben bis zu diesem Zeitpunkt nur in 
kurzen Andeutungen, sein inneres Leben 
in einer grossen Beichte Moses nach und 
schliesst mit der Niederwerfung der Rotte 
Korahs. Hart trifft einigemale den vollen 
Tön alttestamentalischer Poesie, die mäch¬ 
tigen Akkorde einer rhetorischen Lyrik aufs 
Glücklichste, zeichnet verschiedene Szenen 
mit vollem Leben, besonders die Pro¬ 
zession zum goldenen Kalb, die Mysterien 
der Ägypter, und entwirft sehr stimmungs¬ 
volle Naturbilder, am anschaulichsten den 
Gewittersturm am Berge Horeb. Er hat also 
das Möglichste gethan, um seinen Stoff mit 
Poesie zu umkleiden, das Gedankenelement 
freilich bleibt immer fühlbar und lässt die 
Konstruktion nicht ganz vergessen. Künst¬ 
lerisches und geschichtsphilosophisches Pro¬ 
blem stehen im Kampf mit einander, der 
Sieg der Poesie ist aber keineswegs zweifel¬ 
los. Modern an diesem biblischen Epos ist 
der Anklang an Nietzsche, denn der Gegen¬ 
satz zwischen Herdentrieb und Herrenmoral 
begegnet uns, nur zeigt sich Hart als ein 
Gegner der Nietzscheschen Herrenmoral. In der 
Figur Eleasars hat der Dichter die Re¬ 
ligion des Mitleids schon angedeutet, der sich 
Mose verschliesst, hat also auf die weitere 
Entwicklung hingewiesen. Will man eine 
Probe von Harts eminentem Geschick der 
Darstellung, dann sehe man, wie überaus 
glücklich, poetisch und dabei philosophisch, 
er den Dekalog (S. 184) in Moses Rede ver¬ 
webt, ein Beweis für sein Können. 


"T Aus dem bisherigen Überblick hat sich 
eine ziemlich reiche Thätigkeit auf epischem 
Gebiete während des vergangenen Jahres er¬ 
geben. Sogar ein komisches Epos, gewiss ein 
seltenes Ereignis, ist erschienen! 

Adolf Bartels hat es gewagt, die Zu¬ 
stände Deutschlands im Spiegel der Satire 
aufzufangen und in streng gebauten, aber frei 
versifizierten Stanzen zu besingen. „Der dumme 
Teufel oder die Geniesjiche“ heisst sein Werk.^*) 
Die Erfindung ist nicht übel und erinnert im 
Eingang an Faustdarstellungen. In der Hölle 
herrscht Verzweiflung, weil keine Genies mehr 
eingebracht werden; seit Napoleon nur Miss¬ 
ernten. Das ganze Vertrauen wird auf Deutsch¬ 
land gesetzt, und der „dumme Teufel“, schon 
seit dem 16. Jahrhundert mit Deutschland be¬ 
kannt, unternimmt es, in der Hülle des eben 
verstorbenen Studenten Alex Meier nach 
einem deutschen Genie zu suchen. Der ver¬ 
bummelte Alex Meier wird durch die Hilfe 
der Hölle reich, zieht nach Heidelberg und 
wird Saxo-Borusse. Hier glaubt er in dem 
feudalen Droste-Nirgendhausen ein angehen¬ 
des Bismarckgenie zu finden, täuscht sich 
aber. In Leipzig entdeckt er in Heinrich 
Kunath ein litterarisches Siebentelgenie und 
wird mit den modernen litterarischen Revo¬ 
lutionären bekannt. Bei den Malern in Mün¬ 
chen hat der dumme Teufel Alex Meier auch 
kein Glück, das Genie zeigt sich nicht. Da 
ihm die Hölle den Wechsel verkürzt hat, 
macht er in Leipzig den Doktor, muss zur 
Ersatzreserve einrücken, wodurch er sich Ein¬ 
blick ins Kasemenleben verschafft, und erhält 
endlich Stellung als Journalist. Die Erfahr¬ 
ungen in diesem Stand sind ebensowenig er¬ 
freulich, wie jene bei der Bühne, zu der 
Meier als rechte Hand eines Theaterdirektors 
in Beziehung tritt. Auch das politische Ge¬ 
triebe lernt er kennen, da er Sekretär eines 
konservativen Abgeordneten wird. Aber nir¬ 
gendwo ist ein Genie zu sehen. Da zieht sich 
der dumme Teufel mit einem Lotteriegewinn 
in Alex Meiers Heimatdorf Quappenhausen 
zurück, heiratet seine sitzengebliebene Jugend¬ 
geliebte Luise und erzieht seinen Sohn Franz, 
in dem er das kommende Genie gefunden zu 
haben glaubt. Aber seine Erdenfrist ist ab¬ 
gelaufen und sein Empfang in der Hölle wäre 
wohl weniger freundlich, wenn er nicht 
Nietzsches sämtliche Werke an des Teufels 
Grossmutter gesandt hätte; über diese Schrif¬ 
ten ist sie so entzückt, dass sie den dummen 
Teufel zum Kommentator Nietzsches in der 
Hölle ernennt. • 


'•) Der dumme Teufel oder Die Geniesuche. 
Komisches Epos in zwölf Gesängen. Dresdner Ver¬ 
lagsanstalt (V. W. Esche). M. 1.35. 


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682 


Panzerkreuzer „Ersatz Leipzig*. 



Durch seine Erfindung hat sich Bartels 
die Möglichkeit verschaffl, die meisten Seiten 
des deutschen Lebens zu behandeln; in einer 
Blocksbergszene und in einem prächtigen Traum 
vom Wettrennen der Dichter, einem Pegasus- 
Hoppegarten, nimmt er grösseren Massen ge¬ 
genüber Stellung und giebt eine sogenannte 
„Satire auf alle Stände“. Nur Kirche und 
Schule werden fast ganz ausser acht gelassen. 
Bartels Satire hat nichts Verletzendes; sie 
übertreibt nicht, verzerrt nicht und sucht mehr 
in einem getreuen Bilde das Thörichte zu 
zeigen. Manche gute Witze, manche Kalauer, 
vor allem die drolligen Reime sorgen für die 
Komik. Wenn man einen aristophanischen 
Zug in Bartels Satire hat finden wollen, dann 
wäre Bartels kaum ein Siebentel-Aristophanes; 
in Wirklichheit erinnert sein komisches Epos 
viel mehr an die zahmere Satire des vor¬ 
igen Jahrhunderts, an Zachariä, als an den 
kühnen, schneidigen Griechen. Aber immer¬ 
hin ist sein Werk ein erfreuliches Zeichen 
des wiedererwachenden Sinns für das feiner 
Komische. 

Auf dem Gebiete der Versepik herrscht 
also wieder frischeres Leben! 


Panzerkreuzer „Ersatz Leipzig“. 

Mit der Schöpfung dieses Bauwerks, das 
dieser Tage vom Stapel läuft, ersteht der 
Deutschen Marine der erste Zuwachs in den 
Panzerkreuzern erster Klasse. Wenn auch 
die früheren Panzerschiffe „König Wilhelm“, 
„Kaiser“ und „Deutschland“ zu Panzer¬ 
kreuzern signiert sind, so bedeutet das für 
unsere Flotte nur einen vorübergehenden Be¬ 
helf, da diese Schiffe alt sind und nicht mehr 
den Anforderungen der Neuzeit entsprechen 


können. — Wir geben in dem Nachstehenden 
eine Beschreibung des neuen Panzerkreuzers: 

„Ersatz Leipzig“ hat eine Gesamtlänge 
von 128 m; die Länge zwischen den Perpen¬ 
dikeln beträgt 120,00 m, die grösste Breite 
20,4 m, der mittlere Tiefgang 7,9 m. Die 
Wasserverdrängung stellt sich bei diesem 
Tiefgang auf 10650 t. Die Geschützbewaff¬ 
nung setzt sich wie folgt zusammen: 4 24 cm 
Geschütze sind in 2 gepanzerten Drehtürmen*) 
pirouettiert, von denen einer auf dem Vorschiff, 
der zweite auf dem Achterdeck aufgestellt 
sind; 6 15 cm Schnellfeuergeschütze sind in 
gepanzerten Einzel-Kasematten, die übrigen 
6 15 cm Schnellfeuergechütze in gepanzerten 
Drehtürmen untergebracht. 

Weiter sind auf das Schiff verteilt: 10 
8,8 cm Schnellfeuerkanonen mit Schilden, 

3>7 cm Maschinenkanonen und 8 3 mnl 
Maschinengewehre. Die Torpedoarmierung 
besteht in einem 45 cm Unterwasserbugrohr, 
4 45 cm Unterwasser-Breitseitrohren uud einem 
45 cm Überwasser-Heckrohr. Die Panzerung, 
welche eine Teakholzunterlage hat, erstreckt 
sich auf die ganze Länge des Schiffes in 
einer Dicke von 200 mm, welche sich nach 
den Schiffsenden zu auf 100 mm verjüngt. Es 
sind 2 Panzerdecks vorhanden, von welchen 
das auf Oberkante Panzerung belegene 50 mm, 
das Unterwasser-Panzerdeck vorne und hinten 
50 mm stark sind, während der Teil des vor 
und hinter der Citadelle liegenden oberen 
Panzerdecks 30 mm dick ist. 3 vertikale 
4 zylindrige, dreifach Expansions-Maschinen 
indizieren 13 500 Pferdestärken und verleihen 
dem Schiffe eine Geschvdndigkeit von 18,5 
bis 19 Knoten pro Stunde. Der Kohlenvor¬ 
rat beträgt 1000 t ä 1000 kg. Die Bemast¬ 
ung besteht in 2 Gefechtsmasten mit Marsen; 

•) drehbar untergebracht. 


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Erforschung der Bai'RESte und Inschriften des römischen Afrikas. 


683 


der Zugang zu den vorderen Gefechtsmarsen 
wird durch eine Wendeltreppe im Innern des 
Fockmastes vermittelt. Die Besatzungsstärke 
beläuft sich auf 565 Mann. Der Panzerkreuzer 
ist nach den Plänen des Chefkonstrukteurs 
der Kaiserlichen Marine, Dietrich auf der 
Werft Kiel erbaut; ebenso werden auch dort 
die Maschinen hergestellt. g. b. 


Die Erforschung der Baureste und Inschriften 
des ehemals römischen Afrika 
wird von der französischen Verwaltung in Tunis 
in grossartiger Weise betrieben und Hand in Hand 
mit den Ausgrabungen geht eine eifrige, von den 
Beamten und von zahlreichen französischen Forschern 
geübte litterarische Thätigkeit. Ejne Zusammen- 
Stellung aller erfolgten Veröffentlichungen zu einem 
grossen Sammelwerke „Les monuments historiques 
de la Tunisie“, von dem einige Hefte bereits er¬ 
schienen sind, soll, wie ein Artikel der Voss. Ztg. 
mitteilt, dem wir die nachfolgenden Daten entneh¬ 
men, bis zur Weltausstellung von 1900 vollendet 
sein. Nach dem Buche, das Direktor Paul Gauckler 
unter dem Titel „L’Archeologie de la Tunisie" kürz¬ 
lich veröffentlicht, ist „Tunis das Land der Ruinen 
par excellence“, die Spuren der Vergangenheit 
zeigen sich daselbst reichlicher und besser erhalten, 
als irgendwo sonst. 

Der Mittelpunkt für die Erforschung ist das von 
Kardinal Lavigerie begründete Museum von St. 
Louis, welches auf den Ruinen des alten Karthago 
steht. Daneben sind kleinere Lokalmuseen in der 
Nähe der wichtigsten Ausgrabungszentren wie 
Utika, Susa, Sfax, Mahedia, Dugga, El Djem, 
Oudna, Sua, Medelna geschaffen worden, um über¬ 
all Sinn und Geschmack für archäologische Forsch¬ 
ung zu erwecken. 

Was die historische Zugehörigkeit der Trümmer 
betrifft, so ist aus der ganzen vorrömischen, punisch- 
berberischen Zeit wenig oder gar nichts oberhalb 
der Erde stehen geblieben, vielmehr sind alle so 
zahlreich Ober das Land verstreuten Ruinen solche 
der kaiserlich römischen Provinz Afrika. Beschränk¬ 
ten sich ja doch die Karthager in ihrer Ansässig- 
machung auf die Hauptstadt und einige wenige 
Kostenpunkte; aber aucli in dem Gebiet von Kar¬ 
thago selbst verhält es sich so. Man muss darauf ver¬ 
zichten, irgend welche Spuren des Hafens, den 
Appian und Strabo so genau beschrieben haben, 
ausfindig zu machen; man soll aufhören, in den 
Ruinen römischer Bäder von Utika solche des 
karthagischen Admirals-Palastes sehen zu wollen, 
ohne dass man deswegen die Römer zu beschuld¬ 
igen braucht, sie seien bemüht gewesen, selbst das 
Gedächtnis ihrer Feinde zu vernichten. 

Däs einzige Ober der Erde stehende Monument 
punischer Architektur ist das aus dem 4. Jahrh. 
V. Chr. stammende Mausoleum von Dugga, ein 
Mischwerk ägyptischer und griechischer Kunst. 
Auf einem quadratischen Unterbau von sechs Stufen 
erhebt sich ein unteres Stockwerk, dessen Ecken 
durch glatte Pilaster gebildet werden. Drei Seiten 
haben falsche Fenster, die vierte eine in das Innere 


I führende Öffnung. Die Kapitale der Pilaster 
werden durch eine einzige stark einwärts ge¬ 
bogene Schnecke gebildet, aus der je drei halb¬ 
erblühte Lotus hervortreten. Über dem ersterenruht 
auf drei weiteren Stufen ein zweites, viel reicher 
geschmücktes Stockwerk mit acht eingelassenen 
ionischen und vier an den Ecken freistehenden kan¬ 
nelierten Säulen. An der Ost- und Nordseite geben 
zwei Thoren Einlass zu den Kammern im Innern, 
welche leer, mit ganz rohem Schmuck versehen 
und nur dazu bestimmt sind, den Unterbau zu ent¬ 
lasten. Ein auf den ionischen Säulen ruhender 
Kamies trägt wiederum zunächst drei Stufen, auf 
denen als Krönung des Gebäudes ein grosser Sockel 
sich erhebt. Die Stufen zeigen Reiterstatuetten, 
der Sockel geflügelte Figuren an den Ecken, die 
Seiten weisen Basreliefs von Quadrigen auf, und 
darüber erhebt Sich noch eine kleine Pyramide, 
welche auf ihrer Spitze den in den Trümmern auf 
der Erde wiedergefundenen Löwen trug. Die Grab¬ 
kammer befindet sich wahrscheinlich nicht in dem 
Mausoleum selbst, sondern unter und sogar neben 
diesem, wahrscheinlich in einem Keller mit wohl- 
verstecktem Eingang. Methodische Ausgrabungen 
würden wohl dazu führen, den Sarkophag des 
Berberfürsten mit seinen Edelsteinen und seiner 
sonstigen Totenäustattung unverletzt aufzufinden. 

Das Monument ist leider in den vierziger Jahren 
das Opfer des Vandalismus eines englischen Kon¬ 
suls geworden, der, um eine Tafel mit einer zwei¬ 
sprachigen Inschrift (libysch-punisch) auszulösen, die 
ganze Ostseite, in der dieselbe eingelassen, zer¬ 
stören Hess. Diese Inschrift, für die Sprachforsch¬ 
ung von unermesslichem Wert, wurde später ver¬ 
kauft und befindet sich jetzt im British Museum. 
Sie lässt uns den Namen eines Prinzen einer ber- 
berisch-punischen Dynastie, die das Land vonThugga 
beherrschte, und eine lange Genealogie seiner 
königlichen Vorfahren kennen. 

, Die Erklärung dafür, dass aus vorrömischer Zeit 
so wenig oberhalb der Erde stehen geblieben, er- 
giebt sich aus der schnellen Folge der römischen 
Herrschaft auf die karthagische. Die Römer setzten 
sich überall viele Generationen hindurch an die 
Stelle der Karthager, deren Bauten benutzend, aber 
auch alsbald sie erweiternd 'oder durch Neubauten 
ersetzend; schliesslich zerfielen auch die ersten 
römischen Bauten und andere traten an ihre Stelle, 
dann folgte die christlich-römische Periode mit ihrer 
eigentümlichen Architektur, Basiliken verdrängten 
die Tempel; aber alles geschah nach und nach 
ohne pietätvolle Schonung des vorher Dagewesenen, 
von dem infolge dessen wenige Spuren übrig blie¬ 
ben, als wäre es gewaltsam zerstört worden. 

Aus römischer Zeit beanspruchen die Reste der 
grossartigm Wasserversorgttngs-Anlagen und Ver¬ 
kehrswege, diese notwendigen Vorbedingungen des 
Wohlstandes, besonderes Interesse. Durch ausge¬ 
dehnte Kunstbauten vom einfachsten Wehr und der 
Terrassenbildung auf den Bergabhängen an bis zur 
sinnreichsten Zisternenbildung und zu langen Aquae- 
dukten haben die Römer es verstanden, das kost¬ 
bare Himmelsnass, das hier wohl reichlich, aber 
nur während einer bestimmten kurzen Zeit im 
Jahre hemiederströmt, aufzufangen und für die 
trockene Jahreszeit nutzbar zu machen. Zweck- 


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684 


Erforschung der Baureste und Inschriften des römischen Afrikas. 


mässig gelagerte Felsblöcke, Steinmauern, unter¬ 
mauerte Terrassen an den steilen Punkten der 
Berghöhen, zementierte und mit Schleusen ver¬ 
sehene Becken an den weniger abschüssigen Stellen 
bändigten die Wasserläufe und verhinderten, dass 
das Wasser nicht Sturzbäche und reissende Ströme 
bildend, das fruchtbare Erdreich mit sich fortriss. 

So trocknen im Sommer die Flösse nicht aus, 
liefern vielmehr durch ein in der Ebene von ihnen 
ausgehendes enges Kanalnetz das Wasser bis in 
die Furchen der Saatfelder und Fruchtgärten. Ein 
zweites, in umgekehrtem Sinn angelegtes System 
von Abzugsgräben sammelt das überschüssige, 
schädlich werdende Wasser in Kanäle, die es dem 
Meere zuftthren. Die am Fuss der Berge hervor¬ 
tretenden und nun natürlich auch reichlicher und 
regelmässiger fliessenden Quellen werden in ver¬ 
schiedener, ebenso sorgsamer Weise behandelt, 
überwölbt, um sie gegen Sonne und Staub zu 
schützen, und mit einer steinernen Einfassung ver¬ 
sehen. Im Nymphäum von Bulla-Regia durchläuft 
das Wasser eine Reihe übereinander liegender, 
durch Bleiröhren verbundener Behälter, welchen 
sich mehrere reich mit Mosaik geschmückte Säle 
anschliessen, dann wird es in unterirdischen Röhren 
unter einem Triumphbogen hindurch zu den Thermen 
geführt. 

Ähnliche Einrichtungen erkennt man in den 
Ruinen von Aphrodisium, in Sua, im Kef. Das be¬ 
rühmteste und reizvollste solcher Gebäude ist der 
über der Quelle des Zaghouanberges, des alten 
mons Ziquensis, errichtete Tempel, jetzt ein grosser 
Ruinenkomplex, der Ausgangspunkt der karthagi¬ 
schen Wasserleitung noch heutigen Tages. Ein 
grossartiger Bau, wie nur sojist ein gleichem Zwecke 
dienender in Italien selbst, seinen Trümmern nach 
zu schliessen, war die vom Nymphäum von Zaghou- 
an nach den Zisternen von Malga gehende Wasser¬ 
leitung, 9b km lang, ein gewölbter gemauerter Gang, 
der bald auf, bald unter, bald über den Boden, bis 
20 m hoch auf zweistöckigen Arkaden in Windun¬ 
gen die Höhen umgehend, oder durch Tunnel sie 
durchbrechend und Flussläufe ttberbrückend, die 
eine halbe Million betragende Bevölkerung der Haupt¬ 
stadt mit Wasser versorgte und ihr davon 32 Mül. 
Liter täglich zuführte. Die grösste Brücke ist die 
über den Melian-Fluss führende, die elf zweistöckige 
Bogen besass; man erkennt noch das zum Schutz 
der mächtigen Pfeiler, die sie ti^ugen, im Flusslauf 
angebrachte Mauerwerk. 

Dadurch, dass die Römer auf diese Weise der 
Natur zu Hilfe kamen, erklärt es sich, dass sie die 
Provinz Afrika zur Kornkammer Roms machten, 
dass aber nach ihnen das Land wieder zur Einöde 
und blossem Weidegrunde wurde. Im südlichen 
Tunesien, wo es nur in unzureichender Weise reg¬ 
net und das geschilderte Aufsaugen des Wassers 
nicht geübt wurde, verstanden es die Römer trotz¬ 
dem, durch ausgiebige Anpflanzung von Oliven¬ 
bäumen dem Boden Reichtümer abzugewinnen. 

Von den grossartigen römischen Hafenbauten 
ist unter der nie rastenden zerstörenden Kraft der 
Meereswogen nichts genau zu Bestimmendes übrig 
geblieben, desto zahlreicher und dauernder sind die 
Spuren, welche die römische Wegebaukunsi zurück- 
gelassen hat. Das Strassennetz, das die Provinz 


Afrika bedeckte, war nach Anlage und Ausführung 
etwas durchaus vollendetes. Aufschüttungen und 
Untermauerungen sind auf lange Strecken noch zu 
erkennen, ebenso die Anlage weitläufiger Drainage* 
gräben zum Schutze gegen fliessendes Wasser; 
kleinere und grössere Brücken, von denen einige 
noch vollständig erhalten, führen über jeden Wasser¬ 
lauf. Und alles ist vorgesehen, um die Benutzung 
der Strassen zu erleichtern; in abgemessenen Ent¬ 
fernungen sind öffentliche Brunnen und Unterkunfts¬ 
räume (Tabemae) für Menschen, Vieh und Wagen 
angelegt imd geben vor allem die Meilensteine um¬ 
ständliche Auskunft. Diese zum Teil noch aufrecht 
stehende Säulen auf rechtwinkligem Sockel, sind 
historische Dokumente ersten Ranges; man ent¬ 
deckt deren fortwährend neue, die oft überraschende 
Aufschlüsse geben, z. B. davon, dass ein Weg 
durch eine Schlucht über einen Pass führt, von dem 
man keine Ahnung hatte. Sie geben die Entfern¬ 
ung von Karthago und von der nächsten Stadt an, 
den Erbauer der Strasse, diejenigen, die sie aus¬ 
besserten und welche Schwierigkeiten sie dabei zu 
überwinden hatten, ob Soldaten der dritten Legion 
oder die beteiligten Munizipien die Arbeit leisteten, 
welche Magistrate sie überwachten, woher die 
Mittel dazu genommen wurden und ob die Strasse 
dem Dienst des Kaisers oder lokalem Interesse 
angehörte. 

Es ist klar, dass das ausgedehnte Strassennetz 
in richtigem Verhältnis zu den Städten, deren Ver¬ 
kehr es vermittelte, stehen musste. 

Wie hoch die Bevölkerungsziffer des Landes in 
der günstigsten Zeit gewesen, lässt sich nicht mehr 
feststellen. Karthago und Utika geben im dritten 
Jahrhundert von ihrer Bedeutung an Thugga, Thig- 
nica und andere Städte im Innern des Landes ab, 
und während zu derselben Zeit Städte im äussersten 
Süden, Thelepte (Teriana), Ammaedara (Haldra) und 
Cillium (Kassarine) fast unbewohnt sind, schwankt 
ihre Einwohnerzahl in der Mitte des 4. Jahrhunderts 
zwischen 20000 und 60000 und zwar in Folge der 
Kultur des Oelbaumes. Sufetula (Sbeitla), zur Zeit 
des Augustus ein einfaches Dorf, wurde in der 
Zeit der Byzantiner zur glänzenden Hauptstadt Im 
ganzen scheint die Bevölkerungszahl bis 300 n. Chr. 
stetig gewachsen und dann stationär geblieben zu 
sein, wobei sie den verschiedenen Schätzungen nach 
das Drei- bis Sechsfache der jetzigen, drei Millionen 
betragenden Bevölkerung ausmachte. 

ln der Anlage gleicht eine Stadt mit Utrem Forum 
und öffentlichen Gebäuden, in denen sich jeder 
Flecken Rom zu kopieren bemühte, der andern. 
Durch das Eingangsthor, das manchmal mit Pilastern 
und Säulen reich geschmückt ist, führt die mit 
Platten belegte, von erhöhten Fusssteigen einge¬ 
fasste Römerstrasse auf das Forum, auf dem In¬ 
schriften das Andenken der Bürger bewahren, die 
auf ihre Kosten Treppen, Trottoire, Rostren, Por¬ 
tiken, Statuen und Brunnen errichten Hessen.. 

Dass von den gewiss zahlreichen Statuen von 
Kaisern, Statthaltern und Magistratspersonen nur 
wenige übrig geblieben, erklärt sich dadurch, dass 
das Forum wie übrigens die ganzen Städte selbst 
in späteren Zeiten zu Steinbrüchen wurden. 

ln naheliegenden Zitadellen findet man oft die 
Sockel von Statuen als Grundsteine; der Marmor 


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Betrachtungen und kleine Mitteilungen. 685 


selbst hat zur Kalkbereitung gedient. Schöne 
Ruinen von Tempel» sind erhalten, sie standen am 
Forum und waren meist der Trias des römischen 
Pantheons, Jupiter, Juno und Minerva, geweiht. 
Der schönste und am besten erhaltene ist der von 
Dugga; er ist herrlich gelegen, von weitem sieht 
man die feinen und eleganten Umrisse am blauen 
Himmel abgezeichnet. Die zu ihm fahrenden breiten 
Stufen sind noch im Boden vergraben, sein Thor 
ist noch ganz intakt, desgleichen mehrere korinth¬ 
ische Säulen, ln Sufetula waren drei Tempel durch 
Arkaden verbunden, der mittlere war Jupiter, der 
rechts und links befindliche Juno und Minerva ge¬ 
weiht. Zahlreiche auf und unter dem Boden liegende 
ArchitekturtrQmmer von elegantester Ausführung 
geben eine hohe Idee von der einstigen Schönheit 
des Ganzen. Ausserdem gab es Tempel des 
Apollo, der Diana, des Herkules, Aeskulap, Merkur 
und Bacchus, der Venus und Ceres, alle nach dem 
gleichen griechischen Modell erbaut. 

Von diesen unterschieden sind die Sanktuarien 
der Afrika eigentümlichen Gottheiten: die Tanit und 
der Baal Haman, die romanisiert und zu Caelestis 
(Juno caelestis) und Saturnus dominus wurden. Der 
Kultus dieser beiden war sehr populär, wie zahl¬ 
lose Inschriften und Votivtafeln beweisen. Ihre An¬ 
betung erfolgte gewöhnlich auf Bergeshöhen, wo 
man auch vielfach die steinernen Tische findet, wo¬ 
rauf die Schlachtopfer erfolgten. 

Diese heidnischen Sanktuarien gehen bis zur Zeit 
der Antonine hinauf. Am Ende des 3. Jahrhunderts 
wurden keine mehr gebaut und sie entschwinden 
mit der Entwicklung des Christentums. Entweder 
werden sie ihrer Bestimmung abwendig gemacht 
oder sie machen den’ prunkvollen christlichen 
Basiliken Platz, die oft genug auf ihre Kosten er¬ 
richtet wurden. 

Die Ruinen der christlichen Basiliken sind na¬ 
türlich in Folge dessen sehr zahlreich in Tunesien. 
Die bedeutendste ist die Basilika von Damous-el- 
Karita bei Karthago. Man erkennt von ihr neun, 
durch Säulenreihen getrennte, parallele Schiffe, ein 
grosses Querschiff, ein von einem Halbrund von 
Säulen eingefasstes Atrium mit einem Brunnen in 
der Mitte, Heiligen- und Märtyrergräber, ein Bap¬ 
tisterium, Sakristeien, kurz die Überreste eines 
ganz grossartigen Baues. 

Ebenso reichlich und noch luxuriöser als die 
dem politischen und religiösen Leben dienenden 
Gebäude müssen die der Erholung und dem Ver¬ 
gnügen gewidmeten eingerichtet gewesen sein. 

Jede Stadt, jeder kleinere Ort hatte nachweisbar 
sein Theater, seinen Zirkus, seinen Hippodrom und 
öffentliche Badeanstalten, alle in demselben griechisch- 
römischen Stil erbaut und eingerichtet. Das kolos¬ 
salste und besterhaltene Bauwerk dieser Art ist das 
Amphitheater von El-Djem, 150 m lang, 125 m breit, 
die Arena in der Mitte 65 m lang, 52 m breit, von 
aussen mit Arkaden geschmückt; es liegt auf der 
Spitze eines Hügels und war wohl 33 m hoch. 
Von der umgebenden Einöde aus gesehen, macht 
es einen ganz gewaltigen Eindruck. Kleiner, aber 
eleganter in seiner Form und Ausschmückung, in 
seinen Einzelheiten auch besser erhalten, ist das¬ 
jenige von Dugga. Seine 25 Sitzreihen sind fast 
völlig intakt, die inneren Einrichtungen deutlich er¬ 
kennbar, viele Säulen stehen noch aufrecht. 


Der Luxus, der überall entfaltet wird und auf 
einen unglaublichen Reichtum des Landes schliessen 
lässt, erstreckte sich natürlich auch auf die Gräber, 
öffentliche wie private. Die Zahl der Kolumbarien 
und Mausoleen und der darin gefundenen kostbaren 
und kunstvollen Überreste und Inschriften ist un¬ 
endlich. Von Mausoleen giebt es prächtige, in Form 
von Tempeln oder Türmen erbaute, die in jetzt 
ganz verlassenen Gegenden allein liegen. So das 
von El-Amrouni, im äussersten Süden, auf dem 
Wege (von Karthago) nach Ghadames, 1894 von 
einem Lieutenant entdeckt. Es war ein 16 m hoher 
viereckiger Turm mit zwei Stockw'erken, von einer 
Pyramide überragt, auf gew’ölbtem Unterbau nihend. 
Auf der Vorderseite befand sich die Eingangsthür, 
darüber zwischen zwei Pilastern in Basrelief das 
Porträt des Verstorbenen und seiner Frau, dazu 
die Grabschrift in zwei Sprachen, lateinisch und 
neupunisch; die anderen Seiten waren mit je zwei 
Reihen von drei Reliefbildern geschmückt, die ein¬ 
ander entsprechend denselben Mythus in anderer 
Form darstellten, erst Orpheus, der die wilden 
Tiere zähmt, dann Orpheus die Eurydike, zuletzt 
Herkules die Alceste aus dem Reiche der Toten 
zurOckfTührend. Den Inschriften der Nekropolen und 
Mausoleen nach zu urteilen, starben nur Römer 
dort, und doch waren es meistens Liby-Phönizier, 
die aber die Sitten, die Sprache, den Glauben und 
die Kunstrichtung der Herren des Landes, und ihrer 
eigenen Herren, angenommen hatten. Wenn auch 
das niedere Volk vielfach alten Gebräuchen treu 
blieb, so romanisierten sich doch die Söhne der 
wohlhalbenden Bürger und der Lokalaristokratie, 
für die ein längerer Aufenthalt in Rom jedenfalls 
etwas Unumgängliches war, sehr schnell. Sie 
suchten Römer zu sein und wollten auch so heissen. 
Dass ihre lateinischen Namen usupiert waren, er¬ 
kennt man an vielen Inschriften, besonders aber an 
den Grabschriften. 

Die nach der Provinz ausgewanderten Römer 
haben sicherlich jederzeit nur eine schwache Minder¬ 
heit gebildet, sie waren die Inhaber der Regierungs¬ 
gewalt, die aber in späteren Zeiten auf Nichtrömer 
übertragen wurde. Dazu kamen römische Beamte 
und griechische Diener, die römischen Veteranen, 
welche hier Land zuerteilt erhielten, sow’ie Ge¬ 
schäftsleute und Kapitalisten, welche Güter und 
Landsitzein Afrika hatten, ohne dass sie dort immer 
wohnten. Im Ganzen aber waren es nur eine hand¬ 
voll Leute gegenüber den Millionen der Eingebor¬ 
enen, die sich ihnen aber fügten, weil sie sich glück¬ 
lich unter ihrer Herrschaft fühlten und die keinen 
grösseren Ehrgeiz kannten, als ihnen zu gleichen 
und gehorsame, dankbare Unterthanen des 
römischen Kaisers zu sein. Das römische Protek¬ 
torat hatte das Land glücklich und blühend gemacht, 
sein Sturz führte den Ruin des Landes herbei, w. 


Betrachtungen und kleine Mitteilungen. 

Über das Alter des Menschengeschlechts 
handelte ein sehr bemerkenswerter Vortrag, den 
der englische Archäologe Sir John Evans auf 
der gegenwärtig in der kanadischen Universitäts¬ 
stadt Toronto tagenden Jahresversammlung der 


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686 


Betrachtungen und kleine Mitieilungen. 


Britischen Vereinung zur Beförderung der fVissen- 
scha/t gehalten und der wir nach Mitteilungen der 
Köln. ztg. Folgendes entnehmen: Die Frage, in 
welcher Periode der Erdgeschichte der Mensch zu¬ 
erst aufgetreten ist, ist heute noch immer nicht 
Übereinstimmend beantwortet; Evans vertritt aber 
mit Entschiedenheit die Ansicht, dass der Mensch 
in der Tertiärzeit noch nicht bestanden habe oder 
dass wenigstens keinerlei Beweise für sein, da¬ 
maliges Vorhandensein vorliegen. Nach der Über¬ 
zeugung dieses Forschers ist der Mensch in Europa 
noch nicht einmal ein Zeitgenosse der Eiszeit ge¬ 
wesen, vielmehr erst nach Beendigung der grossen 
Vergletscherung in unserm Erdteil aufgetreten. 
Allerdings sind in der letzten Zeit manche Funde 
gemacht worden, die das tertiäre Alter des Menschen 
wahrscheinlich zu machen schienen, z. B. die von 
Nötling in Hinter-Indien gemachten Funde oder 
die ganz neuerdings In der socenannten „Wald¬ 
schicht* (forest bed) bei Cromer in England ent¬ 
deckten Feuersteingeräte; Evans hält aber dafür, 
dass diese Gegenstände entw'eder nicht aus so alter 
Zeit stammen, wie es angegeben wurde, oder dass 
sie nicht vom Menschen herrühren, sondern Natur¬ 
erzeugnisse sind. Nach seiner Ansicht trat der 
Mensch in Europa erst auf, als das Klima dort nach 
der langen Zeit der Vergletscherung sich so W’eit 
gemildert hatte, dass es etwa dem Klima der kalten 
Gebiete des heutigen Amerika oder Sibiriens glich. 
Um Evans’ eigenen Ausdruck zu gebrauchen, ist 
der Mensch im Verhältnis zu der langen Geschichte 
der Erde eigentlich „eine Kreatiu" von gestern“. 
Die Geschichte des Menschengeschlechts ist in 
kurzen Zügen etwa folgendermassen zu denken: 
Die Wiege des Urmenschen stand in Asien. Dort, 
unter dem günstigen Einfluss eines mässig warmen 
Klimas gedieh die Entwicklung des zur Herrschaft 
Über die Erde bestimmten Geschlechts lang.sam bis 
zu der Kunst, Steine zweckmässig zu bearbeiten, 
um sie als Werkzeuge und als Waffen zu benutzen. 
Später verliessen dann unsere Urahnen die Länder 
ihrer Geburt und wanderten, wahrscheinlich durch 
Mangel an jagdbarem Getier gezwungen, nach den 
westlich gelegenen Ländern, wo sie sicli im Laufe 
der Zeit über eine ungeheure Landfläche ausbrei¬ 
teten. Welch grosses Gebiet Jene Menschen der 
älteren Steinzeit innehatten, wird bewiesen durch 
die grosse Ausbreitung der von ihnen zurflekge- 
lassenen Steingeräte, die sich in nahezu überein¬ 
stimmender Form in der ganzen alten Welt ver¬ 
streut finden. Die Grenze seiner w'estlichen Wan¬ 
derungen ' erreichte der Mensch in Britannien, 
w’elches Land damals noch mit dem europäischen 
Festlande in Verbindung stand. Lange, lange Jahr¬ 
hunderte muss dieser erste Abschnitt menschlicher 
Herrschaft in Europa gedauert haben, aber es kam 
eine Zeit, in der der Mensch sich aus diesem Erd¬ 
teil wieder zurückzog, wahrscheinlich infolge er¬ 
neuten Eintritts eines ungünstigen Klimas. Auf 
diese Weise erklärt Evans die auffallende That- 
sache, dass sich in den Resten der europäischen 
Urmenschen durchaus kein Übergang von der 
älteren zur jüngeren Steinzeit gezeigt hat. Wie 
lange unser Erdteil nun vom Menschen verlassen 
blieb, kann man nicht sagen, wahrscheinlich aber 
handelte es sich hier um einen sehr langen Zeit¬ 
raum. Denn als der Mensch nach Europa zurück¬ 
kehrte, war er ein anderer geworden, ein Wesen, 
das seine Intelligenz auf eine weit höhere Stufe 
gebracht hatte, ^glichcrweise hatten die Menschen 
in andern Ländern während dieser Zeit einen be¬ 
sonders günstigen Boden für ihre Entwicklung ge¬ 
funden. Sie hatten die Viehzucht und den Acker¬ 
bau gelernt, sic hatten die Webekunst und die 
Töpferei geschafl'en und viele neue F'ertigkeiten 


erworben, nur die Nutzung der Metalle war ihnen 
noch unbekannt Dies ist die Kultur der jüngeren 
Steinzeit, auf deren Standpunkt viele Naturvölker 
bis fast auf die Gegenwart verharrten, ja einige 
wenige Völker befinden sich noch heute in diesem 
Kulturzustand. 


Chassag;ne’s. Farbenphotographie, über die wir 
bereits früher in No. 13 der Umschau vom 27. März 
berichtet liabeh, erweist sich, nachdem der Erfinder 
zwecks geschäftlicher Verwertung seines Verfahrens 
aus der bisher behaupteten Reserve hervot^etreten, 
als nichts anderes als eine Art Obermalung, die 
das Problem der Photographie in natürlichen Farben 
in keinerlei Weise löst. 

Wenn wir seinerzeit bemerkten, dass die von 
Chassagne vorgelegten Proben den Eindruck von 
gewöhnlichen mit Lasurfarben kolorierten Photo- 
grapliien machten, so hatten wir damit durchaus 
das Richtige getroffen, da es jetzt bekannt wird, 
dass in der That jede vorhandene Photographie zur 
Behandlung in dem Chassagne’sche Verfahren ge¬ 
eignet ist, und dass die Präparierung der Negativ¬ 
platte vor der Aufnahme, also besondere Aufnah¬ 
men Oberhaupt, vollkommen überflüssig ist und 
jedenfalls nur den Zweck hatte, das Verfahren mit 
einem geheimnisvollen Nimbus zu umgeben. 

Von einer ,jautomatischen“ Wirkung der drei 
FarbenflOsslgkeiten (blau, grün, rot), welche jedes¬ 
mal nur von den entsprechenden Stellen der po¬ 
sitiven Kopie angenommen werden und durch ihr 
Übereinandertreten ein richtiges Bild in den Natur¬ 
farben erzielen sollten, ist keine Rede. Von den 
drei Farben haftet eine jede an jeder beliebigen 
Stelle des Bildes; und auch nur bei richtigem Misch¬ 
ungsverhältnisse derselben erhält man den ge¬ 
wünschten Ton; kurz, der ganze Prozess läuft auf 
ein gewöhnliches Kolorier-Verfahren hinaus, das je 
nach der Geschicklichkeit des Malenden bessere 
oder weniger gute Resultate ergeben w’ird. Der 
Unterschied zwischen diesem Verfahren und den 
bereits seit langer Zeit bekannten ähnlichen Ver¬ 
fahren besteht einzig darin, dass bei ersterem nur 
drei Farben (blau, grün, rot), bei den letzteren hin¬ 
gegen für die verschiedenen Zwischentöne beson¬ 
dere Farben zur Verwendung kommen. Wahr¬ 
scheinlich aber stellt das erstere Kolorieryerfahren 
gerade in Folge dieser scheinbaren Vereinfachung 
grössere Anforderungen an den Farbensinn des 
Malenden als das letztere. Der Kernpunkt und 
Hauptvorzug der so gewaltig aufgebauschten Er¬ 
findung dürfte darin bestehen, dass die Farben in 
das Innere der Photographie eindringen und mit 
dem Silberbilde eine Verbindung bilden, sodass beim 
Übermalen die ersten Farbenlagen nicht durch die 
nachfolgenden verwischt werden können. 

Der Amateiir-Photoifraph, Seplembei- 1897. 

• • 

* 

A. Nakagawa: Prof. Kitasato's Institut für 
Infektionskrankheiten in Tokio. 

(Science, »7. Aug. 1897.) 

Die Japaner besitzen in Prof. Kitasato einen 
der hervorragendsten lebenden Bakteriologen, der 
die in Deutschland erworbenen Kenntnisse und Er¬ 
fahrungen seit seiner Rückkehr im Jahre 1892 zum 
Wohl seines Vaterlandes verw’ertet. Mit klarem 
Blick hat man in Japan die Bedeutung dieses 
Mannes erkannt und ihm die Mitte! zur Verfügung 
gestellt, seine Kenntnisse zu verwerten. Das „Institut 
für Infektionskrankheiten“ an dessen Spitze er steht, 
hat keine Beziehung zur Universität von Tokio, 
sondern steht direkt unter dem Minister des Ini^rn 
und erhält einen jährlichen Beitrag von 15,000 *00 


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Betrachtungen und kleine Mitteilungen, 


687 


(etwas über M. 30,000). Das Institut zerfällt in eine 
wissenschaftliche und eine klinische Abteilung; 
«rstere wieder in eine Abteilung ftir selbständige 
Untersuchungen und ftlr Lehrzwecke. — Kitasato 
arbeitet mit 6 ordentlichen und 10 ausserordentlichen 
Assistenten; schon über 200 Ärzte haben den seit 
März 1894 eingerichteten praktischen Kurs mitge* 
macht. Von hervorragenaen Untersuchungen, die 
im Institut stattfinden oder früher ausgefilhrt wor¬ 
den, seieh folgende erwähnt: 

Tsutsugamushi: Dies ist eine in Japan ende¬ 
mische Krankheit, ähnlich der Malaria. Es wurde 
gefunden, dass auch der Krankheitserreger dem der 
Malaria ähnelt und sich in den roten Blutkörperchen 
einnistet. 

Pestbazillus-. Es ist allgemein bekannt, dass 
-dieser von Kitasato nachgewiesen wurde. Weniger 
bekannt ist es jedoch, dass er von dem von Dr. 
Yersin gefundenen total verschieden ist. In der 
That existieren jetzt zwei Bakterien, die man als 
Peslerreger anspricht; welcher von beiden der 
wahre ist, werden wohl die Publikationen der kürz¬ 
lich aus Bombay zurOckgekehrten Kommission zur 
Erforschung der Pest erweisen. 

Anti’CholeraSenim. Die damit erzielten Resul¬ 
tate sind soweit ermutigend, dass man bei zukünf¬ 
tigen Epidemien Versuche in grösserem Massstab 
damit anstellen wird. Dr. Kitasato sucht die Anti- 
Toxinwirkung eines Cholera-Serum zu beweisen, 
befindet sich jedoch in Widerspruch mit der Ber¬ 
liner Schule. 

Lepra: Japan gehört zu den Ländern, in denen 
diese bisher unheilbare Krankheit sehr ausgebreitet 
ist; Kitasato sitzt also bei seinen Untersuchungen 
sozusagen an der Quelle. In Deutschland kamen 
Leprafälle nur vereinzelt vor, in letzter Zeit jedoch 
sind sie in Ost-Preussen häufiger aufgetreten, so dass 
die Untersuchungen für uns eine gewisse Aktualität 
haben, die auch in einer im Oktober in Berlin zu¬ 
sammentretenden Lepra-Konferenz ihren Ausdruck 
findet. — Kitasato «oll im Besitz eines Heilmittels 
für Lepra sein, dass er „Leprin* nennt. Irgend 
Genaueres ist noch nicht bekannt, doch wird Kitasato 
in allernächster Zeit eine Publikation darüber 
machen. In der klinischen Abteilung wurden 180 
Fälle mit Leprininjektion behandelt, 4 davon seien 
vollständig geheilt und einige andere seien in der 
Besserung. 

Schliesslich beschäftigt sich Kitasato noch mit 
Typhus- und Erysipel-Serum. b. 

Therapeutische Erfahrungen über d. Tuberkulin R. 

(D. med. Wochenschrift No. 34). 

Bei Lupus hat Doutrelepont in der Bonner der¬ 
matologischen Klinik eine günstige Einwirkung be¬ 
obachten können. Bei der unter Umständen starken 
Fiebererregung rät er nur langsam die Dosis zu 
steigern. Tn der inneren Klinik in Greifswald (Prof. 
Mor 1 er) wurden 13 Fälle von Lungentuberkulose 
mit dem neuen Tuberkulin behandelt. Die Resultate 
sind zu zweifelhaft, um daraus einen sicheren Schluss 
auf die Heilwirkung sichern zu können. — Rumpf 
machte die gleichen Erfahrungen ungünstiger 
Natur mit dem neuen Mittel, die auch anderwärts 
gemacht wurden und zwar nach der Richtung, dass 
das Mittel nicht konstant vor allem nicht steril ist. 
Entzündliche schmerzhafte Infiltrationen der Injek¬ 
tionsstellen ermahnen zur äussersten Vorsicht. — 
Bei Larynxtuberkulose will Herzfeld einmal eine 
günstige Beeinflussung gesehen haben, die aber 
durch lokale Behandumg mindestens ebenso gut 
hätte erreicht werden können. — Bei beginnender 
Lungentuberkulose hat Baudach bei äusseren gün¬ 
stigen Verhältnissen Besserungen bei Anw’endung 
•des Tuberkulins beobachtet. ~ m. 


Merkwürdige Versttche mit flüssiger Luft 
Professor D e w a r in London hat seinen früheren, 
in diesen Blättern wiederholt erwähnten Versuchen 
einige neue angereiht, die womöglich noch über- 
rasAender in der Vorlesung wirken. Wenn man 
einen WasserstofFstrom dur(m flüssigen Sauerstoff 
leitet und diesen Strahl entzündet, so setzt sich die 
Verbrennung ins Innere der Flüssigkeit fort, und 
das durch die Verbrennung des Wasserstoffes ent¬ 
standene Wasser steigt in der Form von Schnee 
an die Oberfläche der Flüssigkeit Zugleich entsteht 
eine beträchtliche Menge Ozon. In ähnlicher Weise 
brennen auch Graphit und Diamant im Innern des 
Sauerstoffes und erzeugen neben Ozon feste Kohlen¬ 
säure. Tränkt man ein Stückchen Holzkohle oder 
ein Flöckchen Baumwolle mit flüssigem Sauerstoff, 
so genügt die Berührung mit einem rotglühenden 
Körper, um eine explosionsartige Verbrennung her¬ 
vorzurufen. Prometheus 1897, No. 49. 

• • 

• 

Die Jacksonsche Polarexpedltion ist aus Franz 
Josefland wieder in England eingetroffen. Auf Kosten 
eines reichen Gönners, Mr. Harmsworth, unter einem 
Kostenaufwand von einer halben Million ausgerüstet, 
hatte die Expedition, die acht Teilnehmer umfasste, 
im Juli 1894 London verlassen, war Archangel an- 
elaufen und von dort aus am 5. August zum Franz 
osefland weitergegangen, das im selben Herbst 
glücklich erreicht wurde. Dagegen fror das Ex¬ 
peditionsschiff „Windward" dort ein und konnte 
erst im folgenden Jahre zurückkehren. Während 
der Überwinterung wurde die Mannschaft stark 
vom Skorbut heimgesucht, woran drei Mann star¬ 
ben. Im Juni V. J. ging der „Windward“ wiederum 
nach Franz Josefland, von wo er am 13. August 
mit Nansen und Johansen an Bord in Vardö in 
Norw^en eintraf. Es sollen bedeutende geograph¬ 
ische Ei^ebnisse erzielt worden sein, worunter die 
Kartenlegung insbesondere des westlichen Teils 
von Franz Josefland genannt wird. Auch wird man 
erwarten müssen, dass die Expedition während 
ihres dreijährigen Aufenthalts auf Franz Josefland 
gute wissenschaftliche Ausbeute geliefert hat Wie 
man sich erinnern wird, war im vorigen Jahre von 
England aus eine scharfe Kritik über die Karten¬ 
legung Payers «übt worden, obwohl es in der 
geographischen Forschung nichts Ungewöhnliches 
ist, dass neuentdeckte Landmassen durch spätere 
Forschungen eine erhebliche Richtigstellung erfah¬ 
ren. Auf Franz Josefland wäre dies um so weniger 
wunderbar, als Payer für seine Arbeiten nur Wochen 
zur Verfügung standen, während Jackson dazu 
mehrere Jahre aufwenden konnte. 


Sprechsaal. 

Herrn Lehrer R. Th. in Fr. Ihrem Wunsche 
werden eine Anzahl Beiträge, die auf dem Gebiete 
der Kunst vorgesehen sind, entsprechen. Titel und 
Inhaltsverzeichnis erscheint mit aer letzten Nummer 
des Jahrganges. Dass die letzte Seite der Nummer 
mit Inseraten besetzt wird, lässt sich nicht immer 
vermeiden. 


No. 39 der Umscbaa wird eathalten: 

Geh. Med.'Rat Professor Orth, Mediiin. Unterricht und Sratliche 
Praxis. — Dr. Rene du Bois • Reymond, Die Photographie in 
ihrer Beziehung zur Lehre vom Stehen und Gehen. — Dr. 
Zacharias, Das Plankton der norddeutschen Binnenseen. — Prof. 
Dr. Max Büchner, Das Portrat. 


G. Horstmann’s Druckerei. Frankfurt a. M. 


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688 


Anzeigen. 



Nachstehende Werke 

(gut erhalten) 

sind antiquarisch in je einem 
Exemplar durch H. Bechholds 
Verlag, Frankfurt a. M., Neue 
Kräme 19/21, zu beziehen: 

'•Grosser Handatlas des Himmels 
u. d. Erde. 72 Blatt gbd. Kiepert- 
Weiland, Ihr nur 30 M. 
'Spielhagen, Quisisana. 9. A. 1896. 
Hlwd. M. 3 -- 

— PlattLand.6.A. 1895. Hlwd. M. 3. 

— Angela. 6. A. 1895: Hlwd. M. 3. 

Alles wie neu! 

•Jacobs, F., Hellas, Geographie, 
Geschichte u. Litteratur Griechen¬ 
lands. Neubearb. V. Curtius. 1897. 
(M. 5.) M. 3.50 

'Baumgartner, A., Geschichte der 
Weltlitteratur. I. Bd. 1897. (M. 9.60.) 
M. 6.80. 

Holtke, Gesammelte Schriften und 
Denkwürdigkeiten. Bd. 1 — 7.1892. 
Orghfzb. (M. 51). M. 35.50 
'Meyers Handlexikon. 5. Aufl. In 
I Bde. 1893. Orghfrb. (M.to) M.7.50, 
tDord, Prachtbibel. Rot. Maroqu. 2 
Bde. Evangel. Ausg. Gut gehalten! 
Statt 120 nur 70 M. 

Graetz, Elektrizität. 4. Aufl. gebd. 
(M. 8.) M. 5.- 



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„UMSCHAU“ liegt eine Beilage 
der Firma Siemens & Halske 
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Verantwortlicher Redakteur: 

Otto Adolf Wolters, Frankfurt a. M. 


39. I. Jahrg. “■ 1897. 25, September. 


Das Porträt. 

Ein Stück Völkerkunde. 

Von Prof. Dr. Max Büchner. 

Eine der höchsten Aufgaben für den 
Künstler ist das Porträt. Am meisten aus¬ 
gesetzt der Kritik eines Jeden und am meisten 
zum Beifall oder zum Widerspruch reizend, 
stellt es die schwierigste Probe für das wirk¬ 
liche Können, welches vorhanden sein muss 
ohne Aufdringlichkeit, und dessen Fehlen 
nicht leicht verdeckt werden kann. Denn 
einerseits ist doch der Nebenmensch für uns 
alle der interessanteste und am öftesten ii;n- 
.Imer wieder zu prüfende GegehstänÖ, ‘den wir 
schliesslich, in seinem Äusseren wenigstens, 
am genauesten kennen, und andererseits for¬ 
dert nichts eine grössere Herrschaft über die 
Charakteristik bis in die kleinsten, nur mit 
dem schärfsten Auge zu erfassenden Züge, 
als die künstlerische Wiedergabe eben dieses 
Nebenmenschen. 

Welch lange Reihe von Entdeckungen 
musste die Menschheit durchlaufen, ehe sie 
im Porträtfach jene Vollendung erlebte, die 
wir Europäer heute gewohnt sind, als selbst¬ 
verständlich und ohne Nachsicht verlangen 
und in einige Einzelleistungen spalten, für die 
wir allerhand sinnige Schlagwörter wissen, 
wie zum Beispiel Durchgeistigung, seelische 
Tiefe, taktvolle Diskretion und gemütvolle 
Indiskretionen. Wie weit zurück müssen wir 
gehen, bis wir zu jenem bescheidensten Anfang 
aller Künste gelangen, der das erste schüch¬ 
terne Dämmern und Morgenrot unserer strah¬ 
lenden Tage bedeutete. 

Die erste ursprünglichste Freude bereitet 
die Kunst als Entdeckung, dass irgend ein 
Gegenstand der bekannten Natur auch aus 
anderem Stoff, als aus dem ihm natürlichen 
nachgeformt werden kann. Das geschieht auf 
dem Standpunkt des Wilden. Ein Neger hat 
im Walde Honig gesucht, ist von den Bienen 
üaachaa i^. 


gestochen worden und kommt nach Hause 
mit geschwollener Hand. Sein Nachbar findet 
das lustig, ist gerade im Besitz einer knollig 
gefingerten Wurzel und spottet nun: Hongo, 
hier habe ich ja deine Hand. Zugleich aber 
wird die Ähnlichkeit noch mit dem Messer 
verdeutlicht. Das ist schon der Anfang einer 
Skulptur. In jener nämlichen Wurzel berührt 
sich die bildende mit der schauspielenden 
Kunst, da diese ja auch nur aus der Ver¬ 
spottung entsprang. In gleicher Art wird 
dann gelegentlich aus einem knorrigen Ast 
mit vier abgebrochenen Zweigen ein vier- 
^ft^iges Tier^^und schliesslich ganz ebenso 
aus einem g^rinsenden Baumknorz ein Men¬ 
schengesicht.’ 

All diese Zufallsergebnisse sind bereits 
grosse Epochen in der Erziehung des Men¬ 
schengeschlechts. Der Zufall ist für jegliches 
Können die dunkle Pforte des Unbekannten, 
die uns von Zeit zu Zeit Gaben reicht. Das 
durch den Zufall Erhaltene bewahrt dann der 
kleine Menschenverstand in jenem wichtigen 
Fach, das Erinnerung heisst. Wie und wo¬ 
her der Besitz uns zukam, wird vergessen, 
und bald macht sich die Einbildung breit, 
dass er von je unser eigen war, und von 
uns selber geschaffen ist. Das Wort Phan¬ 
tasie stellt sich ein und wird zu einer Art 
Göttin, die in uns wohnen darf mit der Ver¬ 
pflichtung, uns aus dem einfachen Nichts aller¬ 
hand ungeahnt Neues zu zaubern. In Wahr¬ 
heit aber ist Phantasie nur aufgeregte Erin¬ 
nerung. Wir können niemals Formen erfinden, 
die wir nicht vorher gesehen hätten. Wir 
können nur reproduzieren und kombinieren, 
und unsere Thätigkeit ist dabei nur die Er¬ 
kennung und Interpretierung der Formen auf 
ihre Brauchbarkeit zu einer Sinnhineinlegung. 
Erst nach vielen Erfahrungen wird es gelingen, 
mit bewusster Absicht Ähnlichkeiten zu för¬ 
dern aus gänzlich Unähnlichem, wie zum Bei¬ 
spiel die Statue aus einem Steinblock, 

39 


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690 


Büchner, Das Porträt. 


Die ersten Übungen eines Kindes im Sehen 
drehen sich um die Erkenntnis des dreidimen- 
sionellen Körperhaften, und ebenso handelt 
es sich in den Künsten des Wilden zunächst 
nur um plastische Werke. Eingekratzte Figuren 
bereiten das Bild in der Fläche vor. Hin- 
schQttungen aus verschiedenem Sand auf den 
Boden kommen diesem am nächsten. Kon¬ 
turenzeichnungen an den Wänden der Hütten 
sind die höchste Leistung. Für Besseres fehlt 
schon das Material. Rein nur aus dunklen 
und hellen Tönen bestehende Bilder ohne 
Farben, wie Photographien, werden gar nicht 
erkannt. Die ersten Versuche künstlerischer 
Gestaltung mussten also Skulpturen sein. Das 
Wie kommt noch nicht in Betracht. Das 
blosse Vergnügen, dass einige Ähnlichkeit 
Oberhaupt nur gelingt, ist Alles. 

Auch das Was ist noch ziemlich beschränkt. 
Die Gestalten von Tieren sind gewöhnlich 
der erste Vorwurf. Auf Tiere ist das Auge 
des Wilden geschärft, sie sind für ihn draussen 
im Walde das Hauptinteresse, entweder als 
furchtbare Feinde, oder weil man sie listig 
beobachten und beschleichen muss und dann 
töten und essen kann, um von ihnen zu leben. 
Aus gleichen Gründen kommen darnach die 
Menschen, zuerst wieder die feindlichen, und 
zugleich die Gespenster, die aus unheimlichen 
Menschen entstehen. 

Gespenster, gefährliche Tiere und gefähr¬ 
liche Menschen verwirren sich schliesslich, 
verwandeln sich eines ins andere und werden 
zur Mythologie. Ihnen gesellen sich die 
Toten zu. Aber es giebt auch freundliche, 
mächtig schützende Tote, die Heroen des 
Stammes. Sie sich als Schutz auch über ihr 
Leben hinaus zu erhalten, ist ein naheliegen¬ 
der Wunsch. Allein sie selber verfaulen, und 
nur ihre Knochen bleiben übrig. Auch das 
ist schon etwas. Man nimmt ihre Knochen 
und macht Pfeilspitzen daraus. Denn auch 
in ihnen steckt noch mancherlei Kraft. Jedoch 
wie viel wertvoller wäre der ganze verblich¬ 
ene Heros. Wenn auch nur als Leiche steif 
und leblos, er würde noch immer die Feinde 
schrecken. Es regt sich das Bedürfnis der 
Porträtierkunst, dem aber noch die Befruchtung 
fehlt durch eine Zufallsentdeckung, dass eine 
solche auch möglich ist. 

In besonders energischer Weise wird die¬ 
sem frommen Bedürfnis genügt bei den wilden 
Bewohnern von Neu-Britannien. Man schlägt 
dem verehrten Toten die ganze Gesichtshälfte 
seines Schädels vom Haupt, räuchert sie, 
reinigt sie von den weichen Partien, ersetzt 
diese plastisch durch Thon und verziert das 
so gewonnene Antlitz mit einer Bemalung, so 
ungefähr wie sie der Tote im Leben liebte. 

Diese Schädelmaske bedeutet bereits für 


die Porträtierkunst einen ersten Schritt in der 
Richtung zur persönlichen Ähnlichkeit. Die 
Knochenteile, das Gerüst für das Kunstwerk, 
welches in Thon ausgedrückt werden soll, 
sind ja an sich schon ganz persönlich iden¬ 
tisch, thatsächlich entnommen dem wirklichen, 
eben kurz erst entwichenen Leben des Dar¬ 
zustellenden. Beim Formen der Züge helfen 
die wirklich persönlichen Knochen massgebend 
als feste Linien mit, und zugleich schwebt 
das Bild des Verstorbenen noch frisch in der 
Erinnerung, wenn auch schon etwas verändert, 
so ungefähr, wie es an der Leiche aussah, 
stark eingeschrumpft von der Wirkung des 
beständigen Feuers, neben dem tote Häupt¬ 
linge oft noch durch Wochen von den Weibern 
des Stammes beweint und beheult werden 
müssen. Verklärt von den Beleuchtungs- 
effekten lodernder Flammen nehmen sich 
solche Häuptlingsleichen gar wundersam aus 
und bleiben besonders stark im Gedächtnis. 

Hier handelt es sich noch immer nicht 
um ein freies Kunstwerk, sondern blos um 
eine Zubereitung unter kunstgemässen Er¬ 
gänzungen. Zum freien Kunstwerk gehört 
der freie ganz unabhängige Stoff. Hier han¬ 
delt es sich auch noch keineswegs um die 
persönliche Ähnlichkeit als Verdienst einer 
Absicht, sondern sie steckt bereits in der 
persönlichen Wesenheit. Auch steht dieses 
Beispiel des rohesten Anfangs zu einer Art 
von Porträtierkunst völlig vereinzelt'da. Das 
Bedürfnis selbst aber lebt in der ganzen 
Menschheit und findet nur, je nach dem Kön¬ 
nen der einzelnen Völker in anderer Weise 
Befriedigung. 

Der alles bedingende Zufall ergiebt, wie 
schon eingangs erwähnt, auch einmal in den 
Formen knorriger Bäume die für eine Men¬ 
schengestalt verwertbare Ähnlichkeit, die als¬ 
bald erkannt und benutzt und mit dem Messer 
verbessert wird. Der so behandelte glücklich 
zu einer Menschengestalt gewordene Baum¬ 
knorz grinst eindrucksvoll und bedeutend. So 
grinst kein gewöhnlicher Mensch, sondern 
nur ein Heros. Sollte das nicht etwa gar 
der verstorbene Häuptling Tangaroa sein, der 
unzählige Feinde erschlug und das Meer be¬ 
herrschte? Ja der muss es sein, der ist es. 
Aus seiner Höhle in dem feurigen Krater 
kam er zurück, unseren Stamm zu schützen 
und wieder mächtig und froh zu machen. Und 
nun erst wird das Bild wiederholt, indem man 
zunächst nach passenden Vorformen sucht und 
so allmählig sich einübt, das Ähnliche auch 
aus Unähnlichem mit bewusster Absicht her¬ 
vorzubringen. Jetzt erst hat man die echte 
Porträtierkunst. 

Das ist die Stufe des primitiven, konven¬ 
tionellen Porträts. Die Ähnlichkeit ist halb 


X 


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Büchner, Das Porträt. 


691 


imaginär und nur angenähert. Sie bezweckt 
nicht das Individuum, sondern eine Gattung, 
den Begriff des mächtigen Mannes. Die kon¬ 
krete persönliche Ähnlichkeit fordert weitere 
Entdeckungen, und auf diese haben die Men¬ 
schen noch gar lange zu warten. Auch wird 
sie zunächst nicht vermisst, weil man nichts 
von ihr weiss. 

Auf jener Stufe blieben einige Völker bis 
in die höchsten Blütenepochen der Kunst, 
ja auf jene Stufe sinken sie manchmal wieder 
zurück, nachdem sie schon höhere erklommen 
haben. Indessen wird es oft zweifelhaft, ob 
die Rangverteilung der beiden Stufen gerecht 
ist, und ob es nicht zugleich Gründe giebt, 
die hier als niedriger abgeschätzte als die 
eigentlich höhere gelten zu lassen. Denn 
das Freibleiben von dem Zwang des Konkreten 
ist dem Entstehen der Ideale günstig. Jeden¬ 
falls aber erscheint im Gang der Entwicklung 
zuerst das schematische und erst viel später 
das konkrete Porträt. 

Nur in Ägypten stossen wir auf eine That- 
sache, die sich in diese sonst so geläufige 
Ordnung nicht einfügen lässt. Merkwürdiger 
Weise beginnt die ägyptische Porträtierkunst, 
so weit zurück wir sie kennen, mit dem 
berühmten „Dorfschulz“ oder arabisch gesagt, 
„Scheich el beled“ in Bulak und dem nicht 
minder berühmten farbigen „Schreiber“ im 
Louvre,' beide nach allem Anschein ganz ge¬ 
treue Porträts von konkreten Personen, keine 
Schemasymbole. Und tausend Jahre darnach 
ist diese Art wieder verschwunden, und jetzt 
kommen die schönen Pharaonengestalten aus 
Syenit, trotz ihrer Grösse und Herrlichkeit 
lauter Schablonenfiguren. Die naive und 
ehrliche Mitteilung, in ihrer ganzen Härte 
und Rauheit so wahr, natürlich und über¬ 
zeugend, hat sich auf einmal in die geglättete 
und pompöse aber nichts sagende Phrase ver¬ 
wandelt. Die Statue sollte den grossen Mann 
nur bedeuten, nicht wirklich er sein. Zur 
Pharaonenzeit nahm man es aber auch mit 
den Bedeutungen selber nicht so genau. Es 
geschah wiederholt, dass spätere Herrscher 
von den Statuen der verstorbenen früheren 
die dazu gehörigen Namen entfernen und durch 
ihre eigenen ersetzen Hessen. Man begnügte 
sich mit dem Befehle: „Jetzt bedeutet die 
Statue mich“-. „La Statue c’ est moi". 

Nicht ganz so schroff ablehnend gegen 
die Rücksicht auf das Konkrete, aber doch 
ähnlich gleichgültig in Bezug auf die Wahr¬ 
heit, blieben nicht selten die Leistungen der 
europäischen Hofmalerei mit ihrer Schmeichel¬ 
sucht gegen die würdigen Häupter, die strotzig 
prächtig auf kanonisch gallopierenden Pferden 
sitzend, ihre Völker beglücken. Das persön¬ 


lich Ähnliche ist auch hier eine Nebensache. 
Die Hauptsache ist das Götzenhafte. 

Ja die persönliche Ähnlichkeit kann so¬ 
gar noch als Frevel empfunden und polizei¬ 
lich verboten werden. Das Sichabbildenlassen 
hat etwas Prostituierendes. Das Endresultat 
ist wie das Dasein eines unheimlichen Doppel¬ 
gängers. Durch ein gelungenes Bildnis kön¬ 
nen Mängel in der Erscheinung, deren ihr 
Träger sich insgeheim schämt, weshalb er sie 
zu verbergen sucht, für alle Menschen öffent¬ 
lich werden. Ein böses Gewissen spielt viel¬ 
leicht auch dabei mit. Man sitzt vor dem 
Künstler, wie vor einem Gericht. Was Wunder, 
dass mächtige Fürsten sich dem nicht gerne 
preisgeben wollten. 

Selbst in dem neuesten Japan blieb es 
noch lange verwehrt, das Porträt des Mikado 
zu haben, und manchen alten Japaner mag 
es beim Anblick der vielen Photographien 
allerhöchster und höchster Personen von heute 
noch immer innerlich schaudern. Thatsäch- 
lich gab es für das frühere Japan vor dem 
grossen Umschwung kein Herrscherbildnis im 
vollen Sinn der Persönlichkeit. Die scharfen 
Augen der japanischen Künstler, die an dem 
Flug der Vögel so manches entdeckten, was 
uns erst die Momentaufnahme gelehrt hat, 
würden auch hierin Unübertrefiliches geleistet 
haben. Aber sie durften nicht. Porträtiert 
wurde damals nie anders, als nach dem Ge¬ 
dächtnis und unter dem Zwang des konven¬ 
tionellen Kanonischen. Höhere um eine 
Sitzung zu bitten, wäre ganz unerhört gewesen. 
Einen einzigen Fall des Gegenteils hat die 
Geschichte verzeichnet. Von dem grössten 
Mann der Japaner, dem Schogun lyeyasu 
wird als ein Vorzug besonderen Freisinns und 
Kunstsinns berichtet, dass er die Ausführung 
seiner in Holz geschnitzten Bildnisfigur, 
welche ein fJauptschatz des Tempels von 
Schjba gewesen ist, bis sie mit diesem ver¬ 
brannte, täglich selber beaufsichtigt habe, zum 
Vergleich den Spiegel vor dem Antlitz. 

Die Furcht vor der Ähnlichkeit ist für 
uns überwunden und lebt vielleicht nur noch 
verkümmert als darwinistisches Überbleibsel 
bei ganz gewöhnlichen Leuten in einer dunklen 
Abneigung fort, sich photographieren zu 
lassen. Ja die Ähnlichkeit kann gar nicht 
stark genug sein, sie wird immer höher ge¬ 
trieben, sie wird übertrieben. Alles, was sie 
zu schmälern geeignet ist, muss schliesslich 
fort. Warum denn die Menschen immer nur rein¬ 
lich gewaschen und pomadisiert abmalen, sonn¬ 
täglich geputzt und mit dem faden Schablonen¬ 
gesicht der ausgeglichenen Heerde? Man 
nehme sie so, wie sie wirklich sind, im All- 
tagsgewand, mit dem Schmutz der Arbeit, 
mit Falten und Runzeln und Tiefäugigkeit. 

39* 


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692 DU Bois-Reymond, Die Photographie u. die Lehre vom Gehen u. Stehen. 


Ja gerade die Tieftugigkeit und die Flecken 
und Falten und Runzeln sind die wahre Kunst. 
Man nennt das einerseits Farbenprobleme 
und andererseits Intimität. Und blicken denn 
auch die Menschen immer nur geistvoll, lieb¬ 
lich und vornehm erhaben? Weg mit dem 
alten, theatralischen Pathos, dem unwahren 
Ausdruck, der verlogenen Pose, die blos für 
den Spiegel gemacht ist. Zur Natur zurück! 

Das theatralische Pathos schlägt um, es 
erscheint der gekünstelte Simpel. Jetzt sind 
wir auf einmal dem Anfang wieder näher ge¬ 
rückt. Das erhaben Naive und Archaistische 
in der Richtung zur Hölzernheit und zum 
grinsenden Baumknorz ist wieder da und der 
Rundlauf ergab, wenn auch nicht einen Kreis, 
so doch eine Spirale, von der die einen be¬ 
haupten, dass sie nach oben, die anderen, 
dass sie nach unten deute. Wahrlich, das 
hätte der ehrliche Wilde sich nicht träumen 
lassen, was er damit anfing, als er zu 
schnitzeln und zu kritzeln begann oder seinem 
verblichenen Häuptling den Gesichtsschädel 
wegschlug, um eine Maske daraus zu machen. 


Die Photographie in ihrer Beziehung zur 
Lehre vom Gehen und Stehen.^) 

Von Dr. du Bois<Rr.YHONi>. 

Wäre den Brüdern Weber, als sie mit 
ihrer Arbeit über „die Mechanik der mensch¬ 
lichen Gehwerkzeuge“ beschäftigt waren, eine 
,.gütige Fee“ oder ein „Engel vom Himmel“ 
zu Hilfe gekommen, sie hätten sich kein bes¬ 
seres Hilfsmittel wünschen können, als die 
heutige Photographie. Während andereZweige 
der Wissenschaft damit zu kämpfen haben, 
dass für ihre Zwecke keine geeigneten In¬ 
strumentevorhanden sind, ist der Bewegungs¬ 
lehre in der unabhängig vorauseilenden photo¬ 
graphischen Technik ein Werkzeug von un¬ 
geahnter Vollkommenheit in den Schoss ge¬ 
fallen. 

Die Beobachtung stösst auf diesem Ge¬ 
biete auf dieselben Schwierigkeiten, die sich 
überall finden, wo es gilt, die aus physikal¬ 
ischen oder chemischen Versuchen gewonne¬ 
nen Erfahrungen auf lebende Wesen anzu¬ 
wenden. Freilich scheint bei der Bewegungs¬ 
lehre die Sache recht einfach zu liegen, weil 
ja der lebende Körper hier nur als bewegte 
Masse in Betracht kommt. Das trifft theo¬ 
retisch allerdings zu, die praktische Unter- 

‘) Der Aufsatz ist ein von Herrn Dr. du Bois- 
Reymond selbst besorgter Auszug aus seinem gleich¬ 
namigen Vortrag, am 22. Sept. d. J. gehalten auf 
der Vers, deutscher Naturforscher und Ärzte zu 
Braunschweig und als authentischer Bericht anzu¬ 
sehen. 


suchung wird indessen durch die Lebendig¬ 
keit des Untersuchungsobjektes wesentlich 
erschwert. Fassen wir einmal die einfachste 
Aufgabe ins Auge, die statischen Bedingun¬ 
gen zu bestimmen, unter denen sich der auf¬ 
recht stehende Körper befindet. Für einen 
starren Körper ist diese Aufgabe bekanntlich 
wirklich einfach: seine ganze Masse wirkt, 
als sei sie in seinem Schwerpunkt vereinigt, 
und übt auf die unterstützende Fläche einen 
Druck aus, der von der Schwere des Körpers 
und der Lage des Schwerpunktes abhängt. 
Will man diese Lehre auf den menschlichen 
Leib anwenden, so stört zunächst der Um¬ 
stand, dass man es nicht mit einem starren 
Körper zu thun hat. Die einzelnen Teile des 
Leibes sind durch Muskeln mit einander ver¬ 
bunden, deren Spannung jeden Augenblick 
wechseln kann und thatsächlich wechselt. Man 
kann daher auch nicht solche physikalische 
Beobachtungen zu Hilfe nehmen, die sich auf 
homogene elastische Körper oder gleichmässig 
angespannte elastische Kräfte beziehen. Es 
ist also ungenau, zu sagen, der Mensch be¬ 
finde sich beim Stehen in stabilem Gleich¬ 
gewicht, denn in jedem Augenblicke herrscht 
im Körper Bewegung. Denkt man sich die 
Muskulatur von einem gegebenen Augenblick 
an in ganz gleichem Zustand verharrend, so 
würde mindestens noch eine Reihe von 
Schwankungen eintreten, ehe der Körper (und 
obenein in einer von der in dem gegebenen 
Moment vorhandenen Stellung verschiedenen 
Haltung) zur Ruhe käme. Diese Ruhelage 
wäre dann ein stabiles Gleichgewicht zwischen 
den, der Annahme gemäss, dauernd gleich¬ 
mässig gespannten antagonistischen Muskel¬ 
gruppen. Ebensowenig kann man aber das 
Gleichgewicht des stehenden Menschen ein 
labiles nennen, sobald man die Wirkung der 
Muskeln, durch die er eben steht, in Rech¬ 
nung zieht, und nicht blos von der toten 
Masse spricht. 

Ist man darüber im Reinen, dass die ge¬ 
ringfügigen Veränderungen in der Muskel¬ 
spannung und die daraus sich ergebenden 
Schwankungen des Körpers vernachlässigt wer¬ 
den sollen, so dass der Körper als starrer 
Körper angesehen wird, so tritt die neue 
Schwierigkeit ein, dass der Schwerpunkt nicht 
ohne weiteres zu bestimmen ist. Mit jeder 
Änderung der Haltung, ja mit jedem Atem¬ 
zuge und jedem Herzschlage ändert sich der 
Schwerpunkt. Endlich sind feste Punkte, nach 
denen man messen kann, an der Oberfläche 
des Körpers nur in geringer Zahl vorhanden. 
Die Unterstützungsfläche, etwa die Abgrenz¬ 
ung der Sohlen auf dem Erdboden, kann da¬ 
her nicht genau bestimmt werden. Selbst 
wenn man eine bestimmte Haltung angenom- 


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Dü Bois-Reymond, Die Photographie u. die Lehre vom Gehen u. Stehen; 693 


men und den Schwerpunkt ftir diese festge¬ 
stellt hätte, wäre demnach der Grad der 
Festigkeit, mit der der Körper einem seit¬ 
lichen Druck widerstehen müsste, nicht wie 
bei einem starren Körper, gegeben. 

Gegenüber diesen Schwierigkeiten musste 
man sich, solange man keine andern Metho¬ 
den als die der einfachen Messung besass, 
notgedrungen der Spekulation überlassen. 
Man konstruierte, von dem Prinzip der 
kleinsten Ursache ausgehend, theoretisch eine 
Stellung, in der der Körper mit minimaler 
Muskelthätigkeit sollte aufrecht gehalten wer¬ 
den können. Diese Haltung, wie sie von 
H. V. Meyer genau beschrieben, und höchst 
unzutreffend als „militärische" bezeichnet 
wurde, ist indessen schon sehr frühzeitig von 
Henke als unnatürlich und unmögliclj erkannt 
worden: „Das Hängen der Last des Körpers 
an Hemmungsbändern von Gelenken, die pas¬ 
siv extreme Stellungen einnehmen, wie es 
Meyer noch an mehreren Stellen in der 
Mechanik des Gehens und Stehens in Rech¬ 
nung bringt, ist sicher keine normale Ökono¬ 
mie der Kräfte, sondern ein Nachlass, der, 
wo er vollständig eintritt, zu übermässiger 
Dehnung der Bänder und Druckschwund der 
gegen einander angestemmten Ränder der 
Gelenkflächen führen müsste." Henke konnte 
also auch nur theoretische Gründe dieser Art 
ins Feld führen, und vermochte den wirk¬ 
lichen Thatbestand nicht zu erkennen, wie 
auch noch eine ganze Reihe von Forschern, 
die seitdem dieselben Fragen bearbeitet hat. 
Die oben allgemein angegebenen Schwierig¬ 
keiten nehmen gegenüber der praktischen 
Untersuchung folgende Gestalt an: Erstens 
ist es dem Versuchsindividuum kaum möglich 
von einer bestimmten Stellung anzugeben: 
dies ist für mich die „natürliche Haltung". 
Man kann im Gegenteil zweifeln, ob es eine 
typische „natürliche Haltung" giebt. Zweitens 
ist die Abhängigkeit der einzelnen Körper¬ 
teile von einander so ausgebildet, dass wäh¬ 
rend einer Reihe von Messungen schon we¬ 
sentliche Fehler durch Verschiebungen des 
Körpers entstehen können. Drittens repräsen¬ 
tiert selbst eine grössere Zahl sorgfältig aus¬ 
gesuchter Individuen nicht geradezu den nor¬ 
malen Typus. 

Über die ersten zwei dieser Schwierig¬ 
keiten hilft die Photographie mit einem Male 
hinweg. Der ganze Körper wird in Einem 
Augenblicke aufgenommen, und an dem Bilde 
können die Messungen mit Bequemlichkeit 
ausgeführt werden. Bei entsprechender Ein¬ 
stellung erhält man Aufnahmen im Massstabe 
von 1:10, aus denen man auch die absoluten 
Zahlen unmittelbar ablesen kann. Die Schwie¬ 
rigkeit für die theoretische Verwendung des 


so gewonnenen Materials liegt darin, auf den 
Bildern diejenigen Punkte, deren Lage man 
feststellen will, genau zu bestimmen. Aus 
diesem Grunde hat auch die photographische 
Messung in der Orthopädie, wo es sich darum 
handelt, die Veränderung in der Stellung ein¬ 
zelner Knochenpunkte zu bestimmen, nur be¬ 
schränkte Anwendung gefunden. Indem die 
Massstäbe, bei nach Möglichkeit fixiertem 
Körper, unmittelbar an die zu messenden 
Punkte herangebracht werden, bleibt das Ver¬ 
fahren für diesen Zweck hinreichend genau, 
und zugleich ziemlich einfach. Wo es sich 
aber um wissenschaftlich zuverlässige Bestimm¬ 
ung idealer Punkte, wie zum Beispiel der 
Schwerpunkte von Gliedmassen handelt, muss 
man zur Photographie seine Zuflucht nehmen, 
und es ist dann eine schwierige Aufgabe, 
diese Punkte deutlich erkennbar zu machen. 

Zunächst muss man die Lage der be¬ 
treffenden Punkte im Körper kennen: Die 
Schwerpunkte der einzelnen Körper sind an 
der Leiche wiederholt bestimmt worden, am 
sorgfältigsten von Braune und Fischer, 
die dadurch in den Stand gesetzt wurden, 
auf photographischem Wege die statischen 
Bedingungen des stehenden Körpers darzu¬ 
stellen. Nachdem sie an vier gefrorenen Ka¬ 
davern die Schwerpunkte sämtlicher Abschnitte 
des Körpers bestimmt hatten, stellten sie die 
relative Lage der Schwerpunkte zu einzelnen, 
am Körper leicht bestimmbaren Punkten fest. 
Indem sie nun letztere Punkte an einem aus¬ 
gewählten Versuchsindividuum bezeichneten, 
und deren Lage bei verschiedener Körper¬ 
haltung photographisch fixierten, konnten sie 
umgekehrt die Lage der Schwerpunkte mit 
Sicherheit auf ihren photographischen Platten 
eintragen und ausmessen. Diese Anwendung 
der photographischen Messung auf den stehen¬ 
den Körper ist nur ein Zweig der jetzt zu 
einer bedeutenden Disziplin dei' Feldmess¬ 
kunst ausgebildeten Photogrammetrie. Das erste 
und dankbarste Gebiet für die photogram¬ 
metrischen Aufnahmen gewährten die Werke 
der Baukunst, weil sie bestimmte Formen mit 
leicht unterscheidbaren Messpunkten aufweisen. 
Neuerdings werden jedoch auch in beliebigem 
Gelände photogrammetrische Aufnahmen ge¬ 
macht und wo es an deutlichen Punkten fehlt, 
hilft man sich mit künstlichen Marken, gerade 
wie bei der Messung des menschlichen Kör¬ 
pers. Aus den Erfolgen der Photogrammetrie 
von Bauwerken geht schon hervor, dass die 
Genauigkeit des Verfahrens allen Anforder¬ 
ungen in mehr als ausreichendem Grade ge¬ 
nügt, soweit der optische Apparat in Betracht 
kommt. Geben doch auch Sternaufnahmen 
mit einer gewöhnlichen Landschaftskamera 
ebenso zuverlässige Ortsbestimmungen wie 


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694 Bois-RtYMOND, Die Photographie u. die Lehre vom Gehen u. Stehen. 


die Beobachtung mit dem Sextanten. Die 
Möglichkeit, viel gröbere Fehler zu machen, 
liegt jedenfalls in dem Umstand, dass man 
die Schwerpunkte nur auf die angedeutete 
Weise durch Übertragung der Messungen 
von einem Individuum auf ein anderes be¬ 
stimmen kann. Das geht natürlich nur an, 
wenn die Versuchsperson so ausgewählt ist, 
dass die vorhandenen Masszahlen annähernd 
für sie passen. 

Aber auch ohne dass diese Bedingung 
erfüllt ist, erhält man von der Verteilung der 
Körpermassen im Grossen und Ganzen durch 
die photographische Aufnahme einen Begriff, 
der zur Vergleichung verschiedener Haltun¬ 
gen vollkommen genügt. Vor der blossen 
Beobachtung bietet hierbei die Aufnahme den 
Vorteil, dass man erstens die zu vergleichen¬ 
den Haltungen in aller Ruhe neben einander 
mustern kann, und dass man zweitens für 
die Richtigkeit der Beobachtung einen ob¬ 
jektiven Beweis in Händen hat. Von dem 
Vorzug der photographischen Methode wird 
man sogleich überzeugt, wenn man eine An¬ 
zahl Aufnahmen desselben Körpers in ver¬ 
schiedenen Haltungen vergleicht. Beim blossen 
Anschauen sind sie kaum zu unterscheiden, 
erst bei genauerer Untersuchung treten die 
Abweichungen hervor. Es empfiehlt sich, bei 
der Aufnahme ein Senkblei mit zu photo¬ 
graphieren, damit man eine bestimmte Linie 
auf der Platte habe, auf die man die Lage 
der verschiedenen Körperteile messend be¬ 
ziehen kann. Die Aufnahmen im Massstab 
I: lo weisen mit überraschender Deutlichkeit 
die Abweichungen der verschiedenen Halt¬ 
ungen von einander nach. So erkennt man 
zum Beispiel, dass bei der Stellung, die auf 
das Kommando: Rührt Euch I eingenommen 
wird, in der der Körper im wesentlichen auf 
einem Fusse ruht, der Schwerpunkt viel weiter 
nach hinten verschoben ist, als beim gewöhn¬ 
lichen gleichfüssigen Stehen. Man braucht 
hierzu die Lage des Schwerpunktes nicht erst 
umständlich zu bestimmen, weil der ganze 
Körperumriss deutlich nach hinten verschoben 
ist. Bringt man die Aufnahme der „natür¬ 
lichen Haltung“ und der Haltung bei „Rührt 
Euch“ zur Deckung, oder projiziert man sie 
aufeinander, so kann die Rückenlinie der 
letzten die der ersten um fast 3 cm nach 
hinten überragen. Auf diese Weise gewährt 
die Photographie ein Mittel, auch der dritten 
Schwierigkeit bei der Untersuchung der Körper¬ 
haltungen zu begegnen, dass nämlich ein ein¬ 
zelnes Versuchsindividuum keine allgemeinen 
Schlüsse zulässt. Denn obschon genaue 
Schwerpunktsbestimmungen sich nur an ver¬ 
einzelten Individuen durchfahren lassen, kann 
Beobachtungsmaterial in Gestalt von gleich¬ 


artigen Profilaufnahmen verschiedener Personen 
mit Leichtigkeit in ausreichender Menge her- 
gestellt werden, um das Typische in den 
verschiedenen Haltungen vom Individuellen 
unterscheiden zu können. 

Ist die Photographie ein wertvolles Hilfs¬ 
mittel für die Untersuchung des ruhig stehen¬ 
den Körpers, so ist sie für das Studium der 
Bewegungen vollends unschätzbar. Dass nicht 
gradezu Alles auf diesem Gebiete erst durch 
die Augenblicksphotographie entdeckt worden 
ist, muss uns mit der grössten Achtung er¬ 
füllen vor denen, die mit den früheren, ganz 
unzureichenden Hilfsmitteln eine Lehre vom 
Gange des Menschen aufzustellen und zu be¬ 
gründen vermochten, vor den Brüdern 
Weber. Ihre „Mechanik der menschlichen 
Gehwerkzeuge“ erschien schon 1836. Da¬ 
mals standen den Forschern zur Bestimmung 
der Stellungen, die der Körper beim Gehen 
einnimmt, keine anderen Werkzeuge zu Gebote, 
als ihre, allenfalls mit dem Diopter bewaff¬ 
neten Augen. Durch Messung einer Strecke 
auf dem Boden, Zählen der Schritte, Bestim¬ 
mung der Geschwindigkeit, gelangten sie zu 
Schlüssen über Dauer und Grösse der ein¬ 
zelnen Phasen des Ganges. Indem sie die 
absolute Grösse der Erhebung und Senkung 
einzelner Körperteile nach der Beobachtung 
mit dem Diopter massen, erlangten sie Vor¬ 
stellungen über den Weg, den jeder einzelne 
Körperteil zurücklegt. Gleichsam durch Inter¬ 
polation wurden die Einzelheiten zur voll¬ 
ständigen Darstellung des Ganges ergänzt. 
Ein damals neuer Apparat, das Stroboskop, 
das wenige Jahre vorher von Plateau und 
Stampfer gleichzeitig erfunden worden war, 
ermöglichte die Probe auf das Exempel. 
Die von den Brüdern Weber konstruierten 
Figuren, hinter der durchbrochenen rotieren¬ 
den Scheibe in rascher Folge nach einander 
vorgefOhrt, gaben aufs natürlichste die Geh¬ 
bewegung wieder. Die Aufgabe erschien so 
vollkommen gelöst, dass Jahre hindurch die 
Wissenschaft sich mit den Weber’schen An¬ 
gaben begnügte. 

Erst 1872 erschienen neue Untersuchungen 
über denselben Gegenstand, aus dem Marey- 
schen Laboratorium. Hier wurde schon ob¬ 
jektive Aufzeichnung der untersuchten Be¬ 
wegungen mittelst Luftschlauchobertragung 
erreicht. Zur selben Zeit versuchte Vierordt 
die Bewegungen beim Gehen und Laufen auf¬ 
zuzeichnen, indem er an verschiedenen Kör¬ 
perstellen Farbflüssigkeit ausspritzende Röhr¬ 
chen anbrachte. Auch stellte er mittelst 
elektrischer Signalvorrichtungen eine Reihe 
von Ungleichheiten und Asymmetrien des 
Ganges fest. 

Schon früher hatte Helmholtz, der im 


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DU BoiS'Reymond, Die Photographie u. die Lehre vom Gehen u. Stehen. 695 


Turmzimmer des Eckhauses der Dorotheen¬ 
strasse in Berlin sehr schwierigen Rechnungen 
obiag, seine Erholungspausen dazu benutzt, 
die Passanten des Brandenburger Thores mit 
dem Fernrohr zu betrachten, und dabei einen 
Irrtum der BrQder Weber aufgedeckt: dass 
nämlich der Fuss nicht mit dem Ballen, son¬ 
dern mit den Hacken zuerst aufgesetzt wird. 

Die Photographie war damals zwar schon 
längst erfunden, es bedurfte aber einer langen 
Entwicklung, ehe sie den Grad von Voll¬ 
kommenheit erreichte, der sie für die Zwecke 
der Bewegungslehre tauglich machte. Erst 
die Einführung der Trockenplatten ermöglichte 
die Verbreitung der photographischen Re¬ 
gistriermethoden, und erst durch Steigerung 
der Empfindlichkeit wurden diese für Beweg¬ 
ungsaufnahmen brauchbar. Aber auch abge¬ 
sehen von der rein photographisch-technischen 
Seite musste die Methodik erst ausgebildet 
werden. Muybridge in San Franzisko war 
der Erste, der auf das laufende Pferd, und 
späterauf allerhand verschiedene Arten mensch¬ 
licher und tierischer Bewegung die Augenblicks- 
Photographie anwendete. Er benutzte drei 
Batterien von je zwölf Apparaten, die elek¬ 
trisch ausgelöst wurden, und so dreimal zwölf 
Aufnahmen von drei verschiedenen Seiten in 
kurzen Zeitabständen lieferten. Dieser Me¬ 
thode haftete, abgesehen von der Kost¬ 
spieligkeit,der Fehler an, dass der Abstand der 
Apparate der unbekannten Bewegungsge¬ 
schwindigkeit des Versuchsobjekts nicht an¬ 
gepasst werden konnte, wodurch die Ausmes¬ 
sung der Platten zum mindesten stark kompli¬ 
ziert wird. Marey erwarb sich das Verdienst, 
die Methode für wissenschaftliche Zwecke 
auszubilden, und zugleich erheblich zu ver¬ 
einfachen, indem er lehrte, eine Reihe von 
Aufnahmen durch wiederholte Exposition der¬ 
selben Platte zu erzielen. Damit sich die 
Bilder nicht gegenseitig überdeckten, nahm er 
von den bewegten Körpern nur einzelne Teile 
auf, die er mit hellen weissen Marken ver¬ 
sehen hatte. Messungen von einem Bilde 
zum andern fallen natürlich sehr viel genauer 
aus, wenn beide Aufnahmen auf derselben 
Platte liegen, als wenn sie mit verschiedenen 
Apparaten aufgenommen sind. Im übrigen 
aber genügt diese Art der Aufnahme nicht 
zur vollständigen Bestimmung der Bewegung, 
wenn man sich, wie Marey es that, auf eine 
Seitenansicht des Bewegungsvorganges be¬ 
schränkt. Denn man erhält durch den photo¬ 
graphischen Apparat eine Zentralprojektion 
des Vorganges, und wenn die Dimensionen 
oder die Bewegungsrichtungen der Körper¬ 
teile unbekannt sind, kann man aus einer 
Zentralprojektion nicht auf die thatsächlichen 
Bewegungen schliessen. Ist die Aufnahme 


aus so grosser Entfernung gemacht, dass die 
Zentralprojektion sich der Parallelprojektion 
nähert, so wird dagegen die Aufnahme so 
klein, dass man sie wiederum nicht sehr ge¬ 
nau ausmessen kann. 

Dieser Fehler lässt sich nur vermeiden, 
wenn man gleichzeitige Aufnahmen aus zwei 
verschiedenen Richtungen macht, und aus der 
Lage jedes Bildpunktes auf beiden Platten 
seine wirkliche Lage im Raum berechnet. 
Dies hatte Muybridge schon beabsichtigt, aber 
er erreichte aus verschiedenen Gründen nur 
einen geringen Grad von Genauigkeit. Das 
Prinzip ist, wie oben angedeutet, dasselbe wie 
das der Photogrammetrie. Um aber einen 
ähnlichen Grad von Genauigkeit zu erzielen, 
wie bei den photogrammetrischen Architektur¬ 
aufnahmen, bedurfte es einer neuen Vervoll¬ 
kommnung der Methode. Diese führten Braune 
und Fischer ein, indem sie an Stelle der 
weissen Bandstreifen, mit denen Marey die 
Gliedmassen seiner Versuchspersonen mar¬ 
kiert hatte, Geissler’sche Röhren setzten. Zu¬ 
gleich zerlegten sie dadurch in höchst zweck¬ 
mässiger Weise die Unterbrechung der Ex¬ 
position in das Aufnahmeobjekt selbst hinein. 
Die Aufnahme geschah in vollständig ver¬ 
dunkeltem Raum. Das an allen Gelenkpunkten 
und an allen Gliedmassen mit Geissler’schen 
Röhren armierte Versuchsindividuuni ging 
zwischen vier photographischen Apparaten 
hindurch, und, indem 30 mal in der Sekunde 
ein elektrischer Schlag die Armatur aufblitzen 
machte, wurde deren Stellung in einer ent¬ 
sprechenden Anzahl von Phasen von allen 
vier Apparaten aus gleichzeitig aufgenommen. 
Die Apparate standen auf beiden Seiten 
symmetrisch zur Gangrichtung, je einer senk¬ 
recht auf die Gangrichtung, sodass der eine die 
Seitenansicht aufnahm, der andere die Ansicht 
schräg von vorn. Es wurden zweimal zwei Appa¬ 
rate benutzt, um die Aufnahmen von beiden Sei¬ 
ten eine durch die andere kontrollieren zu kön¬ 
nen. Die Platten konnten unter dem Mikroskop 
bis auf wenige Tausendstel Millimeter genau ab¬ 
gelesen werden. Aus den Serienbildern er¬ 
gab sich zunächst die Lage der Röhren, und 
da deren Lage zum Körper vorher mit der 
grössten Sorgfalt festgestellt worden war, Hess 
sich daraus die Lage der Gelenkmittelpunkte 
und der Glieder bestimmen. Die Berechnung 
dieser Punkte aus den Aufnahmen von einer 
Seite wich von der aus den andern nur um 
Bruchteile von Millimetern ab. Nach diesen, 
so gut wie absolut genauen Bestimmungen 
hat dann Fischer ein räumliches Modell kon¬ 
struiert, das die Stellungen des menschlichen 
Körpers für 21 Phasen eines Doppelschrittes 
darstellt. Die leisesten Schwankungen, Dreh¬ 
ungen und Biegungen des Körpers sind mit 


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6 g 6 


Zacharias, Das Plankton der norddeutschen Binnenseen. 


der grössten Bestimmtheit daran angegeben. 
Hier ist also das Material zur genauesten 
Erforschung des Ganges niedergelegt, inso¬ 
fern das Versuchsindividuum als typisches 
Beispiel gelten kann. Nur nach dieser Seite 
hin könnte eine Ergänzung der Arbeit er¬ 
forderlich werden. Auf die Ergebnisse für 
die Theorie des Ganges soll indessen hier 
nicht eingegangen werden, um so weniger, 
als die ausführliche Bearbeitung des Materials 
noch aussteht. 

Vielleicht ein noch vollendeteres Resultat 
vom Standpunkte der Methodik aus erreichte 
Fischer bei seiner Untersuchung über die 
Wirkungsweise der eingelenkigen Muskeln. 
Es handelte sich um die Darstellung der Be¬ 
wegung eines aus Messingröhren bestehenden 
Modells des menschlichen Arms, an dem die 
Muskeln durch starke GummischnOre darge¬ 
stellt waren. Auf dem Modell wurden Geissler- 
sehe Röhren befestigt, die Bewegung durch 
Absengen eines arretierend en Fadens ausgelöst, 
und, da sie in einer horizontalen Ebene vor 
sich ging, durch eine einzige senkrecht gestellte 
Kamera aufgenommen. Die so gewonnenen 
Tafeln zeigen so grosse Regelmässigkeit und 
Schönheit, dass man sie für gestochene geo¬ 
metrische Konstruktionen halten könnte. Dem 
gegenüber muss man die bescheidene Schluss¬ 
bemerkung Fischer’s wohl gelten lassen: „Die 
wenigen angeführten Beispiele lassen zur 
Genüge erkennen, dass die neue Methode, 
einen Bewegungsvorgang mittelst zweiseitiger 
chronophotographischer Aufnahme auf ein 
räumliches Coordinatensytem zu beziehen, 
ein brauchbares Hilfsmittel für die Analyse 
der Bewegungen des menschlichen und tier¬ 
ischen Körpers darstellt“. 


Das Plankton der norddeutschen Binnenseen. 

Von Dr. Otto Zacharias (PlOn). 

Mit dem Kollektivnamen „Plankton" be¬ 
zeichnet man jenes bunte Gemisch von mi¬ 
kroskopisch-kleinen Organismen, teils ptlanz- 
licher, teils tierischer Natur, welche in allen 
unseren Landseen und Fischteichen vorhanden 
sind, gleichviel ob dieselben eine grössere 
oder geringere Tiefe besitzen. Um uns von der 
Existenz dieser eigenartigen Welt des Lebens 
zu überzeugen, brauchen wir in stehenden 
Gewässern nur mit einem sehr feinmaschigen 
Gazenetz zu fischen; schon nach wenigen 
Minuten werden wir dann ein Filtrat erhalten, 
welches aus zahlreichen Infusorien, Räder- 
Heren, winzigen Krebsen, Wassermilben und 
niederen kryptogamischen Gewächsen (Algen) 
besteht. 


Je nach den verschiedenen Lokalitäten, 
an denen wir Planktonuntersuchungen vorneh¬ 
men, sind es bald mehr, bald weniger Arten 
von animalischen und vegetabilischen Wesen, 
die sich freischwebend im Wasser vorfinden 
und sich annähernd gleichförmig durch das¬ 
selbe verteilen. Nach meinen und Dr. S. Strodt- 
roanns Forschungen in den Seen Holsteins, 
Mecklenburgs, Pommerns und Westpreussens 
setzt sich das Plankton der dortigen Seen 
aus etwa 8o Spezies von Pflanzen und Tieren 
zusammen, womit aber rieht gesagt sein soll, 
dass jeder einzelne See, den man zu einer 
beliebigen Jahreszeit aufsucht und abfischt, 
diese ganze Mannigfaltigkeit von Lebens¬ 
formen darbieten müsse. Vielmehr verhält 
sich die Sache so, dass gewisse Algen-, In¬ 
fusorien-, Rädertier- oder Krebsspezies in dem 
einen Wasserbecken vorherrschen, während 
ein anderes dieselben Organismen in geringerer 
Anzahl produziert, dagegen aber reich ist an 
planktonischen Arten, die wir in den Nachbar¬ 
seen nur ganz spärlich und selten antreffen. 
Es muss ferner hervorgehoben werden, dass 
von jenen 8o Spezies manche nur am Aus¬ 
gange des Winters erscheinen und dann bald 
wieder verschwinden, dass einige in ihrem 
Vorkommen auf das Frühjahr und die ersten 
Sommermonate beschränkt sind, wo alle die¬ 
jenigen noch fehlen, welche zu ihrem Ge¬ 
deihen das Maximum der jährlichen Wasser¬ 
temperatur nötig haben. Im Allgemeinen lässt 
sich zwar ein Winter- und ein Sommerplankton 
unterscheiden, aber genauere Untersuchungen 
haben zur Aufstellung von noch zwei engem 
Kategorien geführt, die für den Herbst und 
das Frühjahr charakteristisch sind. Im Ok¬ 
tober und November z. B. herrschen in den 
grossen Landseen Norddeutschlands die Spalt- 
fusskrebse (Copepoden) in einem solchen Masse 
vor, dass sie beinahe reines Crustaceen-Plank- 
ton bilden. Dagegen wuchern in der Zeit von 
März bis Mai die Kieselalgen (Bacillariaceen) 
so üppig, dass ihnen die Alleinherrschaft im 
Plankton zukommt. Das sind Verhältnisse, 
von denen man in erster Linie Kenntnis neh¬ 
men muss, wenn man tiefere Einblicke in den 
Naturhaushalt jener grossen Wasserbecken 
thun will, die auf der Strecke von Plön bis 
Königsberg sich in kurzen Abständen an¬ 
einanderreihen. 

Unumgänglich ist aber auch die Erwerb¬ 
ung einer Vorstellung von den quantitativen 
Verhältnissen des Planktons. Wenn wir in 
Betracht ziehen, dass jeder Kubikmeter Wasser 
eines Sees viele Tausende (zu manchen Zeiten 
sogar Millionen) von winzigen Organismen 
enthält, so ergiebt schon die oberflächlichste 
Überlegung, dass das Gesamtvolumen des in 
einer grösseren Wassermasse schwebenden 


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Zacharias, Das Plankton der norddeutschen Binnenseen. 


697 


Planktons ein sehr bedeutendes sein muss. 
Es ist deshalb von unzweifelhaftem Interesse, 
sich zunächst über das Plankton-Quantum 
eines Kubikmeters Teich- oder Seewasser 
speziellere Kenntnisse zu verschaffen. 

Eine derartige Ermittelung habe ich im 
Sommer 1896 in der Nähe von Bad Warm¬ 
brunn (Schlesien) vorgenommen. Der vor der 
dortigen Brauerei gelegene Gondelteich bot 
dazu eine gute Gelegenheit, weil derselbe ein 
regelmässiges Viereck darstellt und durchweg 
von ganz gleicher Tiefe (0,5 m) ist. Bei einer 
Breite von 68 m besitzt er eine Länge von 
84 m, woraus sich für denselben ein Wasser¬ 
volumen von 2856 Kubikmetern ergiebt. Hier 
machte ich nun mit einem kleinen Netze, an 
dessen unterem Ende ein Filtrator angebracht 
war, mehrere Vertikalfünge, d. h. ich Hess 
das Netz vorsichtig auf den Teichgrund 
hinab und zog es dann senkrecht wie¬ 
der herauf. Das Ergebnis jedes einzelnen 
Fanges wurde abgetötet und mit Wasser ver¬ 
mischt in ein kleines Messglas (eine soge¬ 
nannte Mensur) gebracht. Als Mittelwert aus 
mehreren Netzzügen ergab sich für eine 
Wassersäule von 0,5 m Höhe und vom Quer¬ 
schnitt der Netzöffnung (=Vi »7 Quadratmeter) 
der Betrag von ^8 ccm Plankton. Ein Kubik¬ 
meter enthielt also 39,2 ccm und der ganze 
Teich 111,934 ccm Plankton. Nun wiegt, wie 
ich festgesellt habe, aber hier nicht des 
Näheren auseinandersetzen kann, ein in der 
Mensur unter Wasser sich absetzender Kubik¬ 
zentimeter Plankton 344 Milligramm. Unter 
Berücksichtigung dieser Zahl lässt sich der 
Gesamtgehalt des Warmbrunner Gondelteichs 
an Plankton (pro Juli 1896) zu 76,5 Pfund 
oder rund zu “/« Zentner berechnen. 

Auf mathematische Genauigkeit macht diese 
Angabe natürlich keinen Anspruch. Wohl die 
wenigsten Menschen, die am Ufersaum eines 
grossen Landsees stehen und den Blick Ober 
dessen blaue Fläche schweifen lassen, haben 
eine Ahnung davon, welche Fülle tierischen 
und pflanzlichen Lebens in dem Wasserkörper 
eines solchen Beckens vorhanden ist. Für 
den Gr. Plöner See, dessen Areal ungefähr 
30 Quadratkilometer bedeckt, haben wir zur 
Zeit der üppigsten Produktion einen Plankton- 
gehalt, der auf Tausende von Zentnern sich 
beläuft. Man erhält die zutreffendste Vor¬ 
stellung von der ungeheuren Menge der in 
einem grösseren See schwebend vorhandenen 
Lebewesen, wenn man sich denkt, dass die 
Fische und die übrigen Vertreter der Makro¬ 
fauna in die eine Schale einer gewaltigen 
Wage gelegt würden, während man in die 
gegenüber hängende Alles, wa.s zur Klein¬ 
fauna und zum Plankton gehört, hineinbrächte. 
Es müsste dann das Gewicht der Fische, 

/ 


Mollusken und Wasserinsekten auf der einen 
Seite ganz erheblich vermehrt werden, wenn 
beide Wagschalen sich das Gleichgewicht 
halten sollten. 

Schon oben habe ich erwähnt, dass die 
Zusammensetzung des Planktons im Turnus 
der Jahreszeiten einem allmählichen Wechsel 
unterworfen ist. Das Nämliche gilt auch hin¬ 
sichtlich der Gesamtquantität desselben, die 
in den kälteren Monaten eine bei weitem ge¬ 
ringere ist, als im Frühling und Hochsommer. 
Für den Plöner See habe ich ein volles Jahr 
hindurch hierauf bezügliche Messungen an¬ 
gestellt, welche am i. Oktober begannen und 
bis zum 30. Sept. 1895 fortgesetzt wurden. 
Die Kontrolle erstreckte sich jedesmal, auf 
eine Wassersäule von 40 m Höhe und i qm 
Querschnitt. Um die Abhängigkeit des Plankton¬ 
quantums in den verschiedenen Monaten thun- 
lichst zu veranschaulichen, markierte ich die 
Messungstermine auf einer Abscissenlinie und 
trug an den betreffenden Punkten die ent- 
sprechendenMessresultate(inKubikzentimetern) 
als Koordinaten auf. Durch Verbindung der 
Endpunkte dieser letzteren entstand, wie aus 
umstehender Abbildung (Fig. i) ersichtlich 
ist, eine Kurve, die in ihrem Zuge mehrfache 
scharfe Knickungen zeigt. 

Aus umstehendem Kurvenbilde lässt sich vor 
Allem entnehmen, dass die Plankton-Produktion 
zu keiner Zeit des Jahres gänzlich erUscht. 
Sie geht im November bei einer Wasser¬ 
temperatur von 7—8® C. zwar sehr bedeu¬ 
tend zurück und hält sich in den kälteren 
Monaten (Dezember bis Ende März) auf sehr 
geringer Höhe — aber sobald die letzten 
Reste der Eisbedeckung dahinschmelzen und 
das Wasser sich zu erwärmen beginnt, zeigt 
auch das Plankton sofort eine Mengenver- 
grösserung. Es ist Jahraus jahrein eine ganz 
bekannte Diatomeen-Art (Diatoma tenue, var. 
elongatum), welche die ersten grösseren Plank¬ 
ton-Volumina im Gr. Plöner See bewirkt. Am 
20. Mai 1895 (siehe die Kurve) erreichte 
diese Kieselalge ihr Maximum. Zehn Tage 
später hatte sie sich schon auf das Neunfache 
vermindert und am Ende desselben Monats 
war sie blos noch in vereinzelten Individuen 
vorzufinden. Die beiden nächstfolgenden Gipfel 
der Kurve (8. Juli und 10. Aug.) rühren von 
der kolossalen Zunahme einer zu den Nosto- 
caceen gehörigen Alge her, die während des 
ganzen Hochsommers im Gr. Plöner See eine 
sogenannte „Wasserblüte" bildet. Es ist 
Gloeotrichia echinulata, von der wir hier 
sprechen; ihre strahlig angeordneten Faden¬ 
verbände sehen wie winzige Seeigel aus. 
Auf die massenhafte Anwesenheit dieser Alge 
ist auch das starke Volumen von 862 Kubik¬ 
zentimetern zurückzuführen, welches ich für 


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Zacharias, Das Plankton der norddeutschen Binnenseen. 





Fig. I. Graphische Darstellung der jährl. Plankton- 
Produktion im Gross. Plöner See. 


ist, zunächst nur auf den Plöner 
See, aber in ihren Hauptzügen ist 
sie für alle grösseren Wasserbecken 
Norddeutschlands gültig, wie durch 
Dr. Strodtmanns vergleichende Un¬ 
tersuchungen nachgewiesen wor¬ 
den ist.*) 

Auch in den aufeinanderfolgen¬ 
den Jahren weist die Planktonpro¬ 
duktion eine überraschende Gleich¬ 
förmigkeit auf, was durch Zusam¬ 
menstellung von folgenden Zahlen¬ 
angaben bewiesen wird, im Gr. 
Plöner See ftlr eine und dieselbe 
Wassersäule erhalten wurden: 

Mai 1892 .... 178,5 ccm 

Mai 1895 .... 173,0 „ 

Juli 1892 .... 288 ccm 

Juli 1895 .... 306 „ 

November 1892 . . 103 ccm 

November 1895 • • 98 »» 

Man kann es übrigens einem 
Gewässer schon äusserlich an- 
sehen, ob 'es viel tierisches und 
pflanzliches Kleinleben in seinem 
Schosse beherbergt. Ist nament¬ 
lich letzteres der Fall, so hat die 
Färbung des Wassers stets einen 
Stich ins Grüne oder Gelbliche. 
Einen Begriff davon, in welchem 
Masse das Plankton die Durch¬ 
sichtigkeit des Wassers zu ver¬ 
ringern im Stande ist, erhält man 
aus Beobachtungen, die ich spe¬ 
ziell über diesen Punkt am Plöner 
See angestellt habe. Ich versenkte 
im Spätherbst, wo die Quantität 
des Plankton (besonders die des 
pflanzlichen Teils desselben) stark 
abzunehmen pflegt, eine weiss- 


den 10. August zu verzeichnen hatte. Von I lackierte Blechscheibe von 30 cm Durchmesser 


da ab trat eine Verminderung der Wasser- 
blOte ein und am i. Sept. konnte man nur 
noch wenige Kügelchen von Gloeotrichia in 
den Ergebnissen der Netzzüge wahrnehmen. 
Inzwischen hatten sich bereits die Krebse (be¬ 
sonders die Copepoden) beträchtlich vermehrt 
und eine gegen das Ende des Augustmonats 
eintretende (aber nur kurz dauernde) Hebung 
der Gesamtmenge des Planktons bedingt. 
Weiterhin, d. h. nach dem 30. Sept., schwankte 
der Organismengehalt der den Messungen zu 
Grunde liegenden Wassersäule noch mehr¬ 
mals auf und ab, aber niemals kam er 
wieder über 100 Kubikzentimeter hinaus, wie 
sich bei fernerer Fortsetzung der Beobacht¬ 
ungen ergab. 

Die hier publizierte Produktionskurve be¬ 
zieht sich, wie ausdrücklich hervorzuheben 


vom Boote aus so tief in den See, bis sie 
dem Blicke vollkommen entschwand. Dies 
geschieht zur angegebenen Jahreszeit bei 9 m. 
Im Juni aber, zur Hauptzeit der Plankton¬ 
produktion (und oft schon im Mai), entzieht 
sich dieselbe Scheibe dem Auge bereits bei 
3 — 4 m 'Hefe. 

Was nun die Anzahl der Planktonwesen 
anbclangt, die schon in einer geringen Menge 
Wasser zur Zeit der stärksten Produktion 
vorhanden sein können, so habe ich auch 
: hierüber am Plöner See Erfahrungen gesam¬ 
melt. Am 13. Mai 1875 filtrierte ich 3 Liter 
Wasser, welches in der Nähe des Ufers ge- 

*) Vergl. S. Strodtmann: Planktonuntersuch¬ 
ungen in holsteinischen und mecklenburgischen Seen. 
Forechungsbcrichte der Plöner Biolog. Station. 
No. 4. 1^7. 


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Zacharias, Das Plankton der norddeutschen Binnenseen. 


699 


schöpft worden war, durch feinste Seidengaze 
d. h. durch solche, welche auf den Quadrat¬ 
zentimeter Ober 3000 Maschen enthält. Eine 
unterm Mikroskop alsbald ausgefUhrte Zähl¬ 
ung des vorher abgetöteten Materials ergab 
nun pro Liter 10 Arten von tierischen und 
pflanzlichen Organismen in folgenden Mengen: 

'Diatoma tenue*) .... 54500 


Bacillaria- 

ceen: 

(Kieselalgen) 


Flagellaten: 

(Geissel- 

Infusorien) 


Synedra delicatissima . 4500 

„ ulna. 500 

„ longissima . . 883 

Fragilaria crotonensis*) 1000 
Asterionella'gracillima*) 3 500 
(Uroglena volvox*) . . . 700 

iDinobryon stipitatum*). 4000 
,, divergens*). 1500 

lEudorina elegans*) . . 250 

Um die kolossale Anzahl von Einzelwesen 
abschätzen zu können, welche in dem Volumen 
eines einzigen Liters Wasser an jenem Tage 
vorhanden waren, hat man noch in Betracht 
zu ziehen, dass die in der obigen kleinen 
Tabelle mit einem Stern (*) versehenen Spezies 
in ganzen Kolonien auftreten, weiche aus 
zahlreichen Individuen von einzelliger Be¬ 
schaffenheit bestehen. Mithin hat man die 
mitgeteilten Ziffern mindestens zu verzehn¬ 
fachen, um sich eine Vorstellung von der 
Menge der Einzelgeschöpfe zu bilden, welche 
in einer so geringen Wasserquantität zeit¬ 
weilig enthalten sein können; ein Liter Wasser 
enthielt also mehr als 700,000 Mikroorganis¬ 
men. Zu andern Zeiten sind es freilich bei 
weitem weniger. Aber gerade solche Höhe¬ 
punkte der Planktonzeugung müssen wir uns 
vergegenwärtigen, wenn wir die verschwender¬ 
ische Fülle der Natur, die sich uns alljähr¬ 
lich im Blütenregen des Wonnemonats offen¬ 
bart, auch im Schosse der Gewässer gewahr 
werden wollen. 

Neben den vielen äusserst minimalen 
Wesen, die im Plankton vertreten sind und 
das Hauptkontingent zu demselben stellen, 
giebt es aber auch einige grössere, welche 
der Crustaceensippe angehören. Es sind das 
Leptodora hyalina und Bythotrephes longi- 
manus. 

Fig. 2 veranschaulicht uns die erstere. 
Ihr lateinischer Name würde zu deutsch 
„durchsichtiges Dünnfell" heissen. Und diese 
Bezeichnung ist vollkommen am Platze; denn 
dieses zentimetergrosse Tierchen sieht aus, 
als wäre es aus feinster Gelatine gebildet, so 
glashell und zarthäutig ist es. 

In dem langen schnabelförmigen Kopfe 
liegt vorn das Auge (An), welches aus einer 
schwarzen Kugel besteht, die auf ihrer Ober¬ 
fläche mit lichtbrechenden Krystallkörpern be¬ 
setzt ist. Dicht unter dem Auge liegt das 
Gehirn (G) und bei H befindet sich das Herz. 



Fig. 2. Leptodora hyalina (Planktonkrebs). 


Blutgefässe sind bei allen diesen Krebsgatt¬ 
ungen nicht vorhanden; die ernährende 
Flüssigkeit (das farblose Blut) umspült viel¬ 
mehr alle inneren Organe direkt und erftlllt 
die ganze Leibeshöhle, wird aber durch ein 
besonderes Pumpwerk (Herz) in Bewegung 
erhalten. In obiger Figur zeigt Leptodora 
ihre muskulösen Ruderarme nach oben und 
vorn gestreckt, so dass wir deren zierliche 
Befiederung deutlich zu Gesicht bekommen. 
Bei oe bemerken wir die lange Speiseröhre, 
die in den gleichfalls langgestreckten Magen¬ 
darm (Mg) mündet. Leptodora hyalina ist 
ein sehr gefrässiges Tier, welches unablässig 
Jagd auf kleinere Krebse macht; sie wird 
aber ihrerseits wieder massenhaft von den 
Fischen vertilgt. 

Ein nicht minder interessanter und eigen¬ 
tümlicher Bewohner unserer grossen Seen 
ist der in Fig. 3 dargestellte Bythotrephes 
longiroanus, der 1857 von Prof. Fr. Leydig 
im Bodensee entdeckt und dann als typisches 
Mitglied der Planktonfauna erkannt wurde. 

Wie bei Leptodora, so sehen wir auch 
hier den Kopf ausgeftlllt von dem schönen 
mitKrystallkegeln umgebenen Auge und hinter 
demselben erblicken wir den Gehirnknoten. 
In der Nähe des Kopfes sind die zweiästigen 
Ruderarme eingelenkt und dann folgt das 
erste Paar der Schw/immfüsse, die eine auf¬ 
fällige Länge besitzen (longimanus). Der Brut¬ 
behälter auf dem Rücken dieses abenteuerlich 
aussehenden Krebses enthält bei dem er¬ 
wachsenen (weiblichen) Individuum nur ein ein¬ 
ziges Ei, doch habe ich im Gr. Plöner See 
mehrfach schon Exemplare gefischt, die 6 —8 
Eier bei sich trugen. Der lange Hinterleibs¬ 
stachel scheint dem Tierchen als Balancier- 


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700 


Zacharias, Das Plankton der norddeutschen Binnenseen. 



Fig. 3. Bythotrephes longimanus (Plankton-Krebs). 
Stange beim Schwimmen zu dienen, damit es 
nicht nach vorn überkippt. Es wäre aber 
auch möglich, dass jenes Anhängsel nur den 


Zweck hätte, die Körperoberfläche Oberhaupt 
zu vergrössern und so das spezifische Ge« 
wicht des Krebschens zu vermindern und 
dessen Schwimrtifkhigkeit zu erhöhen. Ohne 
den langen Endstachel misst Bythotrephes nur 
2 mm, mit demselben aber 2 cm und mehr. 

Alle die im Vorstehenden mitgeteilten Be¬ 
obachtungen über das Plankton und seine 
Naturgeschichte sind in der Biolog. Station 
zu Plön gemacht worden und werden dort 
auch noch Jahre hindurch fortgeführt werden. 
Es knüpft sich an dieselben nicht nur ein 
wissenschaftliches, sondern auch ein prak- 
tisches Interesse, seitdem wir wissen, dass 
die tierischen Bestandteile des Planktons 
die Nahrung für die junge Brut aller 
Fischgattungen bilden. Dies ist durch zahl¬ 
reich vorgenommene Magen- und Darm¬ 
inhalts-Untersuchungen bei Jungfischen zur 
Genüge erhärtet worden. Wir werden auf 
Grund dieser Feststellungen und mit Berück¬ 
sichtigung der Resultate, welche die kon¬ 
tinuierlich betriebenen Planktonstudien zu Tage 
fördern, allgemach zu einer rationellen Grund¬ 
lage für den lukrativen Betrieb der Fischerei 
in Seen (und im Süsswasser überhaupt) ge¬ 
langen. 

Die Plöner Forschungsstation, welche 1891 
errichtet wurde, ist ein zweistöckiges Gebäude, 
welches ausser den erforderlichen Arbeits¬ 
räumen (Laboratorium, Experimentierzimmer 
und Bibliothek) auch die Wohnung für den 
Direktor enthält. Im Erdgeschoss sind die 
Aquarien untergebracht, welche durch eine 
Röhrenleitung mit Wasser aus dem Plöner 
See gespeist werden können. DerMikroskopier- 



Fig. 4. Die Biolog. Station zu Plön. 


V. 


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Mehler, Vom xii. internationalen medizinischen Kongress in Moskau. 


701 


saal hat dreiflügelige grosse Fenster und die 
Arbeitstische sind mit vorzüglichen Instrumen¬ 
ten aus der Optischen Werkstätte von C. Zeiss 
in Jena ausgerüstet. Bei aller Bescheidenheit 
ihrer Ausstattung besitzt die Plöner Station 
Alles, was zur Ausführung von mikroskop¬ 
ischen und experimentellen Arbeiten erforder¬ 
lich ist und ihr von Jahr zu Jahr sich stei¬ 
gernder Besuch von Seiten der jungen Zoo¬ 
logen und Botaniker beweist am Besten, dass 
sie einem längst empfundenen Bedürfnis der 
Wissenschaft entspricht. Infolge dessen ist 
ihr neuerdings auch von Seiten des Preuss- 
ischen Kultusministeriums eine ihrer Bedeut¬ 
ung angemessenere Subvention in Aussicht 
gestellt worden. 


Vom Xn. internationalen medizinischen Kongress 
in Moskau. 

Von Dr. L. Mehl er. 

Der vom 19.-26. Aug. in Moskau abgehaltene 
internationale medizinische Kongress ist durch eine 
Reihe von Feierlichkeiten in Petersburg glänzend 
zu Ende geführt worden. Der beispiellos schöne 
Verlauf des Kongresses hat einstimmig den grössten 
Beifall gefunden und das Comitö sowie die russ¬ 
ische Regierung, ebenso die Stadtverwaltungen in 
Moskau und Petersburg können stolz auf das ge¬ 
lungene Werk zurOckbucken. Trotz aller Befriedig¬ 
ung aber, die sämtliche Teilnehmer empfunden 
und geäussert haben, ist die Frage wohl berechtigt, 
ob denn der wissenschaftliche Erfolg ebenso gross 
und glänzend sei, wie die VergnümingsveranstaJt- 
ungen oder ob. nicht vielmehr die Wissenschaft nur 
der Deckmantel gewesen sei, um auf bequeme und 
schöne Art und Weise fremdes Land und fremde 
Sitten kennen zu leimen und die bekannte russische 
Gastfreundschaft auszunötzen. Nicht ohne den Schein 
des Rechtes kann man dabet hervorheben, dass bei 
der Unzahl der medizinischen Fachzeitungen heut¬ 
zutage jeder, auch noch so geringe Fortschritt auf 
dem grossen Gebiete der Medizm in kurzer Zeit 
der ganzen wissenschaftlichen Welt zugänglich ge¬ 
macht werden könne, dass ferner bei allen Kon- 
gres^n sich bis jetzt ein greifbarer Vorteil nicht 
gezeigt habe. — Darauf ist nun vor allen Dingen 
zu erwidern, dass gerade bei gewissen Disziplinen 
der Medizin die Anschauung viel mehr nützt als 
die weitschweifigste Beschreibung. Eine nur einiger- 
massen schwierige Operation lässt sich sehr schwer 
beschreiben, selbst gute Abbildungen machen das 
Verständnis nicht leichter, während das einfache 
Zusehen jeden Chirurgen in den allermeisten Fällen 
ohne Weiteres in den Stand setzt, diese Operation 
selbständig auszufOhren. — Aber abgesehen von 
diesem nicht gering anzuschlagenden vorteil blei¬ 
ben doch noch idealere Vorteile der internationalen 
Kongresse, die sich nicht sofort ins Praktische Um¬ 
setzen lassen. Hierher gehört der Verkehr der 
Arzte verschiedener Nationen untereinander, der 
manchmal recht herzlich wird und damit manche 
Nationen^ wenn auch nur in wenigen ihrer Ver¬ 
treter, sich nähern lässt. Ferner gehört dazu das 
Kennenlemen fremder Einrichtungen sanitärer und 
hygienischer Art. Es genügt vielleicht hierbei bei¬ 
spielsweise auf das grosse Moskauer Findelhaus 
hinzuweisen, eine Einrichtung, die in der ganzen 
Welt ihres Gleichen sucht und deren Zwedtdien- 


lichkeit und Segen jedem Arzt auf den ersten Blick 
einleuchtet. Schliesslich fällt es nicht schwer, zu 
zeigen, dass gerade bei dem diesjährigen Kongress 
auch in wissenschaftlicher Beziehung schöne Resul¬ 
tate erziölt wurden. Da die Verhandlungen in den 
verschiedenen Sektionen geführt werden, so kann 
I der einzelne Teilnehmer auch gewöhnlich nur über 
die Sektion berichten, der er angehörte, von den 
grossen allgemeinen Sitzungen abg^ehen, deren 
Vorträge bereits in den meisten Tageszeitungen 
ziemlich genau wiedergegeben wurden. — Verf. 
war in der chirurgischen Sektion und muss ge¬ 
stehen, manches Neue gesehen und gehört zu haben. 
Wenn auch das meiste nur rein fachwissenschaft¬ 
liches Interesse beanspruchen kann, so soll doch 
einzelnes hervorgehoben werdem um daran zu 
zeigen, was geleistet wurde. — Der erste Tag in 
der chirurgischen Sektion war der Lungenchirurgie 
gewidmet und der geistvolle Vortrag IVof. Puffiers 
(Paris) fand allgemeinen Beifall. Er wies darauf 
hin, dass auch die Lunge schon lange kein noli me 
tangere für den Chirurgen sei und dass der Lungen- 
abscess, der Echinococcus der Lunge, ja selbst be¬ 
ginnende Lungentuberkulose chirurgisch angreifbar, 
ja sogar heilbar wäre. Die von ihm angeführten 
Zahlen waren sehr günstig und reizen sicherlich 
zu weiteren Versuchen auf diesem Gebiete. — 
„Die Behandlung der infizierten Wunden* war das 
Thema eines andern Sitzungstages. So glänzend 
auch bisher die Resultate der antiseptischen und 
aseptischen Behandlung frischer Wunden waren, 
so wenig erfolgreich waren sie bei bereits eingetre¬ 
tener Infektion, 'gänzlich oder fast gänzlich macht¬ 
los ist unsere Therapie dann, wenn die Infektion 
sich bereits über den ganzen KörpCT verbreitet 
hat, eine allgemeine Infektion eingetreten ist. Da¬ 
gegen glaubt nun C r e d 6 in Leipzig im Silber und 
seinen Salzen ein ganz hervorragendes Wundanti¬ 
septikum gefunden zu haben. Das von ihm bis jetzt 
hergestellte und angewandte Silbersalz (Itrol — 
zitronensaures Silber) soll an desinfizierender Kraft 
sogar das Sublimat, das bisher als stärkstes Anti¬ 
septikum galt Obertreffen. Um nun gegen eine 
allgemeine Infektion wirken zu sollen, muss ein der¬ 
artiges Mittel im ganzen Körper seine Kraft ent¬ 
falten. Die innerliche Darreichung des Itrols oder 
Aktols (milchsaures Silber) war aus verschiedenen 
Gründen nicht angängig, deshalb hat Crede eine 
wässerige Lösung aus fast reinem Silber darzuslellen 
gewusst, die in Salbenform in die Haut eingerieben 
wird. Seine bisherigen Resultate an 100 Kranken 
verschiedenster Art (lokale und allgemeine sept¬ 
ische Formen) sind derart günstig, dass sie zweifels¬ 
ohne Nachprüfung und Nachahmung erfordern. 
— Neben emer grossen Reihe Vorträge, die sich 
auf mehr speziellere Gebiete, wie die Bauch¬ 
chirurgie, Operationen am Gehirn u. s. w. bezogen, 
wurden eine Reihe interessanter Operationen im 
Operationssaal der Bobrowschen Khnik unternom¬ 
men. — So zeigte Lorenz aus Wien sein Ver¬ 
fahren der unblutigen Reposition der angeborenen 
Hoftgelenksverrenkung an einem 9jährigen Kinde, 
während Holländer aus Berlin seine neue Me¬ 
thode der Lupusbehandlung zeigte, die darin be¬ 
steht, dass er die einzelnen Lupusknötchen mit 
heisser Luft (bis 300®) zerstört. Dies sind nur einige 
wenige Kapitel aus der chirurgischen Sektion. Be¬ 
denkt man nun, dass 15 Sektionen gebildet waren, 
in welch allen mit gleitmem Eifer und Interesse ge¬ 
arbeitet wurde, so kann man sich etwa verstellen, 
wie viele Fragen erörtert, wie eingehend die neuen 
Forschungen besprochen wurden und wie viel 
Neues gelehrt und gelernt wurde. 


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702 


Ueber die russisch-indischen Grenzverhältnisse. 


Über die russisch-indischen Grenzverhältnisse 
am Pamir, die mit Rücksicht auf die Unruhen im 
englischen Indien im Vordergrund des Interesses 
stehen, bringt ein Reisebericht von Paul Rohr¬ 
bach {^us Turan und Armenien) in den Preussi- 
schen Jahrbüchern (August 1897) wertvolle Mit¬ 
teilungen. Danach ist nach den letzten Festsetz¬ 
ungen der beiderseitigen Kommissionen jetzt endlich 
eine feste Grenze abgesteckt, die folgendermassen 
verläuft: 


Von Dschisa, gleich oberhalb Kerki, bildet der 
Amu • Darja die Grenze zwischen dem Emirat 
Buchara, d. h. Russland und Afghanistan bis zu 
dem Fort Kalai-Wamar, nahe dem Zusammenfluss 
des Pandsch und Murghab, aus denen der zunächst 
immer noch Pandsch genannte Amu-Darja entsteht. 

Von hier an beginnt das unmittelbar russische 
Pamir. Die Grenze gegen Afghanistan läuft nun¬ 
mehr südwärts dem Laufe des Pandsch folgend, 
bis etwa zwanzig Kilometer unterhalb Ischkaschim. 
Von diesem Punkte an wendet sie sich ostwärts 
und geht zunächst auf dem Kamme eines Gebirgs¬ 
zuges, der den Lauf des Pandsch nördlich begleitet, 
über Jül-Masar zum See Sör-Kul; von hier mit einer 
Ausbiegung nach Süden direkt auf den Kamm des 
Sarykolgebirges zu, das nordsüdwärts ziehend die 
russischen und chinesischen Gebiete scheidet. An¬ 
dererseits ist der Hauptkamni des Hindukusch-Ge- 
birges als Grenzlinie zwischen England und Afgha¬ 
nistan festgesetzt worden. Auf diese Weise ent¬ 
steht zwischen den britischen und nissischen 
Besitzungen ein sogenannter Puffer in Gestalt eines 
300 Kilometer langen und 20—50 Kilometer breiten 
Streifens, der in der Hauptsache durch das Thal 
des Pandsch gebildet wird und nominell zu Afgha¬ 
nistan gehören soll, thatsächlich aber Niemandes 
Gebiet bilden wird, denn es fällt den Leuten, die 
diesen Strich bewohnen, gar nicht ein, sich um den 
Emir in Kabul zu bekümmern, der seinerseits weder 
die Mittel, noch ein Interesse daran hat, seine Au- | 


torität in dieser entfernten und armen Gegend 
geltend zu machen. Über die so geschaffene son¬ 
derbare „Wurst“ und die heillose Angst der Eng¬ 
länder vor einer unmittelbaren Berührung mit 
Russland hat der Reisende in Turkestan ebenso¬ 
sehr ironischen Spott, wie die Versicherung gehört, 
dass der ganze angebliche Puffer eine Lächerlich¬ 
keit sei, da er England für den Ernstfall nichts 
nützen wird — zumal die Russen in voller Arbeit 
sind, au/ dem Pamir eine grossartige Militärstrasse 


SU bauen, die vermutlich nicht dazu dienen soll, auf 
ihr spazieren zu gehen. 

Nach der Ansicht des Reisenden, wünschen die 
Engländer, während es das Einfachste und Natür¬ 
lichste wäre, entweder den Flusslauf des Pandsch, 
oder noch besser den Hauptkamm des Hindukusch 
als Grenze zu nehmen, den Kamm des Gebirges 
und damit die Übergänge allein in der Hand zu 
haben, in der Meinung, dadurch ihre strategische 
Position gegen einen russischen Anmarsch wesent¬ 
lich zu verbessern. Militärische Kenner der Verhält¬ 
nisse in Turkestan haben dem Verfasser versichert, 
daSs die Dinge am Pamir doch anders liegen und 
dass die Engländer sich einer Täuschung hingeben, 
wenn sie meinen, durch ihre angeblich strategische 
Grenzfestsetzung Indien gesichert zu haben. 

Überaus interessant sind die Eindrücke und Be- , 
obachtungen des Reisenden über die Antipathie 
der Mohammedaner, insbesondere auch der Pamir¬ 
bevölkerung gegen England und über das gute Ver¬ 
hältnis zwischen den Russen und den Eingeborenen, 
ohne deren thätige Hilfeleistung das Kantonnieren 
von Truppenabteilungen auf dem Pamir sehr viel 
grössere Schwierigkeiten haben würde, als es der Fall 
ist. Diese Hinneigung der Einheimischen beschränke 
sich keineswegs auf die von den Russen inkorpo¬ 
rierten Gebiete, sondern finde sich ebenso sehr in 
den innerhalb der britisch-afghanischen Sphäre ge¬ 
legenen Chanaten, in Tschitral, Kafiristan, Badach- 
I schan u. a. 



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Untersuchungen Ober das Erfrieren der Pflanzen. 


Der Verfasser findet, dass das fortgesetzte Zu¬ 
rückweichen der Engländerin ihren zentralasiatischen 
Differenzen mit Russland ihrem Prestige im ganzen 
mohammedanischen Asien sehr geschadet hat. Die 
Russen tragen Sorge dafür, dass ihre Erfolge und 
Englands kraftloses Verhalten in der geeigneten 
Beleuchtung überall in den Grenzgebieten und da¬ 
rüber hinaus bekannt werden; es ist ihnen das ver¬ 
möge ihrer Beziehungen zum Islam ein leichtes. 
Besonders, dass Buchara, das geistige Zentrum der 
östlichen islamitischen Welt in ihren Händen ist, 
bedeutet nach dieser Richtung, was den Ruf der 
russischen Macht und ihres Vordringens betrifft, 
sehr viel. Was die militärische Frage angeht, so 
liegen die Verhältnisse für die Engländer so schlecht 
wie möglich, beweist doch der gegenwärtige Auf¬ 
stand, was man ohnehin weiss, dass die Eingeborenen 
nichts von England wissen wollen. 

Ein Meisterstück Russlands nennt der Verfasser 
die nach Erwerbung des Turkmenenlandes durchge- 
geführte Feststellung der Grenze gegen Persien und 
Afghanistan. Bei dem persischen Serachs beginnend, 
holt die russische Grenze zu einem tief nach Süden 
reichenden Bogen aus, der den Lauf des Heri-Rud 
bis zum Sulfagar (Zulfikar) Pass und fast den 
ganzen Kuschk-Fluss in russischen Händen lässt. 
In diesem Stück Land liegen die Schlüssel zum 
nördlichen Afghanistan und zu dem ganzen Nord¬ 
rand von Iran — unä hier wird gegenwärtig von 
der transkaspischen Linie aus eine Eisenbahn ge¬ 
baut. Diese Linie ist dazu bestimmt — vorläufig — 
nicht eher Halt zu machen, als an dem alten Ein¬ 
fallsthor in das vorderasiatische Hochland von 
^orden her an der Spalte, durch die der Heri-Rud 
qn dem Sulfagäf-Gebirge sich vorbeidrängt. Hier 
ftihrt die grosse Strasse hindurch, die Asien dies¬ 
seits seiner zentralen Umwallung von Norden nach 
Süden kreuzt; jenseits des Sulfagar-Passes teilen 
sich die Wege ins persische Chorassan, nach Herat 
und Kabul, nach Kandahar, ins Hilmend-Gebiet und 
zum Indischen Ozean. Der Sulfagar-Pass ist der 
Hauptschlüssel zur ganzen östlichen Hälfte des ira¬ 
nischen Hochlandes, Afghanistan mit eingeschlossen, 
für jeden Eroberer, der von Norden her kommt. 

Da die Engländer im Hindukuschgebiet nur kleine 
Garnisonen, welche die Aufgabe haben, die Einge¬ 
borenen im Zaume zu halten und Pässe und Strassen 
zu bewachen, unterhalten und einer dauernden 
Unterbringung einer grösseren Anzahl Truppen in 
diesem rauhen Hochland zu grosse Schwierigkeiten 
entgegen stehen, sind die Aussichten für eine In¬ 
vasion von Norden äusserst günstige. Der An¬ 
greifer wird in jedem Fall mit überlegenen Truppen¬ 
massen auftreten, denn er kann sich jederzeit den 
Moment wählen, wo er mit gesammelter Macht den 
Übergang über die Pamire und den Hindukusch 
unternimmt, während die Engländer nicht genügend 
Truppen Gewehr bei P'uss am Abhange oder gar 
auf den Passhöhen der Gebirgszüge aufgestellt hal¬ 
ten können, um jederzeit der Invasion zu begegnen. 

Ausserdem wird, sobald die Russen den Über¬ 
gang über die Pässe unternehmen, wahrscheinlich 
ein Aufstand der Gebirgsbewohner im Rücken der 
englischen Truppen die Verteidiger der Pforten 
Indiens zwischen zwei Feuer bringen. 

Für einen etwaigen Angriff der Russen auf 


703 


Indien gilt das obere Industhal selbst für ungangbar; 
vielmehr geht die Linie, auf der sich Invasion und 
Abwehr voraussichtlich begegnen müssen, durch 
das Tschitralthal; sowohl auf Kabul als auf Pesch¬ 
awar und die Festung Attok am Indus zu, die den 
Übergang Ober den Strom zu decken hat. Das ist 
in der Vorstellung russischer Militärs der Weg nach 
Indien, und im Vertrauen auf die allerdings nicht 
hoch genug anzuschlagende Leistungsfähigkeit der 
Soldaten und die den Engländern feindliche Stim¬ 
mung der Gebirgsstämme gedenkt man gelegentlich 
nur noch mit einem gewissen Lächeln der alten 
Strasse durch das Kabulthal, auf der bisher noch 
alle Eroberer seit den Ariern und Alexander dem 
Grossen in die Halbinsel eingedrungen sind: so 
„bequeme" Wege brauchen wir nicht, um nach 
Indien zu kommen. 


Untersuchungen über das Erfrieren der Pflanzen. 

Die näheren Vorgänge beim Gefrieren einer 
Pflanze, beziehungsweise Pflanzenzelle waren bis¬ 
her nur von wenigen Forschern beachtet worden, 
was seinen Grund in der Schwierigkeit derartiger 
Untersuchungen bei niederen Temperaturen hat; 
ebenso war man bisher über die wichtige Frage, 
ob der Tod einer Pflanze schon beim Gefrieren 
oder erst beim Auftauen derselben eintritt, voll¬ 
ständig im Unklaren. — Nun hat der bekannte 
Pflanzenphysiologe Professor Dr. H. M o 1 i s c h seine 
seit Jahren Ober diese Fragen angestellten Forsch¬ 
ungen in einem Werke ’) veröffentlicht, dessen In¬ 
halt nicht allein in wissenschaftlicher Hinsicht von 
dem grössten Interesse ist, sondern auch eine hohe 
praktische Bedeutung hat. , 

Molisch hat zunächst einen Apparat konstruiert, 
der es ermöglicht, im Zimmer die Einwirkung nie¬ 
derer Temperaturen auf Objekte unter dem Mikros¬ 
kope bequem zu verfolgen. Ohne auf die Beschreib¬ 
ung desselben näher einzugehen, sei nur hervor¬ 
gehoben, dass sowohl das betreffende Präparat als 
auch der Beleuchtungsspiegel des Mikroskopcs in 
beliebiger Weise ohne .Änderung der sonstigen Ver¬ 
hältnisse während der Beobachtung reguliert wer¬ 
den kann. — Da es sich bei der Beobachtung des 
Gefriervorganges in einer lebenden Zelle in erster 
Linie darum handelt, zu erfahren, welche Veränder¬ 
ung das Protoplasma erfährt, wurde zunächst das 
Gefrieren toter Körper untersucht, welche sich 
physikalisch im grossen Ganzen ebenso verhalten, 
wie jenes. Hierher gehören Gelatine, Stärkekleister, 
Traganth u. a. Bei Gelatine-Lösung z. B., wie bei 
allen Colloiden, tritt beim Gefrieren eine Scheidung 
zwischen Wasser und dem Colloid ein; das Wasser 
wird dem gequollenen Colloid energisch entzogen; 
letzteres bildet dann ein zierliches Netzwerk, in 
dessen Maschen die Eisklümpchen liegen. Hier 
giebt Molisch nebenbei ein sehr hübsches verfahren 
an, künstliche Eisblumen zu bilden: man spült einen 
Glaskolben mit 2 prozentiger Gelatine-Lösung aus 
und stellt denselben zum Zwecke des Gefrierens der 
Gelatine mit der Öffnung nach unten in das Freie. 
Sind die Gelatine-Eisblumen entstanden, so giesst 
man absoluten Alkohol in den Kolben; dadurch 
wird das Eis herausgelöst, und das Gelatinenetz¬ 
werk ist in Form von zierlichen Eisblumen dauernd 
fixiert. — Man kann sich zu diesem Zwecke auch 
eines gewöhnlichen Trinkglases oder einer Glas¬ 
scheibe bedienen; ein Glaskolben aber eignet sich 

1) H. Molisch, Untersuchungen Ober das Erfrieren der 
Pllanaen, Jena 1897. Verlag von Gustav Fischer. 


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704 


Die Gewinnung des Aluminiums. 


deshalb sehr gut dazu, weil man die Eisblumen 
sehr leicht gegen jede Verunreinigung durch Staub 
etc; schützen kann. 

Auch bei lebenden Objekten {Amoeben, Algen 
etc.) zeigte es sich, dass das Gefrieren derselben 
mit einem sehr starken Wasserentzug verknüpft 
ist. Dabei stellte sich die interessante Thatsache 
heraus, dass die Kleinheit der Zellen ein Schutz- 
mittelgegendasErfrierenist; denn selbst bei —i5®C. 
wurden Hefezellen nicht getötet. 

Die Frage, ob eine Pflanze schon durch das 
Gefrieren oder erst beim Auftauen vernichtet 
werde, hat Molisch unzweifelhaft dahin beantwortet, 
dass im allgemeinen schon durch das Gefrieren der 
Tod der Pflanze bewirkt wird, und dass es för die 
Erhaltung des Lebens derselben gleichgültig ist, ob 
da s Auftauen derselben rasch oder langsam vor 
sich geht. Nur die Blätter der Agave americana 
(wie auch nach Müller-Thurgau gewisse Bimen- 
und Apfelsorten) können, falls sie nicht Ober eine 
gewisse Grenze abgekühlt werden, durch langsames 
Auftauen am Leben erhalten werden. 

Von hohem Interesse ist ferner die Thatsache, 
dass gewisse Pflanzen (Epircia tricolor, Sanchezia 
nobiUs, Eranthemum tricolor u. a.) schon bei einer 
Temperatur von 1—5" C. über Null den Tod er¬ 
leiden, selbst wenn die Transpiration, die bisher 
als Ursache dieser Erscheinung angegeben wurde, 
vollständig ausgeschlossen wird. Dieses „Erfrieren 
über Null“ beruht wahrscheinlich auf durch mildere 
Temperatur hervorgerufene Strömungen im chem¬ 
ischen Getriebe der lebenden Substanz. 

Was bewirkt nun den Tod einer Pflanze infolge 
des Gefrierens? Dass das Erfrieren derselben 
nicht eine Folge des Zerreissens der Zellwände 
durch das im Innern der Zelle sich bildende Eis 
ist (wie man bisher anzunehmen pflegte), geht schon 
daraus hervor, dass für gewöhnlich das Eis gar 
nicht in den Zellen, sondern ausserhalb derselben 
entsteht. — Die niedr^e Temperatur an und fllr 
sich bringt nicht den Tod herbei, die Pflanzen ge¬ 
frieren überhaupt nicht bei o", sondern erst bei 
einer tieferen Temperatur; so müssen die Behälter 
von Phajus grandiflorus auf 7", die Zwiebel auf 3.5® und 
Kartoffelknollen auf 3* C. unter Null überkältet wer- 
den, wenn sie gefrieren sollen. Staubfaden-Haare von 
Tradescantia blieben, durch mehrere Stunden einer 
Temperatur von 5—9® C. unter Null in der Luft ausge¬ 
setzt, am Leben, weil sie nicht gefroren; dagegen 
starben sie bei —5« C. im Wasser ab, weil sie hier 
gefroren. — Der in das [Leben einer Pflanze bei 
niederen Temperaturen schädigend eingreifende 
Faktor ist die Eisbildung, welche stets mit einem 
Wasserentzug verbunden ist. Je wasserreicher 
Pflanzen oder Teile derselben sind, desto leichter 
erfrieren dieselben. Lufttrockene Samen können 
grosse Kälte ertragen, im gequollenen, also wasser¬ 
reichen Zustande aber erfrieren sie leicht. — Bak¬ 
terien, Sporen, Samen, Moose u. a. vermögen aus¬ 
zutrocknen, ohne ihr Leben zu gefährden; in diesem 
Zustande können sie somit auch starke Kälte er¬ 
tragen, weil ihnen kein Wasser entzogen werden 
kann. Der Gefriertod der Pflanzen beruht im wesent¬ 
lichen auf einem zu grossen, durch die Eisbildung 
hervorgerufenen Wasserverlust des Protoplasmas, 
der lebenden Substanz der Zellen, wodurch die¬ 
selbe vernichtet wird. „Wodurch es kommt, dass 
gewisse Pflanzen das Gefrieren schadlos überstehen, 
andere nicht, das hängt mit der spezifischen Kon¬ 
stitution des Protoplasmas zusammen und lässt sich 
allerdings vorläufig ebensowenig erklären, wie die 
bekannte Thatsache, dass manche Gewächse oder 
Teile derselben das Austrocknen vertragen, andere 
aber nicht." _ n. 


Die Gewinnung des Aluminiums 
hat ihre interessante Geschichte. Es ist verhältnis¬ 
mässig noch nicht lange her, dass das weisse Metall 
zu den kostbaren Metallen gerechnet wurde und 
beinahe im Werte des Goldes stand. 

Ungefähr bis 1858 war es fast ausschliesslich 
ein Laboratoriumsprodukt und erst durch die Ein¬ 
führung elektrischer Aufschliessungsverfahren wurde 
es möglich, seine Verwendung für allgemeine 
Zwecke in Aussicht zu nehmen. Aber seitdem 
billigere und bessere Herstellungsmethoden in An¬ 
wendung sind, ist die Produktion in ständigem ge¬ 
waltigen Anwachsen begriffen und jetzt steht es 
fest, dass innerhalb Jahresfrist nur 3 Metalle im 
Handel — Eisen, Blei, Zink — billiger als Aluminium 
sein werden. 

Im Jahre 1895 wurden in den Aluminiumwerken 
in Frankreich, der Schweiz und den Vereinigten 
Staaten täglich ungefähr 3000 Ko. gewonnen. Im 
Jahre 1896 gewann die Aluminiumindustrie, beson¬ 
ders auch in Grossbritannien eine solche Ausdehn¬ 
ung, dass die Produktion fast 6000 Kilo per Tag 
erreichte. Die Ferti^tellung der Neuanlagen in 
Neuhausen in der Schweiz wird einen Tageszuwachs 
von 2000—3000 Ko. zur Produktion ergeben. Ausser¬ 
dem sind aber verschiedene neue Gewinnungsan- 
agen geplant. So will ein Deutsch-Amerikanisches 
IKonsortmm an den Wasserfällen von Sarpfoss in 
Norwegen Werke errichten, die Anfang nächsten 
Jahres in Thätigkeit treten, und ebenfalls täglich 
ungefähr 2000 — 3000 Ko. hervorbringen smlen. 
Kenner prophezeihen, dass die Neuanlagen in der 
Schweiz, die neuen Werke in Norwegen und die 
grössere Ausnutzung der Niagara-Fälle die Alumi¬ 
niumproduktion für das Jahr 1898 auf mehr als 
18,000 Ko. per Tag bringen werden, die demnach 
sechsmal grösser als die des Jahres 1895 sein wird. 

Mit der Produktionsvergrösserung kann der Ver¬ 
brauch nur Schritt halten bei einer erheblichen 
Preisvenninderung, welche die Anwendung des 
Aluminiums in weiterem Masse als bisher gestattet 

Von den neueren Verfahren zur Aluminium¬ 
gewinnung dürfte das Verfahren der Aluminium¬ 
werke der Pi/tsburg RedueUon - Company ineres- 
sicren. Seit dem Jahre i888 wird von der Pitts¬ 
burg Reduction Comp, nach dem Verfahren von 
Ch. M. Hall Aluminium gewonnen, indem Doppel¬ 
fluoride auf elektrochemischem Wege zerlegt wer¬ 
den. Als die geeignetsten Salze für das Schmelz¬ 
bad finden die Fluoride des Kaliums und des Cal¬ 
ciums mit Aluminiumfluorid Verwendung. Das 
Doppelfluorid wird durch Einwirkung von Fluss¬ 
säure auf Thonerde und Kaliumcarbonat gewonnen, 

I während als Calciumfluorid der Flussspath benutzt 
wird. 

In der gegenwärtigen Anlage zu Niagara-Falls 
sind zwei Reihen in Serie geschalteter, mit Kohle 
ausgckleideter eiserner Tiegel angeordnet Der 
Strom wird durch Kohlenzylinder, die als Anoden 
dienen und in das geschmolzene Bad hineintauchen, 
zugeführt wobei die Töpfe selbst mit ihrer Aus¬ 
kleidung und dem auf dem Grunde lagernden Me¬ 
talle als Kathoden dienen. Das Aluminium wird 
am Boden aus dem geschmolzenen Bade ausge¬ 
schieden und der frei gewordene Sauerstoff ver¬ 
bindet sich mit der Kohle der Anode zu Kohlen¬ 
oxyd oder Kohlensäure, indem er die Kohle in 
einem etwas geringeren Verhältnis verzehrt, als 
dem Gewicht des erzeugten Aluminiums entspricht 
Der Prozess wird jedesmal monatelang fortgeführt 
da die Abnutzung der Tiegel gering ist; das Me¬ 
tall dagegen wird täglich aus den Tiegeln mittelst 
gusseiserner Kellen herausgebracht. 

In einigen Fabriken werden die Arbeiter sehr 


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Betrachtungen und kleine Mitteilungen. 705 


durch schädliche Gase belästig sodass sie nur fcurze 
Zeit hintereinanderweg arbÄen können. Die ge¬ 
nannte Company jedorfi soll dank der Vorteile der 
eigenartigen Lösungsmittel, die sie zur Auflösung 
der Thonerde benutzt, und der passend gewählten 
Stromstärke in dieser Hinsicht keine Schwierigkeiten 
haben. 

Für jeden Tiegel Ist eine Spannuiw von 6—8 
Volt erforderlich. Die elektrische Kran wird nach 
dem Zweiphasensystem von der Niagara Falls 
Company geliefert, wobei der Strom von der Krafl- 
station nach der Fabrik durch Kupferkabel, die in 
einem unterirdischen Kanal liegen, zugefhhrt wird, 
und zwar muss zur Herstellung des Aluminiums 
der Drehstrom in Gleichstrom von niedriger Span¬ 
nung umgewechselt werden. Zunächst wu*d durch 
gewöhnliche Transformatoren der Strom von 3000 
Volt auf 115 Volt pro Phase herabtransformiert und 
erst dieser Strom wird in rotierenden Umformern 
in Gleichstrom von 160 Volt uragewandelt Die 
Leistung der Anlage betrat augenblicklich 10000 
Ampfere ^i 160 Volt, also 1600 Kilowatt. Die 
Oberfläche der Wechselstromtransformatoren ist 
nicht genügend, alle in ihnen entwickelte Wärme 
ohne besondere Kühlungsvorrichtungen auszu¬ 
strahlen. Es wird deshalb fortwährend ein Lufl- 
Strom durch die Spulen geblasen. 

Die Kompagnie gebraucht reine Thonerde, welche 
aus Bauxit nergestellt wird. Um Natrium^uminat 
herzustellen, braucht der Bauxit nur wenig mit Soda 
gebrannt zu werden und es wird dann das Alu- 
minat aufgelöst; es bildet dann den Au^angspunkt 
ihr die Darstellung des Aluminiums nach dem Hall- 
Verfahren. 

Die Anlage ist nach dem „Electridan", dem wir 
diese Angaben entnehmen, so erfolgreich gewesen, 
dass die Gesellschaft, obwohl das jetzige Werk erst 
im August 1895 in Betrieb gesetzt wurde, in Be¬ 
griff steht, die Anlage zu verdoppeln 

Uhlands Technitebe Ruodtchau, a. Sept. 1897. 


Betrachtungen und kleine Mitteilungen. 

Auf die submarinen Veränderungen, welche 
durch Bewegungen des Gerölles an den Randab¬ 
hängen der kontinentalen Plateaus hervorgerufen 
werden, macht Mil ne im London. Geogr. Joum. 
X. 1897 aufmerksam. Die Ursache dieser Beweg¬ 
ungen, welche schon Brüche von Telegraphenkabeln 
veranlasst haben, wird der Anhäufung von Ge- 
röUe, welches vom Festlande abgebröckelt, zuge¬ 
schrieben. In Japan kommt eine grosse Anzahl 
der Erdbeben aus der Tiefsee von der Mündung 
des Tonegawa her, dem grössten japanischen Strom, 
der in seinem Unterlauf eine Alluvialschicht kreuzt. 
Manche andere Erschütterungen auf jenen Inseln 
haben ähnlichen Ursprung. Wo lange kontinentale 
Abhänge mit einer grösseren Steigung als iin 
den Ozean absteigen, sind Rutschungen und Erd¬ 
beben dieser Art zu erwarten. Die westliche 
Grenze der Tuscaora-Tiefe im nördlichen stillen 
Ozean ist die Quelle mancher Erdbeben und hat 
xmter anderen die verheerenden Störungen am 
15. Juni 1896 veranlasst. Milne schliesst hier auf 
„submarine Veränderungen längs der Basis-Grenze 
•eines Kontinents, deren Grösse schwer geschätzt 
werden kann.“ Gewisse „nicht bemerkte Ei^beben“, 
welche aber durch das Horizontal • Pendel festge- 
atellt werden, werden auf weit auseinander liegende 
Stationen registriert, „und es ist leicht angenommen, 
dass in diesen Augenblicken die ganze Erde er¬ 
schüttert worden sei*. Ihre Quelle kann nicht 
rgendwo auf dem Land gewesen sein, denn dann 


hätte dieselbe in der gewöhnlichen Weise beobachtet 
werden können; sie sind daher submarinen Bewe¬ 
gungen zuzuschreiben. Science, 3. Sept 1897. 

• • 

• 

Den Schlangenbiss behandelt Dr. M. Corislano 
d’Utra in St-Paul (Brasilien) mit gutem Erfolg mit 
Calothtl, wie derselbe in einem Briefe an Bmletin 
de Th6rapeutique in Paris mitteilt. Er will sämt¬ 
liche behandelten Personen gerettet haben durch 
Eingeben von a Gramm Calomel in 30 Gramm Zit¬ 
ronensaft, welche Dosts alle a Stunden wiederholt 

wurde. Revue ecieotifique, ii. Sept. 1897. 


* Das Prinzip des Kinematographen wendet 
M. Watkins in New-York nach einer Mitteilung 
des. Scientific American, auf die mikroskopische 
Photographie an, und es ist demselben gelungen, 
mikroskopische Bilder in einer SchneQi^eit von 
1600 auf die Minute zu erreichen; selbst die Auf¬ 
nahme von aooo—2500 Bildern in der Minute soll 
möglich sein. Diese neue Anwendung der Moment¬ 
photographie kann jedenfalls für das Studium des 
Lebens aer Mikroorganismen sehr wichtig werden, 
wie für die biolo^che Forschung übeimaupt, so¬ 
weit es sich um die Beobachtung unendlich Ideiner 
Voigänge handelL Revue »dentifique, ii. Septbr. 1897. 


• Die Verehrer des allzu ftuh seinem reichen 
Schaffen entrissenen Guy de Maupassant wird es 
interessieren, zu erfahren, dass eine deutsche Ge- 
Samtausgabe von den Werken des gossen Fran¬ 
zosen sich in Vorbereitung befindet, wner unserer 
angesehensten jüngeren Romanschriftsteller, Georg 
Freiherr v. Ompteda, hat das anspruchsvolle 
Obersetzungswerk übernommen, das aanach mit 
den üblichen Taglöhnereien dilettantischer Massen¬ 
übersetzungen nicht verwechselt werden darf. Die 
Ausgabe ist auf 2 Serien zu je 10 Bänden* berech¬ 
net und wird in Lieferungen im Verlage von F.^ 
Fontane & Co. in Berlin erscheinen. e. 


SprechsaaL 

Herrn Forstassessor S. in Sch. Wir bringen in 
Erfahrung, dass das Imprägnierung^verfahren von 
C. Gerecke in Braunschweig sich im Prinzip mit 
dem englischen deckt. Über die Zusammensetzung 
der angewandten Flüssigkeit lassen die Hersteller 
begreiflicherweise nichts verlauten. Interessieren 
dürfte Sie, dass sich zur Verwertung des englischen 
Verfahrens in London eine Gesellschaft gebildet hat 
unter der Firma: The British Non-Flammable Wood 
Co. Limited, No. 2 Army & Navy Mansions, Vic¬ 
toria Street. S. W. Die hohen Kosten der Impräg¬ 
nierung dürften einer allgemeinen Anwendung der¬ 
selben einstweilen noch entgegenstehen. DasTränken 
eines Quadratmeters zölliger Bretter stellt sich z. B. 
auf rund M. 2. Die Firma C. Gerecke in Braun¬ 
schweig ist zur Erteilung von näheren Auskünften 
gern bereit. 

Herrn Gymnasiallehrer S. in H. Apparate zum 
Telegraphieren ohne Draht liefern die Firmen: 
Siemens & Halske in Berlin, SW., Markgrafensöv 
94, Dr. H. Geissler Nachf. (Franz Müller), Bonn 
a. Rh., E. Leybolds Nachfolger, Köln a. Rh. 


. No. 40 der Umsetaan wird eathalten: 

Dr. P. Halm, Josef Sattler (iltustr,), — Geh. Med.-Rat Pro. 
fessor Orth, Medizin, Unterricht und Irztliche Praxis. — Lory, 
Gcschichtsphilosophiachc Systeme der Gegenwart. ~ Das anthro- 
pometrische System Bertilions. — Die Kampherinduslrie in 
Japan und China. 


G. Hwstmann's DruckereL Frankfurt a. BL 


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7 o6 


Anzeigen. 


Preisausschreiben. 

Um die gründliche Behandlung einer Frage, die wie keine zweite auf allgemeine Bedeutung Ai>' 
Spruch erheben kann, anzuregen, hat sich die Umschau entschlossen, das Thema 

Was ist Bildung? 

zur allgemeinen Diskussion zu stellen und zum Gegenstand einer Preiskonkurrenz zu machen. 

Ausgesetzt sind drei Preise: 

Erster Preis M. joo. —, Zweiter Preis M. 75. — , Dritter Preis M. so. — , 

welche für die drei besten Aufsätze über genanntes Thema zur Auszahlung kommen. 

Preisrichter sind die Herren 

Professor Dr. Friedrich Ratzel in Leipzig, Professor Dr. Alwin Schultz in Prag, 
Professor Dr. Max Verwom in Jena. 

Die zur Konkurrenz bestimmten Arbeiten dürfen den Umfang von 4 Druckseiten der Umschau 
nicht überschreiten und müssen in deutscher Sprache abgefasst sein. Die Manuskripte müssen lesbar ge¬ 
schrieben sein und sind bis zum 15. November d. j. an die Redaktion der Umschau, Frankfurt a. M., Neue 
Kräme 19/21 einzusenden. ' 

Der Name des Verfassers darf auf dem Manuskript selbst nicht angegeben sein, sondern ist auf 
einem besonderen Zettel in verschlossenem Couvert anzubringen; Manuskript und Couvert müssen mit 
einem gleichen Kennwort bezeichnet sein. 

Die preisgekrönten Arbeiten gelten als zum Abdruck in der Umschau erworben und gelangen am 
Anfang des Jahres 1898 zur Veröffentlichung. 

Zur Rücksendung von Manuskripten wird nur soweit Verpflichtung übernommen, als das Porto 
dafür beiliegt 

Das ^Ergebnis der Preiskonkurrenz sowie die Verfasser der preisgekrönten Arbeiten werden in 
der ersten Nummer des 11 . Jahrgangs der Umschau vom i. Januar 1890 mitgeteilt. 

Frankfurt a. M., Ende September 1897. 

Verlag und Redaktion der „Umschau“ H. Bechhold Verlag, 
Neue Kräme 


l]H5H5a5H5c!SH5Hga5H5H^äSa5H5B5S5H5H5EBH5H5li 


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XIV. Jahrgang 

herausgeg. von Oberlehrer Dr. Gercken. 
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Die Blätter sind bestimmt, die Interessen des höheren 
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unterstützt von einer grossen Anzahl namhafter Mitarbeiter, Auf. 
Sätze, die Fragen aus den verschiedensten Gebieten des 
höheren Schulwesens behandeln, ferner regelmässig Berichte 
über Vereinsangelegenheiten, Personalveränderungen, Stel* 
lenvakanzen, sowie eine Tafel der neuesten Erscheinungen 
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Verantwortlicher Redakteur: 

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40. I. Jahrg. 1897. 2. Oktober. 


Medizinischer Unterricht und ärztliche 
Praxis. *) 

Von Geheim. Rat Prof. Dr. J. Orth. 

Neue Aufgaben verlangen neue Mittel zu 
ihrer Lösung. Die Fortschritte, welche die 
zweite Hälfte dieses Jahrhunderts und insbe¬ 
sondere die letzten Jahrzehnte desselben der 
medizinischen Wissenschaft und Technik ge¬ 
bracht haben, haben auch der ärztlichen Praxis 
eine Fülle von neuen Aufgaben gestellt, denen 
gegenüber auch der medizinische Unterricht 
mehr und mehr seine alten Geleise verlassen 
und den neuen Forderungen sich anpassen 
musste. Es wurden neue Professuren be¬ 
gründet, besonders diejenigen für pathologische 
Anatomie,^ für Hygiene und Bakteriologie auf 
theoretischem, für Augen-, Ohren, Geistes¬ 
krankheiten und noch andere Spezialfächer 
auf praktischem Gebiete, es wurden die dem 
Unterricht zu Gebote stehenden Hilfsmittel 
immer weiter vermehrt, der Unterricht selbst 
durch immer weitere Ausbildung des An- 
schauungs- und praktischen Unterrichts ver¬ 
bessert. Freilich zeigte sich dabei auch mehr 
und mehr, dass die dem Unterricht bei uns 
in Deutschland jetzt zugemessene Zeit je 
länger um so weniger ausreichte und Niemand 
ist mehr überzeugt, wie die Universitätslehrer 
selbst, dass der medizinische Unterricht den 
Anforderungen der ärztlichen Praxis insofern 
nicht mehr entspreche, als die Ausbildung der 
die Universität verlassenden jungen Ärzte, 
insbesondere in den technischen Fertigkeiten, 
noch nicht denjenigen Grad der Vollendung 
und Sicherheit erlangt zu haben pflegt, wel¬ 
cher in erster Linie im Interesse des Publi- 


*) Der Aufsatz ist ein von Herrn Geh. Rat Dr. 
Orth selbst besorgter Auszug aus seinem gleich¬ 
namigen Vortrag, am 24. Sept. d. J. gehajten auf 
der Vers, deutscher Naturforscher und Ärzte zu 
Braunschweig und als authentischer Bericht anzu¬ 
sehen. 

UauKlun 1897. 


kums, aber auch im Interesse des ärztlichen 
Standes selbst wünschenswert erscheint. Trotz¬ 
dem ist die Behauptung der Rufer im Streit unter 
den praktischen Ärzten, die ärztliche Kunst 
sei heruntergegangen, meines Erachtens völlig 
ungerechtfertigt und nur geeignet, das An¬ 
sehen der Ärzte beim Publikum unverdienter 
Weise zu schädigen, erst recht aber entbehrt 
es jeder Begründung, und zeugt nur von 
völliger Unkenntnis der Verhältnisse, wenn 
behauptet wird, die Methode des medizinischen 
Unterrichts an den Universitäten trage die 
Schuld an dem vermeintlicljen Sinken des 
ärztlichen Könnens und 'dem davon abgelei¬ 
teten Niedergang der materiellen Lage der 
praktischen Arzte. Die heutigen Ärzte leisten 
nicht weniger, sondern mehr wie die früheren 
und ich leugne es, dass, wo ein Mangel her¬ 
vortritt, dieser gerade bei den jüngeren Ärzten 
sich zeigt, finde im Gegenteil, dass eher da¬ 
rüber geklagt werden kann, ^ass nicht alle 
älteren Ärzte den Fortschritten der ärztlichen 
Wissenschaft und Kunst so haben folgen 
können, wie es zu wünschen wäre. Das ftlhlen 
viele Ärzte selbst und eilen trotz aller An¬ 
sprüche, welche die Praxis und das Leben 
an sie stellt, zu den Fortbildungskursen, welche 
jetzt nahezu an allen Universitäten während 
längerer oder kürzerer Zeit abgehalten werden. 
Doch auf diese Beziehungen zwischen medi¬ 
zinischem Unterricht und ärztlicher Praxis 
will ich hier nicht weiter eingehen, sondern 
es soll mich hauptsächlich die erste Aufgabe 
des akademischen Unterrichts, die Heran¬ 
bildung junger Mediziner ftlr die ärztliche 
Praxis beschäftigen. 

Will man feststellen, was der Unterricht, 
der für einen bestimmten Beruf vorbereiten 
soll, zu leisten hat, so muss man sich zunächst 
darüber klar werden, welche Anforderungen 
an den betreffenden Beruf gestellt werden, 
bezw. nach Lage der Verhältnisse gestellt 
werden können und müssen. Die Aufgabe 

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7o8 


Orth, Medizinischer Unterricht und ärztliche Praxis. 


des ärztlichen Berufes ist aber die Sorge für 
das körperliche Wohl der Menschen, sein Ziel 
die Erhaltung oder Wiederherstellung der 
Gesundheit. Je nach dem Stande unserer 
Kenntnisse über die Mittel zur Erhaltung der 
Gesundheit, Über die Ursachen ihrer Störung 
und Über die Möglichkeiten, die gestörte 
wiederherzustellen, werden auch die Anfor¬ 
derungen an die praktische Thätigkeit sich 
ändern müssen. Es besteht für mich nun 
gar kein Zweifel darüber, dass, wie die wis¬ 
senschaftliche Medizin in einen neuen Zeit¬ 
abschnitt, den der Forschung nach den Ur¬ 
sachen der Krankheiten eingetreten ist, so 
auch für die medizinische Praxis ein Wende¬ 
punkt gekommen ist, wo sowohl der öffent¬ 
lichen Thätigkeit der Ärzte, wie ihrer privaten 
Praxis neue Wege gewiesen, neue Ziele ge¬ 
steckt werden. 

Nur zu lange ist die Medizin in erster 
Linie Heilkunde und Heilkunst gewesen, deren 
vomehmliche Aufgabe in der Beseitigung 
einer bestehenden Störung der Gesundheit 
gesucht wurde, von nun an muss grösseres 
Gewicht auf die Verhütung von Krankheiten 
gelegt werden, wozu die rasch fortschreiten¬ 
den Kenntnisse Ober ihre Ursachen, die zum 
guten Teil belebte Wesen, Mikroparasiten sind, 
uns mehr und mehr befähigen. Es ist die 
Aufgabe der Ärzte, das Eindringen von 
Krankheitserregern in den menschlichen Kör¬ 
per zu verhindern, wie es z. B. bei den 
Wunden in so überraschendem Masse schon 
gelungen ist, aber sie haben auch dafür zu 
sorgen, dass die ausserhalb des menschlichen 
Körpers vorhandenen Krankheitserreger soviel 
wie möglich zerstört werden, inbesondere auch 
solche, welche von kranken Menschen (im 
Stuhl bei Typhus, in dem Auswurf bei Tuber¬ 
kulösen u. s. f.) stammen. 

Die grössten Schwierigkeiten bieten in 
Rücksicht auf die Unschädlichmachung von 
Krankheitserregern jene Fälle, wo dieselben 
gar nicht von aussen kommen, sondern sich 
im Innern des Körpers befinden, entweder zu¬ 
nächst noch als unschädliche Parasiten oder 
abgeschlossen in einem Krankheitsherde, 
aber beide bereit, sofort ihre krankmachen¬ 
den Fähigkeiten zu entfalten, sobald sich 
günstige Bedingungen dafür einstellen. Für 
den ersten Fall könnte an den zugäng¬ 
lichen Stellen z. B. in der Mundhöhle die 
Parasitenflora von Zeit zu Zeit kontrolliert, 
jedenfalls dafür gesorgt werden, dass durch 
Reinlichkeit, Entfernung kariöser Zahnstellen 
u. s. f. die Entwicklung der Mikroparasiten 
möglichst eingeschränkt werde. Beim zweiten 
Falle liegt zunächst die Schwierigkeit vor, 
den verborgenen Krankheitsherd zu erlcennen, 
doch hat die verdienstvolle Entdeckung Koch’s 


(Tuberkulin) gezeigt, dass auch hier die Wissen¬ 
schaft auf dem besten Wege ist, Licht in die 
Dunkelheit zu bringen. 

Nun heisst’s, die aufgestöberten Para¬ 
siten unschädlich machen, abtöten. Inwieweit 
das gelingen wird, vermag man heute noch 
nicht zu sagen, doch gestatten die jetzigen 
Kenntnisse schon die Hoffnung, dass es mög¬ 
lich sein wird, solche, die Krankheitskeime 
vernichtende Mittel zu finden. 

Allein auch wenn diese Hoffnung täuschen 
sollte, so hat die Erkennung verborgener, 
keine Störungen mehr erzeugender Krankheits¬ 
herde doch darum den grössten Wert, weil, 
wie gerade die neueren ätiologischen For¬ 
schungen immer und immer wieder ergeben 
haben, die Krankheitserreger allein ftlr die 
Entstehung der Krankheiten nicht massgebend 
sind, sondern auch der Boden, auf den sie 
einwirken, also der Zustand der Körpergewebe 
und des ganzen Körpers überhaupt von aus¬ 
schlaggebender Bedeutung ist. Änderungen 
im morphologischen und chemischen Zustand 
der Körpergewebe das ist hauptsächlich das, 
was jene vorher erwähnten günstigen Beding¬ 
ungen, Dispositionen dafür schafft, dass bisher 
unschädliche Parasiten zu Krankheitserregern 
werden, dass in einem alten Krankheitsherde 
abgeschlossene Parasiten zu neuem Leben 
erwachen und einen Neuausbruch der zum 
Stillstand gekommenen Krankheit bewirken. 
Hier also eröffnet sich der ärztlichen vor¬ 
beugenden Thätigkeit ein schier unabsehbares 
Arbeitsfeld, die Aufgabe, die Entstehung von 
Dispositionen zu verhindern, den Körper zu 
kräftigen, zu stählen für den Kampf mit den 
Krankheitsursachen. Das ist aber auch der¬ 
jenige Teil der ärztlichen Thätigkeit, in dem 
die neueste Zeit die meisten und grössten 
Fortschritte aufzuweisen hat, in dem deshalb 
auch die Ansprüche an die Leistungen der 
Ärzte in besonderem Grade gewachsen sind. 
Gesundheitspflege, öffentliche wie häusliche, 
nimmt nicht nur viele Gelegenheiten zur Er¬ 
krankung, besonders zur Infektion weg, son¬ 
dern schafft auch einen gesunden, kräftigen, 
widerstandsfähigen Körper. Erst in der neuen 
Zeit ist das Verständnis für die grosse Be¬ 
deutung der Gesundheitspflege der Allgemein¬ 
heit wieder voll aufgegangen, aber auch die 
Überzeugung entstanden, dass nur unter dem 
sachverständigen Beirat von Ärzten die all¬ 
gemeine, wie die individuelle Gesundheits¬ 
pflege gefördert und ausgeübt werden kann. 
Nicht nur im Gesundheitsrate der Städte und 
Gemeinden, in den Schulen u. s. w. hat der 
Arzt als erster Sachverständiger in gesund¬ 
heitlichen Fragen mitzureden, kein Vater und 
keine Mutter sollte sich des ärztlichen Be¬ 
raters entschlagen, wenn es sich darum han- 


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Orth, Medizinischer Unterricht und ärztliche Praxis. 


709 


delt, die Einrichtung des Hauses, der Kleidung, 
der Lebensweise besonders bei Kindern ge- 
sundheitsgemäss herzustellen. Hier kann nicht 
schablonenmässig vorgegangen werden, denn 
die Konstitution d. h. der Bau und die davon 
abhängige Funktion des Körpers und seiner 
einzelnen Teile ist keine gleichmässige; Krank¬ 
heitsanlagen der verschiedensten Art sind 
weit verbreitet, können kommen und schwin¬ 
den, und nur ein kundiger Arzt, dem Gelegen¬ 
heit zu längerer Betrachtung gegeben wird, 
ist imstande, die Konstitutionseigentümlich¬ 
keiten zu erkennen und die geeigneten Mass¬ 
nahmen zur möglichsten Unterdrückung bezw. 
Verhütung von Krankheitsanlagen zu treffen. 

Endlich ist der neuesten Errungenschaft 
für die Prophylaxis zu gedenken, der Schutz¬ 
impfungen. Wie Jenner vor hundert Jahren 
für die Pocken, so hat die neue Wissenschaft 
bereits für verschiedene Krankheiten (Hunds¬ 
wut, Wundstarrkrampf, Diphtherie u. a.) ein 
Vorbeugungsmittel in Schutzimpfungen ge¬ 
funden und wenn auch noch manche darauf 
bezügliche Fragen der Aufklärung harren, 
so erscheint es doch nicht phantastisch, wenn 
man erwartet, dass da dem praktischen Arzte 
der Zukunft ein weites Feld segensreicher 
Thätigkeit eröffnet worden ist. 

Neben der Aufgabe, die Gesundheit zu 
stahlen und Krankheiten zu verhüten, steht 
die andere, vörhanden'e Krankheiten zu heilen, 
oder doch zu lindern. 

Wie die Anforderungen an die prophy¬ 
laktischen Leistungen der Medizin gesteigert 
worden sind, so auch diejenigen an die 
Heilthätigkeit. Die neuen ätiologischen For¬ 
schungen haben neue Heilmethoden (Serum¬ 
therapie, Organtherapie) geschaffen, die Fort¬ 
schritte in der Prophylaxis der Wundkrank¬ 
heiten haben das Messer der Chirurgen und 
Gynäkologen immer weiter in die Tiefe dringen 
lassen und immer komplizierter wurden die 
Operationen, die diagnostische wie die thera¬ 
peutische Technik weitete sich nach allen 
Seiten, das Mikroskop ist zu einem immer 
unentbehrlicheren Bestandteil des ärztlichen 
Instrumentariums geworden. Die Folge dieser 
Fortschritte ist, dass viel mehr Krankheiten 
einer eingreifenden Behandlung unterzogen 
werden, wie früher, dass aber auch die Tei¬ 
lung der Arbeit, wie auf so vielen Gebieten, 
so auch in der Medizin eine immer grössere 
Ausdehnung gewonnen hat. Man mag ja in 
gewisser Beziehung die Entwicklung des 
Spezialistentums in der Medizin beklagen, aber 
es lässt sich doch nicht leugnen, dass Übung 
den Meister macht und dass bei den grossen 
technischen Anforderungen, welche besonders 
die operativen Zweige der Medizin stellen, 
nur deijenige Übung genug haben kann, 


welcher sich dauernd und ununterbrochen mit 
diesem Gegenstand beschäftigt, also Spezialist 
ist. Es genügt auch nicht, dass einige wenige 
Spezialisten etwa an den Universitäten und 
in einigen grossen Städten vorhanden sind, 
denn die können dem Bedürfnis nach spezi- 
alistischer Behandlung durchaus nicht genügen 
und das Publikum hat ein Recht zu bean¬ 
spruchen, dass es möglichst schnell und mög¬ 
lichst bequem auch diejenige Behandlung finde, 
bei welcher nur der Geübte volle Garantie 
für richtige Diagnose einerseits und beste 
Behandlung andererseits bietet. Ich bin also 
der Meinung, dass Niemand imstande ist, die 
aus den Verhältnissen und aus einem Be¬ 
dürfnisse hervorgewachsene Arbeitsteilung in 
der Heilkunst wieder rückgängig zu machen, 
ja in gewisser. Beschränkung muss sic im 
Interesse des Heilung suchenden Publikums 
gefördert werden, denn es ist völlig ausge¬ 
schlossen, dass jeder Arzt in jedem Zweige 
der Medizin diejenige Erfahrung und Übung 
besitze, welche ihn zum Meister macht. Nur 
nach einem muss gestrebt werden, nämlich 
dass der Zusammenhang der Zweige des 
Baumes der Medizin gewahrt wird, dass neben 
der Vielheit die Einheit nicht vergessen wird, 
die medizinische Wissenschaft. Sie ist es, 
welche die gemeinsame Wurzel aller praktischen 
Spezialitäten darstellt und darstellen muss. 
Vereint studieren, getrennt kurieren, so könnte 
man die Forderung in kurze Worte fasssen. 

Wenden wir uns nun, nachdem wir die 
Aufgaben, welche die Medizin zu erfüllen hat, 
in Kürze festgestellt haben, zu der Frage: 
was hat der medizinische Unterricht zu leisten ? 
so bedarf es keiner Auseinandersetzung, dass 
der Universitätsunterricht all das liefern muss, 
wass die Ärzte befähigt, den ihnen gestellten 
Aufgaben gerecht zu werden. Die Frage ist 
nur die, ob man verlangen kann, dass jeder 
Arzt als fertiger Praktiker die Universität ver¬ 
lassen muss. 

Das ist von vornherein schon deshalb un¬ 
möglich, weil die Medizin auch eine Kunst 
ist, und kein Künstler auf einer Schule fertig 
gebildet werden kann, sondern sich selbst¬ 
ständig zur Höhe seines Könnens allmählich 
entwickeln muss. So kann sich auch der 
praktische Arzt erst in der Praxis und durch 
die Praxis auf die Höhe seiner Leistungs¬ 
fähigkeit bringen, das was der Unterricht zu 
leisten hat, ist, die Grundlage zu liefern, 
welche ihn befähigt, sich zum selbständigen 
ärztlichen Künstler zu entwickeln. 

Dazu ist in erster Linie nötig die Kennt¬ 
nis vom gesunden und kranken Menschen in 
morphologischer und biologischer Beziehung, 
was wieder eine Summe von Vorkenntnissen 
in den exakten und beschreibenden Natur- 

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710 


Orth, Medizinischer Unterricht und ärztliche Praxis. 


Wissenschaften voraussetzt, es ist notwendig 
die Kenntnis von den Ursachen der Krank¬ 
heiten, der Art der Wirkung derselben, der 
Mittel und Wege, um ihre Wirkung zu ver¬ 
hindern oder wieder aufzuheben, es gehört 
dazu die Kenntnis von den Veränderungen, 
welche der Körperbau und die Körperfunk¬ 
tionen bei der Krankheit erleiden und der 
Mittel, welche zu Gebote stehen, um die Aus¬ 
gleichung dieser Störungen zu fördern, die 
Wiederherstellung und Festigung der Gesund¬ 
heit zu bewirken. 

Aber es kommt nicht allein auf das Wissen 
an, sondern auch auf die Anwendung des¬ 
selben im einzelnen Fall; der Arzt muss fest¬ 
stellen können, ob bei einem bestimmten In¬ 
dividuum der Körperbau, die Körperfunktionen 
normal sind oder nicht, er muss erkennen 
können, welche Veränderungen etwa vorhan¬ 
den sind, wie gross, wie beschaifen die Ab¬ 
weichungen von der Norm sind, dazu gehört 
beobachten, Schlüsse ziehen, methodisch 
denken. 

Leider lässt die Vorbxldung unserer Stu¬ 
denten in dieser Beziehung unendlich viel zu 
wünschen übrig und eine kostbare Zeit muss 
darauf verwandt werden, den jungen Mediziner 
zu lehren, seine Sinne zu gebrauchen, das 
sinnlich Wahrgenommene richtig aufzufassen 
und gedanklich zu verarbeiten. Das ist aber 
die Grundlage aller ärztlichen Thätigkeit und 
es kann nicht früh und nicht oft genug dies 
Beobachten, dies induktive Denken geübt 
werden. 

Erst nachdem die Kenntnis der Natur¬ 
wissenschaften, der Anatomie, wozu auch Ent¬ 
wicklungsgeschichte gehört, und Physiologie 
nebst physiologischer Chemie erworben und 
in einem strengen, womöglich auch praktischen 
Examen bezeugt worden ist, soll zum Studium 
der Pathologie übergegangen werden. Bei 
der kurzen Zeit, welche zu Gebote steht, soll 
dem Studenten das Lernen so sehr erleichtert 
werden, wie nur möglich, dazu gehört aber 
meines Erachtens, dass ihm die wichtigsten 
Gegenstände zunächst in sytematischer Ueber- 
sicht vorgeführt werden und ihm nicht über¬ 
lassen wird, sich seine Kenntnisse darüber 
aus den verschiedenen bei anderen Gelegen¬ 
heiten gehörten Bemerkungen zusammenzu¬ 
suchen. So sollen beispielsweise besonders 
die allgemeine Aetiologie, die Hygiene, die 
allgemeine Therapie in systematischen Vor¬ 
lesungen behandelt werden. 

Alle Vorlesungen müssen so viel wie 
möglich mit Demonstrationen verbunden wer¬ 
den, denn nihil est in mente quod non prius 
fuerit in sensu, aber sie müssen noch er¬ 
gänzt werden durch praktische Übungen, in 
pathologischer Histologie, im Sezieren und 


Protokollieren, in Bakteriologie u. s. w., bei 
denen man nicht nur zu fragen hat, was für 
einen direkten Nutzen für die Praxis sie ge¬ 
währen, das wäre eine banausische, handwerks- 
mässige Art der Betrachtung, denn sic sollen 
zwar ein bestimmtes Wissen und Können 
übermitteln, aber daneben auch als Hilfs¬ 
mittel für die allgemeine Ausbildung dienen, 
für die Übung von Hand und Auge, für die 
Übung im Beobachten und induktiven Denken. 

Nun kommt der Höhepunkt in der Aus¬ 
bildung des Arztes, der Unterricht in der 
Behandlung des kranken Menschen, die 
klinische Unterweisung mit ihrem Zubehör, 
der physikalischen Diagnostik u. s. f. Auch 
hier ist wieder das erste die Methodik. Der 
Klinicist muss lernen die Erscheinungen der 
Krankheiten zu erkennen, — die schon er¬ 
langte und in der Klinik weiter zu vervoll¬ 
kommnende Übung im Gebrauch der Sinne 
wird nun ihre Früchte tragen, — er muss 
lernen, die Erscheinungen gegeneinander ab¬ 
zuwägen bezw. mit. einander zu verknüpfen, 
er muss das Hauptsächliche und das Neben¬ 
sächliche scheiden lernen, er muss denken 
und immer wieder denken, induktiv denken, 
um den Sitz der Krankheit, ihre Ursachen, 
ihre sekundären Folgeerscheinungen zu er¬ 
kennen, kurzum um die Diagnose zu machen. 
Auch heute noch gilt der Satz qui bene dia- 
gnoscit bene medebitur und die Fähigkeit, 
eine richtige und genaue Diagnose zu machen, 
ist es hauptsächlich, was den wissenschaftlich 
gebildeten Arzt von dem Kurpfuscher unter¬ 
scheidet. Also diagnostizieren, mit Anwen¬ 
dung aller bekannter Hilfsmittel diagnosti¬ 
zieren, das ist es, was in der Klinik, gleich¬ 
gültig welche es ist, zunächst gelehrt und 
gelernt werden muss. 

Geschieht das? Zweierlei Mängel lassen 
sich nicht leugnen, einmal, dass an manchen 
Universitäten die Zahl der Zuhörer so gross 
ist, dass der einzelne zu einer praktischen 
Thätigkeit kaum gelangt, und zweitens, dass 
zur Bewältigung des grossen Stoffes die jetzt 
gegebene Zeit kaum hinreicht. Dem ersten 
Mangel ist dadurch zum Teil abzuhelfen, dass 
die Studierenden nicht nur an einer grossen 
Universität studieren, sondern am allerbesten 
an einer kleinen und einer grossen, an jener 
um nicht nur zum Zusehen verurteilt zu sein, 
an dieser, um an der grösseren Fülle und 
Mannigfaltigkeit des Materials ihre Anschau¬ 
ungen zu bereichern. Ausserdem aber muss 
meines Erachtens die Poliklinik, sowohl die 
ambulatorische, wie die eigentliche Stadt- oder 
Distriktsklinik noch etwas mehr, wie es seit¬ 
her, wenigstens von Seiten der Regierung, 
geschehen ist, in den Vordergrund gestellt 
werden, weil hier der Student nicht nur die 


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Orth, Medizinischer Unterricht und ärztliche Praxis. 


711 


kleinen Leiden, die meist in der Klinik weniger 
berücksichtigt zu werden pflegen, kennen und 
erkennen lernt, sondern weil er hier noch 
mehr wie in der Klinik zeigen kann, was er 
im selbständigen Diagnostizieren zu leisten 
vermag. 

Dem zweiten Mangel kann nur durch eine 
Verlängerung der Studienzeit abgeholfen wer¬ 
den, die es auch gestatten würde, eine ge¬ 
eignetere Einteilung der pathologisch-klin¬ 
ischen Studien, als sie jetzt möglich ist, vor¬ 
zunehmen und ausserdem einer grösseren Zahl 
von Studierenden die Möglichkeit eröffnen 
würde, als Famuli in verschiedenen Kliniken 
sich weiter auszubilden und insbesondere auch 
den inneren Krankenhausdienst kennen zu ler¬ 
nen und — was nicht hoch genug anzuschlagen 
ist — eine grössere Zahl von Kranken längere 
Zeit genau zu beobachten und so auch besser 
als es sonst möglich ist, den ganzen Verlauf 
von Krankheiten zu verfolgen. 

Das Diagnostizieren aller Krankheiten 
müssen zweifellos alle Ärzte lernen, so dass 
sie es können, für die Behandlung gilt nicht 
dasselbe. Die Kenntnis der ganzen Therapie, 
auch der spezialistischen muss allerdings ver¬ 
langt werden, aber es ist nicht notwendig, 
dass alle Studenten alle spezialistischen Mass¬ 
nahmen selbst ausführen lernen müssten. Am 
wenigsten Spezialistisches hat die innere Me¬ 
dizin, sie ist die eigentliche Domäne des all¬ 
gemeinen Arztes, hierin muss Jeder, auch der 
Spezialist bewandert sein, auch in der ge¬ 
burtshilflichen Therapie muss der allgemeine 
Arzt erfahren sein, im übrigen muss er allen 
Fällen gegenüber, wo schnelles Handeln not¬ 
wendig ist, völlig gewappnet sein, dagegen 
halte ich es nicht für notwendig, dass er alle 
die komplizierten chirurgischen, ophthalmolo- 
gischen, gynäkologischen, otologischen u. s. w. 
Operationen, für welche die geeignete Zeit 
ausgewählt und die Vorbereitungen lange 
vorher getroffen werden können, selbst aus- 
zuftihren imstande ist. Da genügt es voll¬ 
kommen, wenn er die Notwendigkeit des 
Eingriffes rechtzeitig erkennt, also eine rich¬ 
tige Diagnose stellt und nun einen Spezialarzt 
des betreffenden Gebietes zu Rate zieht. 
Meines Wissens wird auch an den meisten 
Universitäten in diesem Sinne der Unterricht 
erteilt. 

So ist also für einen geeigneten Unterricht 
im allgemeinen wohl gesorgt, um die Grund¬ 
lage zu liefern, auf der die weitere Entwick¬ 
lung sich gestalten kann. Es ist aber anzu¬ 
erkennen, dass es immer noch Bedenken 
erregen muss, dem erst in der Grundlage 
fertigen Arzt sofort eine durchaus selbständige 
Stellung zu geben, das Wohl und Wehe der 
sich ihm Anvertrauenden völlig unkontrolliert 


in seine Hand zu geben, deshalb habe ich 
den Vorschlag eines einzuschaltenden prak¬ 
tischen Jahres mit Freuden begrüsst und be¬ 
fürworte ihn aufs wärmste unter der Voraus¬ 
setzung, das dies praktische Jahr nach dem 
Examen gelegt und die Approbation nach 
seinem Verlauf, wenn nicht ganz besondere 
Gründe vorliegen, ohne weiteres erteilt wird. 
Nur einen von ärztlicher Seite gemachten Ab¬ 
änderungs-Vorschlag möchte ich nicht von 
der Hand weisen, nämlich, dass das praktische 
Jahr auch bei einem geeigneten praktischen 
Arzte zurückgelegt werden kann. Es wäre 
dann nur ein Zustand wieder hergestellt, wie 
er schon vor Jahrhunderten bestanden hat, 
denn die Dekrete Friedrichs II. für Salerno 
ordneten für das medizinische Studium an 
3 Jahre philosophische, 5 Jahre medizinische 
und chirurgische Studien und i Jahr prak¬ 
tische Beschäftigung unter einem befugten 
Arzte. Die durch dieses Jahr bedingte wei¬ 
tere Verlängerung der Studienzeit kann nicht 
in Betracht kommen, wo es sich um Menschen¬ 
leben handelt, und ausserdem erfordern auch 
die übrigen akademischen Berufszweige bis 
zur definitiven Anstellung mit kümmerlichem 
Gehalt nicht geringere Zeit und Mittel. 

Der geschilderte Studiengang ist der für 
den allgemeinen Arzt; wer Spezialarzt wer¬ 
den will, muss sich besonders darauf vor¬ 
bereiten, doch halte ich die Forderung einer 
bestimmten Assistentenzeit nicht ftlr glücklich, 
meine vielmehr, man solle es jedem selbst 
Oberlassen, wie er sich zu einem Spezialisten 
ausbilden will, lasse ihn höchstens ein beson¬ 
deres Examen ablegen, das ich allerdings ftir 
notwendig halte, sobald der Staat den Ärzten 
wieder das Privilegium der Praxis erteilt. 

Ich habe keine Furcht, dass durch die 
öffentliche Bestätigung von Spezialärzten 
das Ansehen oder die Thätigkeit der allge¬ 
meinen Ärzte eine Einbusse erlitte, bleibt 
diesen doch im wesentlichen das grosse Gebiet 
der inneren Medizin gewahrt und sind sie 
doch unersetzlich und unentbehrlich für die 
Krankheitsprophylaxis. Nicht die immer 
zahlreicher werdenden Krankenhäuser, nicht 
die Spezialisten vermögen dem allgemeinen 
Arzt in dieser Beziehung Abbruch zu thun, 
das ist seine Spezialität deren Ausbau aller 
Ärzte eifrigstes Bemühen sein sollte. Frei¬ 
lich ist das nur möglich, wenn das Publikum 
die Ärzte unterstützt. Wir dürfen nicht ruhen 
und rasten, um Aufklärung in dieser Richt¬ 
ung zu verbreiten, um dem Publikum klar 
zu machen, wie viel man thun kann, um 
Krankheiten zu vermeiden, dass aber nur 
unter sachverständiger Anleitung und Kontrolle 
dieses möglich ist. Wie wir Ärzte mit der 
Sorge um die öffentliche Gesundheitspflege 


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712 


Halm, Joseph Sattler. 


in Staat und Gemeinde beauftragt sehen wol¬ 
len, so wünschen und erwarten wir, dass der 
Arzt ständiger Berater und Beaufsichtiger 
der Familien werde, besonders während der 
so wichtigen Ausbildungszeit des kindlichen 
Körpers. Das kann aber kein Spezialist, das 
kann nur der allgemeine Arzt, der Hausarzt, 
welcher nicht nur als Helfer in der Not der 
eingetretenen Krankheit gerufen wird, son¬ 
dern dauernd und ununterbrochen für das 
Wohl der seiner Sorge Anvertrauten bemüht 
ist, ein treuer Berater in allen Fragen der 
Gesundheitspflege, dafür aber auch eine Au¬ 
torität, deren Rat nicht nur gehört, sondern 
auch befolgt wird. 

Dazu ist die Mitwirkung des Publikums 
nötig, darum, ich wiederhole es, muss es das 
ernste und eifrige Bemühen der Ärzte sein, 
das Publikum über die Bedeutung der Ge¬ 
sundheitspflege und Krankheitsprophylaxis auf¬ 
zuklären, wie nicht minder über die Schwie¬ 
rigkeit der Erkennung der Krankheiten und 
der Feststellung des Heilplans. Erst wenn 
es Niemanden mehr giebt, der sich durch das 
falsche Wort des Goetheschen Mephistopheles, 
der Geist der Medizin sei leicht zu fassen, 
irreführen lässt, erst dann wird auch das Kur¬ 
pfuschertum verschwinden und die Ärzte wer¬ 
den jenes Ansehen und jene Wertschätzung 
geniessen, welche sie sich wünschen — und 
welche sie verdienen. 


Joseph Sattler.^) 

Von Dr. Philipp M. Halm. 

Abseits vom Getriebe unserer Kunstmetro¬ 
polen, in ländlicher Zurückgezogenheit in 
einem kleinen Orte im Eisass lebt seit Jahren 
ein deutscher Künstler von echtem Schrot 
und Korn, unbekümmert um der Parteien 
Streit, ein Feind aller Kunstpoiitik, ein Freund 
ehrlicher, ernster Arbeit, dessen Name den 
besten im Reiche der Kunst zuzuzählen ist: 
Joseph Sattler. 

Joseph Sattler wurde am i6. Juli 1867 
als der Sohn eines Glas- und Dekorations¬ 
malers in Schrobenhausen (Oberbayern) ge¬ 
boren. Als 6r etwa acht Jahre alt war, zogen 
seine Eltern nach Landshut, das mit seinen 
„herrlichen alten Häusern, Strassen, Kirchen, 
der Trausnitz und der Residenz“ einen tiefen 
Eindruck auf sein empfängliches Gemüt 
machte, um so mehr als des Künstlers Vater 

Mit freundlicher Erlaubnis des Herausgebers 
entnommen aus der „Zeitschrift des bayerischen 
Kunst-Gezverbe-Vereins in München" (Verlag von 
R. Oldenbourg in München) 1897. Heft 5. l 5 ic Il¬ 
lustrationen verdanken wir der Freundlichkeit von 
J. A. Stargardts Verlag in Berlin. Die Red. 


mit „einem ausgezeichneten Instinkte für das 
Gute“ ihn das Sehen lehrte. Nachdem Sattler 
vier Jahre lang die Realschule besucht hatte, 
trat er in die Lehre bei seinem Vater, um 
zunächst „Fenster, Thüren etc. anzustreichen.“ 
Für einen, der „immer zeichnen wollte“, 
wie Sattler selbst schreibt, war das eine harte 
Zeit, und als ihn nun gar sein Vater einmal 
nach München brachte, um ihm die Museen 
zu zeigen, da stand es fest bei ihm; „Ich 
will nach München.“ „Nichts anders als 
Maler.“ Mit 15 Jahren endlich erfüllte sich 
sein Wunsch. Er kam nach München. Zur 
Prüfung an der Kunstgewerbeschule zuge¬ 
lassen, „fiel er richtig durch“. Da nahm sich 
des jungen, talentvollen Menschen Heinz 
Heim, der leider so früh Verstorbene, an, 
unter dessen vortrefflicher Leitung Sattler 
rasche Fortschritte machte. Gleich ehrend 
für Lehrer und Schüler lesen sich Sattler’s 
Worte: „Niemals habe ich einen so fein¬ 
fühlenden Lehrer und Menschen zugleich an¬ 
getroffen. Man liebte ihn und hatte Respekt 
vor ihm. Das war ein wirklicher Lehrer!“ 
Bald daraui traf Sattler in die Akademie. Den 
Antikensaal, der ihm nicht besonders zusagte, 
betrat er auch nicht allzuoft, vielmehr schloss 
er sich der grössten Lehrmeisterin, der Natur, 
an und besuchte daneben fleissig das Kupfer- 
stichkabinet, wo seine Verehrung für die alten 
Meister, und- namentlich jmeh .für Rudolph 
Seitz und W. Diez, immer mehr wuchs. 
Seitz hatte er schon früher in Landshut ken¬ 
nen gelernt. „Als er sein Wandgemälde im 
Rathaussaal ausführte,“ erzählt Sattler, „strich 
ich in der Nähe ein Blechdach an — das 
machte mich ganz traurig. Ich brauchte 
lange bei dieser Anstreicherei; denn ich guckte 
durch’s Fenster dem Meister Seitz zu.“ Er 
scharrte die hinausgekehrten Farbenreste des¬ 
selben zusammen und malte dann zu Hause 
selbst Tempera. Wenn man Seitz den Lehrer 
Sattler’s nennt, so ist dies ideal aufzufassen. 
,,Er war mein geheimer, stiller Führer — 
das ist doch auch ein Lehrer!" schreibt 
Sattler. — An der Akademie war unser Künst¬ 
ler noch Schüler von Prof. Hackl, der Sattler 
bat, „seinen Beruf aufzustecken, da er es 
nie zu etwas brächte." Als er dann die Aka¬ 
demie verlassen musste, besuchte er den Com- 
ponierverein von Prof. Liezenmayer, später 
die Privatschule von Bang, einem Schüler 
G. Max’, dem er sehr gute Fortschritte ver¬ 
dankte. Als Sattler nachmals wieder in die 
Akademie eintrat, wurde er Schüler von Raupp 
und Gysis, welch’ letzteren unser Meister 
noch jetzt als einen „der feinfühlendsten 
Künstler mit einem noblen Geschmack" verehrt. 
Da schreckte den Strebsamen, Fleissigen 
plötzlich der Mahnruf „Geld." Mit allem Eifer 


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ilfer4lf1'nr I 


Halm, Joseph Sattler. 




Wurmstich. Aus Sattler’s Totentanz. 


mitSelbstverleugnungseines besserenKönnens schall mit Hermann Lingg, dessen Muse 
machte sich Sattler an’s Verdienen. Wie hart mit ähnlicher Vorliebe wie jene Sattlers 
muss es seinem Geiste, seiner Hand gefallen grausigen Stoffen, Totenszenen, „dem schw'ar- 
sein „Lederriemen für Maschinen-Preis* zen Tod“, sich zuwandte und mit Ibsen, dessen 
courante" oder Ähnliches zu zeichnen, wo „Gespenster“ und „Peer Gynt“ Sattler ausser* 
Totentänze, Pest- und Choleraszenen sich ordentlich begeisterten“, musste auf den 
auf das Papier drängen wollten. Da halfen sensiblen Geist belebend und anregend wirken 
zuerst die „Fliegenden Blätter", die schon und ihn zu ähnlichen Problemen spornen, 
manchem jungen Talent als Nährboden ge- Um aber etwas vollständig auszuführen, da¬ 
dient hatten, indem sie Zeichnungen, „schlechte zu fehlten die Mittel. Im Jahre 1889/90 
Witze" von ihm annahmen. Die Leisten erlaubte die Anstellung bei einer Sportzeitung 
„Gedankensplitter und Gedankenspäne“ zeich- eine teilweise Verwirklichung seiner Pläne, 
nete Sattler für die gleiche Zeitung erst vor Damals entstanden die ersten Entwürfe für 
wenigen Jahren. Die freie Zeit, die ihm die den fliegenden Bilderbogen „Die QuelFe“ 
nur nach Brot gehende Kunst noch übrig und Skizzen für den „Bauernkrieg". Neben- 
liess, verw'ertete der junge Künstler für her beschäftigte sich Sattler unter Anleitung 
seine Ideen. „Nichts als Totentänze, Pest, von Peter Halm mit Radieren. Nachdem er 
Cholera“ spukten in seinem Kopf. Er illus- dann als Lehrer unter ungünstigen Verhält- 
trierte die geheimnisvoll düsteren Phantasie- nissen ein Semester an der Strassburger 
stücke des Edgar Allan Poe. Die Bekannt- ' Kunstgewerbeschule zugebracht hatte, liess 



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Halm, Joseph Sattler. 


er auf eigene Kosten die satyrische Zeitschrift 1 
„Die Quelle“ erscheinen, die aber nach zwölf ! 
Nummern wieder einging. Bald darauf er¬ 
schien das erste grössere Werk, „Bilder aus 
der Zeit des Bauernkrieges", das Meister 
Seitz gewidmet war. Die Originale davon 
im Verein mit einigen Exlibris erwarben im 
Pariser Salon (Champs d’Elys6es) dem jungen 
Künstler die wohlverdiente Mention honorable. 
Die französische Zeitschrift „La Plüme“ be- 


nisch wie inhaltlich, abwechselungsreichen 
Schöpfungen im dortigen Kunstgewerbemuseum 
veranlassten ihn, nach Berlin zu gehen, wo 
er den historischen Zyklus „Die Wieder¬ 
täufer“ und den „Kunstkrieg“, eine treflliche 
Satyre, ausführte. Nebenher liefen kleinere 
Arbeiten für die Zeitschrift „Pan“. Nach 
einem Jahr aber riss er sich, von unbezwing- 
lieber Sehnsucht nach „Ruhe zur Arbeit“ 
erfasst, von Berlin wieder los und kehrte 


Gleichheit. Aus Sattler’s Totentanz. 


handelte ihn sehr aufmunternd. Aufträge 
verschiedenster Art stellten sich ein. Es ent¬ 
standen die „Exlibris“ und der „Moderne 
Totentanz“, die wiederum in Paris grossen 
Beifall erzielten — eine französische Kritik 
nannte den „Totentanz" das eigenartigste 
Ding im Salon — und dann im Jahre 1894 
und 1895 bei Sattler’s „prächtigem Verleger“, 
J. A. Stargardt in Berlin erschienen. Auf¬ 
träge aus Berlin und eine von Erfolg gekrönte 
Ausstellung seiner phantasiesprühenden, tech- 


nach Strassburg zurück. Es entstand die 
„Harmonie“, ein Werk, das Sattler schon 
viele Jahre in sich herumgetragen hatte, ein 
aussergewöhnliches, tiefdurchdachtes und ftlr 
sein Farbenempfinden und -Fühlen hochbe¬ 
deutsames Werk, das aber wenig und zum 
Teil missverstanden wurde. Das letzte, was 
uns Sattler’s Muse gab, waren die Illustra¬ 
tionen zu „Boos, Geschichte der rheinischen 
Städtekultur“, lebensvolle Kulturbilder, die 
eine selten beobachtete Vertiefung in den zu 


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Halm, Joseph Sattler. 


715 


behandelnden Stoff bekunden. Sattler’s Ver¬ 
leger, J. A. Stargardt, gebührt noch das 
Verdienst, dass er in richtiger Wertschätzung 
des Künstlers einen Sammelband „Durchein¬ 
ander" von allen möglichen Illustrationen, 
Exlibris, Vignetten, die da und dort erschienen 
und zerstreut waren, publizierte. Als ein 
stattliches Opus liegen Sattler’s Werke vor 
uns. Kaum 30 Jahre zählt der Künstler; 
dennoch steht sein Ruhm schon fest begi ün- 
det, und sein Name klingt gleich ehrenvoll 
im Auslande wie in Deutschland, das sich 
in diesem Sohne glücklich schätzen darf. 

Betrachten wir nun, wie sich Sattler’s 
Eigenart, sein Studium, sein Geist in seinen 
Werken spiegelt. Was unser Staunen zuerst 
herausfordert, wenn wir Sattler’s Werke 
durchblättern, ist etwas rein Äusserliches, die 
Vielseitigkeit. Sattler ist eben keiner von 
jenen Künstlern, vor denen leider auch unsere 
Akademien nicht verschont sind, die, nach¬ 
dem sie einmal einen glücklichen Wurf ge¬ 
macht haben, den Wurf bald nach dieser, 
' bald nach jener Richtung wiederholen und 
so mit einer gerade tötlichen Langweile aus 
ihren Werken uns entgegentreten; solch’ 
schnödes Schaffen weist der ehrliche Sattler 
zurück. Bei einem Talent, wie es Sattler 
besitzt, hätte er es in seiner FrOhzeit wohl 
besser haben können, aber seine Eigenart 
vdem momentanen Geschmack, der Mode oder 
dem Wunsche eines von der Natur anders 
veranlagten Lehrers oder Vorstandes unter¬ 
zuordnen, das widersprach dem jungen Künst- 




Büchcrzeichen des Fr. Carol Haupt. 

(Aus Sattler und Warnecke, Deutsche Kleinkunst 
in zwciuudvierzig Büclierzeichen.) 


1 er. Allzuklar war er sich seines Zieles be¬ 
wusst. „Freies Arbeiten, freies Schaffen, 
freie Aufträge", das war sein steter Wunsch. 
Dass bei diesem steten Drang nach freiem 
Schaffen die Sorge um das Dasein oft den 
jungen Künstler mit rauher Hand ergriff, mag 
wohl der Grund mit dafür sein, dass ein her¬ 
ber, satyrischer Zug in Sattler’s Werk sich 
schlich. Wir dürfen wohl annehmen, dass 
der Keim davon schon dem Künstler ange¬ 
boren war, ähnlich wie die Sucht nach dem 
Düsteren, Schauerlichen, Mystischen; äussere 
Umstände aber brachten eben diese Keime 
erst ganz zur Entfaltung. Könnten wir Satt¬ 
ler’s Werke, etwa seinen Totentanz, vollauf 
würdigen, wenn wir uns nicht erinnern, dass 
er einen Edgar Poe in jungen Jahren illu¬ 
striert hatte? Wie viele vervi'andte Züge 
tragen die düsteren Phantasien Beider in sich. 
Möchte man nicht Poe’s Novelle „Das ver¬ 
räterische Herz“ mit Sattler’s Zeichnung „Die 
Augenhöhle des Pessimisten" vergleichen? 
Nicht etwa, dass Sattler Poe abgeschrieben 
oder nachgeahmt hätte, vielmehr sei die Ver¬ 
mutung ausgesprochen, dass Sattler’s ange¬ 
borene Phantasie sich an den psychologischen 
Meisterwerken Poe’s nährte und durch die 
düsteren Phantasien erstarkte. Und in ähn¬ 
licher Weise müssen wir auch Sattler’s per¬ 
sönlichen Verkehr mit Hermann Lingg 
weniger als befruchtend, denn als nährend be¬ 
zeichnen. Bei diesem Uebermass von Phan- 


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7 i 6 


Das Bertillonsche System zur Personenfeststellung. 


tasie, welches in Sattler stets wuchs, musste 
Ibsen’s Peer Gynt mit seinem Problem vom 
Übermass der Phantasie, die sich nur „beim 
Dichter oder Künstler produktiv zu entladen 
vermag,“ begeisternd auf Sattler wirken und 
zugleich den Trieb, sich seines Phantasien¬ 
reichtums — ohne irgend äusserlichen Zwang 
und Rückhalt — zu bedienen, erhöhen. Hier 
müssen wir uns neben dem „Totentanz“ nament¬ 
lich der leider nicht publizierten Pest- und 
Choleraszenen, der Episoden aus der Revolu¬ 
tionszeit und der tiefdurchdachten „Harmonie“ 
erinnern. Das Leben und Schaffen Sattler’s 
ist überreich an wichtigen Einzelzügen, und 
der geistige Gehalt seiner Werke übertrifft 
oft bei Weitem diedoch unstreitig hochstehende 
künstlerische Ausführung, den sichtbaren 
Ausdruck der Gedanken. 

(Schluss folgt.) 


Das BertUlon’sche ' System zur Personen- 
feststeUung. 

(Beiträge zur Einführung desselben 
von Friedrich Paul.) ‘) 

Eine der wichtigsten Voraussetzungen 
einer gerechten Anwendung der Strafgewalt 
des Staates ist unzweifelhaft die verlässliche 
Identifizierung der Schuldigen, die es einer¬ 
seits verhindert, dass Unschuldige Strafen 
erleiden, andererseits die Mittel giebt, Ver¬ 
brecher zu eruieren, die sonst dem Arme der 
Gerechtigkeit entgehen. Wie oft können 
selbst Verbrecher, die zur Haft gebracht sind, 
nicht zur Bestrafung gelangen, wenn dieselben 
ihre wahre Herkunft durch echte Pässe einer 
anderen Person verschleiern oder ein beharr¬ 
liches Schweigen darüber beobachten. Dazu 
kommt, dass der Nachweis der Identität und 
die dadurch mögliche Kenntnis der Vorstrafen 
nach den herrschenden Strafrechtstheorien 
nicht unerheblich für die Strafwürdigkeit des 
Thäters ins Gewicht fällt. 

An Versuchen, ein geeignetes Verfahren 
der Personenfeststellung zu gewinnen, hat es 
in den verschiedenen Ländern nicht gefehlt; 
wenn dieselben jedoch keine einwandsfreien 
Resultate erzielten, so lag das daran, dass 
eine wissenschaftliche Basis fehlte. Eine 
solche zeichnet das anthropometrische Signale¬ 
ment Alphonse Bertillons aus, das, seit 

’) Zur ausführlicheren Information Über Bertilions 
anthropometrisches Signalement und die bisherige 
Anwendung desselben, empfehlen wir die obenge¬ 
nannte, sehr interessante und anregende Broschüre, 
(Sammlung Kriminalanthropologischer Vorträge, 
herausg. von Dr. Walter Wenge, Heft I. Verlag 
von Pnber & Lammers, Berlin), der wir die Daten 
unseres Aufsatzes entnehmen. 


dem Jahre 1895 in Paris mit dem grössten 
Erfolg in Übung, nunmehr auch von den 
deutschen Polizeiverwaltungen zur Einführung 
gebracht werden soll, und das allen Anfor¬ 
derungen entspricht, die man an eine hand- 
same Methode der Identifizierung stellen kann 
und muss. 

Es erfordert keine besonderen Kenntnisse 
der Beamten, die mit der Messung betraut 
sind, es ist überall mit den einfachsten Instru¬ 
menten anzuwenden und zeichnet sich durch 
eine geradezu unübertreflliche, originelle Art 
der Registrierung aus. 

Das anthropometrische System besteht: 

1) aus dem Ergebnis einer Anzahl von Mess¬ 
ungen am menschlichen Körper, 

2) aus der Personbeschreibung, 

3) aus der Aufnahme der besonderen Kenn¬ 
zeichen, 

4) aus einer photographischen Aufnahme des 
Individuums. 

Die Körpermessung geschieht durch Mess¬ 
ung der Körperhöhe, Armspannweite und 
Sitzhöhe, mittelst passender an der Wand an¬ 
gebrachter Massstäbe. 

Hierauf folgt die Messung des Kopfdurch¬ 
messers nach Länge und Breite und der Ent¬ 
fernung beider Jochbogen mittelst eigenen 
Tasterzirkels, die Messung der Länge des 
Ohres an der rechten Gesichtshälfte, mittelst 
eigener Schubieere/ endlich, die Messung,des 
linken Fusses, des linken Mittelfingers, des 
linken kleinen Fingers, des linken Unterarmes, 
mittelst einer eigenen grösseren Schubleere, 
welch letztere im Notfälle auch die Ermittlung 
der Kopfmasse gestattet. *) 

Diese Reihenfolge der Messungen wählt 
Bertillon deshalb, damit ein Messinstrument 
so lange in der Hand des Messenden bleiben 
könne, bis alle damit möglichen Messungen 
ausgeführt sind. 

Die Messungen der Extremitäten erfolgen 
deshalb an der linken Körperseite, weil diese 
nicht so leicht wie die der rechten durch 
Arbeit etc. verwundet und beschädigt werden. 

Eine Ausnahme macht nur das Ohr. Nach¬ 
dem das rechte Ohr nach Bertillon auf der 
Photographie zu fixieren ist, erscheint auch 
dessen Messung notwendig, zumal die Photo¬ 
graphie in V? der Naturgrösse aufgenommen, 
nach Bertillon so präzis durchgeführt wird, 
dass auch sie allein die Abnahme der Ohr¬ 
masse gestattet. 

Auf der Photographie wählt aber Bertillon 
mit feinem Verständnis die Darstellung des 
rechten Profils nebst dem en face Bilde, weil 

*) Die Messung der Entfernung der Jochbogen 
hat B. erst seit kurzem acceptiert, hingegen die 
Messung der Ohrbreite, als unzuverlässig, fallen 
gelassen. 


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Das Bertillonschk System zur Personenfeststellung. 


4 


717 


sich erfahningsgemäss dem Angegriffenen zu¬ 
meist die rechte Seite des Angreifers gegen- 
Qberstellt und diese somit am ehesten zur 
Agnoszierung und Identifizierung dienen kann 
und soll. 

Hinsichtlich der Körpermasse endlich, 
lehrt die Erfahrung, dass sich das Knochen¬ 
gerüst des Menschen vom 20. Lebensjahre 
an nicht mehr bedeutend verändert. Man 
konstatiert zwar noch ein Wachstum der Ober¬ 
schenkelknochen, allein die Verlängerung 
wird durch die eintretende Krümmung der 
Wirbelsäule paralysiert. 

Es unterliegt wohl keinem Zweifel, dass 
den unter solchen Gesicht^unkten aufgenom¬ 
menen Messungsergebnissen ein gewisser 
spezifischer kennzeichnender Wert für das 
einzelne Individuum zukommt und es gestattet, 
insbesondere die mit der Zeit erreichbare 
Präzision in den Resultaten der Messungen 
Bertillons die Behauptung aufzustellen, dass 
schon das Resultat der Messungen allein ge¬ 
nüge, um im konkreten Falle Identität mit 
grossser Wahrscheinlichkeit zu behaupten, 
Nichtidentität jedoch mit Gewissheit auszu¬ 
sprechen. 

Der Hauptwert der „Bertillonage“ besteht 
aber in der Unterbringung der Messungen 
in ein auf anatowisch-anthropologischer Basis 
beruhendes System, das einen nie versagenden 
Registraturschlüsstl. an die; Haiod > giebL. 

Der belgische Gelehrte QuöteletJ stellte den 
Satz auf, dass alles, was lebt und sich bewegt, 
innerhalb gewisser Grenzen, zwischen einem 
gewissen Maximum und einem gewissen Mini¬ 
mum der Grösse vorkommt und. zwar so, 
dass die einzelnen Individuen in Hinsicht 
ihrer Grösse beispielsweise in den Extremen 
der Reihe am seltensten, gegen die Mittel¬ 
masse zahlceicher und am zahlreichsten in 
den Mittel- (Durchschnitts-) Massen sich 
wiederholen. 

So findet Bertillon z. B. in Hinsicht der 
Körpergrösse auf Grund eingehender statist¬ 
ischer Arbeiten und jahrelanger Erfahrung, 
dass in Frankreich unter 1000 Personen das 
Mittelmass der Körpergrösse 1650 mm beträgt, 
dass sich dieses Mass innerhalb eines Spiel¬ 
raumes von 5 mm nach oben oder unten 
sephzigmal wiederholt, während die je 10 cm 
nach oben oder unten von der Mittelgrösse 
abweichenden Masse von 1550 mm und 1750 mm 
unter demselben Tausend nur 22 mal, die 
Masse 1500 und 1700 mm sogar nur sechs' 
mal Vorkommen. 

Die Ergebnisse der Statistik lehren somit, 
dass das Mittelmass (der Durchschnitt) am 
häufigsten, die vom Mittel abweichenden Masse 
aber um so seltener Vorkommen, je näher 
sie den Grenzwerten liegen. 


Gestützt auf ein reichhaltiges Material und 
offenbar nach wiederholter sachlicher Durch¬ 
arbeitung zahlreicher Messungsergebnisse, hat 
Bertillon nun durch reichliche Erfahrung für 
jede Gattung von Massen gewisse Grenz¬ 
werte geschaffen, welche gestatten, die ge¬ 
wonnenen Resultate jeweils in drei Gruppen 
zu teilen, die mit klein, mittel und gross be¬ 
zeichnet werden. 

Durch die auf Grund der Statistik gewon¬ 
nenen Resultate gelang es Bertillon für Frank¬ 
reich die Grenzwerte so zu bestimmen, dass 
die drei Gruppen jedes Masses so ziemlich 
gleichviel Einzelmasse enthalten. 

Die Dreiteilung nach den Gruppen: klein, 
mittel und gross ist so gewählt, dass bei 
den Mittelgruppen die Grenzwerte ausserhalb 
der Fehlergrenzen liegen, wodurch vermieden 
werden soll, dass ein Mass einmal in die 
Gruppe klein, das andere Mal in die Gruppe 
gross eingereiht werden könnte. 

Vorerst ordnet Bertillon die Masse wie 
folgt: Kopflänge, Kopfbreite, linke Mittelfinger¬ 
länge, linke Fusslänge, linke Vorderarmlänge, 
Entfernung der Jochbogen und Ohrlänge und 
diene für die Art der Registrierung der auf¬ 
genommenen Signalemente nachstehende An¬ 
nahme als Beispiel: 270000 Signalemente von 
Männern teilen sich nach den Kopflängen in 
drei Gruppen von 90 000 Signalementen mit 
kleiner, von 90 000 mit mittlerer und 90 ooo 
mit grosser Kopflänge, jede dieser Gruppen 
zerfällt nach der Kopfbreite in 3 Gruppen 
von 30 000 Signalementen mit kleiner, 30 000 
mit mittlerer, bezw. 30 000 mit grosser Kopf¬ 
breite, eine gleiche Dreiteilung in 3 Gruppen 
von je 10000 Signalementen ergiebt die Drei¬ 
teilung nach dem linken Mittelfingermass; 
durch die Dreiteilung nach dem linken Fuss- 
masse erhält jede dieser Gruppen eine Unter¬ 
teilung in 3 Gruppen von je 3 300, während 
jede dieser Gruppen durch die Dreiteilung 
nach der Armlänge in 3 Gruppen von je 
I 100 Signalementen zerfällt. Die Entfernung 
der Jochbogen teilt jede dieser Gruppen in 
drei weitere Gruppen von je ca. 400 Signale¬ 
menten, während jede dieser Gruppen wieder¬ 
um nach der Körpergrösse eine Dreiteilung 
in Gruppen ä ca. 130 Stück, jede dieser Grup¬ 
pen von 130 Stück nach der Ohrlänge eine 
Dreiteilung in Gruppen zu je ca. 60 Stück 
Karten erfährt. 

Nach fünf Klassen der Augen zerfällt jede 
dieser Gruppen in 12 Signalemente, weiche 
hinwiederum nach der Armspannweite eine 
Dreiteilung erfahren, so dass die am einzelnen 
zu identifizierenden Individuum in der letzt- 
bezeichneten Reihenfolge abgenommenen Masse 
leicht auf die bezüglichen bereits früher schon 
abgenommenen Messungsergebnisse bezw. auf 


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7i8 


Das Bertillonsche System zur Personenfeststellung. 


SIGNALEMENTS-KARTE. 

Deutsches Formular nach Professor von Sury. 
A. Vorderseite. 

I. — Anthropometrische Meldungen. 


K. Höhe I m 

'S ^ Länge. 

L. Fuss 

La 

No. d. CI. 

Alter 

R. KrOmmg. 

^ \ Breite 

L. Mittelfing. 


Inn. Zone 

geb. d. 

Spannw. m 

2 1 Länge 

L. kl. Fing. 

1» . 
•P 

Äuss. Zone 

in 

Sitzhöhe o, 

0 

aj ' Breite 

L. Unterarm 

u 

ti 

Besond. 



II. — Beschreibende Meldungen. 


. Inclin.. 


N. wurz (Cavit.) 


Randa.a. o.a., h.a. b.o. .. 

j Höhe 

1 ) 

Rücken Basis 

u 

Läppch. c. , ad. ob. di.. 

) Breite 

ca ' 

HöheVorsprg.Breit. 


A. trag. i. p. u. d. . 
Falte u.,., ob. a.f. ab. 

1 


.1 .1 ••• - 

* Besond. 


'Besond. 


^Besond. 


Bart 2 / Pigm. 

Haar ?\Blutf. 

.o 

Korpul. Scheiiib. Alt. 
And. charakt. Kcnnz.: 


III. — Meldungen, betr. die Messungen, besond. Merkmale und Narben. 


1 

III. 






IV. . 



II. 



V. 


1 

1 


VI. .! 




i 


1 


Sig. d. Stadt. Polizeidircktiuii Bern, .lufg. dt n .1Ö9 . von 


13 . Rückseite. 


vVä 


Name u. Vorname: . 

Uebernalimc u. falscher Name:. 

Geb. den.i8 , in 

Sohn des . und der 

Beruf: . letzter Aufenthaltsort: 

Ausweisschriften: 

Beziehungen: 

MiliWrdienst: 

Vorstrafen, ilire Zahl: .^. 

Ursache und Ort der früheren Kinspcrrnng: 

Ursache d. gegenw. Inhaftierg., Bezcichng. d. strafb. Handlg.: 


Meldungen. 


(Die Origioalgrössy jeder Seite betragt i.|6 mm in der Höhe uud 14a mm iu der Breite.) 


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Oppenheimer, Synthetische Prozesse im Tierkörper. 


719 


die sogenannte Signalementskarte des ge¬ 
suchten Individuums führen, welche noch eine 
solche Fülle von Identifizierungsbehelfen ent¬ 
hält, dass diese Identifizierung mit Leichtig¬ 
keit rasch und sicher durchgeführt werden 
kann. 

Nachdem schliesslich die einzelnen Mess¬ 
ungen durch die Anzahl der möglichen Per¬ 
mutationen und durch den erreichbaren Grad 
ihrer genauen Ausführung rechnungsmässig 
allein schon die Unterscheidung einer unge¬ 
heuren Menge von Individuen gestatten, 
welche mit dem Grade der Genauigkeit sich 
vervielfacht, ist der kennzeichnende Wert der 
Messungsergebnisse allein schon ein ganz 
bedeutender. 

Die Masse selbst werden auf eigens be¬ 
druckten Kartons, in der Grösse von 146/142 
mm notiert und werden diese Kartons nach . 
dem obigen Einteilungsprinzipe in kleinen 
offenen Schiebladen, welche an ihrer Stirn¬ 
seite die Messbezeichnungen tragen, verwahrt. 
Machen die vorkommenden Fehler eine Nach¬ 
forschung in den Nachbargruppen notwendig, 
so wird selbe in einfachster Weise durchge- 
ftlhrt. Nebst dieser sogenannten anthropo- 
metrischen Serie besteht noch eine alpha¬ 
betische Serie, in welcher die Originalkarte 
alphabetisch eingelegt wird, während die um 
I cm längere"Abschrift der anthropometrischen 
Sammlung einverleibt wird. 

(Schluss folgt.) 


/ 

/ 

'' Synthetische’) Prozesse im Tierkörper. 

Vou Dr. Karl O pp-c n he im e r. 

ffarxd Qft — alles fliesst. Auch die Ge¬ 
schichte der induktiven Naturwissenschaft ist 
ein sprechendes Zeugnis für die Richtigkeit 
des alten heraklitischen Satzes, dass „nichts 
beständig sei als der Wechsel“. Alte, durch 
Jahrhunderte fest gegründete Dogmen müssen 
neuen fundamentalen Theoremen weichen, 
die ihrerseits sich wieder allmählich zum 
Dogma auswachsen, bis dann auch ihre Stunde 
geschlagen hat, bis man nachweist, dass auch 
sie nicht unfehlbar sind. 

Jahrzehnte hindurch hatte die Lehre von 
dem fundamentalen Unterschied des tierischen 
von dem pflanzlichen Organismus, wie sie 
Justus v. Liebig begründet hatte, die Wissen¬ 
schaft unumschränkt beherrscht: Die Pflanze 
hat einen aufbauend-reduktiven, das Tier 
einen spaltend-oxydativen Stoffwechsel. Die 
Pflanze nimmt die einfachsten Stoffe auf: 


’) Synthetische Prozesse nennt man in der Che¬ 
mie Vorgänge, bei denen kompliziertere Substanzen 
aus einfacheren sich aufbauen. 


Wasser, Kohlensäure, salpetersaure, schwefel¬ 
saure Salze der Alkalimetalle (Kalium, Natrium), 
des Calciums, Magnesiums, sowie deren phos¬ 
phorsäure Salze und Chlorverbindungen. 

Alle diese Stoffe sind nicht nur relativ 
einfach zusammengesetzt, sondern sie ent¬ 
halten auch meist soviel Sauerstoff wie 
möglich; sie sind mit Sauerstoff gesättigt. 
Will nun die Pflanze aus diesem spröden 
Material ihren Körper aufbauen, so muss sie 
diesen Stoffen Sauerstoff fortnehmen, sie redu¬ 
zieren. Die Pflanzen spalten aus ihrem Nähr¬ 
material Sauerstoff ab, sie atmen Sauerstoff 
aus. Des weiteren aber baut die Pflanze aus 
diesen einfachsten Körpern in ihren Zellen 
sehr viel kompliziertere Stoffe auf; ihr Stoff¬ 
wechsel ist also nicht nur reduktiv, sondern 
auch synthetisch. Die Pflanze fabriziert aus Koh¬ 
lensäure und Wasser die Kohlehydrate (Stärke, 
Zucker) und Fette, aus denselben Stoffen, so¬ 
wie dem Stickstoff der salpetersauren Salze, 
der Schwefel- und Phosphorsäure die Eiweiss- 
Stoffe, sowie zahllose andere hochzusammen¬ 
gesetzte Stoffe, die Pflanzengifte der Alkaloide 
etc. Anders das Tier. Das Tier führt seinem 
Organismus die komplizierten Produkte der 
Pflanzenzelle zu und spaltet sie zu einfacheren 
Körpern. Diese Spaltung geschieht zugleich 
unter Aufnahme von Sauerstoff, ist also oxy¬ 
dativ, ist eine Verbrennung. Gleichwie in der 
Feuerung des Dampfkessels die in der Kohle 
schlummernde latente Sonnenenergie vergan¬ 
gener Erdperioden zu neuem Leben erweckt 
wird, um Arbeit zu verrichten, so verbraucht 
die Kraftmaschine: Tier die von der mit ihm 
lebenden Pflanze aufgespeicherte Energie, ver¬ 
brennt sie, um sich Wärme und Kraft zu er¬ 
zeugen, Energie des Körpers und Geistes. 
Die Endprodukte seines Stoffwechsels sind 
wieder jene einfachsten, sauerstoffgesättigten 
Stoffe: Kohlensäure und Wasser, sowie an¬ 
organische Salze. 

Das ist im Umriss die Lehre vom Kreis¬ 
lauf der Elemente, der zugleich der Kreislauf 
der Energie ist: die Pflanze speichert die 
Sonnenenergie in sich auf, in ihren Produkten 
ist sie latent; das Tier macht sie wieder frei 
unter Erzeugung von Wärme und mechan¬ 
ischer Arbeit. Als unfehlbares Dogma schien 
diese Lehre die Naturwissenschaft zu be¬ 
herrschen — aber auch sie musste es sich 
gefallen lassen, dass man ihre schwachen 
Seiten aufdeckte, dass sich Ausnahmen von 
dieser grossen Regel herausstellten. 

Dass der Pflanzenstoffwechsel nicht aus¬ 
schliesslich reduktiv-synthetisch ist, hat man 
schon ziemlich früh erkannt: Auch die Pflan¬ 
zen, besonders deren Blüten, haben „tier¬ 
ischen“ Stoffwechsel, sie atmen Sauerstoff ein 
und Kohlensäure aus. 


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730 


Oppenheimer, Synthetische Prozesse im Tierkörper. 


Viel fester schien der zweite Fundamen¬ 
talsatz, die Lehre vom oxydativ-spaltenden 
Stoffwechsel der Tiere, zu stehen und der 
subtilsten Versuche der neueren Forscher hat 
es bedurft, um nachzuweisen, dass es auch im 
Tierkörper synthetische Prozesse giebt. 

Der tierische Körper scheidet nicht nur 
Kohlensäure und Wasser, in der Atemluft, 
aus. Er scheidet auch auf anderen Wegen, 
durch den Harn und durch den Kot, un¬ 
brauchbare Stoffe ab. Die Bestandteile der 
Exkremente enthalten nun das, was der Kör¬ 
per Oberhaupt aufzunehtnen verschmäht hat, 
unverdaute Massen; das sind also keine Stoff¬ 
wechselprodukte. Anders der Harn. Die Be¬ 
standteile des Harns sind vom Blute durch 
die Nieren abgeschieden, stammen also aus 
dem Inneren des Körpers, sind Stoffwechsel¬ 
produkte. Also sollten auch die Harnbestand¬ 
teile die letzten Oxydationsprodukte der auf¬ 
genommenen Stoffe, mit Sauerstoff gesättigt, 
sein. Da der Harn vor allem die Aufgabe 
hat, die Endprodukte der Eiweissverdauung, 
der stickstoffhaltigen Nahrung abzufOhren, so 
müsste er eigentlich vorwiegend Ammoniak, 
Schwefelsäure und phosphorsaure Salze ent¬ 
halten. Nun enthält aber der Harn eine An¬ 
zahl von Stoffen, welche nicht mit Sauerstoff 
gesättigt, die noch oxydationsfähig sind, also 
keine Endglieder des Abbaus, der Verbrenn¬ 
ung darstellen. 

Solche Stoffe können auf zweierlei Weise 
entstanden sein: entweder ist der Abbau nicht 
bis zu seinem Ende vorgeschritten, sondern 
bei einem Mittelgliede stehen geblieben; oder 
der Organismus hat die Stoffe thatsächlich 
bis zu Ende gespalten, indessen nicht diese 
Endglieder selbst ausgeschieden, sondern aus 
ihnen wieder höhere, komplizierte Stoffe syn¬ 
thetisch erzeugt und diese ausgeschieden. 

Beides kommt vor. So gut wie manche 
Stoffe überhaupt unverändert den Organismus 
passieren, wie z. B. durch den Mund aufge¬ 
nommene Oxalsäure, Phosphor u. v. a. un¬ 
verändert im Harn gefunden werden können, 
so werden andere teilweise gespalten und so 
ausgeschieden. 

Aber von besonderem Interesse ist der 
andere Fall, die Synthese im Tierkörper. Im 
Harne vielet Tiere, namentlich der Pflanzen¬ 
fresser, findet sich eine Substanz, der man 
den Namen Hippursäure gegeben hat. An 
ihr ist zuerst der Nachweis synthetischer Vor¬ 
gänge im Tierkörper geführt worden. Schon 
1824 hatte Wöhler entdeckt, dass in den 
Organismus eingeführte Benzoesäure im Harn 
als Hippursäure wiedergefunden wird. Die 
Hippursäure lässt sich nämlich spalten in 
Benzoesäure und Glycocoll] und aus diesen 
Substanzen auch wieder aufhauen. Das Glyco- 


coli oder Amidoessigsäure ist erhältlich durch 
Kochen von Leim mit verdünnten Säuren. 
Erhitzt man diese beiden Stoffe mit einander, 
so entsteht Hippursäure. Eine ähnliche Syn¬ 
these vollzieht nun der Organismus. Wird 
ihm Benzoösäure in seiner naturgemässen 
Nahrung (in vielen Pflanzen) oder künstlich 
zugeführt, so sucht sich die Benzoesäure im 
Organismus die wahrscheinlich als Spaltungs¬ 
produkt der Eiweisskörper dort vorhandene 
Amidoessigsäure auf und vereinigt sich mit 
dieser stets, absolut regelmässig, zu Hippur¬ 
säure. Das Glycocoll ist sonst im Organis¬ 
mus niemals nachzuweisen, weil es weiter 
oxydiert wird, und weder im Blute, noch in 
den Geweben existenzfähig ist. Der Ort, an 
dem sich diese Synthese vollzieht, ist nach 
den glänzenden Versuchen von Schmiede¬ 
berg und Bunge die Niere. Sie Hessen 
frisch ausgeschnittene Nieren von einem 
Strome Blutes durchfliessen, dem sie Benzoe¬ 
säure und Glycocoll zusetzten und in dem 
ausfliessenden Blut fand sich Hippursäure. 
Die „überlebende“ Niere hatte sie gebildet. 

Die wichtigste Synthese ist die des Harn¬ 
stoffes. Die eigentlichen Endprodukte der 
Eiweissverdauung sollten Kohlensäure und 
Ammoniak, resp. ihr Salz, kohlensaures Am¬ 
mon sein. Statt dessen scheidet der Körper 
durch die Niere den Harnstoff aus, der aus 
diesen Komponentendurch Abgabe 
von Wasser entsteht. Teleologisch muss das 
so sein, da kohlensaures Ammon ein Gift fbr 
die Gewebe ist, während Harnstoff völlig 
reizlos ist. Es lag nahe, zu glauben, dass 
der Harnstoff, da er in der Niere abgeschie¬ 
den wird, auch in der Niere aus kohlensaurem 
Ammon entsteht. Dies ist indessen nicht der 
Fall, da nach Entfernung der Nieren die Harn¬ 
stoffbildung fortdauert. Auf dieselbe Weise, 
wie für die Hippursäure Hess sich auch für 
den Harnstoff der Ort seiner Synthese direkt 
nachweisen. Schröder leitete Blut, das 
kohlensaures Ammon enthielt, durch die Leber 
eines Hundes und konnte den Harnstoff im 
ausfliessenden Blute direkt nachweisen. Da¬ 
mit war gezeigt, dass in der Leber aus kohlen¬ 
saurem Ammon Harnstoff gebildet werden 
kann. Ob das wirklich stets so geschieht, 
war eine andere Frage. Freilich wurde durch 
teilweise Ausschaltung der Leber aus dem 
Kreislauf — die völlige gelingt bei Säuge¬ 
tieren nicht — die Harnstoffausscheidung 
vermindert, die Ammoniakausscheidung im 
Harn dagegen vermehrt gefunden, desgleichen 
bei schweren Erkrankungen der Leber, so 
dass es sehr wahrscheinlich ist, dass that- 
sächlich der Harnstoff in der Leber synthetisch 
erzeugt wird. 

Die Rolle des Harnstoffes bei den Säuge- 


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Betrachtungen und kleine Mitteilungen. 


7ai 


tieren vertritt bei den Vögeln die Harnsäure, 
die aber ebenfalls, wenn auch in geringer 
Menge, im Harn der meisten Säuger vor¬ 
kommt. Auch sie ist ein Spaltungsprodukt 
der Eiweisskörper, auch sie ist aber nicht 
völlig oxydiert, sondern noch fähig, Sauer¬ 
stoff aufzunehmen. Für sie ist es durch 
Minkowski im höchsten Masse wahrschein¬ 
lich gemacht, dass sie aus Ammoniak syn¬ 
thetisch entsteht, und zwar auch in der Leber. 
Es gelang ihm, bei Gänsen die Leber völlig 
aus dem Kreislauf auszuschalten, was bei 
Vögeln möglich ist; und während nun die 
Hamsäureproduktion fast gleich Null wurde, 
stieg der Gehalt an Ammoniak sehr bedeutend. 

Noch eine andere sehr wichtige Synthese 
findet in der Leber statt. Eine der Haupt¬ 
quellen der Körperenergie sind die Kohlen¬ 
hydrate (Stärke u. dgl.) Sie werden im Darm 
zu Zucker gespalten. Nun kann aber das 
Blut den Zucker, da er ein Gewebsgift ist, 
nicht halten, sondern muss ihn entweder ab- 
geberi oder sofort weiter verbrennen oder in 
eine unschädliche Form bringen. Das erste, 
die Abscheidung durch den Harn tritt nur 
bei plötzlicher Überschwemmung des Blutes 
mit - Zucker oder bei der Zucke'rharni%hr 
(Diabetes mellitus) ein. Das zweite, die Ver¬ 
brennung muss sich auch in gewissen Grenzen 
halten, und so werden denn die Überschüsse 
anderweitig unschädlich gemacht, . Däs ge¬ 
schieht vielleicht auch durch Bildung von 
Fett, sicher aber in der Leber, indem dort 
der Zucker synthetisch in ein komplizierteres 
Kohlenhydrat, das Glycogen umgewandelt 
und dort aufgespeichert wird. Das Glycogen 
ist ein Kraftreservoir, das bei Zeiten unge¬ 
nügender Ernährung verbraucht wird; das 
hungernde Tier verbraucht sein Glycogen, 
das sich übrigens auch in den Muskeln findet, 
fast völlig. Tritt wieder ausreichende Er¬ 
nährung ein, so wird es neugebildet 

Auch die Aufnahme der Eiweissstoffe findet 
durch einen synthetischen Prozess statt, über 
denindess noch keine völlige Klarheit herrscht. 
Im Darm werden die Eiweissstoffe in Peptone 
verwandelt, die sich von den Eiweissstoffen 
dadurch unterscheiden, dass sie beim Kochen 
nicht gerinnen, und wahrscheinlich einfacher 
konstituiert sind. Aber schon in den vom 
Darm abführenden Blutgefässen, ätx Pfortader, 
ist keine Spur der Peptone mehr nachzu¬ 
weisen, sondern wieder Eiweissstoffe, so dass 
man zu der Annahme genötigt ist, dass die 
Rückverwandlung der Peptone in Eiweiss, 
also eine Synthese, von den Zellen der 
Darmwand ausgeübt wird. 

Man kennt noch einige andere synthe¬ 
tische Prozesse im Tierkörper, so die Bildung 
der Phenyl- resp. Indoxylschwefelsäure, bei 


denen sich freie Schwefelsäure mit Phenol 
resp. Indoxyl, Fäulnisprodukten des Eiweisses 
synthetisch vereinigt etc., indessen würde uns 
ihre Besprechung hier zu weit führen. 

Über die Kräfte, die diese Synthesen be¬ 
wirken, ist ein dichter Schleier gebreitet. 
Was der Mensch im Laboratorium durch 
Hitze, Druck und vor allem durch Entziehung 
von Wasser bei seinen Synthesen vollbringt, 
das, und noch viel mehr, was der Chemiker 
nicht kann, bewirken die winzigen Zellen ohne 
Hitze, ohne Druck- bei reichlicher Anwesenheit 
von JVasser. Doch all diese Rätsel sind nur 
ein winziger Bruchteil des einen grossen 
Rätsels, des Lebens. Und je mehr wir schein¬ 
bar in seine Geheimnisse eindringen, desto 
verwirrender in ihrer Mannigfaltigkeit, desto 
schwieriger zu lösen werden seine Knoten, 
desto riesenhafter ragt das „Ignorabimus?“ — 


Betrachtungen und kleine Mitteilungen. 

Die relative Bewegung der Erde zum Äther. 
Zur Erklärung der Aberration des Lichts hatte 
Fresnel angenommen, dass der Äther in Ruhe 
ist und dass die sich durch dieses Medium bewe¬ 
gende Erde demselben keinen merklichen Teil ihrer 
Bewegung mitteilt. Miciielson hat die Theorie 
verschiedenen experimentellen Prüfungen unterzogen 
(zuletzt American Journal of Science 1897, Ser. 4, 
Vol. III) jedoch stets negative Resultate t^kommen. 
Man hat daher zur Zeit die Wahl zwischen folgen¬ 
den 3 Theorien: i) Die Erde geht durch den Äther 
(oder vielmehr lässt den Äther durch ihre ganze 
Masse gehen) ohne merklichen Einfluss; 2) die Länge 
aller Körper wird verändert durch ihre Bewegung 
im Äther, 3) die Erde führt bei ihrer Bewegung 
den Äther mit sich bis auf Entfernungen von vielen 
tausend Kilometern über ihre Oberfläche. 

Nftturwissenschaftl. Ruadsch&u, 18. Septbn 1897 

« • 

• 

Auf Herstellung künstlicher Rubine haben 
sich die Herren Gin und Leleux ein Patent ge¬ 
nommen. Sie verdampfen eine Mischung von 
Thonerde und Chromoxyd im elektrischen Ofen 
und führen die Dämpfe unter Einführung von 
feuchter Luft und Salzsäure in eine Kondensations¬ 
kammer, wo sich die Rubine niederschlagen. (D. R.- 
Patent No. 93308). — (Die Herstellung künstlicher 
Rubine ist schon lange bekannt, nur fielen dieselben 
sehr klein aus. Erst dem verstorbenen französischen 
Chemiker Fr^my ^lang es durch einen Schmelz¬ 
prozess grössere Exemplare zu erzielen. — Wir 
halten es durchaus nicht für eine Unmöglichkeit, 
dass einst die künstlichen Rubine in erfolgreiche 
Konkurrenz mit den natürlichen treten. — Die Redakt.) 
# % 

Der Phonograph dient in Spuüen, wo das 
Telephon vielfach an Stelle des Telegr^hen für 
den Depeschenverkehr benutzt wird, als Depeschen- 
empfänger und soll sich als solcher gut bewähren. 
Während die Aufhahmebeamten die gesprochenen 
Depeschen nicht schnell genug transkribieren konnten, 
bietet die Übertragxmg vermittelst des Phonographen 
gar keine Schwierigkeiten mehr und die Aufgabe- 


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722 


Betrachtungen und kleine Mitteilungen. 


stelle kann ihre Depeschen kontrollieren, da der 
Phonograph dieselben fiir diese hörbar wiederholt. 

Science, 3. September 1897. 


^ ln dem soeben ei;schienenen Jahresbericht Ober 
die Verwaltung des Medizinalwesens und die öffent¬ 
lichen Gesundheitsverhältnisse der Stadt Frank¬ 
furt a. M., {40. Jahrgang 1896) finden sich einige 
Zahlen, die so eklatant für die Wirkung des 
Diphtherieheilserums sprechen, dass jegliche Kritik 
überflüssig ist. Die brutale Gewalt der Zahlen 
spricht deutlich genug. Lässt man das Jahr 1894 
ais das Jahr, in welchem die Serumbehandlung der 
Diphtherie begonnen, aber noch nicht völlig durch¬ 
geführt wurde, ausser Betracht, so ergiebt sich für 
die Stadt Frankfurt a. M. folgende Zusammenstellung: 

Es starben an Diphtherie 


im Jahre 

1892 auf je 

100000 

Lebende 

140,4 

n » 

1893 e 

1(X>000 

M 

131.8 

0 II 

1895 « 

100000 

0 

27,01 

>9 9 f 

1896 „ 

100000 

M 

18,51 


Der Vergleich der Mortalität mit der Zahl der 
polizeilich angemeldeten Diphtherieerkrankungen 
ergiebt folgende Zahlen: Ädt. 

im Jahre 1892 85oFällemit264Todesfäilen=3i, % 

„ „ 18931120 „ , 2^ „ =23.0% 

„ • „ 18951068 „ „ 61 • „ = 5.7 ^ 

„ „ 18^ 729 „ „ 43 „ = 5.9 *! 

Ein Sinken der Mortalität also von 31 % bis auf 
5.9 % ! 


M. 


Ein französisches Urteil über das deutsche 
/ Gewerbe. Die „Revue des Arts döcoratifs“ machte 
unlängst ihren Mitarbeitern einige Auszüge aus den 
Berichten zugänglich, welche der Figaro aus der 
Feder' des früheren französischen Handelsministers 
M. Jules Roche veröffentlicht hat. „Es kann", 
heisst cs da, „von einer blos drohenden Gefahr für 
das französische Kunstgewerbe durch den deutschen 
Wettbewerb nicht mehr die Rede sein. Die Gefahr 
ist eine thatsächlich vorhandene, wie jeder bemerken 
kann, der nur ein wenig die Augen aufthut und 
sich nicht an der leichtfertigen Art genügen lässt, 
mit welcher ein Teil der französischen Tagespresse 
die zweifellos vorhandenen Mängel der Berliner 
Gewerbe-Ausstellung zu behandeln geruhte. Die 
Berliner Ausstellung hat trotz der Mängel einen 
sehr entschiedenen Bew’eis dafür geliefert, dass sich 
das deutsche Gewerbe in einer siegreichen Vor¬ 
wärtsbewegung befindet. Die handgreiflichen Be¬ 
lege für diese Thatsachc finden wir in folgenden 
Angaben des Herrn Roche: Vor 15 Jahren war 
unsere wirtschaftliche Kraft der deutschen no<ph 
überlegen. Das Jahr 1880 bildete einen Wende¬ 
punkt in der Geschichte der französischen National¬ 
ökonomie. Wir hatten damals schon einen geringen 
Rückgang zu verzeichnen, doch belief sich unser 
Aussenhandel noch auf 8 Milliarden 501 Millionen, 
während Deutschland 7,351 Millionen verzeichnete, 
also 1150 Millionen weniger als wir. Damals nahm 
England die erste, Frankreich die zweite, Deutsch¬ 
land aber erst die vierte Stelle im Welthandel ein; 
vor Deutschland rangierten noch die Ver. Staaten 
von Nordamerika mit 8,240 Millionen Export. 
Jetzt aber steht DeuUchland an zweiter Stelle, es 
hat Frankreich und die Vereinigten Staaten gleich¬ 
zeitig aus dem Felde geschlagen und die Reihen¬ 
folge des Jahres 1895 lautet: England mit 16,228, 
Deutschland mit 9105, Nordamerika mit 7697 und 
Frankreich mit 7093 Millionen Export. Während 
der Gesamthandel der Welt etwa um 20 Millionen 
vorgeschritten ist, hat Frankreich iVi Milliarden 


verloren und Deutschland hat mehr als diese Summe 
gewonnen. Und immer noeb- verdoppelt Deutsch¬ 
land seine Anstrengungen, besonders m der Metall¬ 
industrie, in der Weberei, in Leinwand, Jute, Baum¬ 
wolle, Spitze, Keramik u. s. w. Es herrscht überall 
in Deutschland ein Geist der Thatkraft, der Unter- 
nehmun^lust und des Wagemuts. Die Bergwerke, 
die Hoenöfen, die Webereien und Spinnereien der 
Deutschen sind dermassen beschäftigt, die Aufträge 
so zahlreich, dass man unausgesetzt bemüht ist, 
die Einrichtungen und die Ausnutzung der Kraft 
zu vervollkommnen. Man CTcbt ungeheure Summen 
aus, um die Aufträge zu effektuieren und die Preise 
billig zu stellen. Manche grosse Unternehmungen 
sind von Grund auf mit neuen Elektromotoren ver¬ 
sehen worden, welche die Dampfkraft vollständig 
ersetzen. Die Deutschen zögern keinen Augenblick, 
derartige Verbesserungen durchzuführen, weil sie 
sehr wohl wissen, dass man säen muss, wenn man 
ernten will. Täuschen wir uns also nicht länger: 
unser nationaler Wohlstand ist an seiner Wurzel 
bedroht, wir können uns nicht mehr mit der mass¬ 
igen Ausrede trösten, dass Deutschland durch seine 
Steuerlast bankerott werden muss." 

* • 

• 

* Eine Fischkonservienings • Methode, die im 
nördlichen Schweden gebräuchlich ist, beschreibt 
M. Moerner. Danach wird der frisch gefangene 
Fisch gereinigt, gewaschen, in hölzerne Fässchen 
gepackt und mit Salzlake bedeckt. Die Fässchen 
werden hermetisch verschlossen im Freien der 
S<«me fünf bis sechs Wochen ausgesetzt Eine 
kleine Öffnung gestattet es, die nun eintretende 
Gährung zu beobachten; wenn dieselbe zu stark 
wird, werden die Fässchen in den Schatten oder 
an einen frischen Ort gebracht. Ist der gewünschte 
Gra<f der Gährung erreicht, so werden die Fäss¬ 
chen geöffnet und der Inhsüt zur Aufbewahrung in 
kleinere Behälter und für den Verkauf gefüllt. Der 
so behandelte Fisch wird entweder rim oder ge¬ 
röstet gegessen; man nennt ihn surfisk. Seine Her¬ 
stellung verursacht recht unangenehme Gerüche. 

ZeitschriA fOr physiologische Chemie. 


Nach Versuchen, die Rubner und v. Lewa¬ 
sch ew angestellt haben, (Archiv f. Hygiene 1897, 
Band XXIX) erscheint bei niederer Temperatur 
(14—15® C.) trockene Luft behaglicher als feuchte; 
bei 24—29* C. empfindet man beim Luftwechsel 
die trockene kühler als die feuchte; diese Temper¬ 
atur wird bei grosser Lufttrockenheit durchaus gut 
ertragen, sichtbarer Schweiss zeigte sich erst bei 
29« C. und 22% relat. Feuchtigkeit; bei grosser 
Trockenheit und Wärme stellten sich Trockenheit 
der Augen und der Nasenhöhle ein, die aber das 
allgemeine Wohlbefinden nicht wesentlich beeinträch¬ 
tigten. Feuchte Luft (9696 relat Feuchtigkeit) 
machte schon die Temperatur von 24 ® C. auf die 
Dauer unerträglich und der Versuch war nur bei 
vollkommener Muskelruhe möglich; starke Schweiss- 
absonderung trat nicht auf, wohl aber Durstgefühl. 
Die Zahl der Atemzüge nahm in trockener Luft 
ab und stieg in feuchter Luft. 

Naturwisscnschaäl. Ruudschau, i8. Septbr. 1897. 


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Leo Berg, Slax Halbc’s Mutter Erac. — Dr. P. Halm, Josef 
Sattler (Schluss). - Hertillon» System lur Pcrsoucirfeslstellung 
(Schluss). - Die Industrie des k.imphers in Japan und China. 


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agner’s Ring des Nibel- 
^^rrr^!^r^^rIauterP7mj^^«enb3^ 

spielen von A. Poch- 
hammer. Preis: eleg. gebd. M. a —. 


Dr. Hugo Riemann 

Präludien und Studien. 

Gesammelte Aufsatze aber Musik. 
Preis: broch. M.5.—. geb.(eleg.hlbfz ) M.6.sOk 


Demnächst erscheint: 

Johannes Brahms, 

sein Leben und seine Werke 
von Prof. Jwan Knorr, Dr. Hugo Riemann. 
Carl Beyer, A. Morin u Rieb. Heuberger. 
Preis geb. M 5.—. 




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7»4 


ÄMZeiGEN. 


Preisausschreiben. 

Um die grOndliche Behandlung einer Frage, die wie keine zweite auf allgemeine Bedeutung An* 
Spruch erheben kann, anzuregen, hat sich die Umschau entschlossen, das Thema 

Was ist Bildung? 

zur aOgemetnen Diskussion zu stellen und zum Gegenstand einer Preiskonkurrenz zu machen. 

Ausgesetzt sind drei Preise: 

Erster Preis M. loo. —, Zweiter Preis M. 75. — , Dritter Preis M. 50. — , 
weldie ftlr die drei besten Aufsätze über genanntes Tliema zur Auszahlung kommen. 

Preisrichter sind die Herren 

Professor Dr. Friedrich Ratzel in Leipzig, Professor Dr. Alwin Schnitz in Prag, 
Professor Dr. Max Verwom in Jena. 

Die zur Konkurrenz bestimmten Arbeiten dürfen den Umfang von 4 Druckseiten der Umschau 
nidit überschreiten und müssen in deutscher Sprache abgefasst sein. l 3 ie Manuskripte müssen lesbar ge* 
schrieben sein und sind bis zum 15. November d. J. an die Redaktion der Umschau, Frankfurt a. M., Neue 
Kräme 19/ai einzusenden. 

Der Name des Verfassers darf auf dem Manuskript selbst nicht angegeben sein, sondern 1 ist auf 
einem besonderen Zettel in verschlossenem Couvert anzubringen; Manusknpt und Couvert müssen mit 
einem gleichen Kennwort bezeichnet sein. 

Die preisgekrönten Arbeiten gelten als zum Abdruck in der Umschau erwarben und gelangen am 
Anfang des Jahres 1898 zur Veröffentlichung. 

Zur Rücksendung von Manuskripten wird nur soweit Verpflichtung übernommen, als das Porto 
dafhr beflißt. 

Das 'Ergebnis der Preiskonkurrenz sowie die Verfasser der preisgekrönten Arbeiten werden in 
der ersten Nummer des II. Jahrgangs der Umschau vom i. Januar 1898 mitgeteilt. 

Frankfurt a. M., Ende September 1897. 

Verlag und Redaktion der „Umschau'* H. Bechhold Verlag, 
Neue Kräme 


Baumg&rtner’s Buchhandlung, Leipzig. 

Ab jwerluant Cr«fRiche Lehr- und Hafldbflcher der Mechanik, insbenondere auch 
Air den Selbatuoterricht empfohlen: 


Lehrbuch der Technischen Mechanik 


von August Ritter, Dr. phil.. 

Geh. Re^ierungArath und Professor an der Königl. Technischen Hochschule zu Aachen. 
Siebente Auflage. Mit 86 t /fhtHäungen. 1896 brach. 18 M., gebd. no H. 

Zur Zeit das verbreitetste Lehrbuch Ober Technische Mechanik. 


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der chemischen Technik 

von Alwin Parnlcke (vorm. Oberinge¬ 
nieur a.d. Chemischen Fabrik Griesheim). 
337 Abbildungen. Preis: gebd. M. la—. 


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Professor der Physik am Technical College in London. 

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chemischer Präparate, 

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ganischen Chemie von Prof. Hugo 
Erdtnann. Preis: gebd. M. a.50. 

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tungs-und Artoamen der Käfer des deut¬ 
schen Faiinengebiets von S. Schenkling. 
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Technikern und Industriellen 
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DIE UMSCHAU 

ÜBERSICHT ÜBER DIE FORTSCHRITTE UND BEWEGUNGEN AUF 
DEM GESAMTGEBIET DER WISSENSCHAFT, TECHNIK, 
LITTERATUR UND KUNST 

hcrAusgcgeben von 

dr. j. h. bechhold. 


Wficheotlich eine Nummer. 

Zu beziehen durch 
alle Buchhandlungen und 
Postanstalten. 
l ostzeituogsprcislistc No. 7391a. 

Verlag von: 

H. Bedihold Verlag, Frankfurt a. M. 


Neue Krame 19121. 


Preis vierteljährlich 
M 9.50. 

JahreS'Abonnement 
Preis M. 10.— 

Im Ausland nach Coura. 
Verantwortlicher Redakteur: 

Otto Adolf Wolters, Frankfurt a. H. 


41. 1. Jahrg.- 


Naehdruck etwa d*tH Jnhaii dtr Z»Hachr\fi ttkut Erlatitni» 
ätr BtdaJthoH vrrbottn. 


1897. 9. Oktober. 


Max Halbes Mutter Erde.^) 

Von Leo Berg. 

Max Halbe gehört zu den sympathisch¬ 
sten und liebenswürdigsten Persönlichkeiten des 
Jungen Deutschland. Als er vor vier Jahren, 
mit seiner „Jugend“ einen grossen Triuniph er¬ 
lebte, hatte er keine Neider, und als er dann 
zweimal hintereinander abfiel, keine Gönner 
seines Schicksals gefunden. Sein jüngstes Werk 
„Mutter Erde*', (aufgeftihrt zum ersten Male 
am 18. September im Deutschen Theater zu 
Berlin), hat ihm nun das launische Theaterglück 
wiedergebracht. Und dieses Drama hat Beide 
enttäuscht, die, welche seiner Entwicklung, 
trotz alledem, skeptisch gegenüberstanden und 
die, welche auf ihn gehofft, wie kaum auf 
einen Zweiten. Halbe hat sich wohl ent¬ 
wickelt, wie sein vorletztes Werk, „Lebens¬ 
wende“, bereits zeigte. Diese Entwicklung 
bezieht sich aber vornehmlich auf den dich¬ 
tenden Menschen, nicht auch auf den Drama¬ 
tiker. Halbe ist reifer, freier, menschlicher 
grösser geworden, aber über das Zuständlich- 
Idyllische ist er noch nicht wesentlich hinaus¬ 
gekommen, wenn auch gerade seine „Mutter 
Erde“ sehr starke dramatische Ansätze hat. 

Über die Zustands-Dramen der deutschen 
Realisten kann man im Allgemeinen nicht 
referieren wie über Handlungs-Dramen. Denn 
es passiert meist nichts, es entwickelt sich 
nichts, man will hier meist oft nichts als 
den Augenblick geniessen oder in Ruhe 
gelassen sein. Die Dramen sind Idyllen, 
zuweilen mit tragischem Ausgange. Die 
„Jugend“ war kein Liebesdrama wie etwa 
„Romeo ;und Julia“, es siegte nicht das Drama, 
sondern das Stück Jugendpoesie, das in ihm 
lag, die Frühlingssonne, die es durchleuchtete. 

„Mutter Erde“ aber hat wohl einen dra¬ 
matischen Zug. Es ist eine Abrechnung im 

’) Das Buch ist im Verlag von Georg Bondi in 
Berlin erschienen. Preis M. 2. 

UBcchu 1897. 


Grossen mit dem, was man zuweilen das 
Moderne nennt, exemplifiziert an einem Bei¬ 
spiele, der Frauenemarizipation, und es wäre 
sogar ein starkes Drama geworden, wenn 
es Halbe gelungen wäre, einen männlichen, 
einen wollenden Charakter zu schaffen. 

Der alte Gutsb.esitzer Warkentin ist 
plötzlich am Herzschlage gestorben. Sein Sohn, 
den er gerade vor lo Jahren aus dem Hause 
gejagt hatte, weil er sein MündeT Antoinette 
nicht heiraten wollte, und der dem alten Trotz¬ 
kopfe die Stirne bot, ist hmmgekehrt. Und 
in Pauls Seele wird Heimat, Jugend und 
Vater wieder lebendig. Er hatte in der grossen 
Stadt gelebt, fern von der Natur, er war in 
die Gewalt eines Weibes geraten, das unter 
dem Vorwände der gleichen Freiheit, des 
gleichen Rechts ihn in ein furchtbares Ehe¬ 
joch gespannt hatte, er hat sich an fremde 
Interessen verloren, ist Herausgeber einer 
Zeitung für moderne Frauen-Bewegung ge¬ 
worden, während der Künstler, der in ihm 
steckte, der frische, freie starke Mensch voll¬ 
ständig zermalmt wurde. Die Art des Bruches 
zwischen Vater und Sohn, die Natur des 
Vaters selbst wird uns nur bruchstückweise 
und ungenügend mitgeteilt. Dieses Moment 
stark hervortreten zu lassen, wäre des Drama¬ 
tikers beinahe wichtigste Aufgabe gewesen. 
Auch die Natur des Weibes, das in 
Gesellschaft eines läppischen und schma¬ 
rotzenden Freundes, des Polen Dr. v. Glys- 
zinski, mit auf das Gut Ellernhof kommt, 
lernen wir nur sehr oberflächlich kennen; 
ihre Charakteristik ist sehr allgemein ge¬ 
halten. Man sieht nicht, wie diese nüchterne, 
herzlose, rohe und langweilige Person es zu 
Stande gebracht, Paul zu fesseln, seine Mann¬ 
haftigkeit zu brechen. Hier motivieren sich 
zwei Hauptmotive gegenseitig; der Bruch mit 
dem Vater die Ehe, der Verkehr mit dem 
Weibe den Bruch, d. h. es folgt wohl eines 
aus dem Andern, aber alles aus dem, was 

41 




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7*6 


Berg, Max Halbes Mutter Erde. 


wir zunächst motiviert sehen wollten, der 
Schwäche Pauls, welcher einst ein starkes 
Naturkind war. 

Unter den Kondolenzbesuchern auf dem 
Ellernhofe findet sich auch der Gutsbesitzer 
Heliodor von Laskowski, ein Schulfreund 
Pauls, mit seiner Frau ein, eben der Jugend¬ 
geliebten Antoinette. Und hier beginnt das 
Drama. Die Frau hat dem Helden die Treu¬ 
losigkeit nicht verziehen, sondern einen töt- 
lichen Hass gegen ihn genährt, einen Hass, 
der dämonisch sein soll, aber, wie die Stärke 
der Frau Hella, Rohheit ist. 

Wieder bringt es die Erscheinung einer 
Frau zum Bruch in seinem Leben. Ihm ist 
jetzt lebendig geworden, was er, seit er auf 
dem Gute ist, fühlt, dass er nicht mehr zu 
seiner Frau gehört. Aber wie sich denn auf 
seiner Waschlappigkeit diese ganze Tragödie 
aufbaut, ist seine Schwäche abermals der 
dramatische Anstoss. Paul ist nur ein Un¬ 
glücklicher, Ober den die Ereignisse herein¬ 
brechen können, gleichsam der dramatische 
Fallpunkt im Schauspiel. Aber dieses Wieder¬ 
finden ist, wenn wir von dem dramatischen 
Anlasse absehen, ein Stück hinreissender 
Poesie und sogar ein Stück Drama. Antoinettes 
Gebet ist erfüllt, Paul ist jetzt so unglücklich, 
wie sie es geworden, und zwar in Folge der¬ 
selben Treulosigkeit. Und sofort schlägt der 
Hass in Mitleid und das Mitleid in Liebe um. 
An solchen starken Seelenausbrüchen ist das 
Drama reich, sie sind das Dramatische in ihm, 
nur dass sie auf Kosten der Charakteristik 
geschehen. Ein Weib von so plötzlichen 
Gefühlsumschlägen, von so grossem Hasse 
und so grosser Liebe hat auch sonst noch 
grosse Züge. Die Leidenschaften kommen 
ihr und Paul gleichsam angefiogen, weil 
Halbe sie nicht von innen heraus darstellen 
kann oder will, sondern ihnen von aussen 
beikommen muss mit Hilfe einer Psychologie, 
die in der Luft schwebt. — Auch hier wieder, 
wie in so vielen modernen Dramen (Haupt¬ 
manns „Vor Sonnenaufgang“,Halbes „Jugend" 
und erst kürzlich WolzogensUnjamwewe), liegt 
eine Liebesszene im zweiten Akt, aber es ist kein 
Liebes-Idyll mehr, sondern eine Liebes-Tra- 
gödie: das Sich-Wiederfinden verlorener Ge¬ 
liebten, ein Wiederfinden nach der Schuld, und 
ein Wiederfinden, das abermals eine Schuld ist, 
ein zwiefach dramatisches Liebesmotiv. Hier 
reckt sich der Dramatiker in Halbe auf, an den 
man nun fast glauben darf. Seine „Jugend“ 
konnte nur die erfrischende Unbefangenheit 
eines Knaben schreiben, in dem aber ein 
ganzer Dichter steckte. Diese Szene jedoch 
verrät einen dichterischen Aufschwung, eine 
Kühnheit der dramatischen Leidenschaft, eine 
Grösse der Anschauung menschlicher Dinge, 


die, wenn sie zur Entfaltung kommt, Alles 
in den Schatten stellen wird, was seine mit 
ihm um den Sieg des modernen Dramas 
ringenden Genossen bisher nicht nur geleistet, 
sondern auch nur gewollt haben. Aber noch 
kann man nicht an die Menschen glauben, 
die diese Szene erleben. 

An den Dramatiker macht der dritte Akt 
wieder irre. Er ist ganz ausgefüllt durch 
einen Leichenschmaus; das dramatische Räder¬ 
werk ist wieder zum Stillstand gebracht in dem 
wichtigsten Augenblick der Entwicklung. Das, 
was sonst an den Anfang gestellt ist, die 
Darstellung des Milieu, die Einführung der be¬ 
stimmendengesellschaftlichen Motive erscheint 
plötzlich auf dem Höhepunkte des Dramas, das 
gewissermassen von neuem anfängt; wie denn 
die modernen Deutschen mit ihrer ewigen 
Stimmungs- und Situationsmalerei, mit ihrer 
zaudernden Motivierung und langsamen 
Charakteristik fast das ganze Drama zur Ex¬ 
position gebrauchen. Die Trefflichkeit der 
Szene selbst, die prächtig gezeichneten Typen, 
die feine Ironie, die über dem Ganzen schwebt, 
macht den schweren Kompositionsfehler nicht 
vergessen. Denn, wenn auch die Rohheit 
der Umgebung in den beiden Liebenden zu 
einem Entschlüsse führen muss und sie sich 
am Ende in die Arme treiben lässt, so ist 
doch die eigentliche Entwicklung um nichts 
gefördert. Was kommen musste, hat der 
zweite Akt bereits gegeben; das äusserlich 
Dramatische ist unbedeutend. Und nichts als 
die ausbrechenden Liebesschauer der Beiden 
ist dramatisch in dem ganzen Akte, dem aber 
sonst eine gewisse Urwüchsigkeit eigen ist. 

Der vierte Akt bringt die Auseinander¬ 
setzung der beiden Eheleute. Er ist für die 
Entwicklung der wichtigste und eben darum 
der schwächste. Interessant an ihm ist das 
Verhältnis des Dichters zur sogenannten 
Frauenfrage. Er steht hier etwa auf dem 
Boden Strindbergs. Wenigstens lässt er 
seinen Helden in ähnlicher Weise seine 
Empfindungen und Erfahrungen mit dem mo¬ 
dernen Weibe schildern wie der grosse 
Schwede in den „Gläubigern". Das Weib 
hat des Mannes Kraft gehemmt, hat sich seine 
Fähigkeiten angeeignet, hat ihn um Glück und 
Liebe betrogen und rechnet noch auf seinen 
Dank, weil sie den zum kleinen Kinde ge¬ 
machten nun schwesterlich oder mütterlich 
führen will oder sich einbildet, ihn bisher 
geführt zu haben. Aber, wie dürftig, wie öde 
ist diese Abrechnung zwischen Mann und 
Weib hier, verglichen mit dem psychologischen 
und dramatischen Meisterstücke Strindberg’s, 
das mit elementarer Gewalt ausbricht und 
dabei gesellschaftliche Perspektiven von un¬ 
endlicher Weite eröffnet. Bei Halbe kann 


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Berg, Max Halbes Mütter Erde. 


727 


an dieser Stelle nichts Neues mehr gesagt 
werden, da wir das Verhältnis schon seit dem 
ersten Akte genügend kennen; und das Dra¬ 
matische in dieser Szene besteht rein äusser- 
lieh darin, dass die beiden Eheleute jetzt so 
weit sind, dass sie sich ins Gesicht sagen, 
was sie vorher nur Anderen oder sich selber 
eingestanden haben. 

Der bedeutendste Aufschwung des Stückes, 
des Dichters und der ganzen jungen deutschen 
Dramatik ist der Sc/i/uss. Sie können zu¬ 
sammen nicht kommen, er, weil er zu schwach, 
sie, weil sie zu tief in den Banden der Kon¬ 
vention steht, und Beide, weil sie als fein 
organisierte Naturen sich vor dem Schmutze 
fürchten, durch den sie waten müssten. Aber 
sie können zusammen sterben. Und diese 
zusammenschlagende Todessehnsucht, dieses 
Aufjubeln in der Erlösung, diese plötzliche 
Überwindung all des Kleinlichen, Schwäch¬ 
lichen, Zerfallenen in ihnen, dieser Aufschwung 
über sich hinaus ins Grosse, Unbegrenzte, 
dieses Auflodern wilder, lange zurückgehal¬ 
tener mystisch-religiöser Kräfte, kurz dieser 
Heiterkeitsausbruch dem Tode geweihter Na¬ 
turen, das ist von einer wilden dramatischen 
Dämonie, von einer tragischen Urluststimmung 
eingegeben, die trotz dem zweiten Akte, der 
auf Grosses vorbereitete, so verblüfft, dass 
man fast um den besten Teil des Genusses 
kommt. Wer das empfinden, wer das auch 
nur wollen kann, der ist ein ganzer Kerl. 
Diese eine Szene hebt Halbe turmhoch über 
alle Modernen in Deutschland. Ich kenne 
nur einen neueren deutschen Dramatiker, von 
solch’ tragischer Dämonie, und das ist ein 
Musiker (Paul Geister). — 

Im Übrigen sind gerade in diesem Drama 
viele fremde Einflüsse zu verfolgen: Ohne 
Ibsen, ohne Strindberg, von dem ich schon 
sprach, und ohne Hauptmann, dessen dra¬ 
matischer Erstling einen nachhaltigen Ein¬ 
druck auf den Dichter geübt hat, ist „Mutter 
Erde“ nicht zu denken. Speziell Ibsens 
„Rosmersholm" ist vielfach nachgebildet. In 
beiden Dichtungen befinden wir uns auf einem 
alten Ahnensitze, dessen Geist und Lebens¬ 
gesetz aus den Rahmen der an den Wänden 
hängenden Bilder spricht, in beiden ein ver¬ 
feinerter und dekatenter Spross, der unter 
die fremden Gesetze eines stärkeren, aber 
roheren Weibes gekommen ist. Doch man 
vergleiche, mit welcher wunderbaren Feinheit 
Ibsen dieses Verhältnis darstellt, in welch 
menschliche Tiefen er uns führt und mit 
welcher raffinierten Dramatik er die Entwick¬ 
lung der gegebenen Verhältnisse leitet, wie 
er Schuld aus Schwäche und Schwäche aus 
Schuld treibt. Oder man vergleiche lieber 
nicht, wenn man dem jungen Dichter Un¬ 


recht nicht thun will. Am meisten reizt der 
Schluss beider Dramen zum Vergleiche. Bei 
Ibsen ist der Doppelselbstmord die notwen¬ 
dige Konsequenz der Charaktere, bei Halbe 
ein jähes Abspringen von seinem dramatischen 
Vorwurfe, mitten hinein in mythische Urvor- 
stellungen. Das Spukhaft-Symbolische bei 
Ibsen wird leibhaft. Ein neuer Siegfried und 
eine neue Brunhilde, reiten sie Beide auf 
ihre» Rossen in den Tod hinaus. Ein¬ 
gewirkt hat auch Zola, für dessen deter¬ 
ministische Tragik sein Roman „La terre“ 
gewissermassen den Schlussstein bildet. Die 
„Mutter Erde“, unsere menschliche Natur ist 
es, gegen die wir gesündigt haben, indem 
wir uns von ihr abkehrten und ein Leben 
gleichsam in der Abstraktion führten. Die 
Heimat Erde ist es, welche ihre mystischen 
Arme nach uns ausstreckt, das Heimatshaus 
selber, das unserem Bewusstsein plötzlich alle 
Gegensätze und Widersprüche unserer Natur 
verkörpert (eine Idee, die rein konventionell 
auch in Sudermanns „Heimat" zum Ausdruck 
kommt). 

Aber das Werk Halbes leidet an einer 
auffälligen Inkongruenz. Es hat seine positive 
und seine negative Seite, gleichsam seinen 
positiven und negativen Pol. Es weist hin 
zur Natur, zur Heimat, zur Kunst, zur Liebe, 
zu uns selbst, und weg von der modernen 
Verbildung,- von der Naturverkrüpplung und 
Herzensrohheit, von der Abstraktion der 
grossen Städte. Aber — heisst die positive 
Idee: Mutter Erde, so heisst die negative: 
Emanzipation von der Emanzipierten. Diese 
negative Idee ist eben so klein, wie jene 
positive gross, sie ist einseitig, jene universell. 
Positiv ist das Drama ein lyrischer Ausbruch, 
negativ eine Exemplifikation. In der Negative 
verengert sich die dramatische Idee, vereinzelt 
und verarmt sie sich. Hella ist blos die dra¬ 
matische Antithese zu Antoinette, das Ver¬ 
standes- zum Herzensweib, die Städterin zur 
Bäuerin, die Emanzipierte zur Unschuld vom 
Lande, und die gemüts- und geschlechtslose 
moderne Ehe zur Liebe. Die positive Idee 
ist unendlich grösser, in ihr ist Antoinette 
und die Liebe nur ein Ingredienz, während 
die negative durch Hella und ihre armselige 
Tendenz ganz ausgefüllt ist. 

Auch hier wieder kann man eine Bemerk¬ 
ung machen, zu der so viele moderne Dichter 
Anlass geben. Der dramatische Stoff und die 
dramatische Idee passen nicht zu einander. 
Der Stoff ist kleiner als die Idee. Ibsens 
dramatische Ideen in seinen mittleren Werken 
z. B. laufen wie in spanischen Stiefeln ein¬ 
her. Bei Halbe kommt noch dazu, dass seine 
Personen zu den Erlebnissen nicht passen. 
Sie sind ihm nur Sprungbrett zur Poesie, zur 

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728 


MOsebeck, Betrachtungen Ober den Orient. 


Tragik, sie lösen seine starke, aber verhaltene 
Lyrik aus und öffnen ihm den Mund. Die 
Charaktere sind nicht interessant, die Hand¬ 
lung ist nicht überzeugend, aber der Dichter, 
der hinter Beiden steht, ist beides. Wo er 
über ihnen hervorguckt, da wird das Stück 
gross, da bekommt es Perspektive und Tiefe. 

Es kommt dazu, dass Halbe durch die 
reservierte, fast möchte ich sagen negative 
Charakteristik seiner drei Helden dem Drama 
die Unmittelbarkeit nimmt. Sie entgleiten 
Einem, wann und wo man sie fassen will. 
Wir wissen, was sie unterscheidet, w’as jedem 
fehlt, um ein voller und glücklicher Mensch zu 
sein, und der Dichter will uns bereden, ebendas 
hätten sie besessen und sich gegenseitig ge¬ 
raubt. Wir kennen ihre Schwächen, wir hören, 
was sie nicht können, was ihnen unmöglich, 
was ihnen unerträglich ist. Wir begreifen, 
dass sie dann und dann und so und so re¬ 
agieren müssen, dass z. B. die Rohheiten 
beim Leichenschmause den Bruch in ihnen 
zur Vollendung bringen werden. Aber wir 
haben keinen bestimmten Eindruck von den 
Personen. Wo sie, wie in ihren Leidenschaften, 
gross werden, sind sie gleich so gross, so 
mächtig, dass wir ihre Schwäche vergessen 
müssen, sollen wirs glauben; und sind sie 
schwach, sind sie’s so sehr, dass jeder 
Aufschwung unmöglich scheint. — Auch 
künstlerisch ist ein Bruch im Drama, 
da der Dichter nach zwei verschiedenen 
und konträren Kunstmethoden gearbeitet hat. 
Die negative dramatische Idee hat er nach 
den Rezepten der konsequenten Realisten 
dargestellt, die positive kommt in lyrisch- 
balladenhafter Ursprünglichkeit heraus. Das 
giebt jedesmal ein anderes Bild. Es ist, als 
wollte man eine moderne Jagdgeschichte mit 
dem wilden Jäger zusammen schreiben. Das 
Drama würde völlig auseinanderklappen, wenn 
nicht eine gewisse feine Ironie über dem 
Ganzen schwebte und sich nicht in dieser 
Ironie mehr als in der dramatischen Hand¬ 
lung selber die negative Idee der Dichtung 
ausdrückte. 

Glücklicher, was die Charakteristik be¬ 
trifft, ist Halbe, wie die meisten Modernen, 
in Episodeufgnrcn. Der Gutsbesitzer Laskowski 
z. B. ist ein kleines Kabinetsstück; noch 
andere gelungene Gestalten hat das Drama, 
einige Gutsbesitzer, Fabrikdirektoren u. s. w. 
aus der Nachbarschaft des Erlenhofes. Bei 
allen für die Handlung wichtigen Personen 
aber, wie dem Polen, der Tante Klärchen, 
ist eine gar zu zarte, diskrete Zurückhaltung 
in Charakteristik und Darstellung auffallend. 
Diese Zurückhaltung ist für einen Dramatiker 
gefährlich. Bei einer nicht ausgezeichneten 
Darstellung, wie sie z. B. das Schauspiel in 


Berlin gefunden, geht darüber die Wirkung 
des Dramas völlig verloren. . 


Betrachtungen über den Orient. 

Von Dr. F.,MC8 RBi;ck. 

I. Die orientalische Frage im 19. Jahrhundert. 

Was versteht man in der Geschichte und 
Politik unter der orientalischen Frage, wie ist 
sie entstanden und wann hat sie zuerst in 
die Entwickelung der europäischen Kultur¬ 
völker eingegriffen? Das sind Erwägungen, 
die wir anstellen müssen, bevor wir uns mit 
ihrem Verlauf im 19. Jahrhundert beschäf¬ 
tigen. 

Ihre Existenz reicht bis in das 16. Jahr¬ 
hundert zurück. Den Anfang bezeichnet das 
übermächtige Vordringen der Türken und des 
Islam im südöstlichen Europa; die christlichen 
Staaten der Balkanhalbinsel werden vernichtet, 
und bald sehen sich Polen und Ungarn, ja 
sogar Deutschland von dem fanatischen Islam 
bedroht. Die orientalische Frage ist in ihrem 
Anfang vorwiegend religiös', Christentum und 
Islam treten auf dem alten Kampfesboden des 
ungarischen Reiches einander gegenüber. Das 
treibende Motiv in der ganzen Bewegung ist 
der Islam. Unter Soliman II. (1520—1566) 
erreichte seine Macht in Europa die höchste 
Blote; von da an erfolgte ein Stillstand, der 
schon an und für sich im Leben der Völker 
einen allmählichen Rückgang bedeutet. 

In ein neues Stadium tritt die oriental¬ 
ische Frage mit dem Emporkommen Russ¬ 
lands unter Peter dem Grossen. Sein und 
seiner Nachfolger Ziel geht dahin, auf den 
Trümmern des alten oströmischen Reiches 
ein neues byzantinisch-russisches Kaiserreich 
aufzurichten. Nickt mehr der Islam, sondern 
die christlichen Mächte, vor allem Russland, 
sind der angreifende Teil; in den Vordergrund 
tritt immer mehr das politische Interesse. Ein 
letzter Vorstoss der Türken 1683 wurde end¬ 
gültig zurückgewiesen. 

Die Friedensschlüsse in dem folgenden 
Jahrhundert nahmen alsdann dem osmanischen 
Reich den Charakter als aggressive und den 
Orient in Bewegung setzende Macht, sicherten 
Ö.sterreichs Südgrenze und begründeten das 
Übergewicht Russlands im Osten. Die Türkei 
wurde auf die eigentliche Balkanhalbinsel be¬ 
schränkt, und die beiden DonaufürstentOmer 
standen unter einheimischen, der Pforte nur 
tributpflichtigen Fürsten. 

Bis zu Beginn unseres Jahrhunderts war 
die orientalisclie Frage verhältnismässig ein¬ 
fach: es war eine Machtfrage zwischen der 
Türkei, Russland und Österreich. Einen ganz 


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Müsebeck, Betrachtungen Ober den Orient. 


729 


anderen Charakter gewinnt sie seitdem. Man 
trennt sie wohl am besten in eine interne 
und eine externe Frage. Die interne dreht 
sich um den politischen Zustand der Balkan¬ 
halbinsel selbst, um den Machtbereich der auf 
ihr sesshaften Völkerschaften. Die externe 
berührt ganz Europa. England und Russland 
trafen im Lauf dieses Jahrhunderts in ihrem 
Bestreben, eine koloniale Weltmacht zu be¬ 
gründen, hier im Orient auf einander; ihre 
Interessen daselbst kreuzen sich, und für die 
angrenzenden Staaten, Österreich in Europa, 
Italien und Frankreich in Afrika, kann es 
nicht gleichgiltig sein, wie die orientalischen 
Dinge sich entwickeln werden. Ein gleiches 
Interesse muss Deutschland an ihnen haben, 
seitdem die Kolonialfrage auch bei uns in 
den Vordergrund des politischen Lebens ge¬ 
treten ist. So ist ganz Europa in die oriental¬ 
ische Frage verwickelt, und sie ist einer der 
Faktoren, welche die hohe Politik der euro¬ 
päischen Kabinette Jn stete Aufregung ge¬ 
halten hat und die noch immer einer befrie¬ 
digenden Lösung harrt. 

Eine der wichtigsten Folgen der franzö¬ 
sischen Revolution war das Erwachen des 
nationalen Bewusstseins der europäischen 
Völker. An die Stelle des Absolutismus trat 
das Nationalitätsprinzip als die erste staats¬ 
gründende und staatserhaltende Kraft. Das 
türkische Reich hat es nie vermocht, die 
nationalen Regungen in den christlichen 
Völkern auf der Balkanhalbinsel gänzlich zu 
unterdrücken, oder es gar verstanden, sie 
seinen eigenen Interessen dienstbar zu machen. 
Der Fatalismus des Islam besass wohl eine 
erobernde, aber keine staatserhaltende Kraft. 
Jene Ideen von den nationalen Rechten tra¬ 
ten in diesen Völkern mit elementarer Ge¬ 
walt auf und ergriffen immer weitere Kreise, 
bis in unsern Tagen auch die kleinsten 
Völkerschaften davon erfüllt sind und ein 
Kampf aller gegen alle sich entsponnen hat. 

Diese Bewegung wurde zuerst in denSerben 
und Griechen lebendig; man darf sie in ihrem 
Ursprünge nicht als revolutionär bezeichnen 
und etwa mit den gleichzeitigen Erhebungen 
auf den anderen südeuropäischen Halbinseln 
vergleichen; es war vielmehr ein Streben 
nach nationaler Unabhängigkeit, das in ihnen 
um so mehr wachgerufen wurde, als die christ¬ 
lichen Unterthanen des türkischen Reiches 
nicht als gleichberechtigte Staatsbürger an¬ 
gesehen wurden. Österreich und Russland 
stellten sich ganz verschieden zu dieser neuen 
Bewegung. Österreich mit Metternich an der 
Spitze vertrat auch hier das starre Legitimi¬ 
tätsprinzip mit seiner alles in eine behäbige 
Stagnation versetzenden und jede freie Be¬ 
wegung der Völker unterdrückenden Staats¬ 


kunst; er suchte den bestehenden Zustand 
in der Türkei, also die christlichen Völker 
in Abhängigkeit zu erhalten und widerstrebte 
einer jeden Reform in der Regierungsweise 
des Sultans. Auch Alexander I. suchte alle 
itmeren Verbesserungen zu hintertreiben, die 
dem türkischen Reiche neue Lebenskräfte er¬ 
wecken könnten und trat so gleichfalls als 
ein Beschützer der alten geheiligten, allein 
legitimen Sitte und Verfassung auf. Aber 
seine Stellung als Oberhaupt der russisch¬ 
katholischen Kirche wies ihm noch eine 
andere Stellung zu: er hatte die heilige 
Pflicht, als solcher seine Glaubensgenossen 
zu schützen, d. h. also hier jedes dem türk¬ 
ischen Staate feindliche Element zu kräftigen. 
Und dies entsprach dem Ziel, das Russland 
stets verfolgt und Peter der Grosse in seinem 
Testamente ausgesprochen hat, die Türkei 
durch innere Zerrüttungen zum Zerfall zu 
bringen. Die erste Wirkung, welche das Er¬ 
wachen des Nationalbewusstseins bei den 
Griechen hatte, war die Bildung der Hetäria 
1814. Ihr Zweck war die Verbreitung der 
Idee eines unabhängigen Griechenlands und 
die Vorbereitung zur endlichen Ausführung 
dieser Idee. Die ersten Pläne missglückten; 
der Zeitpunkt der Ausführung war ungünstig 
gewählt, weil Russland es nicht wagte, in¬ 
folge der revolutionären Strömungen in Süd¬ 
europa zu Griechenlands Gunsten einzugreifen. 
Dann trat jedoch eine völlige Umstimmung 
bei den Völkern Europas ein, die alte Be¬ 
geisterung für das klassische Altertum regte 
sich und wurde auf die Nachkommen der 
Träger desselben Übertragen. England und 
Frankreich sahen sich genötigt, dieser öffent¬ 
lichen Meinung nachzugeben; so war Metter¬ 
nich schliesslich der einzige, der an den 
Prinzipien der heiligen Allianz festhielt und 
jede Intervention zu Griechenlands Gunsten 
verwarf. Nur so konnte Griechenland sich 
von der türkischen Herrschaft befreien. Auf 
den Londoner Konferenzen wurde endlich am 
3. Februar 1830 der endgültige Entscheid 
über Griechenlands Schicksal gefällt: es sollte 
ein selbständiges Königreich unter einem euro¬ 
päischen Prinzen bilden, und am 8. August 
1832 wurde Prinz Otto von Bayern zum 
ersten König von Griechenland gewühlt. 
Schon 1829 warin dem Frieden von Adrianopel 
auch über das Schicksal der Walachei und 
Moldau entschieden: sie sollen ihre Hospodare 
auf Lebenszeit wählen und in ihrer Verwalt¬ 
ung ganz unabhängig sein von der Pforte; 
sie zahlen nur Tribut. Alle ihre Rechte und 
Privilegien stehen unter dem Schutze des 
Kaisers von Russland, der über ihre Auf¬ 
rechterhaltung wachen wird. 

Gewiss war die Türkei damit eines be- 


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730 


Mösebeck, Betrachtungen über den Orient. 


deutenden Teiles ihres Staatsgebietes ent* 
äussert, allein es wäre verfehlt, wollte man 
dies als den Grund zu dem weiteren Nieder¬ 
gang dieses Reiches bezeichnen. Eine der¬ 
artige Ausscheidung von Völkerschaften, die 
fortdauernd in Unruhe waren, aus dem Staats¬ 
verband hätte von den günstigsten Folgen 
begleitet sein können, wenn der innere Zu¬ 
stand des Reiches haltbar gewesen oder we¬ 
nigstens Reformen in dem nötigen Umfange 
unternommen wären. Allein dem widerstrebte 
die alttürkische Partei; und hieraus schöpften 
einige nach Unabhängigkeit ringende Paschas 
die Kraft zum Aufstande; so besonders Me- 
hemed Ali, der Vizekönig von Ägypten. Nur 
durch die Unterstützung der europäischen 
Mächte, besonders Russlands, gelang es die¬ 
sen in Schranken zu halten. Der Bestand des 
türkischen Reiches in Afrika und Asien war 
durch ihn in Frage gestellt. Die Quadrupel¬ 
allianz vom 15. Juli 1840 zwischen Öster¬ 
reich, Preussen, England und Russland zur 
„Befestigung der Integrität und Unabhängig¬ 
keit des osmanischen Reiches im Interesse 
des europäischen Friedens rettete das türk¬ 
ische Reich vor der Vernichtung; allein da¬ 
mit trat es zugleich in ein Abhängigkeitsver¬ 
hältnis zu den Grossmächten. Sein Selbst¬ 
bestimmungsrecht ging ihm verloren; es schien 
dazu bestimmt zu sein, das europäische Gleich¬ 
gewicht aufrecht zu erhalten. Dies Verhältnis 
erhielt noch mehr an Sicherheit und Stabili¬ 
tät, als ihm am 13. Juli 1841 auch Frank¬ 
reich beitrat, das anfangs Ägypten unterstützt 
und dadurch den europäischen Frieden ge¬ 
fährdet hatte. Nun wurde sie ein Schutzstaat 
der Pentarchie, indem sie in den kollidieren¬ 
den Interessen der Grossmächte eine Gewähr 
für ihr staatliches Fortbestehen fand. 

Mit dem Bündnis, das Russland mit der 
Türkei gegen Mehemed Ali einging, schlug 
der Zar eine neue Politik ein: Nicht durch 
Gewalt suchte er sich den Weg nach Byzanz 
zu bahnen, sondern auf dem Wege des Über¬ 
einkommens unter geschickter Benutzung der 
Umstände den Haupteinfluss auf die Politik 
der hohen Pforte zu gewinnen. Offenbar war 
dies der sicherste Weg, den Nikolaus 1 . wäh¬ 
len konnte. So entspann sich in Konstantinopel 
ein Kampf um den Vorrang, besonders zwi¬ 
schen Russland und England, das seine mari¬ 
timen Interessen bei der wachsenden Macht 
seines Gegners im Orient gefährdet sah. 
Durch die Eifersucht dieser beiden Mächte 
wurde die orientalische Frage akut, die sich 
schliesslich zu der Krisis von 1853 zuspitzte. 
Russland wollte absolut keinen Krieg; der 
Ausbruch des Kampfes wurde wider den Willen 
Nikolaus I. durch das brutale Auftreten des 
russischen Gesandten, des Fürsten Menschi- 


kow, herbeigeführt, der dadurch seine Popu¬ 
larität bei der Partei der Slawenophilen wah¬ 
ren wollte. Kaum war jedoch der Krieg er¬ 
klärt, so war Nikolaus I. nicht mehr das 
treibende, sondern das getriebene Element: 
der Kampf wurde von dem Russentum bald 
als ein heiliger Kampf aufgefasst. Es über¬ 
schätzte dabei seine eigenen Kräfte und unter¬ 
schätzte die fremden, besonders die Englands; 
es glaubte, dass es nur einer Aufforderung 
bedürfte, um alle Christen der Balkanhalbinsel 
gegen die Türkei in Waffen zu rufen, dass 
England und Frankreich nie Zusammengehen 
würden und schliesslich, dass es an Preussen 
und Österreich stets einen Rückhalt haben 
werde. Allein diese kühnen Hoffnungen schlu¬ 
gen fehl. Der Krimkrieg wurde eine bedenk¬ 
liche Krisis für Russland, aus der es nur 
Preussen rettete. In dem Vertrage von Paris 
1856 musste Alexander zurückweichen. Die 
Türken hatten ihre alte Widerstandskraft be¬ 
währt, und die politischen Interessen der West¬ 
mächte im Orient einen glänzenden Sieg er¬ 
rungen. 

Russland hatte mit dem Krimkrieg wieder 
die alte Gewaltpolitik Katharinas befolgt; sie 
war missglückt; ebenso ein anderer Weg, 
den es vor Ausbruch des Kampfes versucht 
hatte; ein Ausgleich mit dem Hauptrivalen 
England. Serbien, Bosnien, Bulgarien sollten 
gleich den Donaufürstentümern eigene Staaten 
unter russischem Schutz, Konstantinopel pro¬ 
visorisch von russischen Truppen besetzt 
werden; für England war die Erwerbung 
Kretas und Ägyptens in Aussicht gestellt. 

Die folgenden Jahrzehnte verliefen ver¬ 
hältnismässig ruhig ira Orient; andere Fragen 
traten in den Vordergrund der europäischen 
Politik, und man überliess die Staaten der 
Balkanhalbinsel ihrem Schicksal. Diese innere 
orientalische Frage war und ist ja jetzt noch 
nicht zum Abschluss gekommen. 1862 brach 
in Griechenland eine Revolution aus, die mit 
der Absetzung des Königs endete; in dem 
dänischen Prinzen Georg fand das griechische 
Volk nach langem Suchen endlich einen 
Fürsten, der es wagte, das dornenvolle Amt 
auf sich zu nehmen. Der Sultan versuchte im 
Innern unter fortwährendem Widerstande der 
alttürkischen Partei Reformen durchzuftlhren; 
das Heer wurde durch die Aufstände der 
christlichen Völkerschaften andauernd in Be¬ 
wegung gehalten. Solchen Aufständen ver¬ 
dankte dann auch die Krisis von 1875—1878 
ihren Ursprung. 

Zunächst brachen die Unruhen in der 
Herzegowina aus, bald darauf erklärten nach 
einer Palastrevolution im Juli 1876 Serbien 
und Montenegro den Krieg; Bulgarien em¬ 
pörte sich. Durch furchtbare Greuelthaten 


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Mösebeck, Betrachtungen über den Orient. 


731 


sucliten die türkischen Truppen den Aufstand 
nicderzuhalten und riefen dadurch allgemeine 
Entrüstung in Europa hervor. So bekam die 
russische Regierung einen willkommenen Vor¬ 
wand, sich zur berufenen Beschützerin der 
unterdrückten christlichen, namentlich der 
slawischen Bevölkerung der Türkei zu erklären. 
Von den übrigen Regierungen war keine zum 
bewaffneten Einschreiten zu bewegen. So 
wurden die diplomatischen Verhandlungen 
fortgesponnen; in Konstantinopel trat eine 
Konferenz von Bevollmächtigten der Gross¬ 
mächte zusammen; gleich darauf wurde eine 
Verfassung verkündet, die den Christen gleiche 
Rechte mit den Mohammedanern gewährte, und 
durch welche die Pforte besondere, von den 
Mächten garantierte Bestimmungen zu Gunsten 
ihrer christlichen Unterthanen überflüssig 
machen will. Die Verhandlungen wurden fort¬ 
gesetzt, ohne zu einem Resultat zu führen. 
So entschloss sich Russland zum Kampf, 
unter der feierlichen Versicherung, dass es 
keinerlei Eroberungen beabsichtige. Die türk¬ 
ischen Streitkräfte wurden auf beiden Kriegs¬ 
schauplätzen, dem europäischen und asiatischen, 
zurückgedrängt. Mit Besorgnis sahen die euro¬ 
päischen Mächte dies Wachsen der russischen 
Macht; besonders England war von lebhaftem 
Unwillen darüber erfüllt, und es kam zu ge¬ 
reizten Verhandlungen zwischen beiden Mäch¬ 
ten. Die Pforte rief die englische Vermittlung 
an, sah sich jedoch infolge des rapiden Fort¬ 
schrittes der russischen Waffen genötigt, bald 
in Petersburg um einen Frieden anzuhalten. 
Am 3. März 1878 wurde dieser zu St. Stefano 
abgeschlossen, jedoch unter so harten Be¬ 
dingungen für die Türken, dass sich von allen 
Seiten, besonders von London und Wien her, 
lebhafter Widerspruch dagegen erhob. In 
England rüstete man zum Kampfe, falls Russ¬ 
land auf seiner Forderung bestehen sollte; 
es schloss einen Vertrag mit der Pforte, über¬ 
nahm den Schutz der asiatischen Türkei ge¬ 
gen weitere russische Eroberungsgelüste, wo¬ 
für es Cypern in Verwaltung übernahm, wäh¬ 
rend die Pforte sich zu Reformen verpflichtete. 
Unter Deutschlands Vermittelung wurde eine 
Verständigung in den wichtigsten Punkten 
herbeigeführt, und am 13. Juni 1878 konnte 
der Berliner Kongress zur endlichen Lösung 
der Krisis zusammentreten. 

Montenegro, Serbien und Rumänien wer¬ 
den unabhängige Staaten; das Fürstentum 
Bulgarien bleibt der Pforte tributpflichtig, er¬ 
hält jedoch einen christlichen Fürsten, eigene 
Verwaltung und Miliz; es umfasst das Gebiet 
zwischen der Donau und dem Balkan, der 
südliche Teil Bulgariens bleibt als Provinz 
unter der unmittelbaren Botraässigkeit des 
Sultans, erhalt aber eigene Miliz und Ver¬ 


waltung unter einem christlichen General¬ 
gouverneur und darf im Innern nur unter 
besonderen Voraussetzungen von regulären 
türkischen Truppen besetzt werden. Die Pforte 
überlässt an Österreich die militärische Be¬ 
setzung und Verwaltung von Bosnien und 
der Herzegowina; ihr wird die Abtretung 
eines Teiles von Epirus und Thessalien an 
Griechenland anempfohlen. In allen losgelösten 
Staaten soll politische Gleichberechtigung aller 
Konfessionen herrschen. Damit war das Gleich¬ 
gewicht im Orient wieder hergestellt und der 
übermächtige russische Einfluss gebrochen. 

Jahre vergingen, ehe diese Bestimmungen 
ausgeführt wurden. 1880 musste die Berliner 
Konferenz zusammentreten und die Gebiete 
festsetzen, die an Griechenland abgetreten 
werden sollten. Die Türkei sank in Europa 
immer mehr zu einem Kleinstaat hinab. Da¬ 
mit war jedoch keineswegs die Ruhe her¬ 
gestellt; im Gegenteil: in allen Gebieten der 
Balkanhalbinsel war das Nationalgefühl der 
einzelnen Stämme erwacht; jeder suchte den 
Hauptanteil an der Beute davonzutragen. Wer 
in diesem Ringen schliesslich der Sieger sein 
wird, ist heute noch gar nicht vorauszusehen. 
Als eine Episode in diesem Kampfe aller 
gegen alle ist der letzte griechisch-türkische 
Krieg anzusehen. Sein Ursprung, sein Ver¬ 
lauf und sein Resultat sind bekannt. Es seien 
nur noch einige allgemeine Bemerkungen ge¬ 
stattet.^ Griechenland hat die härtesten Ver¬ 
luste erlitten, die es für ein Volk giebt: Ver¬ 
lust an Sympathie, an Vertrauen, an mili¬ 
tärischer und nationaler Ehre. Allgemein 
nahm man wohl bis jetzt an, dass es einst 
dazu berufen sein werde, die Führerrolle auf 
der Balkanhalbinsel • zu übernehmen. Diese 
Hoffnung Griechenlands ist dahin. Ein Volk, 
das so wenig Selbstzucht zu üben weiss, 
kann unmöglich eine solche Kulturmission 
übernehmen. Wie anders steht dagegen die 
Türkei da! mögen die unmittelbaren Errungen¬ 
schaften auch nur gering sein, um so höher 
sind die mittelbaren anzuschlagen. Militärisch, 
finanziell und moralisch hat sie sich dem 
Gegner überlegen gezeigt. Durch die ganz 
ungeahnte und ihr längst nicht mehr zuge¬ 
traute militärische Kraftentwickelung hat die 
Türkei sich unter den europäischen Staaten 
einen ungeheuren Zuwachs an Respekt er- 
.worben. Nicht zu unterschätzen ist das Über¬ 
gewicht, das sich der Sultan über die kleine¬ 
ren Staaten der Halbinsel erworben hat. Es 
wird darauf ankommen, dass es einer kräft¬ 
igen Regierung gelingt, im Innern eine Re¬ 
form durchzuführen, das Staatsgebiet in dem 
jetzigen Bestand zu erhalten und Asien zum 
Hauptstützpunkt der Türkei zu machen. Dann 
werden alle Chikanen Englands gegen einen 


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732 


Halm, Joseph Sattler. 



Kopfleiste zum Vorwort von Jos. Sattlers Deutsche Kleinkunst. 


festen Bestand der Türkei erfolglos sein bei 
dem festen Zusammenhalten der kontinentalen 
Mächte. Die Balkanhalbinsel Oberhaupt be¬ 
darf vor allem einer friedlichen ruhigen Ent¬ 
wickelung. Für die Lösung der orientalischen 
Frage hat der letzte Kampf der Hauptsache 
nach nur einen negativen Erfolg gehabt: er 
hat Europa gezeigt, dass Griechenland nicht 
im Stande ist, die ihm zugedachte Rolle zu 
übernehmen: zugleich aber auch den Beweis 
geliefert, dass die Türkei eventuell im Stande 
ist, einst doch noch die Kulturvermittlerin zwi¬ 
schen Europa und Asien zu werden. 


Joseph Sattler. 

Von Dr. Philipp M. Halm. 

(Schluss). 

DieForm, in die Sattler seine Einfälle kleidet, 
ist eine vielfach wechselnde, aber fast durch¬ 
aus eine spekulativ abgewogene, zu der den 
Künstler das liebevolle Studium unserer 
grossen Meister des i6. Jahrhunderts führte, 
oder neuere Meister, die sich selbst an die 
Alten angeschlossen hatten. Sattler schreibt 
einmal an den Kunsthistoriker Richard Graul 
(Graph. Künste 1893, S. 102); „Was meinen 
Bauernkrieg anbelangt, so reizte mich vor 
allem der alte Holzschnittstil, den ich bei 
alten Darstellungen mit grosser Liebe ver¬ 
folgte. Wenn auch manchmal bei alten Holz¬ 
schnitten die Zeichnung darunter litt, so ist 
doch die Behandlung dieser Blätter mit dem 
Schneidemesser merkwürdig charakteristisch; 
die Verbindung harter Züge mit vorsichtiger 
Feinheit war mir höchst interessant. Ich ahmte 
dieses Verfahren nach und wollte nur volks¬ 
tümliche Darstellungen zeichnen, so wie es 
die alten gewesen w’aren. Beim Igel (Blatt 19 
des Bauernkrieges) bin ich allerdings freier 
vorgegangen.“ Dies Bestreben, den Chroniken- 
stil der Alten zu treffen, kehrt noch in dem 
Zyklus „Die Wiedertäufer", in einer Anzahl 
von Blättern aus den Elsässer Bilderbogen 
und in den Illustrationen zu Boos’ „Rhein¬ 
ischer Städtekultur“ wieder. Falsch aber wäre 
es, ihn nur einen archaistischen Nachahmer 
nennen zu wollen; des Künstlers Eigenart 


tritt in seinen jüngsten Werken, zumal in der 
Städtekultur, immer klarer und bestimmter 
hervor. Der markige Federstrich, mit dem 
Sattler seine Chroniken zu schreiben pflegt, 
wechselt zum Teil mit fein abgetönten Tusch¬ 
blättern, zu denen bisweilen eine wohl abge¬ 
wogene Kolorierung tritt; die „Harmonie“ 
und der „Totentanz“ bieten hierfür treffliche 
Beispiele. Von besonderem Reize sind auch 
eine Reihe von Reklameblättern, Tischkarten 
und Geschäftsmarken, in denen der Künstler 
durch Gegenüberstellung von grossen Licht- 
und tiefschwarzen Schattenmassen eine treff¬ 
liche, auf das Auge wohlberechnete Wirkung 
ausUbt. 

Als erstes Werk Hess Sattler seine „Bilder 
aus der Zeit des Bauernkrieges“ in hundert 
Exemplaren im Selbstverläge erscheinen. Er 
widmet es „Meister Rudolph Seitz“. Es sind 
keine Illustrationen im landläufigen Sinne, die 
sich etwa an genau bestimmte Thatsachen, 




Die Brandstifter. 

(Aus Jus. Sattlers ^Bauernkrieg".) 


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Halm, Joseph Sattler. 


733 


an gewisse historische Momente halten, son¬ 
dern vielmehr freie, rasch konzipierte Ein¬ 
falle der buntesten Art, Kulturbüder, die bald 
in humorvoll satirischer Weise, bald mit 
schauerlichem Ernste jene Zeit (1525) wider¬ 
spiegeln, in der eine falsche Auffassung von 
Luthers Wort über evangelische Freiheit 
Greuel und Verwüstung über Franken und 
Schwaben ausbreitete. Neben einer Menge 
einfacher, doch vortrefflich charakterisierter 
Bauernköpfe stellt uns Sattler Gruppen von 
Brandstiftern, Wachposten, die auf dem Giebel 
eines Hauses oder auf Staarenkasten ‘sitzen, 
einen Aufrührer, eine flüchtende Familie, Ver¬ 
wundete, Gefolterte u. a. dar. Wir sehen den 
„roten Igel“, eine aufrührerische Bauerngruppe, 
auf einem Streifzuge oder einen Haufen in 
Dreiecksform zur Verteidigung aufgestellt oder 
in einem Weinberg im Hinterhalt. 

Ein anderes, ebenfalls mit Blut in die 
Geschichte eingeschriebenes Jahr, das Jahr 
1535 mit seinen Vorläufern, die Zeit der 
„Wiedertäufer“, schildert uns Sattler in sei¬ 
nem zweiten Werk, das uns gleich dem ersten 
wie eine zeitgenössische Chronik anmutet und 
in ähnlicher Weise wie dieses bald in Einzel¬ 
figuren, Strassentypen, bald in Gruppen, in 
dramatisch bewegten Szenen, bald in grü¬ 
belnder Symbolik oder in giftigen Spottblättern 
entgegentritt. Im Gegensatz zu den meisten 
Blättern aus dem „Bauernkrieg“, gewahren 
wir aber in den „Wiedertäufern“ eine stren¬ 
ger an den alten Formschnitt sich anleh¬ 
nende Behandlung, die die Wirkung der ein¬ 
zelnen Blätter zweifellos erhöht. Das skizzen¬ 
hafte Element — im guten Sinne — wie es 
viele Blätter des „Bauernkrieges“, ich er¬ 
wähne nur den „Aufrührer“ oder die „bösen“ 
oder „aufgebrachten Bauern“ zeigen, ist ganz 
zurückgedrängt; nur schwach klingt es in 
den Wiedertäufergruppen nach. Alle anderen 
Blätter sind streng abgerundete Kompositionen 
von peinlichster Durchführung. Die histor¬ 
ischen Thatsachen aus jener Greuelzeit führen 
in allgemeinem Sinne eine Anzahl Blätter vor. 
Die Stärke des Werkes liegt aber nach mei¬ 
nem Bedünken wieder in den allgemeinen 
Kulturbildern, die Sattler vor unseren ent¬ 
setzten Augen entrollt. Ich führe das„ Weiber¬ 
rasen“, die „Belustigungen des Volkes“, „die 
Frauen Johanns von Leyden“ (eine Radier¬ 
ung) an, dann die „Hungernden vor dem 
Rathaus“ und das in seinem schrecklichen 
Ernste tief ergreifende, mit seinem nüchternen 
Titel erschütternde Blatt „ Münsterisch Strassen- 
leben", das uns Verhungerte und zu schatten¬ 
haften Skeletten Abgemagerte müssig herum¬ 
stehend oder am Boden kauernd und an Knochen 
nagend schildert. Die ganze Tragik der ent¬ 
setzlichen Zeit spricht aus dem in seiner 



Der Wunderfärber. 

(Aus Jos. SatUers .Wiedertäufer“.) 


markigen Vortragsweise doppelt packenden 
Blatte. Dass es bei einem Bilderzyklus aus dem 
Phantasiereiche des „neuen Zion“ mit seiner 
Heuchelei und seinem Fanatismus nicht an 
Spottblättern fehlen durfte, erkannte Sattler 
wohl. So führt er uns den „Wunderfärber“, 
„das lutherische Papsttumb“, wieder „eine 
Karte“ ähnlich jener im „Bauernkrieg“ und 
einen Speisezettel der Wiedertäufer vor. In 
keinem zweiten Werke hat sich Sattler so 
bedeutend über die herkömmliche Illustration 
erhoben. Die Wiedertäufer Sattlers können 
direkt als ein Ergänzungsband zum geschicht¬ 
lichen Thatbestande herangezogen werden. 
Man merkt es deutlich jedem Blatte an, mit 
welchem Ernste sich der Künstler in die 
Detailgeschichte vertiefte, um seinem Stoffe 
gerecht zu werden. 

Das gleiche Lob bezüglich der Vertiefung 
in das Kulturleben einer Zeit, das eine grosse 
Geschichte zum Hintergründe hat, gebührt 
Sattlers Illustrationen zu Boos’ „Geschichte 
des rheinischen Städtebundes". Entsprechend 
der Geschichte, hat Sattler hier mehr fried¬ 
liche Saiten angeschlagen. Das Leben einer 
Stadt, der Handel und Wandel der Bürger, 
Bischof Burchards kirchliches und weltliches 
Regiment, die Städte unter den weltlichen 
Fürsten, das führen uns die Bilder vor. Jene 
dämonische Tragik, wie sie in den Wieder¬ 
täufern herrscht, suchen wir vergebens. Sattler 
weiss uns auch der Geschichte friedliches Bild 
mit ebenso gewandtem Griffel zu schildern. 

Dass ein mit einem Phantasiereichtum be- 


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734 


Halm, Joseph Sattler. 



Zerstreuungen und Belustigungen des Volkes. 

(Aus Jos. Sattlers ,Wiedertäufer“.) 


gabter Geist, wie er Sattler eignet, sich dem 
alten und namentlich in der deutschen Kunst 
so vielfach behandelten Thema eines Toten¬ 
tanzes zuwenden musste, nimmt uns gewiss 
nicht Wunder. Wie anders aber als Holbein, 
wie anders als Rethel und Klinger, wie an¬ 
ders als die in Sattlers engerem Vaterlande 
Bayern, in Totenkapellen oft vorkommenden 
Zyklen erzählt uns Sattler vom Tode, von 
der Vernichtung alles Irdischen, vom ewigen 
Vergehen! Er schildert uns nicht im Sinne 


Holbeins, wie „der Tod den wilden Tanz 
durch alle Stände führt", nicht wie Rethel, 
der uns namentlich des Todes Regiment im 
Wüten einer Revolution zeigt; vielmehr lehnt 
sich — doch ohne abzuschreiben — Sattler 
an Klinger an, oder besser gesagt: der in 
diesemSinne Klinger kongeniale Sattler musste 
zu ähnlichen Schöpfungen gelangen. Wie 
packend, wie ergreifend schildert uns unser 
Meister das ewig vernichtende Treiben des 
Dämons Tod, der bald als dürres Skelett mit 


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Dinit:r:?n hy 


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Halm, Joseph Sattler. 


735 


Pergamenten, Siegeln und Schlüsseln behän¬ 
gen auf Stelzen über herrliche alte Hand¬ 
schriften in grossen Schritten eilt, um als 
Spuren Wurmstiche zu hinterlassen, oder der 
mit knöchernen Armen über die Menschheit 
hinmäht, um den nach Gleichheit Strebenden 
Gleichheit zu bringen, als der unparteiischste 
Politiker, vor dem alle gleich sind; wie er 
bald ein baufälliges Haus zum Wanken und 
Stürzen bringt, oder wie er im Sturmwind 
heranbraust, um das Feuer eines Dorfbrandes 
zu neuer Wut zu entfachen. An Max Klin- 
gers verwandte Radierungen erinnert auch 
das düstere Blatt der Eisenbahnbrücke, die 
das Wasser überspannt als morsches Toten¬ 
skelett, dessen dürre Rippen die über die 
Brücke sich spannenden Gitter vorspiegelt, 
um den heranbrausenden Zug in sicheres 
Verderben zu stürzen. Auf einem andern 
Blatte schildert uns Sattler durch drei Toten- 
Schädel die drei schlimmsten Würfel, die der 
Menschiieit fallen können: die Pest, die 
Cholera und den Typhus. Mit immer neuer 
Phantasie erzählt er uns von dem schauer¬ 
lichen Tanz des Todes, der schliesslich sei¬ 
nen letzten Sprung macht, um sich nieder zu 
stürzen und als ein alles zerschmetterndes 
Meteor seinen eigenen Schädel in Trümmer 
zu schlagen. Nicht ohne eine gewaltige Er¬ 
schütterung, nicht ohne tiefes Schaudern wird 
man den „Totentanz" durchblättern, aber man 
wird auch nicht ohne ein Gefühl der Ver¬ 
söhnung das letzte herrliche Blatt, wie der 
erlösende Tod Christum mit dem Lorbeer¬ 
kranze krönt, aus der Hand legen. 

Wenden wir uns von den düsteren Blät¬ 
tern zum Humoristen Sattler. In fast allen 
Werken tritt des Künstlers Humor zu Tage, 
freilich oft in engster Verbindung mit der 
Satire, deren Geissei er am ausgelassensten 
im „Internationalen Kunstkrieg" schwingt. 
Kaum zutreffender lassen sich die streitenden 
Parteien und ihre Ideen verbildlichen, wie es 
Sattler bietet, wenn er uns die Heerführer 
der „Alten“ und „Neuen“, die Lager, den 
Ausmarsch, die Schlacht und den Einzug der 
„beiden siegreichen“ Gegner schildert. Doch 
auch ohne Begleitung der Satire weiss Sattler 
zu scherzen. Wie köstlich ist das Blatt aus 
den Elsässer Bilderbogen, wo er uns in einer 
lustigen, weintrunkenen Schaar die Wirkung 
des guten 1893er schildet; wie launig führt 
er uns die Herstellung von Wiegendrucken 
(Inkunabeln) — die Typen sind an mulden¬ 
förmigen Wiegen befestigt, die darin sitzende 
Drucker im Schaukeln abdrucken — in der 
Cantate-Festzeitung der Buchhändler von 1895 
vor! 

In seinen „Exlibris“ offenbart Sattler eine 
unbeschränkte Vielseitigkeit, die ihn als den 


ersten Meister dieser Kleinkunst erscheinen 
lässt. Kaum ein zweiter Künstler, sei es der 
älteren oder neueren Zeit, war für diesen 
Zweig der zeichnenden Kunst so vielfach 
thätig als Sattler. Aber noch in einer weiteren 
Beziehung gebührt ihm ein Ehrenplatz in der 
Geschichte der Büchermarken. Sattler begnügt 
sich zumeist nicht mit dem älteren Brauch, 
das Wappen des Besitzers einfach ornamental 
zu verwerten oder einem Wahl- oder Sinn¬ 
spruch zeichnerisch sichtbaren Ausdruck zu 
verleihen; vielmehr wechseln bei Sattler die 
verschiedenartigsten Erfindungen, indem er 
bald auf den Beruf des Besitzers anspielt, 
wie etwa bei der Büchermarke des Druckers 
„J. Krämer in Kehl am Rhein“, oder jener 
des Dr. med. P. B. Die erste zeigt uns einen 
Drucker im mittelalterlichen Kostüm mit einer 
kleinen Handpresse beschäftigt; die zweite 
stellt ein Gerippe dar, das mächtige Bände 
herbeischleppt. Bald führt uns das Exlibris 
eine ganze IJücherei in liebenswürdiger De¬ 
taillierung mit Tisch und Schrank, mit Licht 
und Bank, mit Finte und Feder vor, gerade 
wie es Meister Sachs in seinem Hausrat 
singt: Ein Schreibzeug, Tinten, Papir und 
Sigel - Die Bibel und andere Bücher mehr 
Zu Kurtzwcil und sittlicher Lehr. Andere 
Büchermarken, z. B. jene von G. A. Süss 
zeigen uns vor einer sonnigen Landschaft 
mit Burgen und Dörfer aufgeschlagene Bücher 



Bücherzeichen des ü. A. Süss. 


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736 


Halm, Joseph Sattler. 



Kopfleiste „Späne". 

(Aus Joa. Sattlers aDtircheinander“.) 


und Urkunden, gerade wie wenn wir daraus 
die Geschichte dieser Landschaft studieren 
sollten oder könnten. Jede einzelne Bücher¬ 
marke zeugt Air Sattlers Vielseitigkeit. 

In engem Zusammenhänge mit den Ex¬ 
libris stehen Sattlers Büchervignetten. Schon , 
gelegentlich der Besprechung der Geschichte 
der rheinischen Städtekultur von Heinr. Boos 
wurde auf den Reiz der Form und den geist¬ 
igen Gehalt oft der bescheidensten Vignette 
hingewiesen. Wie glücklich weiss Sattler seine 
Titelblätter, seine Kopfleisten, seine Initialen 
dem Inhalte des Buches oder einzelner Ka¬ 
pitel oder Gedichte anzupassen! Allgemein 
bekannt sind ja die originellen Zierleisten 
aus den Fliegenden Blättern für die „Gedanken- 
spähne" und „Gedankensplitter". 

Gleich vielseitig erweist sich Sattler in 
seinen Buchinitialen. Sie gestatten zumeist 
einen Seherblick auf das, was die der Initiale 
folgenden Worte künden, sie wollen die Stimm¬ 
ung, die das kommende Kapitel heischt, mit 
festem Griffel diktieren. In keinem Werke 
löste Sattler diese Aufgabe glücklicher, als 
in dem oben erwähnten von Boos; aber eine 
ganze Reihe nicht minder inhaltsvoller Ini¬ 
tialen ist in dem „Pan", in dem Zyklus „Die 
Wiedertäufer", in den „Szenen aus dem 
Bauernkrieg" und in anderen Werken ver¬ 
streut. Humor und Ernst sprechen abwechselnd 
aus ihnen und neben gewaltigen Konzeptionen 
begegnen wir den anmutigsten, bescheidensten 
Federspielen. 

Vielseitig wie in seinen Exlibris und schier 
unerschöpflich in seiner Erfindung erweist 
sich Sattler auch in den Titelblättern; man 
vergleiche nur jene Folge, welche sich in 
dem „Durcheinander" (Verlag von J.A. Star- 
gardt, Berlin, 1897) findet. 

Dort begegnen wir auch einer Sammlung I 
von Geschäftskarten und Marken, Vereins- j 
Vignetten, Monogrammen, wie sie sich zweck- 1 
entsprechender kaum denken lassen. Und ob | 
es sich um ein einfaches Monogramm oder : 


um ein umfangreiches Titelblatt handelt, stets 
wechselt die Idee. Das Konventionelle ist 
Sattler verhasst. Bei wie vielen Künstlern 
können wir wie bei ihm ohne Ermüdung die 
ganze Reihe ihrer Werke durchblättern!! 
Jetzt, wo sich in Deutschland immer mehr 
das Streben nach Neuerungen im Kunstge¬ 
werbe regt, ist das Zyklusfragment „Mein 
Häuserl" nicht ohne Interesse. Er schildert 
uns ein Künstlerheim, wie er sich seine Haus- 
thOre mit Beschlägen in seinem Namenszug, 
den Kamin, Pult, Sitzmöbel oder ein Schreib¬ 
zeug vorstellt, einfach, ohne reiche Zuthat. 
So wie uns die Zeichnungen vorliegen, denkt 
Sattler wohl selbst nicht immer an eine direkte 
Ausführung, aber seine Tendenz „Alles muss 
einfacher werden" tritt deutlich zu Tage. Von 
Sattler darf speziell das Kunstgewerbe noch 
viel Erfreuliches sich versprechen; denn er 
ist sich seiner Stellung dazu wohl bewusst. 
Er warnt vor der zeitraubenden „Kunstpolitik', 
und der Anschauung, dass etwas ,,modern" 
ist, „wenn es nach Japan, England oder Frank¬ 
reich riecht", womit jedoch durchaus nicht 
gesagt sein soll, dass er sich den Anregun¬ 
gen der beiden letztgenannten Länder ver- 
schlicsst: er erkennt sie vielmehr vollauf an, 
und schliesst einen Brief mit den vielsagen¬ 
den, wohlabgewogenen Worten: „Von einem 
Tag auf den andern trägt die Kunst keinen 
freieren Stempel." Möge der Rat, den er uns 
in diesem Briefe giebt, wohl beherzigt wer¬ 
den: „Es muss ernster gearbeitet werden. 
Bei dem heutigen nervösen Vorwärtsschreiten 
braucht der Künstler viel Kraft und Aufopfer¬ 
ung, um ehrlich und mit Liebe seine Arbeiten 
ausführen zu können." 

Wer die gesammelten Rezensionen und 
Kritiken über Sattlers Werke in dem Kata¬ 
loge von J. A. Stargardt, der vor kurzem 
erschien, durchblättert, muss staunen, wie fast 
jede Besprechung einen anderen, neuen, be¬ 
deutsamen Zug in Sattlers Wesen und Werken 
enthüllt; wie vielen ~ oder besser gesagt — 


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Das Bertillonsche System zur Personenfeststellung. 


737 


wie wenigen Künstlern unserer Zeit erwuchs 
solch vielseitiges Lob!? Wie rückhaltlos er¬ 
kennt auch das Ausland die Verdienste unseres 
Meisters. an! 

Verhältnismässig spät kam Sattler zu einer 
eingehenden Würdigung in Deutschland. 
Frankreich erwies ihm die erste Ehrung mit 
der tnentton honorable im Salon, und in Eng¬ 
land fand er in Charles Hiatt einen begeister¬ 
ten Fürsprecher, der nicht ansteht, seine Ex¬ 
libris über jene Anning Beils oder Sherborns 
zu setzen und in mancher Beziehung es für 
angezeigt hält, dass englische Zeichner bei 
ihm in die Schule gingen. Freuen wir uns 
solcher Anerkennung deutscher Kunst und 
bleiben wir selbst nicht damit zurück! 

Zur Zeit ist Sattler mit den Illustrationen 
zum zweiten Band der „Rheinischen Städte¬ 
kultur" und mit einem Alphabet beschäftigt, 
das er mit Max Liebermann herausgeben wird. 
Sattler „zeichnet die Initialen und Liebermann 
schmückt sie". Mit grösstem Interesse dürfen 
wir den künftigen Schöpfungen Sattlers ent¬ 
gegensehen ; denn er will nicht auf den reich 
erworbenen Lorbeeren ruhen, sondern sucht 
ohn’ Unterlass sich neue zu erwerben. Sein 
ernstes, ehrliches Schaffen muss sie ihm ge¬ 
währen, und der Lorbeer, der ihm grünt, 
grünt auch der deutschen Kunst. 


Das Bertillon’sche System zur Personen- 
feststellung. 

(Beiträge zur Einführung desselben 
von Friedrich Paul.) 

(Schluss^ 

Eine Vervollständigung erfährt die Auf¬ 
nahme der Messungen durch die Vornahme 
der Personbeschreibung. 

Die Personbeschreibung nach der Methode 
BertiIlon’s unterscheidet sich wesentlich 
von der bisher üblichen Personbeschreibung, 
die mit den eine sehr relative Beurteilung zu¬ 
lassenden Ausdrücken gross, klein, mittelgross, 
ebenmässig, hinsichtlich der Gestalt, oval, 
symmetrisch, gewöhnlich, proportioniert, ge¬ 
sund, hinsichtlich der Gesichtsfarbe u. s. w. 
keinesfalls eine richtige Vorstellung von den 
beschriebenen Eigentümlichkeiten des Indi¬ 
viduums zu bilden gestattete. 

Nachdem Bertillon durch Aufstellung be¬ 
stimmter Grenzwerte für die Begriffe von 
kleiner, mittlerer und grosser Körpergrösse 
sehr schätzenswerte Anhaltspunkte geschaffen, 
interpoliert er die Reihe z. B. hinsichtlich 
der Körpergrösse wie folgt: 

zwerghaft, sehr klein, klein, unter mittel- 
gross, mittelgross, über mittelgross, gross, 
sehr gross, riesig. 


welchen einzelnen Begriffen bestimmte Zahlen¬ 
grenzen entsprechen, dergestalt, dass selbst 
bei Berücksichtigung der Fehlergrenzen nicht 
eine und dieselbe Person als klein und bei 
einer künftigen Beschreibung etwa als mittel¬ 
gross bezeichnet werden kann. Für die Praxis 
erachtet Bertillon die Teilung klein, klein 
(klein), mittel- (gross), gross, gross in dieser 
Anordnung für genügend. Das Unterstreichen 
des bezeichnenden Wortes verleiht der Be¬ 
zeichnung den Begriff des Extremen, also 
klein, gleichbedeutend mit sehr klein, während 
Einklammern den Ausdruck begrifllich dem 
Mittel näher rückt, also (klein) =« etwas klein, 
(gross) = etwas gross, über mittelgross. 

Gegenstand der Beschreibung sind sodann 
die Gesichtsfarbe: bei dieser scheidet Bertillon 
das Pigment der Haut selbst und die Färbung 
durch das Blut (Blutton); das linke Auge, 
wobei Bertillon von dem Einteilungsprinzipe 
ausgeht, dass das nicht pigmentierte Auge, 
welches mehr oder weniger blau gefärbt ist, 
die Grundform ist. 

Diese Gattung Augen bilden als Grund¬ 
form die I. Klasse, an sie reihen sich nach 
dem Farbstoff, welcher um die Pupille ge¬ 
lagert ist (Aureole), die 
II. Klasse mit gelb gefärbter Iris, 


III. „ 

„ orange gefärbter Iris, 

IV. , 

„ kastanienbraun gefärbter Iris, 

V. „ 

„ schwarzbraun im Kreise ge¬ 


färbter Iris, 

IV. „ 

„ „ grünlich ge¬ 


streifter Iris, 

VII. „ 

„ „ gefärbter Iris. 


Nebstdem erfahren besondere Berücksich¬ 
tigung die Eigentümlichkeiten in der Färbung 
der Iris, als Forellentupfen ähnliche Flecke etc. 

Die Farben von Bart und Haar werden 
bestimmt nach der Dreiteilung blond, kasta¬ 
nienbraun und schwarz mit entsprechender 
Interpolierung, wobei rot eine eigene Klasse 
bildet. 

Weisses Haar ist nur eine Abart eines 
ursprünglich pigmentierten Haares und wird 
durch entsprechenden Zusatz zur ursprüng¬ 
lichen Haarfarbe kenntlich gemacht (ergrau¬ 
end, weiss). 

Die Stirne erfährt Dreiteilung und Inter¬ 
polierung, indem dieselbe als zurückweichend, 
mittel und senkrecht bezeichnet wird. 

Die Nase wird beurteilt nach ihrem im 
Profil ersichtlichen Rücken, mit eingedrückt, 
gradlinig und gebogen, nach der im Profil 
betrachteten Basis als aufwärts, wagrecht und 
abwärts gerichtet. Eine überaus sorgfältige 
Behandlung lässt Bertillon der Beschreibung 
der rechten Ohrmuschel angedeihen. 

Schliesslich erfährt auch die Leibesfülle 


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738 


Das Bertillonsche System zur Personenfeststellung. 



Profil- und en face-Aufnahme, System Bertillon. 


durch einen Vermerk auf der Karte Beacht¬ 
ung. 

Zu dieser allgemeinen Personbeschreibung, 
für welche eigene Rubriken auf den Signale¬ 
mentskarten vorgedruckt sind, kommen noch 
Eigentümlichkeiten des Profils, des Gesichtes 
und der ganzen Figur. 

Solche findet Bertillon beim Profil im 
Schnitte der Lippen, in der Form des Kinns 
und im Umriss des Kopfes. 

Das Gesicht bietet Eigentümlichkeiten in 
der Form seines Umrisses, in der Beschaffen¬ 
heit, Fülle und Anordnung des Haar- und 
Bartwuchses, in der Form und Lage der 
Augenbrauen, der Augenlider und des Aug¬ 
apfels, in der Form des Mundes, den beson¬ 
ders charakteristischen Falten und Furchen 
im Gesicht und im Ausdrucke selbst. Zu den 
Eigentümlichkeiten der ganzen Figur gehört 
die Form des Halses, die Neigung der Schul¬ 
tern, die Haltung des Körpers, die Art der. 
Stimme und Sprache, Kleidung, der Gesamt¬ 
eindruck und die bürgerliche Stellung.^) 

Als drittes Element fügt Bertillon in sein 
System I 

') Nicht wenig tragen zur Identifizierung Merk- ! 
male bei, die durch die Beschriftigung des ln<livi- j 
duums am Körper entstehen, die Narben am I'ingcr 
des Architekten und Zeichners vom Bleistift, die 
.Schwielen an der Hand des Schusters vom Kneip- 
und am Knie vom Knieriemen, die Schwielen in 
den Händen des Kutschers von den Zügeln, die i 
Brandnarben an den 1 landen des Kisenarbeiters etc. 
Kino verdienstvolle Arbeit veröHcntlichte in dieser 
Richtung in der Zeitschrift „Photographie" von ; 
Paul Nadar: Felix Hcmcnt „Stimates Profes- i 
sionels*. Paris 1891. 


j. die Aufnahme der besonderen Kennzeichen. 

Wenn nun die Resultate der Messung den 
Zweck haben, den Namen des Individuums 
zu finden, wenn im unteren die auf der Karte 
verzeichnete Personbeschreibung zu dem Na¬ 
men die Person findet, so fällt der Aufnahme 
der besonderen Kennzeichen die Aufgabe zu, 
geradezu die Identität des gesuchten Indi¬ 
viduums zu beweisen. Die Funktion dieses 
Teiles des Signalements wird um so drastischer 
bewiesen, wenn man an dem bekleideten In¬ 
dividuum Lage und Art der besonderen Kenn¬ 
zeichen bezeichnet, die nach der Entkleidung 
sich thatsächlich am Körper an den bezeich- 
neten Stellen finden. 

Bertillon versteht unter besonderen Kenn¬ 
zeichen: Schönheitsflecken, Narben, Schnitt¬ 
wunden, Geschwüre etc. 

Die von Bertillon gewählte Art der Auf¬ 
nahme dieser Kennzeichen liefert thatsächlich 
einen Beweis für die Identität des Indivi¬ 
duums, indem Bertillon vor allem das Kenn¬ 
zeichen I. nach seiner Natur oder nach sei¬ 
ner Benennung, 2. nach seiner Gestalt, 3. 
nach seiner Ausdehnung, endlich 4. nach sei¬ 
ner Richtung bezeichnet. Durch die genaue 
Durchführung dieser Gesichtspunkte wird eben 
die Aufnahme der besonderen Kennzeichen 
zu dem, was sie sein soll, ein voller Beweis 
der Identität. Denn es ist vollkommen aus¬ 
geschlossen, dass rücksichtlich einer oder 
mehrerer Kennzeichen bei zwei Menschen in 
allen Hinsichten gleiche Verhällnisse zutreffen 
sollten. Mitunter ist in zweifelhaften Fällen 
allerdings auch die Beiziehung eines Arztes 


.Ji 


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Das Bertillonsche System zur Personenfeststellung. 


739 


von nöten. Um nun in Hinsicht der Aufnahme 
der bes. Kennzeichen leicht orientiert zu sein, 
bezeichnet auf der Signalementskarte: 

I. den linken Oberarm, Unterarm, Hand etc. 

II. den rechten „ » » 

III. Gesicht und Frontseite des Halses, 

IV. Brust, Frontseite der Schultern etc., 

V. Rückseite des Halses und Rückens, 

VI. die übrigen Körperteile. 

Den Abschluss des ganzen Identifikations¬ 
systems bildet 

4. die eigenartige Art der Photographie 
nach Bertilion, die stets in gleicher Reduktion 
C/t der Naturgrösse) unter Beobachtung einer 
bestimmten Steilung des Individuums vorge¬ 
nommen wird. 

Bertillon stellt auf der Photographie links 
auf einem Bilde das rechte Profil und rechts 
das en face-Bild, räumt dem ersteren nach 
der Breite 6 cm, dem zweiten 8 cm ein, wäh¬ 
rend die Bilder 9 cm hoch sind. 

Die gleichbleibenden Aufnahme-Bedingun¬ 
gen erzielt Bertillon durch stete Beibehaltung 
der Beleuchtung von rechts oben, durch un- 
veränderbare Entfernung des Aufnahmestuhles 
vom Apparat, durch Einstellung des Objek¬ 
tives in der Augenhöhle und auf den rechten 
äusseren Augenwinkel, endlich durch An¬ 
wendung von Spiegeln, welche die Neugierde 
des zu Photographierenden wecken und so 
unwillkürlich bei ihm die von Bertillon ge¬ 
wünschte vorschriftsmassige Kopfhaltung er¬ 
zeugen. 

Das en face-Bild dient vorzüglich für Ag¬ 
noszierungen durch Laien, Fachleute verwen¬ 
den zur Identifizierung das Profil, dessen 
Züge nacheinander mit dem Vergleichsobjekt 
verglichen (insbesondere das Ohr) stets ver¬ 
lässliche Resultate ergeben. 

Überdies unterscheidet Bertillon noch ein 
sogenanntes portrait parle (Gedächtnisbild), 
indem er von der Behauptung ausgeht, das 
Polizeiorgan müsse im Stande sein, die Per¬ 
sonbeschreibung auswendig zu kennen. Einen 
Anhalt hierzu bietet eine Signalementskarte 
eigener Art, welche Photographie, Personbe¬ 
schreibung und Fingerabdrücke enthält und 
so gestaltet ist, dass sie leicht zusammenge¬ 
faltet und in die Tasche gesteckt werden kann. 

Dies ist thatsächlich möglich, man kann 
nach den Rubriken der Personbeschreibung 
in der That schematisch ein Bild eines In¬ 
dividuums zusammenstellen, welches genau 
der Beschreibung entspricht. 

Zur Förderung des Dienstes hat Bertillon 
durch jahrelange Erfahrung und statistische 
Daten gewisse Abweichungen von den Mittel¬ 
massen gefunden, welche schon dem blossen 
Auge durch ihre besondere Grösse oder Klein¬ 
heit mehr oder weniger aufFallen. 


Es werden somit von Bertillon ein- oder 
zweimal nach dem Grade des Auffallens ein¬ 
geklammert oder unterstrichen jene Masse, 
die durch besondere (Kleinheit) oder besondere 
Grösse auffallen. 

Für den Wert des Bertillonschen Systems 
sprechen am besten die Resultate, die damit 
erzielt wurden und die sich für Frankreich 
aus folgender Tabelle ergeben: 

Im Jahre 1883 wurden erzielt Identifikationen 49 


tf 

ft 

1884 

ff 

ft 

n 241 

tf 

ff 

1885 

ff 

ff 

M 425 

ff 

ff 

1886 

ff 

ft 

356 

ff 

ff 

1887 

ff 

ff 

n 487 

ff 

ff 

1888 

ff 

ff 

M 550 

ff 

ff 

1889 

ft 

ff 

M 562 

ft 

ff 

1890 

ff 

ft 

„ 614 

ff 

ff 

1891 

ff 

ff 

„ 600 

ff 

ff 

1892 

tf 

ff 

„ 680 


Bertillon hat seit 1894 ^^f den Sig¬ 
nalementskarten (Fiches) auch die Papillar- 
linien-Abdrücke der ersten vier Finger der 
rechten Hand angebracht, ein Indentifi- 
zierungsmittel, welches mitunter von Belang 
sein kann, obzwar noch nicht die Frage ge¬ 
löst scheint, ob die Papillarlinien bei Indi¬ 
viduen, deren Epidermis aus verschiedenen 
Gründen, z. B. bei Feuerarbeitern, sich häufig 
erneuert, stets dieselben Formen zeigt. 

Neben der einfachen Signalementskarte 
fertigt die Polizei-Präfektur in Paris noch 
eigene Karten mit Photographie für den Ge¬ 
brauch der Delektives und solche, welche in 
Verbindung mit der Photographie zur Identifi¬ 
kation, z. B. an andere Behörden versandt 
werden. 



Detektiv-Karte mit Photographie und Abdrücken 
der Papillarlinien. 


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740 


Betrachtungen und kleine Mitteilungen. 


Ein Formular einer solchen Karte zeigt 
die vorstehende Abbildung. 

Bertillons System ist bereits in verschie¬ 
denen Ländern zur Einführung gebracht, in 
der Schweiz, in Russland, wo sich dasselbe 
der grössten Ausbreitung und zweckmässigsten 
Verwendung' erfreut, in Rumänien, in Tunis 
und in einer Anzahl Staaten der nordameri¬ 
kanischen Union. In Italien befassen sich 
einige Städte mit Bertillonage, während Eng¬ 
land die Messungen und Aufnahme nur in 
den Zuchthäusern eingeführt hat; in Öster¬ 
reich-Ungarn ist die Einführung des anthro- 
pometrischen Systems beabsichtigt. 

Soll das Bertillonsche System seinen vollen 
Wert für die gesittete Welt erlangen, so ist 
die allgemeine gleichförmige Anwendung des¬ 
selben in allen Kulturstaaten Voraussetzung. 
Ferner ist es erforderlich, dass die Ergeb¬ 
nisse in den einzelnen Staaten bei einer Zen¬ 
tralstelledeponiertwerden, damit ein Austausch 
der Signalements im internationalen Verkehr 
erfolgen kann. Welcher Nutzen daraus für 
die Bekämpfung des internationalen Verbrecher¬ 
tums, dieser gefährlichsten Gattung der Rechts¬ 
brecher, erwachsen wird, liegt auf der Hand. 
Hoffentlich wird die Einführung des Bertil- 
lonschen Systems in den deutschen Bundes¬ 
staaten recht bald zur That und hoffentlich 
bedeutet dieselbe einen weiteren Schritt zu 
einer internationalen Einigung in dieser Sache 
von wahrhaft internationaler Bedeutung. 


Betrachtungen und kleine Mitteilungen. 

* Eine der interessantesten Erscheinungen, welche 
an Menschen und Tieren beobachtet werden kön¬ 
nen, wenn dieselben aus der Ebene in bedeutende 
Hfthtn versetzt werden, ist die Änderung, welche 
mit der Beschaffenheit des Blutes vor sich geht. 
Paul Bert entdeckte, dass das Blut von Tieren, 
welche in grossen Höhen leben, mehr Sauerstoff 
absorbiert als das der gleichen Tiere in gewöhn¬ 
lichen Höhenlagen, und diese Beobachtung wurde 
von Müntz bestätigt, welcher Kaninchen von Tarbes 
auf den Pic du Midi von Begorre in den Pyrenäen 
(2377 m hoch) brachte, wo dieselben in der Nähe 
des Observatoriums auf dem Gipfel des Berges 
untergebracht und in Freiheit gezogen wurden. 
Nach sieben Jahren (1890) verglidi Müntz das Blut 
der im Gebirge geborenen Kaninchen mit solchem 
von Kaninchen aus der Ebene und fand, dass das 
erstere reicher an Haemoglobin war und mehr 
Sauerstoff absorbierte, wie letztere. Viault fand, 
dass sich in grossen'Höhen die roten Blutkörperchen 
schnell zahlreich vermehrten und zwar ausser Ver¬ 
hältnis zu dem Anwachsen des Haemoglobins. 
Weitere Untersuchungen wurden von Egger und 
Me rcier in Arosa {Graubünden) und Prof. Miesch er 
in Basel angestellt und Hessen keinen Zweifel, dass 
sich die roten Blutkörperchen nach Aufenthalt an hoch¬ 
gelegenen Plätzen ansehnlich vermehrten. Egger 
konnte auch feststellen, dass sich das Haemoglobin 
ebenfalls ansehnlich vermehrte, aber verhältnismässig 
doch nicht so sehr wie die roten Blutkörperchen. 


Auf dör anderen Seite fand er, dass bei Berg¬ 
bewohnern, die in die Ebene verzogen, um dort zu 
leben, die roteu Blutkörperchen auf die normale 
Anzahl zurOckgingen. Mercier kam zu der Ansicht, 
dass der Grad der Vermehrung der Blutkörperchen 
in direktem Verhältnis zur Höhe des Aufenthalts¬ 
ortes stehe Sellier schrieb diese Einwirkung auf 
den Organismus dem abnorm hohen Sauerstofl'ge- 
halt der Höhenluft zu. Diese Ansicht hat neuer¬ 
dings eine Stütze durch Tierversuche gefunden, die 
Dr. Paul Regnard angestellt hat. Seine Experi¬ 
mente, bei denen Tiere für längere Zeit in einer 
mit Sauerstoff überreicherten Atmosphäre gehalten 
wurden, ereaben ein positives Resultat, die roten 
Blutkörperchen vermehrten sich ansehnlich. Dr. 
Regnard schreibt die wohlthätige Wirkung der 
Höhenkuren zum grossen Teil dem Einfluss der 
Höhe auf das Blut zu. — Der Stand der Blutkörper¬ 
chenfrage war auch Gegenstand eines auf der Natur¬ 
forscher-Versammlung in Braunschweig von Dr. 
G. Schröder in Hohenhonnef gehaltenen Vor¬ 
trages, der dabei auf einen Aufsatz von Dr. Meissen 
in der „Münchn. med. Wochenschrift" über das 
gleiche Thema Bezug nahm. Der Vortragende er¬ 
läuterte eine Reihe von Versuchen, an denen er 
den Nachweis grosser Zahlenunterschiede an roten 
Blutkörperchen giebt, um damit die sogen. Blut¬ 
veränderungen im Gebirge darzulegen. 

Nature, 33. SepL 1B97. 


Beschädigung des Landbaues in Japan durch 
Kupfersalze. Eine der ermebigsten Kupferminen 
der Welt ist die Ashiwo-Kupfermine in Japan, 
welche in der Nähe von dem durch seine weltbe¬ 
rühmten Tempel bekannten Orte Nikko liegt. Mit 
der intensiveren Bearbeitung in neuerer Zeit haben 
die von den Werken abfliessenden Gewässer, wel¬ 
che sowohl fein verteiltes Schwefelkupfer als auch 
Kupfersulfat enthielten, der Landwirtschaft in einem 
unerhörten Masse Schaden zugeftlgt. Der aus jenem 
Gebirge kommende Watarase-Fluss dient im an- 
stossenden Flachland zur Bewässerung der Reis¬ 
felder, sein Wasser wird in zahlreichen Kanälen 
und Gräben auf eine Fläche von vielen Tausend 
Hektar verbreitet Schon vor etwa zehn Jahren 
bemerkten die Bauern eine Abnahme ihres Ertrages 
und bezeichneten sofort die Verunreinigung jener 
von den Minen kommenden Wasser als die Ursache. 
— Der Eigentümer der Bergwerke und Schmelz¬ 
öfen bequemte sich damals zur Zahlung einer Ent¬ 
schädigungssumme, ohne aber im geringsten daran 
zu deinen, solche Vorkehrungen zu treffen, welche 
im Interesse des Landbaus unbedingt erforderlich 
waren. Natürlich wurde allmählich der Kupfer¬ 
gehalt des bewässerten Bodens .immer grösser und 
als nun vollends zwei grosse Überschwemmungen 
durch die reissenden Gebirgswässer herbeigeführt 
wurden, wurde so viel fein verteiltes SchwefelKupfer 
verbreitet, dass in Folge seiner Oxydation eine in¬ 
tensive Vergiftung des Bodens eintrat Der Gehalt 
des Kupfersulfats betrug in einigen Bodenproben 
sogar über 0,5 % ! Häufig waren blaue Auswitter¬ 
ungen auf den Feldern wahrzunehmen und Vege¬ 
tation ganz unmöglich geworden. An anderen 
weniger stark vergifteten Stellen ergaben sich ab¬ 
norme Bildungen an den Wurzeln des Bambus 
und des Maulbeerbaums. Die zur Verzweiflung 
getriebenen Baueni fuhren nun, 300 an der Zahl, 
nach Tokio, um persönlich dem Ministerium 
ihre Klagen vorzutragen und um Abhilfe zu bitten, 
worauf ihnen Steuerfreiheit für längere Zeit zuge¬ 
sichert und der Minenbesitzer angewiesen wurde, 
sofort geeignete Massregeln zu ergreifen, um wei¬ 
teren Schaden zu verhindern. Vor allem sollen 


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BtTRACHTtJXGEN UND KLEINE MITTEILUNGEN. 


74T 


zementierte Bassins angelegt werden, die gesam¬ 
melten Abwässer mit gebranntem Kalk versetzt 
und erst nach völliger Sedimentierung das Wasser 
abgelassen werden. chemikerzeitung, aa. Sept. 1897. 

• • 

• 

Rechtsverschiedenheit in Deutschland. Von 
welcher Bedeutung und welchem Segen das am 
I. Januar 1900 in Kraft tretende bürgerliche Ge¬ 
setzbuch zu werden verspricht, wird erst klar, 
wenn man die Unzahl der Rechte bedenkt, die 
durch dasselbe aufgehoben werden sollen. Rechts¬ 
einheit besteht bisher eigentlich 'imr im Königreich 
Sachsen: dort gilt bereits ein „bürgerliches Gesetz¬ 
buch“, das „bürgerliche Gesetzbuch für das König¬ 
reich Sachsen*', und zwar seit i. März 1865. Bayern 
dagegen ist in unzählige Partikularrechte zersplittert, 
fast ebenso sehr auch Preussen; denn wenn auch 
dass preussische allgemeine Landrecht das ver¬ 
breitetste in Deutschland genannt werden kann (es 
erstreckt sich auch auf nichtpreussisches Gebiet), 
so wird seine Bedeutung doch dadurch eingeschränkt, 
dass es sehr oft nur subsidiär, d. h. die Provinzial- 
und Statutarrechte ergänzend in Kraft tritt; solche 

g reussische Partikularrechte sind z. B. das ost- 
iesische Landrecht von 1515, das märkische Recht, 
zurOckgehend auf die „Constitutio Joachimica“ von 
1527, das lObische Stadtrecht von 1586 u. s. w. 
Inn ähnliches Verhältnis besteht mit dem gemeinen 
(„Pandekten*yRecht\ auch dieses gilt zur Ergänzung 
der verschiedensten Partikularrechte (z. B. in Würt¬ 
temberg zur Ergänzung des Württembergischen 
Landrechtes), d. h. also auch nur subsidiär. Das 
ganze linke und teilweise sogar das rechte Rhein¬ 
ufer unterliegen dem „code Napoleon", derselbe gilt 
in amtlicher Übersetzung als badisches Landrecht 
auch für Baden. Die Reihe der deutschen Zivil- 
rechte Hesse sich zwar nach diesem Muster ins 
Riesenhafte verlängern, doch glauben wir bereits 
enügend gezeigt zu haben, wie notwendig es end- 
ch einmal war, auch auf juristischem Gebiet 
endlich mit Jahrhunderte altem Wust aufzuräumen 
— obwohl damit nicht gesagt sein soll, dass das 
bürgerliche Gesetzbuch etwa allen Anforderungen 
entspricht oder gar Anspruch machen könnte, 
modern genannt zu werden. Karl Lory. 

• 

* Das Alter des Kupfers von Chaldäa. Wie¬ 
der verdanken wir dem französischen Chemiker 
Berthelot eine Untersuchung, die von erheblicher 
Bedeutung für die Archäologie ist. Er untersuchte 
Waffen, Schmucksachen und Werkzeuge aus dem 
von de Sarzec eröffheten RuinenhOgel von Tello 
in Mesopotamien. Es sind Gegenstände, die fünf- 
oder sechstausend Jahre alt sein dürften und die 
wohl zu den ältesten Erzeugnissen aus metallischem 
Kupfer gehören. Eine Lanze z. B., die sich als 
fast reines Kupfer erwies, zeigt neben verschie¬ 
denen Zeichnungen und Aufschriften den Namen 
eines Königs von Kis, was auf ein Alter von 4000 
Jahren vor unserer Zeitrechnung schliessen lässt. 
— Nach Berthelot ging die Verwendung des reinen 
Kupfers derjenigen aus Bronze (Kupfer und Zinn) 
voran, die sich sowohl in Chaldäa, wie in Ägypten 
erst an späteren Gegenständen findet. Ferner zeigt 
die Form der Kupferbeile aus Chaldäa (sie besitzen 
eine Öse) ihre Herstellungsweise durch Giessen und 
die Art ihres Gebrauches viel Ähnlichkeit mit den 
vorgeschichtlichen Bronzebeilen Europas und Si¬ 
biriens, deren Alter bisher sehr unsicher war. — 
Ferner wurden einige Goldgegenstände untersucht 
die beträchtliche Mengen Silber enthielten. Es zeigt 
such somit, dass die Chaldäer ebensowenig, wie die 
Ägypter das Gold zu reinigen vermochten. 

Comptes rend. 1697, 134, S. 308. 


• Eine eigenartige Einrichtung findet sich in 
einem Blechwalzwerk der Illinois Steel Co.; es ist 
ein Ma^et, der zum Heben von Blechtafeln benutzt 
wird. Er wird an einen elektrischen Laufkrahn 
gehängt und auf das zu hebende Blech herabge¬ 
senkt. Die dargestellte Form ist im Stande, 51 zu 
heben, wobei der Stromverbrauch 4Ampbei2|oV 
Soannung beträgt. Gegen die Anwendung derartiger 
Magnete bei Hebemaschinen könnte man freiuch 
zweierlei einwenden; erstlich die Gefahr, dass, wenn 
die Einrichtung plötzlich versagt, die zu hebenden 
Gegenstände nerabfallen und die unten stehenden 
Arbeiter verletzen können. Demgegenüber vermag 
unsere Quelle nur geltend zu machen, dass ein der¬ 
artiger Unfall während'eines mehrjährigen Betriebes 
thatsächlich niemals vorgekommen ist. Ferner ist 
es schwierig, zu verhindern, dass auch andere 
eiserne Gegenstände als die gewünschten aufge¬ 
hoben werden. Wenn nämlich der Magnet auf einen 
Stapel von Blechtafeln herabgelassen wird, so wird 
nicht nur eine, sondern mehrere Tafeln an den Polen 
festhaften. Der Arbeiter hebt nun den Magnet ein we¬ 
nig und unterbricht den elektmchen Strom für einen 
Moment. Infolgedessen fallen die untersten Tafeln 
ab, während der zurückbleibende Magnetismus die 
übrigen Platten festhält. In dieser Weise wird fort¬ 
gefahren, bis nur eine Platte übrig bleibt. Dies Ver¬ 
fahren ist etwas umständlich und erfordert einige 
Übung. Sonst muss man zugeben, dass die Hebe¬ 
magnete eine ausserordentlich einfache und schnell 
wirkende Einrichtung zum Heben von Blechen und 
ähnlichen flachen eisernen Gegenständen darstellen. 

Zeitschrift d. Ver. cL 95. Sept. 1897. 

• • 

• 

* Ein neues Verfahren, künstliche Diamanten 
zu erzeugen, hat Dr. Quirino Majorana mit 
Erfolg versucht. Dasselbe besteht im wesentlichen 
darin, dass ein Stück Kohle durch den elektrischen 
Lichtbogen erhitzt und dann einem heftigen Druck 
durch einen kleinen Kolben ausgesetzt wird, auf 
dessen Stempel eine durch Explosion erzeugte 
Spannung von 5000 Atmosphären plötzlich einwirkt 
Wenn ein ausreichend starker Zylinder zur An¬ 
wendung kam, der diesen ungeheuren Druck aus- 
halten konnte, so brachte das Experiment eine 
schwarze Masse hervor, die in der Haimtsache aus 
Graphit und amorpher Kohle bestand. Beim Suchen 
der etwa vorhandenen Diamanten unter Anwend¬ 
ung von Berthelots Scheidungsmethode ergaben sich 
mikroskopisch kleine, meist schwarze und undurch¬ 
sichtige Kristalle, die alle Eigenschaften wirklicher 
Diamanten aufwiesen, besondere auch in ihrer 
Eigentümlichkeit, bei hoher Temperatur zu ver¬ 
brennen. Der Schluss, der aus diesen Versuchen 
zu ziehen ist, ist, dass Druck und Hitze allein genügen, 
um amorphe Kohle in kristallinische oder Diamant- 
Form überzuführen und dass die Gegenwart eines 
metallischen Lösungsmittels (flüssiges Eisen) wie bei 
Moissans Versuchen für die Verwandlung nicht von 
wesentlicher Bedeutung ist. Nature, 33. Sept. 1897. 


• Das einen sehr frühen Zustand menschlicher 
Kultur bezeichnende Zeitalter, welches noch ganz 
ohne Handelsbeziehungen der Völker war, wird 
nach Letoumeau (Bull. Soc. d’Anthrop., 1897, Vlll. 
pag. 152) heute noch durch Feuerländer und Australier 
repräsentiert. Die Eskimos haben dank der Be¬ 
rührung mit Rothäuten und Europäern, wie die 
Veddahs auf Ceylon, diese Stufe gchon überschritten. 
Der Eskimo auf Kamtschatka handelt mit dem 
Russen, wie die Veddahs mit den Singhalesen 
durch Niederlagen von Waaren, vermeidet aber 
noch jeden dir^ten Verkehr. Nature, 33. s«pt. 1897. 


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742 


Betrachtungen und kleine Mitteilungen. 


* Eine Bakterien • Krankheit der Baumwolle 
schreibt J. M. Stedmann im Bulletin der A^i* 
cultural Experimental Station, Alabama, einer bis¬ 
her noch nicht beschriebenen Mikrobe zu, welche 
er Bacillus goss^minus nennt Der Bazillus, der 
die Kapseln der Baumwollenstaude heimsucht be¬ 
steht aus kurzen geraden, an den Enden unvermit¬ 
telt gerundeten Stäbchen, ist ungefähr 1.5 zu 0.75 /*. 
gross und kommt gewöhnlich einzeln, zuweilen auch 
paarweise, oder in Ketten von 3 oder 4 vor. Der 
Bazillus ist beweglich und aörobisch, bildet Sporen 
und verflüssigt Gelatine nicht. 

Pharmaceutic&l Journal, 35. Sept. 1897. 

* Die Besprengung der Reben mit Kupfer\'itriol 

bei Pironospora gewinnt bei den italienischen Wein¬ 
bauern, die sich von der Nützlichkeit des Verfahrens, 
als Vorbeugungs- wie als Heilmittel, überzeugt haben, 
immer mehr Eingang. Im Jahre 1^5 wurden 222 
Tons Kupfervitriol nach Italien einceftlhrt, 1896 
schon 637 und in den ersten filnf Monaten des 
laufenden Jahres 800 Tons. Der Wein, welcher aus 
Trauben von kranken Reben gewonnen wird, ver¬ 
liert an Alkoholgehalt und an Farbe. Durch Zusatz 
von Spiritus lässt sich ersterer Mangel zwar ab¬ 
stellen, grössere Schwierigkeiten bietet aber die 
Farbe, die bei den Weinen, welche aus der Provinz 
Lecce stammen, ein sehr dunkles Rubinrot ist. Als 
einige spekulative Leute kürzlich zur Aufbesserung 
der Farbe Schwefelsäure benutzten, kamen die 
Sanitätsbehörden dahinter und Hessen den Wein 
vernichten. Pha>maceutical Journal, 95. Sept. 1897. 

/ * Über die Versuche mitMarconisTele* 
graphie ohne Draht, die im Juli bei Spezzia 
stattfanden, wird Folgendes berichtet: Die Versuche 
wurden so ausgeführt, dass der Aufgeber und zur 
Kontrole ein Empfänger an Land aufgestellt waren, 
während sich ein zweiter Empfänger an Bord eines 
Schiffes befand. Bei einem Versuch war das Schiff 
•zu Anker, bei den anderen Versuchen dampfte es 
von der Landstation fort oder auf diese zu. Die 
Ergebnisse waren: i) Unter günstigen atmosphär¬ 
ischen Verhältnissen, wozu namentlich Abwesenheit 
von elektrischer Spannung der Luft gehört, gelang 
die Aufnahme von Depeschen von Land aut dem 
Schiff in Fahrt bis auf 8,9 Seemeilen Entfernung 
gut. 2) Das Vorhandensein elektrischer Spannung 
m der freien Atmosphäre machte die Verständig¬ 
ung mit dem Marconischen Apparate unmöglich. 
3) Auch bei klarer Luft und Fehlen elektrischer 
Spannung in der freien Atmosphäre hoben Berge, 
Inseln, Landvorsprünee, welche sich zwischen die 
Landstation und das Schiff schoben, die Übermittel¬ 
ung gänzlich auf. 4) Auch wenn die unter 2 und 3 
erwähnten Hindemiss_e fehlten, wurde die Entfern¬ 
ung, auf welche die Übermittelung eintritt) und die 
Klarheit derselben wesentlich verkürzt, wenn die 
Masten, Schornsteine u. dgl. des Schiffes sich in 
der Verbindungslinie Aufgeber—Empfänger befan¬ 
den, z. B. also, wenn der Apparat achtem auf dem 
Schiffe angebracht ist und dieses direkt aqf die 
Landstation zudampft. 

(Annalen der Hydrographie u. maritimen Meteorologie.) 

* Fleury wies nach, dass Jodoform sich am 
Licht unter Abspaltung von Jod zersetzt. 

J. Pharm. Chim., i. August 1897. 

* Durch die früher bereits erwähnte Expedition 
des Prinzen Louis von Savoyen 'auf den 
St. E1 ia s- Berg ist festgestellt, dass derselbe nicht 
vulkanischen Charakters ist. Der St. Elias ist der 
zweithöchste Berg Nordamerikas, wenn die baro¬ 
metrische Messung der Expedition, die 5522 m er¬ 
gab genau ist. Der höchste Berg ist der Pik von 


Orizäba, aztekisch CitlaltepetI, am Ostrande der 
Hochebene von Anahuac in Mexiko, dem neue 
Messungen eine Höhe von 5490 m zuschreiben. 

*Eine alte archäologische Streitfrage, 
um die heftig gekämpft worden ist, wird durch eine 
am Nordrand der Akropolis von Athen, gerade 
unterhalb der jetzt neu entdeckten Apollogrotte, 
gefundene Inschrift aus der Welt geschafft. Wie 
wir der „Voss. Ztg.“ entnehmen ist in dieser aus 
der Mitte des fünilen Jahrhunderts stammenden 
Inschrift nach der -Berl. Philol. Wochenschrift“ von 
einem Heiligtum die Rede, das mit einer neuen 
Thür versehen, und in dem durch den Architekten 
Callikrates, den bekannten Erbauer des Parthenon 
und der langen Mauer zwischen Athen, und Piräus, 
ein steinerner Tempel und Alter errichtet werden 
soll. Dieser Tempel ist, wie sich mit Sicherheit 
beweisen lässt, der kleine Tempel der Athene Nike, 
jener schöne ionische Bau, der jetzt nach seiner 
Wiederaufrichtung den westlichsten Vorsprung des 
Akropolisfelsen ziert. Ueber sein Alter gingen die 
Meinungen weit auseinander; während ihn die einen 
für älter als den Parthenon hielten und ihn der Z6it 
Kimons zuschrieben, glaubten andere in ihm ein 
Werk der Perikleischen Zeit zu sehen und noch 
andere setzten ihn in die Zeit des peloponnesischen 
Krieges. Durch die Inschrift, die noch alterthüm- 
liehe Formen enthält, ist jetzt gesichert, dass der 
Tempel um die Mitte des Jahrhunderts begonnen 
wercien sollte; dass er auch noch vor den Propy¬ 
läen, also vor dem Ausbruche des peloponnesischen 
Krieges wirklich erbaut und vollendet worden ist, 
darf wenigstens als wahrscheinlich bezeichnet wer¬ 
den. Auf jeden Fall ist die Inschrift für die Ge¬ 
schichte der Akropolis Athens von hervorragender 
Bedeutung. 

* Die ersten Beobachtungen über den 
Erdmagnetismus gehen, wie M. Hellmann 
milleilt, von dem Interesse aus, welches die am 
13. September 1492 gemachte Entdeckung von Ab¬ 
weichungen in der Deklination der Magnetnadel 
durch Columbus bei den Seeleuten erregte. Der 
Autor führt eine Anzahl von Bestimmungen der 
magnetischen Deklination auf, von G. Hartmann in 
Rom um isiobis Merkator,gegen 1546. Die Arbeiten 
von Joao de Castro erscheinen als die bei weitem 
besten. Derselbe bestimmte die Deklination in 
Lissabon im Jahre 1583. 

Zeitschr. d. Gesellsch. f. Erdkunde. 


Sprechsaal. 

Herrn Dr. F. K. in F. Wir empfehlen Ihnen 
das Echo, Berlin SW. Wilhelmstr. 29 und Die 
Nation, Berlin SW. Beuthstrasse 8. 

Herrn Ingenieur Z. in L. Für Rammarbei¬ 
ten können wir Ihnen das „Handbuch für die Aus¬ 
führung von Rammarbeiten" von B. Koch, Ingenieur 
in Grabow a. d. Oder empfehlen. (Preis M. 1.60). 
Es ist durchaus für die Praxis geschrieben. 


No. 4a der Umsebaa wird enthalteo: 

Braun, Arnold Bßcklin. — Lamp«, Die sibirische Baho. — 
Lory, Geschichtsphilosophische Systeme. — Precht, Die neucsteo 
Fortschritte in der Photographie. 


G. Horstroann’s DnickcreL Frankfurt a. M. 


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DIE UMSCHAU 

ÜBERSICHT ÜBER DIE FORTSCHRITTE UND BEWEGUNGEN AUF 
DEM GESAMTGEBIET DER WISSENSCHAFT, TECHNIK, 
LITTERATUR UND KIRNST 

herausgegeben von 

DR. J. H. BECHHO: D. 


Wöchentlich eine Nummer. 

Zu beziehen durch 
alle Buchhandlungen und 
Postanstalten. 

Foetzcitungspreisliste No. 7aa[a. 

Verlag von: 

H. Bechhold Verlag, Frankfurt a. M. 


Neue Krime 1931. 


Preis vierteljährlich 
M a.50. 

Jahres-Abonnement 
Preis M. IO.— 
im Ausland nach Cours. 
Verautwortlicher Redakteur: 

Otto Adolf Wolters, Frankfurt a. M. 


JVs 42. I. Jahrg. 


Nachäruek tat» dtm Inhait dtr Ztilschri/f oimt Erlaubrus 
der Kedaklion vrrhofen. 


1897. 16. Oktober. 



Böcklin-Medaille. ') 

Von Hans Sandrctiter. 


Arnold Böcklin. 

Zu seinem 70. Geburtstage. 

Von Dr. Edmunu Wilhei.m Braun. 

Siebenzig Jahre werden es am 16. Oktober, 
seit Arnold Böcklin, der Gewaltige, der grosse 
Einsame, geboren ward. Allenthalben ertönt 
begeisterter Jubel, um ihn zu feiern. Jetzt 
ist er überall bekannt, an vielen Orten ge* 
liebt und bewundert. Nicht immer aber dran¬ 
gen Ruhmesworte an sein Ohr. Lange wurde 
er von Neid, Verleumdung und dem alten 
Nationalübel, dem deutschen Philistertum, *) 

*) Die Medaille ist durch die Kunsthandlung von 
Georg & Co. in Basel zu beziehen und kostet in 
Bronze M. 16.—, in Silber M. . 

*) Wie sich seinerzeit selbst Leute, die sonst ernst 
genommen zu werden Anspruch hatten, über Böcklin 
irrten, belegt beispielsweise die ivusserung des 
Abgeordneten Aug. Reichensperger in der Sitzung 
des Preuss. Abgeordnetenhauses vom 28. Februar 
1880, die einen Heiterkeitsausbruch des Hauses zu 
Ungunsten des Künstlers erzielte. Dieselbe lautete: 

Unschau 1897. 


angefeindet und beschimpft, ehe er die leichte 
Sonnenhöhe erreichte. 

Es ist ein Festtag, und an diesem drängt 
ps den Feiernden, zurückzuschauen, zu sam¬ 
meln all das Schöne und Grosse, was des 
Gefeierten Kunst in ihm erregt und hervor¬ 
gerufen und so erlebt er im Genuss der Er¬ 
innerung nochmals diese köstliche Bereicher¬ 
ung seiner eigenen inneren Kultur. 

Von seinen ersten malerischen Versuchen 
bis heute leuchtet in dieser herrlichen Künstler¬ 
natur am Strahlendsten die Leidenschaft, die 
kraftvolle Energie und souveräne rein naive 
Selbständigkeit, mit der er Natur und die 
Welt anschaut und wiedergiebt. Er hat neue 
Schauer geschliffen in seinen Naturoffenbar¬ 
ungen. Wer hätte nicht schon in der flim¬ 
mernden Mittagshitze draussen gelegen auf 
der Wiese und plötzlich erstarrte alles in 
redendem schauerndem Schweigen, als nahe 
sich der grosse Pan (München, Neue Pina¬ 
kothek) oder uni Mitternacht unter seufzen¬ 
den Bäumen im Haine! Und Böcklin fand 
den grössten Ausdruck dafür, im „Schweigen 
im Walde” (Berlin, Otto Wesendonck). Aus 
dem Waldesdüster, in das nur eine Lichtung 
Sonnenglanz sendet, naht das Wunder, ein 
seltsames Tier, das Einhorn mit erstarrtem 
unheimlichem Wiinderauge und auf seinem 
Rücken ruht ein junges Weib, die Rätsel¬ 
augen auf uns geheftet: ein unsagbares, un- 
erforschliches Wunder. Und so betrachtet, so 
empfindet er Alles. Oft scheint es mir, wenn 
ich vor seinen Werken stehe, als ob es wie- 

„Da hing ein Bild, betitelt „Das Gefildejder Seligen“; 
die Farben sind derari schreiend, dass' ich versucht 
war, mir die Ohren zjzuhalten. Und w’orin besteht 
die .Seligkeit“ der betrefienden Dargestellten? Sie 
zeigt sich in der Art, dass 6—7 unbekleidete Per¬ 
sönlichkeiten beiderlei Geschlechts, wenn ich nicht 
irre, teilweise mit Bccksftlssen versehen, auf und 
ab spazieren, während im Vordergrund, in einem 
Wasser, auf einem cent; ur-ardgen Scheusal eine eben¬ 
falls unbekleidete weibliche Person reitet — wohin 

42 


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744 


Braun, Arnold Böcklin. 


der der Anfang aller Tage wäre, als ob all 
das überwältigend Grosse, Neue, die ganze 
Schöpfung, diese herrliche Welt, eben erst 
aus des Schöpfers Hand geglitten seien, so 
leidenschaftlich, so lief hat er es aufgenom* 
men. Ich möchte ein Märchen erfinden von 
einem glühenden, schönheitstrunkenen Künst¬ 
ler, der zeitlebens unter der Erde gehalten 
wurde und durch ein Wunder ward der 
Blinde sehend: er kam auf die Erde, die 
herrliche strahlende Erde und sah die Sonne, 
deren Glanz er durch die Rinde wie durch 
einen purpurfarbenen Schleier nur geahnt 
hatte. Und als er all die Herrlichkeit sah, 
fing er an zu singen, zu jubeln und das 
Wunder zu preisen mit einer Kraft und Inner-" 
lichkeit, wie sie nur neue, nie gekannte und 
bebend geahnte Schönheiten bei einem 
solchen Menschen wachküssen können. 

So gross gebildet erscheint mir Arnold 
Böcklins Kunst. Selten war eines Künstlers 
Verhältnis zur Natur intimer und inniger als 
bei ihm. Seine Kunst baut eine Welt, in der 
die Sonne heller glüht, wo der Frühling 
lockender lacht, der Sommer leuchtender 
strahlt. Es ist das wunderbare Auge des 
Künstlers, das alles ao tief und innig erfasst 
und wiedergiebt mit ursprünglicher Kraft. An 

ist nicht recht zu sehen.“ — Vergl. die Broschüre 
..Reichensperger, Parlamentarisches über Kunst und 
Kunsthandwerk“, Köln i88o. S. 48. Zum Lebens¬ 
und Entwicklungsgang Böcklins sei bemerkt, dass 
der zu Basel geborene Künstler in Düsseldorf unter 
Schirmer studierte, nach Brüssel und Paris, dann 
1850 nach Rom ging, wo seine starke Eigenart zur 
Entwicklung kam. Er malte nach diesem ersten 
römischen Aufenthalt fünf Bilder in Leimfarben für 
das Haus desiKonsuls Wedekind in Hannover, in 
welchen er die Beziehungen des Menschen zum 
Feuer darstellte. 1856 lenkte sein auf der Münchener 
Ausstellung erschienener „Grosser Pan‘ die Auf¬ 
merksamkeit auf ihn. Er trat in Beziehungen zu 
dem Grafen Schack, für den eine ganze Reihe 
seiner besten Schöpfungen entstand. 1860 ging 
Böcklin wieder nach Rom, von 1866—1869 malte 
er im Treppenhaus des Baseler Museums drei 
Fresken, ,die Verkörperung des waltenden Natur¬ 
geistes im Wasser, auf der Erde, in der Luft“. 
Dann zog er wieder nach Italien zurück, nach 
Florenz, Rom, um sich schliesslich in Zürich nieder¬ 
zulassen. Den grösseren Teil des Jahres bringt er 
jetzt in Florenz zu, neben seinen künstlerischen Ar¬ 
beiten mit dem Problem der Flugtechnik beschäf¬ 
tigt. Besonders interessant ist Böcklins Technik, der 
sich eines ihm eigenen enkaustischen Verfahrens be¬ 
dient. Er malt zunächst in Tempera und tränkt 
dann das fertige Bild mit einer heissen Lösung von 
Harz und Wachs. Dadurch erzielt er für seine 
Farben eine ungewöhnlich tiefe Transparenz und 
Leuchtkraft, wie sie die Ölmalerei nicht zu er¬ 
reichen im Stande ist Aus seiner Farbenskala 
treten namentlich zwei Töne stark hervor — ein 
tiefes leuchtendes Blau und'ein sattes glänzendes Grün. 
So ist der farbige Eindruck seiner Bilder zunächst 
ein fremdartiger, erst wenn man sich in dieselben 
hineingelebt, fangen die Zauberkünste dieser Färb¬ 
ung zu wirken an. 


die himmelstürmende Wucht der Titanen er¬ 
innert der souveräne Humor in der vielge¬ 
staltigen Personifikation der Naturkräfte. Was 
er uns war, enthüllt uns der Rückblick, was 
aber durch ihn geworden ist, ihn den Finder 
und Führer, den Grössten und Einzigen, das 
wird die Geschichte mit ehernem Griffel ein¬ 
tragen. Seine Grösse und Erhabenheit, die 
Tiefe des funkelnden Blickes, die priesterüche 
Heiligkeit des Künstlers, der ein echter, wahrer 
grosser Mensch ist, leuchtet immerfort. Ei¬ 
lst Individualität schlechthin, ganz individuell 
selbst in der Technik. Und seiner Grösse 
fehlt als der wirklichen kraftvollen Grösse 
jedes berechnende Bewusstsein, er ist naiv, 
so wundersam naiv. Ohne weichliche Ge¬ 
fühlsduselei ist seine Kunst, kraftgeschwellt in 
sich gefestigt, voll des jauchzenden Lachens 
der alles besiegenden Kraft und dann wieder 
an die olympische Ruhe des alten Goethe 
gemahnend. 

Wie er war von Anbeginn, ist er heute 
noch, da er, umjauchzt vom huldigenden 
Festesjubel, in seiner ernsten Villa in San Do¬ 
menico bei Florenz an dem Kolossalgemälde 
der apokalyptischen Reiter arbeitet. 

Wie bezeichnend sind seine Selbstportraits ! 
Einmal mit dem prachtvoll zurückgehobenen 
stolzen Kopf, das funkelnde Weinglas in der 
Hand (Freiburg i. B., Frau Dr, M. Meyer) 
und das andere Mal mit leise gesenktem Haupte, 
die stolzen Augen furchtlos und halb weh- 
mütig gerade aus gerichtet und der Fiedel 
des Todes lauschend, der grinsend und auf¬ 
spielend hinter seiner linken Schulter steht. 
Aber er trotzt dem Erbfeinde, fest hält er 
Palette und Pinsel, um zu schaffen bis zum 
letzten Augenblick, voll der Kraft, die das 
Leben glühend liebt und des Todes lacht. 
(Basel, L. F. La Roche Ringwald). Wie er 
den Frühling (Brieg b. Breslau, Franz von 
Löbbecke) bildet. Ein Satyr flötet auf der 
Syrinx in die weiche duftende Luft und zwei 
Nymphen lauschen unter schwellenden Früh¬ 
lingsbäumen. 

Oder ein anderes Mal schauen wir eine 
herrliche toskanische Landschaft. (Berlin, 
A. Levysohn). Ein Weib schlägt die Harfe, 
um sie herum entzückende Kinder: zwei da¬ 
von ruhend, schlafend eins von süssem Spiele, 
aber eines mit dem Eichenkranz in den 
krausen Locken lauscht mit erstaunten Augen 
den lockenden Tönen, mit den Augen eines 
werdenden Künstlers. Ein Sommertag! 

M. Neumann). In tausendfacher Farbe lacht 
Wiese und Flur, es locken die ragenden Bäume 
mit kühlendem Schatten, ln dem Flüsschen 
badende Knaben. Und darüber der wunder¬ 
volle klare Sommerhimmel. 

„Siehe es lacht die Au“ (Darmstadt, M. v. 


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Bhaun, Arnold Böcklin. 


745 



Kämpfende Centaiiren. Von Arnold Böcklin. 


Heyl). Schon der Titel ein strahlender Sommer¬ 
hymnus. Unter Lautenklängen ziehen drei 
Florentiner KOnstlermenschen, drei hehre 
Frauen durch die Au, am Bache entlang. 
Und über den Bach unter dem Schatten der 
Bäume zwei reizende ländliche Mädchen, die 
Blumen pflücken am Raine und den Wandeln¬ 
den hinhalten. 

Selten, fast nie, sind seine Landschaften nur 
Landschaften, stets beinahe mit figürlicher Be¬ 
lebung, die Seele der Landschaft verstärkend 
und aussprechend. Ernst und trotzig reitet sein 
^Abenteurer*^ (Bremen, Kunsthalle), ein ein¬ 
samer Kreuzfahrer durch die Wüste, dem 
Schädelweg folgend, hinter sich auf den 
Wogen das verlassene Bootl Wie ver¬ 
schlingen sich hier Menschenschicksal und 
Natur. 

Unter Frühlingsbäumen und auf blumigem 
Rasen steht der Altar des Gottes mit hoch- 
aufloderndem Opferamt. Vor ihm knieen zwei 
herrliche Gestalten, im anbetenden Gebete 
versunken. Und aus dem dunklen „heiligen 
Haine*' ziehen andere hieratisch strenge feier¬ 
liche Priestergestalten heran. Ein grosser 
gewaltiger Akkord der anbetenden Frömmig¬ 
keit in Natur und Menschenherz! 

Mit seltsamen Wesen bevölkert er Meer, 
Thal und Berg. Der grosse Pan erschreckt 
den aufschreienden Hirten, lüsterne, plumpe 
Satire belauschen mit freudigem Schreck die 
schlafende Diana, mit grinsender und staunen¬ 
der Freude die Nymphen. Stolze schnaubende 
Centauren rasen über die Wiese, mit dem 
Hufe die drohende Erde schlagend, mit dem 
Schweife die Schlanken peitschend. Und 
Tritonen, Nixen, Najaden, all das übermütige 


tollende Meeresvolk jauchzt in die wilde Na¬ 
turleidenschaft des brüllenden Ozeans, wiegt 
sich auf den hebenden Wogen, zieht herrlich 
durch die glühende Abendpracht. Mit locken¬ 
dem Frauenkörper und hässlichen Vogelfüssen 
singen die Sirenen in der verderbenden Klippe 
ihre bethörenden Weisen. 

Die Brandung zischt und schlägt an die 
Felsen, in der Felsspalte steht ein Weib ge¬ 
lehnt, in der Rechten die lange Leier und 
geheimnisvoll raunt ihr Lied Urweltklänge in. 
den Wogensang. (Lunöville, Baron A. v. 
Turcktein). 

Und wie ist dieser Frauenkörper gemalt und 
empfunden, immer kehrt er wieder, als zeuge 
er von einem nie vergesslichen Erinnerungs¬ 
bild einer heissgeliebten Frau. Wie stolz 
und wonnig ist dieser weiche, schlanke und 
üppige Körper, das liebliche ovale Gesicht 
mit der schweren schlichten Haarespracht, 
den ernsten tiefen süssen Augen, die Grazie 
der Mona lida mit dem keuschen Zauber 
der heiligen Frau von Milo verbindend. Und 
wie das Gewand sich um diesen Körper 
anschmiegt, bald schmeichelnd, bald hieratisch 
streng und keusch. 

Stolz, gross und vom tieftsten Stimmungs¬ 
zauber erfüllt ist seine Architektur. Trotzig 
ragt die Ruine am Meere empor, wild fegt 
der Sturm durch die Pinien und kreischende 
Meeresvögel sausen durch die gepeitschten 
Wolken. 

Als jage das wilde Heer durch die Lüfte, 
so zittert und bebt die Natur. Neben der 
Leiche des Opfers kniet der Mörder, den Stahl 
in der Rechten. Aber neben ihm, hinter 
zerfallenem Mauerwerk, lauern die Furien, 

4a* 


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Lampe, Die transsibirischc Eisenbahn. 


746 


mit Schlangengewirr in Haar und Händen, 
shakespearisch gro^ und grausig, bereit sich 
auf den Mörder zu stürzen. (München, 
Schackgalerie). 

Gleich tief bildet er die Begebenheiten der 
heiligen Legende. Bei Frau Dr. Meyer in 
Freiburg i. B. hängt ein wundersames Trip¬ 
tychon „Mariencyklus'“. In loderndem Licht¬ 
glanz ruht das göttliche Kind, mit dem Strahle 
des Wunders die staunende Mutter und all 
das herzige Engelsvolk übergiessend. Darüber 
im Fries die guten heiligen Könige, durch 
finstere Nacht dem führenden Sterne folgend. 

Und daneben hängt ein anderes Bild, so 
rechtein Symbol dieser herrlichen alles umfas¬ 
senden Kunst, die „Freiheit*, ein hehres nacktes 
Weib auf wolkennahem Felshaupt sitzend, 
die phrygische Mütze im Haar, in der linken 
Hand die gesegnete Palme; die Rechte trägt 
einen stolzen Adler. 

Giebt es holdere, reinere und zartere 
Poesie als sie der geigende „Eremit' (Berlin, 
Nationalgalerie) enthält? In inniger heiliger 
Inbrunst geigt der greise Eremit sein Morgen¬ 
lied. Da umgiebt seine Klause zarter duften¬ 
der Nebel und lächelnde neugierige bewun¬ 
dernde Engel umschweben sie. Ich denke 
noch an die herrlichen fast wehmütigen 
Köpfe seiner Römer und Römerinnen, die an 
Feuerbach, an Gregorovius oder an die römi¬ 
schen Elegien^ denken lassen, so schwer und 
tief ist ihr stimmungsvoller Zauber. 

Lachend, freudig und deutsch, ürdeutsch 
ist sein Humor. Hans Sachsens Lachen, der 
tolle Jubel der Fastnachtsschwänke im deutschen 
Cinquecento werden laut. Wie vertrauensvoll 
blicken die Fische zu dem predigenden heiligen 
Antonius (Berlin, F. A. Simrock) auf, wie 
wehmütig und ironisch zugleich schaut das 
abgeschlagene Haupt des Drachen auf Rüg- 
giero, (Berlin, Ernst Seeger) wie der die 
befreite Angelica umarmt. 

Böcklin ist Schweizer und als solcher so 
deutsch, so sehr der Unsere wie Gottfried 
Keller, mit dem ihn innige Freundschaft, 
mit dem ihn künstlerische und geistige 
Freundschaft verband. Und dies Bewusstsein 
muss unseren nationalen Stolz stärken und 
kräftigen; es lässt Grosses weiterhin erhoffen. 
Und wir bedürfen nationales Bewusstsein für 
die kommende Kunst. Aber wir dürfen hoff¬ 
nungsglücklich ihr entgegensehen, denn 
unser waren die Grössten des Jahrhunderts 
in der Kunst. 

Alles jubelt Böcklin zu, und es ehren ihn 
viele Tausende, denen er Freude und Wonne 
gegeben. 

Mein Glückwunsch aber bestehe in jenen 
Worten, die ihm sein grosser jetzt toter 


Freund Gottfried Keller zum 60. Geburtstage 
gewidmet: 

Wie Dir täglich hat gegohren 
In der Seele neuer Wein, 

Also sollst Du neugeboren 
Selber jeden Morgen sein. 

Und erst spät mag es geschehen, 

Dass es fern herüber hallt: 

„Seht, auf jenen grünen Höhen, 

Hat der Meister einst gemalt“. 

„Starken Herzens, stillen Blickes 
Tei!^ er Licht und Schatten aus, 

Meister jeglichen Geschickes 
Schloss gelassen er das Haus.“ 


^ Die transsibirische Eisenbahn. 

Von Dr. F. Lampe. 

Im Jahre 1577 überschritten Kosaken 
unter Jermak den Ural, 1578 wurde Tobolsk, 
die erste russische Stadt in Sibirien, begründet, 
1639 schon war man bis ans ochotzkische 
Meer gelangt. Im Widerspruch zur Schnel¬ 
ligkeit dieser Besitzergreifung steht der Mangel 
an Intensität in der Ausnutzung des Landes. 
Während die Entdeckung Amerikas den 
geistigen Horizont und die materiellen Lebens¬ 
bedingungen der westeuropäischen Kulturwelt, 
sogar die politische Entwickelung des Staaten¬ 
systems stark beeinflusste, blieb Sibirien bis 
jetzt ausserhalb des Weltverkehres, und nur 
sensationelle Nachrichten über das Depor¬ 
tationswesen erweckten hin und wieder flüch¬ 
tiges Interesse für ein Land, das an Grösse 
Europa übertrifft. Heut, nachdem 300 Jahre 
vergangen, erwartet man Grosses von den 
Erz- und Kohlengebieten in Russisch-Asien 
und hört, dass die Reviere der Goldförderung 
an Grösse den vereinigten amerikanischen und 
australischen voranstehen. Ackerland enthalte 
Sibirien mehr als Deutschland, Österreich und 
Italien zusammen. Vor allem biete es einen 
vorzüglichen Weg nach Ostasien, und dort¬ 
hin wendet sich nun einmal der Zug des 
wirtschaftlichen und politischen Lebens. Es 
geht den Russen, ja ganz Europa mit Sibirien 
wie den alten Römern mit Gallien: zunächst 
war es wichtig wegen des Landverkehrs nach 
Spanien, dann fand man, wie wertvoll es an 
sich sei. Der Zustand der Verkehrsverhält¬ 
nisse erklärt die Wandlung der Anschauungen 
über Sibirien, erklärt die Zustände in 
Sibirien selbst. 

Nach Norden geht das aubauföhige Land 
bei einem durch keine Seewinde gemilderten 
Klima mit wai'men Sommern und kalten 
Wintern schon unter dem 60., im Osten 55- 
Breitengrad über in ununterbrochene Wald* 
ungen, denen weiter nördlich Tundren, schlie߬ 
lich das Eismeer vorgelagert ist. Von hier 


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Lampe, Die transsibirische jiisenbahn. 


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Karte der transsibirischen'Bahn. 


aus ist ein lebhafter Waarenverkehr unmöglich. 
Im Osten schliessen nicht hohe, aber unweg¬ 
same Gebirge das Hinterland vom unwirtlichen 
ochotzkischen Meere ab. Im Süden liegen Kir¬ 
gisensteppen und die innerasiatischen Gebirgs- 
hochländer. Einzig von Westen, aus Russ¬ 
land, kann dem rund 6000 km langen ost¬ 
westlichen Landstreifen, der Kolonisation 
lohnen würde, Leben zugeführt werden, aber 
nur durch Pferd und Wagen; denn die Ströme 
sind zwar schiffbar, fliessen aber von Süd 
nach Nord. Allerdings gehen Dampfer von 
Tjumen nach Tomsk, auf dem Baikalsee, 
ferner von Stretensk bis Nikolajewsk und zum 
Chanka-See; sie erleichtern den Personen- 
und Lastenverkehr; aber die Wasseradern 
sind 6 Monate im Jahre zugefroren. Die 
Fahrstrasse, die Sibirien von Westen nach 
Osten quert, war deshalb so belebt, dass oft 
bis zu 20,000 Lastwagen an einer Stelle vor¬ 
überzogen, je 5 unter Aufsicht eines Fuhr¬ 
manns. Der Zustand des Weges litt unter 
solchem Verkehr. Der Tarantass des Reisenden 
zog oft vor, nebenher über Stock und Stein 
zu jagen; denn die Bauern erfüllten die ihnen 
zuerteilte Wegelast um so widerwilliger, als 
in einem Lande, das, im Westen wenigstens, 
der Steine entbehrt, die Instandhaltung der 
Strasse in der That mühselig ist. Der Ge¬ 
danke an eine Eisenbahn quer durch Sibirien 


war deshalb schon oft aufgeworfen. Man 
schreckte stets vor der Länge des Weges 
zurück, der das doppelte der amerikanischen 
Pacific-Bahnen beträgt. Jetzt, wo die Bahn 
bald vollendet ist, ist dem Lande sofort der 
Fluch des „Aus der Welt“ genommen. 

West-Sibirien zählt 1,5 Einwohner auf das 
qkm, Ost-Sibirien und Amurland, weil weiter 
von Russland entfernt, nur 0,4. Die Kolo¬ 
nisation hat der Lebenskraft der eingeborenen 
Stämme geschadet. Ihr Weideland und da¬ 
durch ihr Viehreichtum wurden eingeschränkt, 
Branntwein und Seuchen durch die Einwan¬ 
derer eingeschleppt, die selten guten Bevöl¬ 
kerungsschichten entstammten. Diese kamen 
wieder durch Mischung mit den Eingeborenen 
herunter und gingen durch Zerstreuung im 
weiten Lande für eine planvolle Kolonisation 
verloren. Die Eisenbahn wird die Siedelungen 
fest zusammenschaaren. Unglücklich wirken 
auch die Besitzverhältnisse. Der Boden ge¬ 
hört der Krone. Der Bauer ist nur Nutz- 
niesser. Was er in Besitz genommen, gilt 
freilich insofern als sein Eigentum, als er es 
weiter verkaufen kann. Er okkupiert natürlich 
möglichst viel Land, das er dann liederlich 
ohne Fruchtwechsel und Düngung bewirt¬ 
schaftet. Trägt eine Strecke nicht mehr gut¬ 
willig, vertauscht er sie gegen eine andere. 
Dieselbe rücksichtslose Behandlung lässt er 


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Lampe, Die transsibirische Eisenbahn. 


dem Vieh angedeihen, das auf den weiten, 
menschenarmen Flächen in grossen Mengen 
vorhanden ist, und dem Wald, wo prächtige 
Bestände von Fichten, sibirischen Tannen und 
Cedern, Lärchen, im Süden auch von Birken, 
Pappeln und Weiden mutwillig durch Brand 
zu Grunde gerichtet werden. Das Pelzwild 
ist durch ungeordnete Raubjagd schon hoff¬ 
nungslos zusamraengeschwunden. Die Eisen¬ 
bahn wird einer geordneten Verwaltung zu 
gute kommen. Wegen der mangelhaften 
Verkehrsverbindungen herrscht bisher weder 
gesunde Einheitlichkeit noch ausreichende 
Aufsicht. Die Zahl der Kolonisten wächst 
schon jetzt unter dem Einfluss der Bahnanlage. 
Noch in den 8oer Jahren Oberstieg die jähr¬ 
liche Einwanderung nicht 20,000 Seelen. 
1891 begann der Bahnbau: 1892waren 60,000, 
1895 100,000, 1896 bis zum Juni bereits 
145,000 über die asiatische Grenze gezogen. 
Da der Geburtenüberschuss in Russland i Vs 
Millionen jährlich beträgt, wird die Steigerung 
der Auswanderung für den europäischen Teil 
des Riesenreiches keinen Schaden bringen. 
Die bessere Verbindung mit der Heimat wird 
vor allem tüchtigere Kolonisten, die bisher 
nach Amerika abflossen, nach Sibirien ziehen. 
Welch’ Gesindel auswandert, bezeugt eine 
Zählung vom Mai 1892, nach der in Tjumen 
von 4600 Auswandererfamilien 2800 nur 10 
Rubel und weniger besassen. Kein Wunder, 
dass es in Sibirien an geschulten Arbeitern 
und an unterrichteten Kapitalisten für jegliche 
Art Unternehmung fehlt. 

Sibirien ist zunächst Ackerbauland. Seit 
1893 arbeitet eine Vermessungskommission 
mit mehr als 130 Beamten, um sichere Zahlen 
über Art und Ausdehnung des Ackerbodens 
zu gewinnen. Bisher wechseln enthusiastische 
Schilderungen, die besonders Westsibirien 
für einen Garten, eine Schatzkammer erklären, 
mit warnenden Stimmen, die den Boden für 
weit geringwertiger halten, als Russlands 
schwarze Erde. Auch über die Ausdehnung 
des Ackerlandes schwanken die Ansichten. 
Unzweifelhaft sind Hoffnungen und Befürch¬ 
tungen, die sich an die Aussicht einer künf¬ 
tigen Weizenausfuhr aus Sibirien knüpfen, 
übertrieben. Die Kosten der Eisenbahnver¬ 
frachtung dürfen nicht unterschätzt werden, 
da wirklich hohe, die Ausfuhr lohnende Er¬ 
träge sich nur in den Flussthälern ergeben 
werden; aber eine dichte Bevölkerung wird 
das Land ernähren können. Die Erzeugnisse 
der Viehwirtschaft versprechen mehr für die 
Ausfuhr. Selbst Pessimisten geben zu, dass 
in Westsibirien 63 Pferde und 52 Rinder auf 
100 Bewohner kommen, in Deutschland nur 
8 Pferde, 30 Rinder. Ostsibirien besitzt noch 
grössere Viehbestände. Man wendet freilich 


ein, dass sibirische Kühe weniger als die 
Hälfte vom Milchertrag deutscher Landkühe 
geben, und die Pferde zwar ausdauernd und 
schnell seien, aber ungeeignet ftir Lasten; 
doch wird zweckmässigere Behandlung die 
Güte des Viehes heben. Die Wolle der 
schlecht gehaltenen Schafe ist bis jetzt gering¬ 
wertig. Vernünftige Wartung der Tiere wird 
sie bessern. Die Fleischpreise in Sibirien 
sind lächerlich gering. Der Fischfang, noch 
gänzlich ungeregelt, drückt jetzt schon auf die 
Preise in Petersburg. Unter dem schlechten 
Betrieb der sibirischen Landwirtschaft, der die 
Garnisonen zwingt, sich aus Russland zu ver¬ 
proviantieren, leidet jede Ansammlung von 
Menschenmassen, auch der Bergarbeiter. Die 
unbeaufsichtigte Ausbeutung der Gruben ohne 
Rücksicht auf die Zukunft und der Mangel 
an geschulten Kräften sind weitere Gründe 
dafür, dass Sibirien, wenn es auch im Altai, 
am Jenissei und im transbaikaüschen Bergland 
reiche Lager von Gold, Silber, Eisenerzen, 
Kupfer und Blei besitzt, V nicht einmal an¬ 
nähernd den eigenen Bedarf deckt, geschweige 
denn sich den Weltmarkt erobert. Ob die 
Kohlen, die es fast überall giebt, allenthalben 
gut sind, ist unerwiesen. Im Betrieb sind nur 
3 Gruben, von denen die 80 km nördlich 
Wladiwostok liegende für die ostasiatische 
Kriegsflotte Russlands unschätzbar ist. In¬ 
dustrielle Anlagen im Lande können den 
Kohlenreichtum erst ausnutzen, wenn die 
Eisenbahn leistungsfähige Grossunternehm¬ 
ungen hervorruft. Von französischer Seite 
ist dergleichen bereits behufs Ausbeutung 
eines goldhaltigen Geländes geplant; ähnliches 
verlautet von einer Vereinigung zweier deut¬ 
scher Gesellschaften. Die Goldförderung er¬ 
folgt im Altai bei Nertschinsk für die Rechnung 
des kaiserlichen Kabinets; im übrigen ist sie 
der Privatindustrie überlassen, nur muss der 
Ertrag der Regierung verkauft werden, die ihn 
zu vollem Werte bezahlt. Leider wird er 
durch das System des Raubbaues geschmälert, 
und bei der geringen Ausbeute, welche die 
mit unzulänglicher Technik unternommene 
Arbeit abwirft, haben die wenig kapital¬ 
kräftigen Unternehmer ihren Gewinn darin 
gesucht, ihre Arbeiter beim Verkauf von 
Lebensmitteln und Kleidung zu übervorteilen. 
Auch die seit Peter d. Gr. unterstützten 
Hüttenwerke von Kolywan arbeiten noch mit 
Unkosten und das eisenreiche Sibirien deckt 
seinen Bedarf aus dem Ural. Nur ein sibi¬ 
risches Eisenwerk wagte sich zur Lieferung 
von Eisenschienen für den Bahnbau zu ver- 


*) Zahlenangaben würden hier zu weitläufig wer¬ 
den. Vergl. d. Werk des russ. Handelsmimst, über 
Sibir. u. d. Eisenbahn, verfasst f. d. Ausstellung in 
Chicago 1893. 


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Lampe, Die transsibirische Eisenbahn. 


749 


pflichten, erhielt dafür aber 700,000 Mark 
Vorschuss. Es giebt in Sibirien noch keine 
Grossindustrie. Selbst Kleinunternchmungen, 
etwa für Schlachten, Pökeln von Fleisch, Ein¬ 
salzen von Fischen, für Sagemühlen und 
Böttchereien fehlen. Der Handel leidet da¬ 
runter, dass alles auf Messen verkauft wird, 
wohin die Waarenmassen zusammenströmen, 
besonders nach Nischne Nowgorod, und im 
übrigen stockt der Verkehr. Der Einfluss 
der Eisenbahn macht sich jedoch schon gel¬ 
tend ; denn es ist die Vertretung sibirischer 
Kaufleute in Moskau, Berlin und London in 
Aussicht genommen. 

Ungleich wichtiger als für den Handel 
Sibiriens und für seine Industrie und Land¬ 
wirtschaft ist die Eisenbahn als Verkehrsweg 
nach Ostasien, zumal 58 0/0 der chinesischen 
Ausfuhr in Thee und Seide bestehen: Beides 
kann schneller und billiger mit der Eisenbahn 
versendet werden, als mit Schiffen; denn Ver¬ 
sicherung der Ladung,, wie sie der Seeweg 
erfordert, ist unnötig, und die Dampferfahrt 
von Westeuropa nach Ostasien beansprucht 
schon für den Personenverkehr über Suez 
rund 40 Tage, mittelst der amerikanischen 
Überlandbahnen etwa 30 Tage. Eisenbahn- 
zOge werden von London bis Wladiwostok 
gegen 20 Tage gebrauchen, und ihre Ge¬ 
schwindigkeit kann in Russland bedeutend 
beschleunigt werden. 

Den Suezkanal benutzten im Jahre 1896 
3408 Schiffe mit 7K Millionen Tons Gehalt. 
Die grösste Leistungsfähigkeit der Eisenbahn, 
so lange sie eingleisig bleibt, wären 3 m Mil¬ 
lionen engl. Tons, nämlich, wenn die Züge 
auf 7 täglich vermehrt würden. Zunächst 
sind nur 3 Züge in Aussicht genommen, von 
denen 2 etwa 20 Frachtwagen mit je 10 Tons 
Ladefähigkeit enthalten werden. Trotzdem 
weist man darauf hin, dass Deutschland durch 
die Eisenbahn zum Durchgangsland für den 
Weltverkehr gemacht werden könne, der es 
bis jetzt umflutet hat, und berechnet, dass 
allein die 550,000 kg Briefe und 1,6 Millionen 
kg Drucksachen der englisch-chinesischen Post 
für Deutschland 660,000 Mark Beförderungs¬ 
gebühren abwerfen würden. Bei der Unsicher¬ 
heit aller geschichtlichen Entwickelungen sollte 
man sich nicht zu übertriebene Vorstellungen, 
von solcher Ablenkung des Weltverkehres 
machen, die dem Umschwung der Verhält¬ 
nisse durch die Entdeckung des Seeweges 
nach Ostindien oder durch die Eröffnung des 
Suezkanales gleichkommen. Vor allem werden 
dem Gewinn durch den Durchgangsverkehr 
beträchtliche Verluste betreffs der Absatz¬ 
gebiete gegenüberstehen. China bedarf der 
Einfuhr von Dungmitteln, Garnen, Tuchwaaren, 
Eisen, Maschinen. Russland wird durch die 


Eisenbahn vor altem eigene Erzeugnisse ver¬ 
breiten. An den nördlichen Landgrenzen 
Chinas und Überall im Inlande, wohin An¬ 
schlusslinien erbaut werden, können westeu¬ 
ropäische Waaren mit russischen also nicht 
in Wettbewerb treten; sie sind auf den Seeweg 
angewiesen. Ausserdem hat Russland schon 
Sorge getragen, dass die Zölle an der chine- 
sichen Landgrenze geringer sein werden, als 
die in den Seehäfen. Und gelingt es, die 
sibirische Industrie zu beleben, hat diese die 
Nähe am Absatzgebiete voraus. Zuletzt ist 
noch eins zu erwägen. Bei einem lebhaften 
Waarenaustausch zwischen der europäischen 
und ostasiatischen Kulturwelt wird der Vorteil 
schliesslich der mongolischen Bevölkerung zu¬ 
fallen; denn ihre Masse und Arbeitsfähigkeit 
ist gross, ihre Lebensbedürfnisse sind gering. 

Die grosse Eisenbahn bedeutet gewiss für 
den Weltverkehr nicht wenig, für die Ent¬ 
wickelung Sibiriens selbst alles, am wertvollsten 
ist sie aber als militärisch-politisches Macht¬ 
mittel in der Hand des einzigen europäischen 
Staates, der durch ununterbrochenen Land¬ 
zusammenhang mit den ostasiatischen Völkern 
verbunden ist. Es kann nicht Aufgabe dieser 
Zeilen sein, die stets wechselnde politische 
Lage zu kennzeichnen. Die Tageszeitungen 
weisen darauf hin. Japan und England er¬ 
scheinen durch die Eisenbahn zunächst bedroht. 

Politische Verhältnisse lassen den Verlauf 
des östlichen Teiles der Bahn im Unklaren 
erscheinen. Im Jahre 1891 hat man den 
Bau von Wladiwostok aus auf Chabarowsk 
zu begonnen, 1895 die Strecke bis Grafskaya 
schon dem Betrieb Obergeben. Jetzt wird man 
sie gar nicht für den Durchgangsverkehr ge¬ 
brauchen, sondern schon bei Nikolsk, unweit 
Wladiwostok, die Hauptbahn durch die chine- 
siche Mandschurei bis zum Dorf Onon am 
Amur abzweigen. Dieser Teil der Bahn muss 
als Privatbahn von einer chinesisch-russischen 
Gesellschaft angelegt werden, und von den 
Beziehungen zwischen China und Russland 
hängt es ab, ob von dieser Linie nach Süden 
noch eine zweite nach Port Arthur oder einem 
anderen eisfreien Hafen geleitet wird. Das 
goldene Horn von Wladiwostok ist im Winter 
zugefroren. Im übrigen wird die sibirische 
Eisenbahn vom Staat und aus seinen Mitteln 
erbaut. Nur die grossen Eisenbahnbrücken 
sind an Unternehmer vergeben. Diese be¬ 
schäftigen polnische, belgische und italienische 
Arbeiter, der Staat einheimische Kräfte, De¬ 
portierte, auf den östlichen Strecken aueh 
Chinesen. Die dünne Bevölkerung des Landes 
ist eine der Hauptschwierigkeiten für die um¬ 
fassenden Bauten. Die technische Anlage der 
Bahn erregte Staunen. Die Moskau-Oren- 
burger Linie, die mit einer 1480 m langen 


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Lampe, Die tkaessibhusche Eisenbahn. 


Eisenbrücke von 13 Öffnungen zu 106 m 
Lichten die Wolga überspannt, entsendet von 
Samara aus eine Zweigbahn nach Slatoust, 
dem russischen Birmingham, das mitten zwi¬ 
schen den beiden Uralketten liegt. Schon bis 
Ufa zahlt sie 209 Brücken, darunter die über 
die Belaja mit 6 Spannweiten von je 106,68 m. 
Im Gebirge verlangten die von Gips durch¬ 
setzten Kalkgesteine grosse Mauerungsanlagen. 
Die Steigungen sind nicht bedeutend. Diese 
Bahn führte man nachTscheljabinsk weiter. Hier 
am Rande der sibirischen Steppe beginnt die 
transsibirische Eisenbahn. Eine Anschlusslinie 
verbindet Tscheljabinsk mit der nördlichen 
sibirischen Bahn, der 1880 eröffneten Linie 
Pern-Jekaterinenburg-Tjumen. Während man 
im Osten von Wladiwostok aus den Bau be¬ 
gann, förderte man auch die westliche Strecke 
der grossen Eisenbahn so, dass ein drittel 
bereits im Betrieb sind, trotzdem der Winter¬ 
frost die Arbeiten einschränkt. Grossartig 
sind die Brückenbauten. Beispielsweise er¬ 
forderte die 640 m lange Irtischbrücke an 
Material 8770 kbm Uralgranit zur Bekleidung 
der Pfeiler. Sie sind im Inneren aus Roll¬ 
steinen aufgemauert, die man von Semipalatinsk 
herbeischßffte. 9711 kbm Zement kamen aus 
Petersburg, 4127 Tons Eisen aus dem Votkin- 
Werk an der Kama. Die Gitter, die grössten¬ 
teils in Perm hergestellt waren, wurden an Ort 
und Stelle mittels Baugerüsten vernietet. 
110615 kbm Erdausschüttungen waren nötig. 
Die Brücke hat 6 Spannungen zu 106,68 m, 
2 zu 23,47 Pfeiler ruhn auf eisernen 

Senkkästen von 100 qm Grundfläche und sind 
durch Eisbrecher von 45 ® Neigung gegen 
den Strom geschützt, der im Mittel 6000 kbm 
Wasser in der Sekunde unter der Brücke hin¬ 
durchführt und im Wasserstande im Mittel um 
6 m schwankt. Die Kosten des Baues, bei dem 
etwa looo Arbeiter thätig waren, belaufen sich 
auf 4,4 Millionen Mark. Ähnlich ist dieTechnik 
bei den Brücken über Tobol (420 m) und Ischim 
(215 m). Die Obbrücke (765 m) erhält drei 
grosse Spannungen zu 143 m. Die Träger 
sind hier 115 m an den Stützpunkten entfernt 
und haben eine Ausladung von je 14 m. Bei 
der Eisenbrücke über den Jenissei (etwa 
850 m) hat man in kühner Weise die Pfeiler 
auf Senkkasten von Holz gegründet. Muss 
man doch im Innern des Landes mit dem 
Eisen sparen, der Kosten wie der Transport¬ 
schwierigkeiten wegen. Um den Bau der 
Bahn dort zu beschleunigen, wartete man nicht, 
bis sie selbst die Materialien für die östlichen 
Strecken herbeischaften könne, sondern führte 
englisches Eisen durch das nördliche Eismeer 
und den Jenissei nach Krasnojarsk. Pfeiler¬ 
konstruktionen verlangen weiterhin die Brücken 
über den Kan (426 m), lya (213 m), Uda 


(320 m), Oka (275 m), während 200 Brücken 
über kleinere Flüsse zwischen Tscheljabinsk 
und Irkutsk zunächst aus Holz errichtet sind. 
Für die Überbrückung der transbaikalischen 
Gewässer fehlen noch endgiltige Angaben. 
Die Amurbrücke dürfte die grösste der gan¬ 
zen Bahn werden. Das Gelände bereitet der 
Linie bis zum Baikalsee nicht abnorme 
Schwierigkeiten. Wegen der Schneeverweh¬ 
ungen hat man die Bahn in der Baraba- 
Steppe öfters auf Dämmen entlang geführt, 
das wellige Land jenseits des Jenissei ver¬ 
langt hier und da grössere Sicherungen der 
von Flüssen begleiteten Böschungen, unweit 
Nischne Udinsk auch zwei 21 m hohe Holz¬ 
viadukte von 245 und 268 m Öffnung. Im 
allgemeinen konnte die Gradlinigkeit überall 
innegehalten werden. Abgelegene Orte er¬ 
halten Anschlusslinien (Tomsk, später viel¬ 
leicht noch Barnaul und Semipalatinsk durch 
eine Verbindungsbahn mit der transkaspischen 
Eisenbahn). Von Irkutsk an beginnen jedoch 
die Schwierigkeiten des Geländes. Die Bahn 
um den Südrand des Baikalsees wird eine 
durch Tunnels, Brücken und Dämme kost¬ 
spielige Anlage, deren Ausführung langwierig 
ist. Deshalb verzichtete man fürs erste auf 
diese Teilstrecke. Im Baikalsee sollen Eis- 
brecher-DampffÜhren aus Stahl für den An¬ 
schluss an die Transbaikallinie sorgen und 
Hebewerke an den Ufern die Überführung 
der Züge auf die Fähren bei jedem Wasser¬ 
stande ermöglichen. Jenseits des Baikalsees 
erreicht die sibirische Eisenbahn ihre grösste 
Höhenlage (1128 m), gerade in einer Gegend, 
die an sich das rauheste Klima besitzt. Hier 
hebt der Kampf mit dem dauernd gefrorenen 
Boden an; ferner bereiten die eng in die 
Jablonoi-Berge eingerissenen Thalböden der 
Anlage viel Mühe, weil sie in willkürlichem 
Wechsel von schnell strömenden Flüssen ein¬ 
genommen werden, deren Wasserstand grossen 
und gefährlichen Schwankungen unterliegt. 
Die Tüchtigkeit der russischen Ingenieure 
hat hier ihre Feuerprobe zu bestehen. Die 
Bewältigung der Schwierigkeiten wird jedoch 
verbürgt durch das, was bereits geleistet 
wurde. Ist doch der Bau der transsibirischen 
Eisenbahn auch insofern ein bewundernswertes 
Unternehmen, als die Schnelligkeit der Bau¬ 
ausführung den Voranschlag bisher übertraf, 
die Kosten, wenigstens auf der westlichen 
Strecke, dahinter zurückblieben! Sie sind roh 
auf 350 Mill. Rubel berechnet (705 Mill. 
Mark). Im Jahre 1901 wird man voraussicht¬ 
lich mit der Eisenbahn von der Ostsee zum 
pazifischen Ozean gelangen können. 


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Lory, Geschichtsphilosophische Systeme der Gegenwart. 


751 


Gescbichtsphilosophische Systeme 
der Gegenwart. 

Von Karl Lory. 

Wenn wir den Lesern der „Umschau“ 
heute von den geschichtsphilosophischcn Sy¬ 
stemen der Gegenwart berichten, wollen wir 
damit gleichsam eine Fortsetzung geben zu 
unserem Aufsatz über „Kulturgeschichte und 
politische Historie“, gleichzeitig aber die Ein¬ 
leitung zu einem weiteren Artikel, welcher 
einen Überblick Über die „Geschichte des 
Sozialismus“ bieten soll — ein Verständnis 
der sozialistischen Theorien ist bekanntlich 
ohne Kenntnis der geschichtsphilosophischen 
Systeme unseres Jahrhunderts undenkbar. 

Zwischen den Historikern der ktitisch- 
politischen Schule und den Geschichtsphilo¬ 
sophen scheint uns Lamprecht die vernünftige 
Mitte zu halten; er scheint'uns gleichsam zu 
den letzteren zu sagen: Bleibt uns mit eueren 
Systemen, mit euerer sog. Weltanschauung 
zu Hause, wenn dieselbe zu nichts anderem 
dienen soll, als den freien Fluss der geschicht¬ 
lichen Entwicklung in Fesseln zu schlagen, 
in vorher konstruierte Formen zu giessen! 
Den Historikern dagegen ruft er gleichsam 
zu: Warum wollt ihr euch nicht der Hilfs¬ 
mittel bedienen, welche andere Wissenschaften 
euch darbieten? Wollt ihr ewig mit euerer 
veralteten Methode arbeiten, selbst auf die 
Gefahr hin, an den wichtigsten Erscheinun¬ 
gen des geschichtlichen Lebens achtungslos 
vorOberzugehen und auf eine befriedigende 
Darstellung der Entwicklung des gesamten 
Volkskörpers dauernd verzichten zu müssen? 

Wir haben gesehen, dass Lamprecht mit 
der politischen Historikerschule in Konflikt 
geraten ist; auch die meisten Geschichtsphilo- 
sopheme, die wir heute zu besprechen haben, 
sind von derselben nicht unangefochten ge¬ 
blieben. Und das ist nicht zu verwundern. 
Geschichtskunde und Geschichtsphilosophie 
sind ja eigentlich schon im Prinzip Todfeinde: 
der Historiker bekämpft den Philosophen we¬ 
gen seines Mangels an positiven Kenntnissen 
und gründlichem Wissen, der Philosoph um¬ 
gekehrt verachtet den Historiker als Kleinig¬ 
keitskrämer und wissenschaftlichen Handlanger, 
der ihm grade gut genug sei, Steine zum 
Bau seines Systemes herbeizuschaffen; er wirft 
ihm Unwissenschaftlichkeit vor, weil er nicht 
wie jeder andere wissenschaftlich Arbeitende 
die Allgemeinheit mit ihren „ewigen, ehernen, 
grossen Gesetzen“, sondern lediglich die un¬ 
erschöpfliche Vielheit der Einzelerscheinungen 
erforsche, vergisst aber dabei, dass es noch 
unwissenschaftlicher sei, um eines Systems 
willen auch nur die geringste erkannte Wahr¬ 
heit zu opfern. 


Unbeschadet aller Angriffe ist die Zahl 
deijenigen, die sich bemühen, auf dem Wege 
der Spekulation „die Geschichte in den Rang 
einer Wissenschaft zu erheben“, sehr gross 
und eher im Zunehmen als im Abnehmen 
begriffen. Alle diejenigen, die irgendwie ein 
spekulatives Bedürfnis^ in sich verspüren, und 
ihre Zahl ist grösser als man gemeiniglich 
anzunehmen geneigt ist, haben sich ihr zu¬ 
gewandt, erkennend, dass nach der gegen¬ 
wärtigen Lage der Dinge einzig und allein 
durch die Verbindung der Spekulation mit 
einer exakten Wissenschaft für die erstere 
noch etwas zu hoffen sei. Andere freilich — 
eine jüngere Generation — sind von der 
Spekulation überhaupt abgekommen, haben sich 
nach einer anderen Grundlage umgesehen 
und dabei die Völkerkunde und Soziologie 
gefunden; man kann nicht leicht bestimmen, 
welche Richtung, die ältere oder die jüngere, 
zahlreichere Anhänger besitzt; soviel ist sicher, 
dass die Nachfolger Comtes noch lange nicht 
ausgestorben sind, wie die Soziologie noch 
lange nicht eine fertige Wissenschaft bedeutet; 
manche auch schwanken zwischen den beiden 
Schulen, beginnen mit Comte und enden mit 
Ratzel und Gumplowicz, der endliche Aus¬ 
gang ist aber heute nur annähernd voraus¬ 
zusehen. 

Es geht heutzutage mit diesen Dingen 
genau so wie am Ende des Mittelalters: die 
mittelalterlichen Denker hatten sich jahrhun¬ 
dertelang mit dem Zurechtlegen einer philo¬ 
sophischen Geschichtsauffassung *) den Kopf 
zerbrochen, da stürzte unter der Wucht der 
thatsächlichen Verhältnisse der Glaube an das 
Fortleben des römischen Imperiums zusam¬ 
men, über der Erkenntnis, dass mit dem bis¬ 
herigen System nicht mehr weiter zu kommen 
sei, verzichtete man auf eine höhere, durch¬ 
geistigtere Geschichtsauffassung überhaupt, 
und Cellarius formulierte nach rein chrono¬ 
logischen Gesichtspunkten seine Neueinteilung 
in Altertum, Mittelalter und Neuzeit. 

Einer chronologischen Einteilung nun aller¬ 
dings ist die Gegenwart abhold; Geschichts¬ 
zahlen zu memorieren ist nicht mehr modern 

•) Die Entstehung derselben lässt sich in Kürze 
folgendermassen skizzieren: Während die älteren 
Geschichtswerke der klassischen Völker einen ein¬ 
zigen Mittelpunkt ihrer Darstellung aufweisen (bei 
Timäus z. B. erscheint als solcher das grossgriech¬ 
ische Kulturreich, bei Cato und Polybius dasRönier- 
tum), kam späterhin die Lehre von den drei (Theö- 
pomp) resp. vier (Zeno von Rhodos etc.) Welt¬ 
reichen aut, eine Lehre, die Diodor mit jener von 
der römischen Universalmonarchie als dem letzten 
dieser Weltreiche und später Eusebius mit dem 
Dogma vom christlichen Charakter des römischen 
Imperiums verschmolz; das Mittelalter (Otto von 
Freising) nahm sie in dieser Gestalt auf und suchte 
ihr die geschichtlichen Ereignisse anzupassen. 


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752 


Lory^ Geschick löi'inLosoPHiscHE Sysieme der Gegenwart. 


und unsere Zeit ist dazu viel zu sehr zer¬ 
streut. Aber die Gliederung der Weltgeschichte 
nach geographischen Gesichtspunkten (und eine 
solche Weltgeschichte ist uns in Aussicht ge¬ 
stellt, vergl. den Aufsatz „Weltgeschichte“ von 
H. J. Helmolt im i6. Band der ,,Zukunft“, 
S. 350 ff.) steht doch, vom höheren kultur¬ 
geschichtlichen Standpunkte aus betrachtet, 
auf gleicher Stufe mit der obenerwähnten Ein¬ 
teilung des Cellarius: beide sind hervorge¬ 
gangen aus dem richtigen Gefühl, dass mit 
dem bisherigen System nicht mehr weiterzu¬ 
wirtschaften sei; zu Cellarius Zeiten war die 
mittelalterliche Kaiseridee endgültig überwun¬ 
den, und heute beginnt auf allen Seiten der 
Kampf gegen die Verfechter der Idee von 
einem bestimmt zu messenden Fortschritt in 
der Geschichte, von geschichtlichen und ge¬ 
schichtslosen Völkern u. s. w. 

Und hier sind wir an dem Kernpunkt des 
Streites zwischen der älteren und jüngeren 
Richtung angekommen: die Anhänger der 
ersteren haben sich den Kopf zerbrochen mit 
der Ausfindigmachung bestimmter Systeme, 
in welche sich der Kulturfortschritt der Mensch¬ 
heit bringen liesse, und nun kommen die 
jüngeren, die bösen Soziologen, und sprechen 
lachend: Was ihr da thut, ihr lieben Leute, 
ist lediglich Danaidenarbeit; es giebt ja gar 
keinen Fortschritt in der geschichtlichen Ent¬ 
wicklung! 

Der Gegensatz zwischen beiden Richtun¬ 
gen ist lediglich eine Erscheinungsform jenes 
tiefen Kontrastes, der durch unsere ganze 
Geisteswelt geht und den wir nicht anders 
und nicht besser bezeichnen können als den 
Gegensatz zwischen Realschule und humanist¬ 
ischem Gymnasium; die zwei grundverschie¬ 
denen Bildungselemente, die gegenwärtig um 
die Vorherrschaft ringen, und die in ihrem 
tiefsten Grunde nicht anders sind als Äusser¬ 
ungen jenes ewig alten und doch auch ewig 
neuen Kampfes zwischen Idealismus und Re¬ 
alismus, haben auch den Zwiespalt in die 
Bestrebungen nach wissenschaftlicher Auffass¬ 
ung des gesamtgeschichtlichen Verlaufes (und 
das ist ja doch jede Geschichtsphilosophie in 
letzter Linie) hineingetragen — wahrschein¬ 
lich wird keine der beiden Parteien Sieger 
bleiben, sie werden sich gegenseitig befruch¬ 
ten und ergänzen und die geschichtliche Auf¬ 
fassung vertiefen — steht doch auch L. v. 
Ranke *) auf den Schultern des Cellarius und 
seiner Triasidee. 

Der Humanismus hat mit seltener Ein¬ 
seitigkeit die antike, die sog. klassische Welt 
zum Mittelpunkt nicht allein seiner wissen¬ 
schaftlichen Bestrebungen, sondern sogar sei- 

*) Mit seiner Einteilung der Weltgeschichte in 
Orient, Römertuni, Occident. 


ner Lebensformen und Gedankenwelt gemacht; 
er hat jenen Geist gezeugt, der heute noch 
an unseren humanistischen Gymnasien, jenem 
famosen staatlich patentierten Überbleibsel 
einer längst abgestorbenen Kultur, sein Leben 
treibt, die helleren Köpfe unter Lehrern und 
Schülern nach Kräften quält und die breite 
Mittelmässigkeit zu „guten“ Staatsdienern her¬ 
anzüchtet. Da aber zur Zeit des aufstreben¬ 
den Humanismus der zum Dogma gewordene 
Glaube an das Fortleben des römischen 
Reiches, wenn auch nur unbewusst, noch im¬ 
mer wenigstens in der Weise die Gemüter 
beeinflusste, dass ein gewisses Sich-Eins-Füh- 
len mit den klassischen Völkern bestehen 
blieb, so war damit ganz von seihst der An¬ 
fang gegeben zu der Anschauung von ge¬ 
schichtlich hervorragend oder Überhaupt allein 
bedeutenden Völkern, die man dann als Ge¬ 
genstand der geschichtlichen Betrachtung vod 
den „geschichtslosen“ mit sicherer Hand ab- 
schnitt. Innerhalb dieser Völkergruppe suchte 
man nun die Gesetze und Stufen der kultur¬ 
ellen Entwicklung zu entdecken, ein Problem, 
das noch immer zu keiner endgültig befrie¬ 
digenden Lösung gediehen ist; indem nun 
aber die jüngere Schule diesen Fortschritt 
überhaupt leugnet und ausserdem auf die bis¬ 
her als geschichtslos vernachlässigten Völker 
als ebenfalls zur Welt-, d. h. Menschheits¬ 
geschichte gehörig mit immer grösserem Nach¬ 
druck hinweist, ist ein Konflikt entstanden, 
der höchst wahrscheinlich damit enden wird, 
dass man die Anschauung von einem gleich- 
mässigen und stetigen Fortschritt der Mensch¬ 
heit aufgiebt und an ihre Steile einen Ver¬ 
gleich der von den verschiedenen Völkern 
jeweilig erreichten Kulturstufen untereinander 
setzt. — 

Die Geschichtsphilosophie ist wie nicht 
leicht ein anderer Zweig menschlicher Geistes- 
thätigkeit geeignet zu einem Gradmesser der 
allgemeinen psychischen Disposition irgend 
einer Periode; und wenn wir nun zu einer 
Besprechung der wichtigsten geschichtsphilo¬ 
sophischen Systeme im einzelnen übergehen, 
so wird vielleicht mancher Leser darin einen 
nicht unwillkommenen Beitrag zur Kulturge¬ 
schichte der Gegenwart erblicken. 

Durch unsere Zeit geht ein tiefer myst¬ 
ischer Zug, ein Bedürfnis nach Befriedigung 
des in der Menschenbrust schlummernden 
religiösen Triebes. Die einen suchen neue 
Bahnen und Wege, andere kehren zurück zu 
dem, was bereits als überwunden galt. Man 
legt sich die Frage vor: wenn diese materielle 
Welt wirklich die einzig reale sein soll, wel¬ 
chen vernünftigen Zweck hat dann die ganze 
geschichtliche Entwicklung der Menschheit? 
Und wer nicht stark genug ist, dieselbe als 


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Lory, Geschichisphilosophische Systeme der Gegenwart. 


753 


Selbstzweck anzusehen, wird entweder zur 
sogenannten positiven Religion zurückkehren 
müssen, wie dies Laurent thut in seiner 
„Histoire du droit des gens et des relations 
internationales", einer Art Theodicee des XIX. 
Jahrhunderts, in welcher der Fortschritt der 
Menscheit in Zusammenhang gebracht wird 
mit der göttlichen Weltleitung und der Im¬ 
manenz Gottes in der Menschheit; *) oder 
man wird mit Dr. du Frei zur Geschichts¬ 
philosophie des „Okkultismus“ kommen,*) 
der (im Gegensatz zu Schopenhauer, welcher 
nur eine Veränderung, aber keine Entwick¬ 
lung, und zum Materialismus, welcher wohl 
eine Entwicklung, aber ohne Zweck und Ziel, 
kennt) die Frage nach der Zweckmässigkeit 
der Menschengeschichte auf spiritistische Weise 
zu lösen versucht. 

Der historischen Methode aber kommt es 
entschieden nähei, wenn man auf Erforschung 
des finalen Zusammenhangs der Dinge ver¬ 
zichtet und sich au^ den kausalen beschränkt; 
und unter denen, die dies thun, dürfen wir 
wohl nicht mit Unrecht die Soziologen — 
allen voran Gumplowicz — als diejenigen 
betrachten, die aller mystischen Spekulation 
am weitesten entfernt stehen. Das geschicht¬ 
liche Leben erscheint ihnen als ,,ein System von 
Bewegungen sozialer Gruppen, die eben solchen 
ewigen, unabänderlichen Gesetzen folgen xvie 
die Sonnen und Planeten"; durch Erkenntnis 
des obersten Gesetzes, w'elchcs das soziale 
Weltsystem beherrscht, lassen sich diese Be¬ 
wegungen erklären, ja sogar vorausbestim¬ 
men. Dieses oberste Weltgesetz aber ist das 
Bestreben jeder sozialen Gruppe, „auf Kosten 
aller anderen sich zu erhalten und, künftiger 
Erhaltung vorsorgend, ihre Macht immer zu 
vermehren“; daneben freilich wnrken noch 
eine ganze Anzahl anderer „zwingender Na¬ 
turgesetze", Accomodation u. s. w. 

Es ist auch ein bemerkenswerter Zug 
unserer Zeit, auf wissenschaftliche Theorien 
eine Art Vernunftreligion aufzubauen; das ist 
mit dem Haeckelsciien Monismus geschehen, 
in Frankreich hat man es auch bei der So- 

•) Der Einfluss Hegels ist hier unverkennbar; 
man vergl. dessen BegriflT der Geschichte als „einer 
immanent vernünftigen und organisch gesetzlichen 
Evolution des Weltgeistes oder der allgemeinen 
Begriflssubstanz alles Seienden in den einzelnen 
Abteilungen oder Stufen des menschlichen Kultur¬ 
lebens auf der Erde, welche von ihm, dem Prinzip 
seiner Methode gemäss, in der Form eines ein¬ 
fachen zusammenhängenden Prozesses aufgereiht 
und hierdurch in den Verhältnissen ihrer eigentüm¬ 
lichen Besonderheiten festgestellt wird.“ — ln Deutsch¬ 
land war Bunsen („Gott in der Geschichte’) der 
Begründer einer derartigen einseitig theologischen 
Geschichtsauffassung. 

*) Vergl. dessen Aufsatz „Philosophie der Ge¬ 
schichte“ in Band 9 der „Zukunft“, Seite 341 ff. 


ziologie versucht (vergl. Jean Izoulet, La 
vit moderne ou la m^taphysique dans la so» 
ctologie). Der soziologische Darwinismus, sagt 
Izoulet, mit seinem Kampf ums Dasein hat 
nur Berechtigung im Verhältnisse der Ge¬ 
sellschaften und Völker zu einander, denn 
hier steht ein Ganzes einem Ganzen gegen¬ 
über; Kultur der Gesellschaft müsse die neue 
Religion werden. 

Den Soziologen gegenüber mit ihrer Negier¬ 
ung eines allgemeinen einheitlichen Fortschritts 
stehen die noch immer zahlreichen 
Comtesf) z. B. Strada („La loi de l’histoire“), 
der in' dem „durch das Verhalten der Men¬ 
schen zu den umgebenden konkreten Objek¬ 
ten bestimmten“ Verlauf der Geschichte fast 
genau wie Comte folgende Stufen unterschei¬ 
det: „fideisme", „rationalisme" und „imper- 
sonalisme melhodique". Eine ganz besonders 
interessante Erscheinung aber ist jedenfalls 
die Verschmelzung der Lehre Comtes von einem 
in dreifacher Abstufung sich vollziehenden 
Kulturfortschritt mit ethnologischen, oft sogar 
soziologisch angehauchten Ideen, wie wir sie 
z. B. beim Amerikaner Lewis H. Morgan fin¬ 
den, der folgende Perioden herausschält: 
Wildheit, Barbarei, Zivilisation; Nilsson be¬ 
wegt sich ganz in seinem Fahrwasser, nur 
zerlegt er No. 2 in Nomadismus und Acker¬ 
bau, während er die Zivilisation näher ^us- 
führt: Schriftsprache, geprägte Münze, Ar¬ 
beitsteilung etc. 

Zwischen Comte und den Jüngeren hat 
J. Stuart Mill mit seiner „fMo/o^/i?" gleich¬ 
sam die Brücke gebildet; Ethologie ist ihm 
die Erkenntnis derjenigen Gesetze, die unter 
bestimmten physischen und moralischen Um¬ 
ständen zu eigentümlichen Charaktertypen 
menschlischer Gesellschaft führen, was aller¬ 
dings schon sehr an Lazarus und seine „Völker¬ 
psychologie" erinnert. Er hat einen Nach¬ 
folger gefunden in P. Lacombe („De l’histoire 
consider^e comme Science"). Derselbe führt 
die gesamte geschichtliche Entwicklung zu¬ 
rück auf die Handlungen einzelner Menschen; 
hervorgegangen aus dem Geschlechts- und 
Selbsterhaltungstrieb; die Schwierigkeiten, die 
sich der Befriedigung dieser Bedürfnisse ent¬ 
gegenstellen, führen zur Entwicklung der Ver¬ 
standeskräfte; weiterhin versucht der Ver- 

*) Comte, Verfasser von „Cours de philosophie 
positive“ (1830/42) und „Systeme de politique po¬ 
sitive“, ist der Begründer der „Sozialphysik“, welche 
in „Sozialstatik“ und ,Sozialdynamik“ zerfällt, von 
denen sich die erstere mit der Ergründung der ge¬ 
sellschaftlichen Gesetze in ihrer ruhenden Ordnung, 
die letztere im natürlichen Fortschritt zu beschäf¬ 
tigen hat: in der Entwicklung der Menschheit unter¬ 
scheidet Comte drei Stufen, die theologische, meta¬ 
physische und positivistische oder exakt wissen¬ 
schaftliche, Ausdrücke, die wohl keiner weiteren 
Erklärung bedürfen. 


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754 


VortrAge auf der Versammlung der Naturforscher u. Ärzte. 


fasser die psychologischen Wurzeln der ver¬ 
schiedenen menschlichen Institutionen bloss- 
zulegen, deren Verschiedenheit ihm endlich 
auf die Frage nach dem Fortschritt in der 
Geschichte führt — mit den Soziologen ver¬ 
wirft er den Glauben an einen allgemeinen 
organischen Fortschritt, und der Eklektiker 
ist fertig. 

Diejenigen zwei Systeme, welche zwar 
die wenigsten Nachahmer, dafür aber die 
meisten Bewunderer und Anhänger gefunden 
haben, bleiben uns noch zu erwähnen übrig; 
es sind die Lehren von Buckle und Marx. 
Wir haben sie an den Schluss gestellt, weil 
sie die Systeme der Gegenwart nicht direkt 
beeinflussten; wir glaubten sie aber erwähnen 
zu müssen, um uns nicht einer Halbheit 
schuldig zu machen. 

Beide haben die eine Frage zu beant¬ 
worten gesucht: welches ist das treibende 
Moment aller geschichtlichen Entwicklung? 
Buckle gab darauf die Antwort des Idealisten: 
der Fortschritt der Kultur ist begründet in 
der Zunahme des menschlichen Wissens. Er 
that dies in seiner „History of civilisation in 
England“ (London 1858/61), einem der be¬ 
rühmtesten Bücher aller Nationen und aller 
Jahrhunderte. 

Marx gab die Antwort des Realisten, er 
w'urde damit der Begründer des modernen 
Sozialismus, welcher uns in einem folgenden 
Artikel beschäftigen soll. 


Vortrage auf der Versammlung der Naturforscher 
und Ärzte in Braunschweig (20.—25. Sept.). 

I. Photographie. 

Von Frivatdozent Dr. Precht. 

Zum ersten Mal war in diesem Jahr der Photo¬ 
graphie ein Platz auf der Naturforscher-Versamm¬ 
lung eingeräumt. Nicht nur, dass man eine neue 
Sektion fhr wissenschaftliche Photographie schuf, 
man räumte der Photographie sogar einen ganzen 
Tag ein, indem man den Mittwoch zu einer ge¬ 
meinsamen Sitzung aller interessierten Abteilui^en 
ausersah. Dem Kundigen musste nach der Zahl 
und dem Inhalt der für diesen Tag in Aussicht ge¬ 
nommenen Vorträge klar sein, dass auf einen durch¬ 
schlagenden Erfolg der photographischen Sache 
nicht zu rechnen w'ar und wir wollen nur gleich 
gestehen, da es doch einmal öffentlich gesagt sein 
muss, das Ergebnis hat diese Befürchtungen leider 
bestätigt. Die leitenden Organe der Versammlung 
sind sich offenbar über die eigenartige Zwitter- 
stidiung, welche die Photographie nun mal einnimmt, 
nicht klar geworden. Da sind auf der einen Seite 
einige wenige ernsthafte Forscher, meist Physiker 
oder Chemiker, welche die Photographie um ihrer 
selbst willen als Wissenachaß betreiben möchten 
und die bisher bei uns in Deutschland die erwünschte 
Resonanz ftlr ihre Bestrebungen nicht gefunden ha¬ 
ben. Ilinen gegenüber steht auf der andern Seite 
Jene mächtige üruppe von Männern aller Wissen¬ 


schaften, die sich begnügen, die gegenwärtig be¬ 
kannten Hülfsmittel der photographischen Ttchiik 
für die Zwecke ihrer Spezialwissenschaft nu^brin- 
gend zu verwerten. Diese letzte Gruppe hat zweifel¬ 
los die grössten äusseren Erfolge und im Interesse 
der Photographie sind ihr stets neue zu wünschen, 
die von der ausserordentlich vielseitigen Anwend¬ 
barkeit photographischer Methoden und Prozesse 
Zeugnis ablegen. Aber ist nicht auf der andern 
Seite mindestens ebenso wichtig die Arbeit zur 
Förderung der Erkenntnis dieser Prozesse? Bedingt 
nicht jeder wissenschaftliche Fortschritt zugleich 
w’ieder neue und ungeahnte Fortschritte der 
Technik? 

Nicht zu verwundern ist es, dass bei diesem zwie¬ 
spältigen Charakter der Photographie die Vertreter 
der einen Gruppe ihre Zeit nicht da vergeuden 
wollen, wo die grosse Zahl der speziellen Anwend¬ 
ungen für die Erkenntnis der Prozesse nichts Neues 
lehrt. Das haben die Verhandlungen, die wir kurz 
überblicken wollen, deutlich gezeigt. So kam es, 
dass die physikalische Sektion, die doch an der 
wissenschaftlichen Photographie ein besonderes In¬ 
teresse haben sollte, am Nachmittage dieses für die 
Photographie bestimmten Sitzungstages ihre eige¬ 
nen Aufgaben mit Recht für wichtiger hielt imd 
sich auf diese zurOckzog. Morgens sprach H. W. 
Vogel Ober den gegenwärtigen Stand der wissen¬ 
schaftlichen Photographie und gewiss war Niemand 
kompetenter als der verdienstvolle Nestor der 
deutschen wissenschaftlichen Photographie, ein 
solches Thema zu behandeln. Leider können wir 
nicht verhehlen, dass er das Thema bald völlig aus 
den Augen verlor. Was Vogel gab, war wesent¬ 
lich ein historischer Überblick über den bisherigen 
Entwicklungsgang und nicht allzu tief gefasst. Die 
grossartige Gelegenheit, an so hervorragend öffent¬ 
licher Stelle auf die unglaubliche Fülle der ein¬ 
fachsten und wichtigsten Probleme hinzuweisen, 
die auf wissenschaftlich-photographischem Gebiete 
noch ihrer Lösung harren und sozusagen auf der 
Gasse liegen, liess der Vortragende im Wesent¬ 
lichen ungenutzt vorübergehen. Natürlich fand er 
dennoch grossen Beifall, denn es ist stets schmeichel¬ 
haft zu bemerken, dass man beinahe Alles, was 
ein so berühmter Mann — wir sind gewiss die 
letzten, Vogels grosse Verdienste in irgend etwas 
zu verkleinern oder zu unterschätzen — über einen 
solchen Gegenstand zu sagen weiss, der Hauptsache 
nach schon kannte. 

Die folgenden Vorträge ~ Über du Bois-Rey- 
monds Anwendung der Photographie zum Studium 
der menschlichen Bewegung sind die Leser der 
„Umschau“ bereits unterrichtet — boten eine Fülle 
des Interessanten in mancher Beziehung. Wir er¬ 
wähnen besonders eine Demonstration des Dr. Lud¬ 
wig Braun-Wien, welche die Anwendung des 
Kinematographen zum Studium der Bewegung des 
Herzens zum Gegenstand hatte. Es wurden Bilder 
der Bewegung des Hundeherzens gezeigt. Ferner 
ein Vortrag von Schcier-Berlin, der über die 
Erfolge berichtete, die der Vortragende beim Stu¬ 
dium der Physiologie der Stimme und Sprache 
durch die Anwendung von Röntgenstrahlen in Ver¬ 
bindung mit dem Fluorcszenzschirm erzielt hat Be¬ 
sonders lür Mediziner interessant waren eine Reihe 
dermatologischer Projektionsbilder, die L a s s a r - 
Berlin voriuhrte. Sie zeigten, wie erfolgreich sich die 
Photographie zur Wiedergabe der Erscheinungen 
von Lepra, Lupus, Krebs, Tuberkulose etc. ver¬ 
wenden lässt. L'nter grosseniBeifallftthrteSelenka- 
München eine Anzahl kolorierter Projektionsbilder 
aus Indien und Japan vor, die botanischen, zoo¬ 
logischen und vorzugsweise ethnographischen In¬ 
halts waren. Selenka wusste die präentigen Bilder 


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Vorträge auf der Versammlung der Naturforscher u. Ärzte. 


755 


mit einem fesselnden und anregenden Vortrag zu 
begleiten. Leider war der Vortrag unter dem irre¬ 
führenden Titel „Anwendung der Photographie auf 
Forschungsreisen“ angekündigt; von dieser An¬ 
wendung selbst erfuhr man nichts, aber man sah 
ihre Resultate, die in gleicher Schönheit und Farben¬ 
pracht wohl noch nie gezeigt wurden. 

Wer in der allgemeinen Sitzung nicht ganz auf 
seine Kosten gekommen zu sein glaubte, tröstete 
sich mit der Aussicht auf die Sitzungen der neu¬ 
geschaffenen Sektion für wissenschaftliche Photo¬ 
graphie und hier gab es in der That einige sehr 
bemerkenswerte Mitteilungen, die indessen zu spe¬ 
zieller Natur sind, als dass ein Eingehen an dieser 
Stelle geboten erschiene. Wir woUen nur herv'or- 
heben, dass der oben dargelegte Gegensatz der 
beiden Gruppen auch in der Sektion zum Ausdruck 
kam und, angeregt durch Englisch-Stuttgart, zu 
einem lebhaften Meinungsaustausch führte. Man 
einigte sich dahin, in Zukunft die rein wissenschaft¬ 
lichen Dinge und die Anwendungen in getrennten 
Sitzungen zu behandeln, um den einzelnen Mitglie¬ 
dern Zeit zu ersparen. Wir können diese Zeilen 
nicht schliessen, ohne zu erw'ähnen, dass die Sektion 
auch einen Vortrag im Stile alter spekulativer 
Naturphilosophie über sich ergehen lassen musste. 
Es war eine Freude zu sehen, wie der greise H. 
W. Vogel seine Jugendlichkeit dieser fossilen Art 
der Naturbetrachtung gegenüber dadurch doku¬ 
mentierte, dass er sanft entschlummerte. 

Haben sich auch nicht alle Hoffnungen, mit denen 
wir nach Braimschweig zogen, verwirklicht, so 
müssen wir doch zufrieden sein, dass zu einer 
wissenschaftlichen Vertretung der Photographie 
wenigstens ein Anfang gemacht ist und das ist sehr 
viel, selbst wenn es das einzige Resultat wäre, das' 
dieser Versuch ergeben hat. 

Die mit der Versammlung verbundene Ausstell¬ 
ung für wissenschaftliche Photographie bot dank 
der hingebenden Thätigkeit der Braunschweiger 
Herren Prof. Müller, Dr. Miette, Dr. Giesel ein 
aussergewöhnlich umfassendes und vollständiges 
Bild aller Zweige der Anwendung der Photographie 
in der Wissenschaft. Besonders hervorragend waren 
Röntgenbilder, medizinische, anthropologische, geo- 
graplusche, astronomische, meteorologische und 



II. Chemie, Physik, Agrikulturchemie, 
Hygiene und Geologie. 

Von Dr. Bechhold. 

Wenn auch der Photographie auf der diesjähr¬ 
igen Versammlung der Löwenanteil zufiel, so boten 
doch auch die anderen Sektionen viel bemerkens¬ 
wertes. 

Von hervorragend allgemeinem Interesse war 
entschieden der Vortrag Prof. Richard Meyers 
(Braunschweig) Ober „Chemische Forschung und 
chemische Technik in ihrer Wechselwirkung“. Er 
zeigte, wie stets lange wissenschaftliche Forschung 
den Boden vorbereitet hat, auf dem die Technik 
ihre grossen Erfolge erzielen konnte; wie dann 
wieder die Technik der Wissenschaft heue Auf¬ 
gaben stellt. Er wies hin auf die g;rossen Erfolge 
der Farbstoftindustrie, der Fabrikation pharmazeu¬ 
tischer und photographischer Präparate, der Zucker¬ 
industrie, der G^rungsgewerbe und der im Auf¬ 
blühen begriffenen Elektrochemie. 

Der gleiche Forscher hat eine neue interessante 
Beziehung zwischen Zusammensetzung und Eigen¬ 
schaften, organischer Körper gefunden, die er in 
einer Sektionssitzung bekannt gab. Schon längere 
Zeit ist es bekannt, dass die Fähigkeit organischer 


Körper, Farbstoffe zu bilden, von gewissen Atom¬ 
komplexen abhängt. Meyer hat nun die interessante 
Thatsache gefunden, dass auch die Eigenschaft zu 
fluoreszieren an bestimmte Atomgruppen gebunden 
ist, die er Fluorophore nennt und stellte genau die 
Bedingungen fest, unter welchen allein die Fluoro- 
horen-Gruppen in Wirksamkeit treten können. — 
emer hatte Richard Meyer es übernommen, 
einige nachgelassene Arbeiten seines verstorbenen 
Bruders Victor Meyer zur Verlesung zu bringen, 
die spezialwissenschaftliche Arbeiten betrafen („Wei¬ 
tere Beobachtungen Ober die Entwicklung von 
Sauerstoffgas bei Reduktionen" und „Über Um¬ 
lagerung von Buttersäure in Isobuttersäure“, eine 
Untersuchung, die der heimgegangene Gelehrte 
auf der vorjährigen Frankfurter Naturforscherver¬ 
sammlung beauftragt worden war, vorzunehmen). 

Im Brennpunkt der wissenschaftlichen chemischen 
Forschung steht zur Zeit die Frage über den Bau 
(Konstitution) des Katnphers. Man hatte deshalb 
auf der letzten Naturforscherversammlung beschlos¬ 
sen, in Braunschweig eine Diskussion über das 
Thema zu veranstalten. Diese fand statt, brachte 
aber, wie eigentlich nicht anders zu erwarten war, 
keine greifbaren Resultate. Der eine neigt zu 
dieser, der andere zu jener Formel. Die Frage ist 
eben noch nicht spruchreif und bedarf weiterer ex¬ 
perimenteller Untersuchungen. 

Seit dem letzten Jahrzehnt beschüftigt man sich 
auf den wissenschaftlichen chemischen Laboratorien 
besonders mit stereochemischer Forschung. Es halte 
sich nach und nach eine Menge Material angehäuft, 
mit dem man nichts rechtes mehr anziifangen 
wusste: man hatte eine ganze Reihe von Substanzen 
gefunden, die chemisch identisch, auch leicht 
m einander OberfÜhrbar waren (oft durch blosses 
Erhitzen), sich aber physikalisch ganz wesentlich 
von einander unterschieden (andere Schmelzpunkte, 
verschiedene Drehung des polarisierten Lichts u. a.) 
Aus diesem Dilemma half van ’t Hoff, indem er 
eine Anschauung aussprach, die sich als äusserst 
fruchtbar erwies: Man nennt den KohlenstoiT vier¬ 
wertig, weil jedes Atom von ihm vier einwertige 
Atome (z. B. Wasserstoff, Chlor etc.) zu binden 
vermag; van ’t Hoff machte sich eine räumliche 
Vorst^ung von dieser Bindung: er dachte sich das 
Kohlenstoffatom im Mittelpunkt, zwei Bindekräfte 
nach oben ausstrahlend, zwei nach unten, aber nicht 
in der gleichen Ebene, sondern senkrecht dazu 
(man erhält so die Eckpunkte eines Tetraeders). 
Hängen nun an den Endpunkten dieser Bindekräfte 
vier verschiedene Atome oder Atomgruppen, so 
kann der Fall eintreten, dass man zwei Raumge¬ 
bilde erhält, die nicht identisch, sondern nur sym¬ 
metrisch sind. Und siehe da, ^Ue jene Substanzen, 
die die oben beschriebenen Eigenschaften zeigten, 
enthielten ein solches Kohlenstoffatom, an dem vier 
verschiedene Atome oder Atomgn^pen hingen 
(ein sogen. «sywwe^mc/resKohlenstoffatom). Diese 
räumliche Betrachtving chemischer Gebilde, die man 
als Stereochemie bezeichnet, erwies sich als äusserst 
fruchtbar und es konnte nicht ausbleiben, dass man 
sie in analoger Weise auch auf andere Elemente aus¬ 
zudehnen versuchte. Ladenburg (Breslau) hat 
eine Substanz (Methylpipecolylalkin) hergestellt, die 
chemisch durchaus identisch mit einer auf etwas 
anderem Wege dargestellten ist, jedoch im Schmelz¬ 
punkt Verschiedenheiten zeigt und glaubt damit zu 
seinen früheren ein neues Beispiel für ein asym¬ 
metrisches Stickstoffatom erbracht zu haben. 

Das Streben des modernen wissenschaftlichen 
Chemikers geht besonders darauf aus, sich die phy¬ 
sikalischen Methoden für seine Untersuchungen 
dienstbar zu machen. In diesem Sinne hat Prof. 
Dr, Drude (Leipzig) sehr schnelle Hertzsche 


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756 


Vorträge auf der Versammlung der Naturforscher u. Ärzte. 


elektrische Schwingutigen verwendet. Er fand, 
dass viele Stoffe, die im gewöhnlichen Sinn gute 
Isolatoren ftir Elektrizität sind, die Energie der 
schnellen elektrischen Schwingungen erheblich ab¬ 
sorbieren. Diese, wie er sie nennt, anomale Ab- 
Sorption trat fast stets dann auf, wenn der betr. 
Körper die Hydroxylgruppe enthielt, so zeigt sie 
sich bei den Alkoholen und Fettsäuren, fehlt da¬ 
gegen bei Äthern, Ketonen und Aldehyden. 

Dem gleichen Forscher war das Referat über 
Fermvirkitngen übertragen worden, das er vor 
den vereinigten Sektionen für Physik, Meteorologie, 
Mathematik und Astronomie hielt. (Den wesent¬ 
lichen Inhalt dieses Vortrags entnehmen wir der 
»Chemiker-Zeitung“.) Wenn ein Körper eine Wirk¬ 
ung — insbesondere eine mechanische - auf einen 
räumlich von ihm getrennten Körper ausübt, ohne 
dass eine materielle Verbindung irgend welcher Art 
zwischen ihnen besteht, so spricht man von einer 
Fernwirkung zwischen den beiden. 

Manche „Nahewirkungen“, zu denen auch die 
chemischen Reaktionen gehören, nehmen in be¬ 
sonderen Fällen eine Gestalt an, dass man von 
einer scheinbaren Fernwirkung reden kann. Man 
hat sich vielfach bemüht, die reinen Fernwirkungen, 
als unbegreiflich, auf Nahe wirkungen zu reduzieren, 
indem man einen besonderen, überall vorhandenen 
Verbindungskörper, einen imponderabeln Äther, 
hypothetisch annahm. Erstrebenswertes Ziel ist es 
dabei, durch die Eigenschaften nur eines Äthers 
die verschiedenartigen Femwirkungen gleichzeitig 
zu erklären, was aber bisher noch nicht gelungen 
ist. Doch fasst z. B. die neuere elektromagnetische 
Theorie des Lichts den Lichtäther als identisch auf 
mit dem Äther, der die elektrischen Fernwirkungen 
vermittelt. 

Man hat aber auch den entgegengesetzten Weg 
eingcschlagen und die Nahewirkungen auf Fern¬ 
wirkungen zu reduzieren gesucht, z. B. die Er¬ 
scheinungen der Elastizität und Kapillarität durch 
„Molekiilarkräfte“. 

Für die elektromagnetischen Erscheinungen ist 
die Annahme von Nanewirkungen kaum von der 
Hand zu weisen, seitdem Hertz nachgewiesen 
hat, dass die elektromagnetischen Wirkungen von 
periodisch schnell veränderlichen Strömen sich als 
elektrische Wellen mit bestimmter endlicher Fort¬ 
pflanzungsgeschwindigkeit von Punkt zu Punkt 
durch den Raum ausbreiten, in vollkommener Über¬ 
einstimmung mit den Folgerungen der Maxwell- 
scheu Nahewirkungstheorie. Danach ist es von 
Interesse, zu ermitteln, ob auch bei der gewöhn¬ 
lichen Massenanziehung, der Gravitation, eine end¬ 
liche Fortpflanzungsgeschwindigkeit sich zeigt. Aus 
astronomischen Beobachtungen ist indes bisher 
eine solche nicht zweifelfrei nachzuweisen. Um ge¬ 
wisse Eigentümlichkeiten der Planetenbewegung zu 
erklären, hat man auch wohl das einfache Newton- 
sehe Gesetz der Fernwirkung (umgekehrt pro¬ 
portional dem Quadrat der Entfernung) in ver¬ 
schiedener Weise abgeändert. 

Schon aus alter Zeit datieren die in mannig¬ 
facher Gestalt immer wieder erneuerten Versuche, 
die Erscheinungen der Gravitation aus_ der Druck- 
oder S/o.wwirkung eines besonderen Äthers zu er¬ 
klären. Zum Teil phantastisch, in sich wider¬ 
spruchsvoll oder doch zu wenig durchgebildet, geben 
alle diese Theorien kein vollkommen befriedigendes 
Bild. Da, wo man die Stosswirkung von Ather- 
teilchen gegen die materiellen Körper annimmt, 
dient vielfach die kinetische Gastheorie ‘) zum 
Muster.' Man könnte aus solchen Theorien wohl 
schliessen, dass die Anordnung der Atome eines 

i) Die Theorie, dass die Gase aus kleinen Teilchen bestehen, 
die sieb frei bewegen. 


Körpers von Einfluss auf sein Gewicht sein müsse; 
indes -haben sorgfältige Versuche von Kreich- 
a u e r keine Änderung des Gewichtes eines Körper- 
omplexes durch chemische Reaktionen innerhalb 
desselben oder durch Änderung des Aggregat¬ 
zustandes ergeben. Einen direkten Hinweis zur 
Ausbildung einer Nahewirkungstheorie der Gravi¬ 
tation würde man erhalten, wenn sich diese von 
der Natur des Zwischenmittels abhängig erwiese — 
in Analogie mit den Erscheinungen der elektrischen 
Femwirkung. 

In einer gemeinsamen Sitzung der Abteilungen 
für Agrikullurchemie und Botanik sprach Dr. Hart¬ 
leb Über Atinil und den EUenbachschen Bazillus 
Alpha. Dieser Bazillus hat neuerdings ein gewisses 
Aufsehen erregt, weil ihm die Kraft zugeschrieben 
wird, den freien Stickstoff der Luft in für Pflanzen ver¬ 
dauliche Stickstoffverbindungen umzuwandeln, also 
Stickstoff zu „sammeln". Man weiss, dass dieLegumi¬ 
nosen (Erbsen etc.) die Fähigkeit besitzen, den Acker¬ 
boden mit verdaulichem Stickstoff anzureichern. Sie 
verdanken diese Fähigkeit einer Bakterie, die sich 
in und bei ihren Wurzelknöllchen vorfindet. Auf 
ihr beruhen die Versuche, durch „Impfung“ des 
Bodens mit Bakterien die Fruchtbarkeit dieses Bo¬ 
dens für Leguminosen zu erhöhen Da man bei 
anderen Kulturpflanzen, namentlich aber bei den 
Getreidearten, keinerlei Andeutungen einer ent¬ 
sprechenden Symbiose gefunden hat, so bestand 
auch keine Hoffnung, in ähnlicher Weise durch 
Impfung eine Ertragssteigerung von Getreideböden 
herbeiführen zu können. Zu allgemeiner Überrasch¬ 
ung aber veröffentlichte vor einiger Zeit der Ritter- 
^tsbesitzer Caron avif Ellenbach bei Göttingen 
Versuche, denen zufolge es ihm gelungen war, ane 
Bodenbakterie, die er Bacillus Ellenbachensis nannte, 
in Reinkulturen zu züchten, die freien Stickstoff zu 
binden im Stande ist. Es muss bemerkt werden, 
dass Herr Caron ein geübter Bakteriologe ist. 
Düngung bezw. Impfung des Bodens erhöhte nach 
seinen Versuchen dessen Ertragfähigkeit fllr Ge¬ 
treide ausserordentlich und zwar waren diese Ver¬ 
suche in grosser Zahl sowohl in Töpfen, wie auch 
auf dem freien Felde angestellt. Herr Caron 
hatte bald die Nutzanwendung aus ihnen gezogen 
und grössere Ackerflächen seines Gutes mit dem 
Bazillus geimpft. Er konnte in Folge dessen die 
Menge des bis dahin von ihm alljährlich verbrauch¬ 
ten Stickstoffdüngers vermindern und wirtschaftet 
jetzt fast ohne Zufuhr künstlichen Stickstoffs. Das 
Bekanntwerden dieser Thatsachen erregte natur- 
gemäss grosses Aufsehen; Schultz-Lupitz stellte an 
den Landwirtschaftsminister den Antrag auf Er¬ 
richtung eines bakteriologischen Laboratoriums für 
die Landwirtschaft, und zahlreiche Landwirte 
äusserten das Verlangen, ebenfalls mit Bakterien 
zu düngen. Die Farbenfabrik Elberfeld nahm die 
Herstellung der Reinkulturen des Bac. Ellenbach¬ 
ensis '« in die Hand und brachte unter der Bezeich¬ 
nung Alinit (von alere, ernähren) einen Stoff in 
den Handel, der ein Gemisch von Reinkulturen mit 
bakterienemährenden Stoffen (anscheinend aus 
Hülsenfrüchten dargestellt) ist Eine Patrone dieses 
Alinits soll zur Abdüngung bezw. Impfung von 
5—10 Morgen Land ausreichen. Es nahm sich 
nunmehr die Wissenschaft der Sache an, und nun¬ 
mehr wurden Versuche aiigestellt, um über die 
stickstoffbildende Kraft des EUenbachschen Bazillus « 
Klarheit zu erhalten. Über solche Versuche be¬ 
richtete in den genannten Abteilungen Dr. H a r 1 1 e b- 
Bonn. Sie haben zu verneinendem Ergebnisse 
geführt. Seinem Verhalten nach kennzeichnete sich 
der Bazillus als eine Fäulnisbakterie, die vielmehr 
Stickstoffverbindungen unter Freimachung von Stick¬ 
stoff abbaut, und also zu SückstoflVerlusten Anlass 


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Betrachtungen und kleine Mitfeilungen. 


757 


giebt. Es entspann sich eine lebhafte Erörterung 
im Anschlüsse an Dr. Hartlebs Mitteilungen, aus 
denen hervorging, das die Agrikulturchemiker an 
die stickstoffsammelnde Kraft des Bazillus nicht 
glauben, dass aber angesichts der in Ellenbach be¬ 
obachteten praktischen Erfolge die Frage noch als 
eine oflene betrachtet werden müsse. Vielleicht 
verhalte sich der Bazillus im Boden — bei Gegen¬ 
wart von Bodenalgen — anders als bei den Labo¬ 
ratoriumsversuchen. Von vornherein sei die Mög¬ 
lichkeit ja nicht von der Hand zu weisen, dass sich 
unter den zahlreichen Bodenbakterien auch stick- 
stoffsammelnde befinden. Man müsse eben weiter 
nach solchen suchen und werde dabei auch über 
den Ellenbachschen Bazillus noch weiteres ermitteln. 

In einer Sitzung der hygienischen Abteilung er¬ 
regte ein Vortrag von Dr. W. Hesse (Dresden) 
Interesse über ein neues Ersatzmittel der Mutter' 
milch, das allem Anscheine nach bei der Ernährung 
der Säuglinge eine grosse Rolle zu spielen berufen 
ist. Wenn man Rahm derart verdünnt, dass er 
sich aus 1,2 Prozent Käsestoff (Casein), 0,12 Pro¬ 
zent Albumin, 38 Prozent Fett, i,8 Prozent Milch¬ 
zucker, 0,3 Prozent Asche und 92,8 Prozent Wasser 
jusammensetzt, so kann man ihn durch Zusatz von 
0,38 Prozent Albumin und 4,2 Prozent Zucker in 
seiner chemischen Zusammensetzung der Mutter¬ 
milch beinahe gleich machen. Diese Zusatzstoffe 
hat nun Dr. Hesse in dem entsprechenden Verhält¬ 
nis in Pulverform hergestellt, wodurch die Zu¬ 
sammenstellung einer künstlichen Muttermilch in 
jedem Haushalte sehr leicht ermöglicht wird. Die 
mit der Mischung angestellten Versuche' haben zu 
guten Ergebnissen geführt; selbst Säuglinge, die 
durch ungeeignete Ernährung und längere Krank¬ 
heit bereits heruntergekommen waren, sollen sich 
unter dem Gebrauche dieses Gemenges in der 
Mehrzahl der Fälle wieder erholt haben. Auch ist 
man schliesslich darauf gekommen, rohe Eier 
(Dotter und Eiweiss gemischt) in Verbindung mit 
Milchzucker als Zusatz zum Rahm zu verwenden 
und es hat sich gezeigt, dass dadurch die bei an¬ 
deren Zusatzformen hin und wieder auftretenden 
störenden Nebenwirkungen gänzlich vermieden 
werden können. < 

Der interessanteste Vortrag der Abteilung für 
Mineralogie und Geologie war zweifellos der von 
Dr. Karl Ochsenius aus Marburg „uher Barren- 
■Wirkungen’'. Er zeigte, dass Wechsellagerungen 
von Süsswasserschichten und Meeresabsät^en (mit 
Seemuscheln etc.) sich einfachst dadurch erklärten, 
dass in Buchten, welchen eine Barre vorgelagert 
ist und ein Fluss zuströmt, je nach der Höhe der 
Barre der Zutritt von Seewasser gestattet oder 
verwehrt ist, und sonach eine marine oder limnische 
(fluviatile) Schicht entsteht. Weiter gin^ daraus 
hervor die Bildung der meisten unserer Steinkohlen- 
und Braunkohlenflöze mit den Zwischenlagen reinen 
Schieferthons oder Sandsteins und bei mangelndem 
SOsswasserzufluss die Entstehung unserer Steinsalz- 
lager. Daran anknüpfend demonstrierte er, wie 
die Ablagerung der MutterIaugen-(Kali- und Mag- 
nesia-)Salze in dem grossen norddeutschen Zech¬ 
steinbusen, dem auch Braunschweig angehört hat, 
nur durch einen mehrfachen Glücksfall, durch das 
Zusammenwirken von vier günstigen Faktoren aus¬ 
nahmsweise zustande gekommen ist, und wir eine 
ausländische Konkurrenz auf dem Kalimarkte nicht 
zu fürchten haben. 

Reste von Mutterlaugen, die über einem nor¬ 
malen, fertigen Steinsalzbett stehen geblieben und 
nachher infolge von Hebungen des Geländes „ver¬ 
schüttet“ wurden, haben dann verschuldet die Ent¬ 
stehung von Salzsteppen, Salzseen, salinischen 
Mineralquellen u. dergl., sie haben auch die Bildung 


unseres Petroleums verursacht, (kein Erdöl ohne Salz), 
nahmen Teil an der der Soda- und Tronalager und 
der daraus unter Umständen hervorgehenden Sal¬ 
petergebilde (sowohl des Chilisalpeters wie des 
bengalischen und ungarischen Kalisalpeters), sie 
lieferten das Material fllr die Borfumarolen und die 
auf wässrigem Wege zu stände gekommenen 
Schwefellager, erzeugten die Lösungen metallischer 
Substanzen aus dem Erdreiche und konzentrierten 
sie in sehr vielen Fällen in Spalten und Höhlungen 
in der Form von Erzgängen und Erzlagern. Aus 
Umsetzungen der Seesalze mit den Bestandteilen 
von Felsarten gingen die marinen Kalksediniente 
und der Tiefseethon hervor, und auf dem Lande 
lieferten namentlich die bitteren Salze des Meer¬ 
wassers den Schlüssel zur Erklärung der Bildung 
der grossen Wüsten, indem sie zuerst die Vege¬ 
tation zu Grunde richteten, damit die Fauna dem 
Verderben überlieferten und der Sonne die unbe¬ 
schränkte Einwirkung auf die verschiedenen Kom¬ 
ponenten der nackten Felsgesteine Qberliessen. Die 
Verwitterungsprodukte wurden dann vom Winde 
zu Staub und Sand zermahlen, letzterer in grossen 
Flächen verursachte die Verminderung der atmos¬ 
phärischen Niederschläge, und somit waren die Be¬ 
dingungen für die Ausbreitung des Wüstencharakters 
gegeben bis dahin, wo zuerst eine lebensfähige Steppe 
und im Anschluss daran eine kräftige Waldvegc- 
tation dem Sande und Winde einen hinreichend 
starken Widerstand in elastischer Form entgegen¬ 
stellen konnten. Meeressand und Meeresdünen 
können wohl einzelne Nachbarstriche begraben, 
aber nie Ober weite Strecken Landes wüsienartig 
sich ausbreiten; ihr Walten bleibt auf Küstengegen¬ 
den beschränkt, landeinwärts gebietet ihnen die 
Bewachsung des Bodens irgendwo Halt. Fast die 
sämtlichen Erscheinungen tind Vorgänge, welche 
wir in der Geologie unserer Sedimentgesteine be¬ 
obachten oder als stattgefunden annehmen müssen, 
gleichviel, ob sie durch salziges oder süsses, steh¬ 
endes oder rinnendes Wasser, oder auch durch die 
Kraft der Winde hervorgerufen wurden, fanden 
ihre Erklärungen in den Ausführungen des Vor¬ 
tragenden, der weder Katastrophen noen Hypothesen 
heranzuziehen brauchte. 


Betrachtungen und kleine Mitteilungen. 

* Die Kultur der Veilchenwimzel, des zu Par¬ 
fümeriezwecken und kosmetischen Präparaten der 
verschiedensten Art mit Vorliebe verwendeten 
Wurzelstockes verschiedener Iris-Arten, ist trotz 
der Beliebtheit und Wichtigkeit der Droge bisher 
noch immer in ein gewisses Dunkel gehüllt worden. 
Die folgenden, von der Leipziger Firma Schimmel 
& Co. in Italien eingezogenen Informationen bieten 
deshalb wohl allgemeineres Interesse. Danach besteht 
die Kultur der Veilchenwurzel in Italien schon seit 
mehr als zweihundert Jahren. Man pflanzt die Iris¬ 
wurzel auf den Hügeln und Bergabhängen, niemals 
im Thale, zumeist in grossen sonnigen Waldblössen 
oder streifenweise zwischen Weingeländen an, sel¬ 
ten auf ausgedehnten Feldern. Sie gedeiht beson¬ 
ders auf steinigem, möglichst trockenem Boden. 
Sind die Pflanzen einmal gesetzt, so bedürfen sie 
keiner besonderen Pflege mehr und werden sorg¬ 
los auf 2-3 Jahre ihrem Schicksale überlassen. 
Dann aber erfordert der Ausschnitt der starken, 
steigenden Wurzelstöcke, sowie die Reinigung und 
Herrichtung derselben für den Markt viel Arbeit. 
Gewöhnlich wird die Wurzel nach dreijährigem 
Wachstum geerntet, doch schneidet man sie, wenn 
der Preis gerade ein hoher ist, auch schon nach 


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758 


Betrachtungen und kleine Mitteilungen. 


dem zweiten Jahre jxus. Bei niedrigerem Preis¬ 
stande lohnt es besser, noch ein Jahr zu warten, 
da dreijährige Wurzeln üppiger und grösser als die 
jüngeren erscheinen. Das Alter der Wurzel bedingt 
umgekehrt eine geringere Ausbeute an trockener, 
versandfertiger Droge, da die jungen zweijährigen 
Wurzeln etwa 40 pCt., die dreijährigen nur etwa 
30-35 pCt Ertrag an trockener Wurzel liefern. 
Die msch geschnittenen Veihhcnwurzeln werden 
erst in Wasser gelegt, damit die äussere, braune 
Haut sich ablöst, dann auf Terassen ausgebreitet 
und etwa 14 Tage lang getrocknet. — Die Wieder- 
pnanzung geschieht entweder sofort oder etwa 14 
Tage nach dem Schnitt, und zwar in anderem, 
ausgeruhten Boden. Das eben abgeerntete Feld 
muss mindestens ein Jahr Ruhe haben, kann aber 
während dieser Zeit mit Getreide bebaut werden. 
Die grosse Bedeutung, welche die Veilchcnwurzel 
für die in Frage kommenden Distrikte (Toskana 
und Verona) besitzt, erhellt am besten daraus, dass 
im Jahre 1896 aus den toskanischen Distrikten etwa 
1,000,000 kg und aus den veroneser Ortschaften 
etwa 150,000 kg getrockneter Veilchcnwurzel aus- 
geführt worden sind. a. 

'' • « 

/ Giebt es Pfropf hybriden? Es ist eine seit lan- 
' ger Zeit bekannte Erfahrung, dass ein knospen¬ 
tragendes PflanzenstQck einer Art durch Kopulation 
oder Aufplropfen auf ein Individuum nicht allein 
derselben Art, sondern auch einer Art derselben 
Gattung, in selteneren Fällen sogar auf ein Indi¬ 
viduum einer anderen Gattung aus derselben Fa¬ 
milie übertragen werden kann (Transplantation, 
Veredelung). So lässt sich z. B. der Pnrsich auf 
die Pflaume aufpfropfen und umgekehrt; der Siech- 
^fel (Datura Stramonium) auf die Kartoffelpflanze; 
Epiphyllum, eine Kaktusart, auf Arten anderer 
Kakteengattungen. — Die naheliegende Frage, ob 
das Pfopfreis einen Einfluss auf seine Unterlage 
ausöbe und umgekehrt, mit anderen Worten, ob 
Pfropfhybriden entstehen, wurde seinerzeit von 
Strasburger auf Grund zahlreicher Versuche 
mittelst Nachtschattengewächsen dahin beantwortet, 
dass ein gegenseitiger Einfluss nicht zu bemerken 
sei; Stechapfel, Judenkirsche und Tabak wurden 
auf Kartoffelstecklinge gepfropft; beide Teile be¬ 
hielten stets ihre individuellen Eigenschaften, es 
bildeten sich im Boden Kartoffeln, obwohl die die 
Pflanze ernährenden Blätter einer ganz anderen 
Art angehörten. H. Molisch hat dieselben Ver¬ 
suche mit zahlreichen Pflanzen wiederholt und ge¬ 
langte zu demselben Resultat. Es wurdeTopinainbour 
(Helianthus tuberosus) auf die Sonnenblume (H. an- 
nuus) und umgekehrt, Stechapfel auf Kartoffel und 
umgekehrt, Stechapfel aut Paradiesapfel und 
umgekehrt, schwarzer Nachtschatten auf Kartoffel 
u. a. m. gepfropft. — Kartoffel, auf Paradiesäpfel 
gepfropft, entwickelte kleine Kartoffelknollen in den 
Achseln der Blätter, da sie keine Bodenknollen an¬ 
setzen konnte. Topinambonr auf Sonnenrose er¬ 
gab (wie schon Vöchting bewiesen) das Resultat, 
dass keine Bodenknollen sich entwickelten; eine 
Beeinflussung der Reiser auf die Unterlage und 
umgekehrt ist aber absolut nicht vorhanden. Es 
bildeten sich aber stets Knollen, wenn Helianthus 
tuberosus als Unterlage diente. Die Bildung von 
Pfropfhybriden muss also nach diesen zahlreichen 
Versuchen ausgeschlossen werden, obwohl die Mög¬ 
lichkeit derselben denkbar war, da bekanntlich die 
lebensfähige Substanz (= das Protoplasma) der an 
einander grenzenden Zellen in einem innigen Zu¬ 
sammenhänge steht, daher eine Übertragung der 
Eigenschaften des Reises auf die Unterlage und 
umgekehrt, leicht vor sich gehen könnte. n. 


Neue Strahlen ? W. J. R u s s e 11 hat vor kurzem 
der königlichen Gesellschaft der Wissenschaften zu 
London Mitteilung gemacht von Versuchen, die 
eine Wirkung gewisser Metalle und anderer Sub¬ 
stanzen auf die photographische Platte zeigen. Sehr 
viele Metalle, besonders Zink, Quecksilber, Mag¬ 
nesium, Cadmium geben, wenn sie mit einer licht¬ 
empfindlichen Schicht zur Berührung gebracht wer¬ 
den, eine deutliche Schwärzung derselben. Ja, die 
Veränderung findet auch aus Abständen von meh¬ 
reren Zentimetern noch statt und bleibt selbst dann 
nicht aus, wenn man dünne Schichten Collodium, 
Gelatine, Guttapercha, Pergament zwischenschaltet. 
In keinem Falle aber erfolgt sie durch Glas hin¬ 
durch. Besonders interessant ist, dass ausser den 
Metallen auch andere Körper, wie Strohpappe, 
braunes Packpapier, Holz, Copallack,Terpentinöl etc. 
dieselbe Wirkung hervorrufen können. Gewisse 
Arten Druckerschwärze wirken so stark, dass man 
den Text mancher Zeitungen durch blosse Berühr¬ 
ung als deutliches Bild auf die photographische 
Platte übertragen kann. Die Zeit, die zvir trzeug- 
ung solcher Bilder nötig ist, ist sehr gross; sie be¬ 
trat bei sehr empfindlichen photographischen Platten 
8 Tage und mehr. Uebrigens muss bemerkt werden, 
dass diese Entdeckung keineswegs neu ist. Manche 
g.inz identische Versuche, sogar mit Metallen (an¬ 
gerauhte Stahloberfläche) sind von Niepee deSaint- 
Victor, dem Neffen von Niefphore Niepee, dem 
Mitarbeiter Daguerres, schon 1857 angestellt und 
ausführlich beschrieben. Damals sprach man von 
ejner Aufspeicherung des Lichts in den Stoffen und 
einer von ihnen ausgehenden „unsichtbaren Strahl¬ 
ung, die Glas nicht durchdringt“. Viele der Wirk¬ 
ungen Hessen sich schon damals auf chemische 
Veränderungen zurückführen, insbesondere auf die 
Bildung und Ausbreitung von Dämpfen der Ameisen¬ 
säure, die sich nach Versuchen des Abbö Laborde 
aus Papier und andern organischen Stoffen in die¬ 
sem Falle bilden kann. Die Wirkung der Metalle, 
insbesondere des Zinks, hat vor Russell erst kürz¬ 
lich Colson ausführlich untersucht und glaubt sie 
durch eine Verdampfung des Zinks erklären zu 
können. Die Notwendigkeit der Annahme einer 
neuen Strahlenart, so modern eine solche Annahme 
auch sein mag, scheint nach den gegenwärtigen 
Versuchen noch nicht zu bestehen. Vor allem be¬ 
merkenswert ist, dass besonders stark solche Stoffe 
wirken, die stark riechen, von denen also gewiss 
kleine Teilchen abgeschleudert werden. Nach den 
neuesten Untersuchungen liegt keine Schwierigkeit 
vor, diese Teilchen so fein anzunehmen, dass sie 

f ewisse andere Körper zu durchdringen vermögen. 

rfahruiigen der photographischen Praxis über die 
Verpackung der Platten und den sogenannten Rand¬ 
schleier geben gewichtige Argumente gegen die 
Annahme neuer Strahlen, während sie mit der Vor¬ 
stellung verdampfender Teilchen wohl in Überein¬ 
stimmung sind. Die mit reinen Metallen angestell- 
ten Versuche bieten theoretisch das grösste Inter¬ 
esse und ihre genaue Wiederholung mit unseren 
empfindlichen Präparaten ist sehr verheissungsvoll. 
Von neuem geben diese Versuche einen Begriff 
von der Empfindlichkeit photographischer Schichten, 
die auf so ausserordentlich kleine Mengen Sub¬ 
stanz schon reagieren, wie sie hinreichen, unseren 
Geruchssinn zu erregen. Dr. Pr. 

• V 

* 

Über die elektrische Leitfähigkeit des Äthers 
sind die Meinungen noch geteilt. Während Edlund 
dieselbe behauptete, wird sie von neueren Forschern, 
so z. B. von J. J. Thomson, bestritten und beson¬ 
ders nach der Maxwellschen elektromagnetischen 
Theorie des Lichtes kann das Vakuum kein Leiter 


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Betrachtungen und kleine Mitteilungen. 


759 


sein, denn es müsste sonst imdurchsichtig sein. Die 
bisherigen Versuche zur Lösung dieser Frage waren 
aber nur mit verhältnismässig gerii^en elektrostat* 
ischen Kräften ausgeführt. John Trowbridge hat 
nun mit einer Akkumulatorbatterie von 10,000 Zellen 
den Widerstand sehr verdünnter Medien bei dis* 
ruptiver Entladung untersucht und dabei gefunden, 
dass mit einer hinreichend kräftigen elektrischen 
Spannung das Vakuum durchschlagen werden kann, 
und dass die disruptive Entladung während ihrer 
Oszillationen nur einen sehr geringen Widerstand 
(in einer hochverdünnten CroÄesschen Röhre z. B. 
einmal selbst weniger als 3 Ohm) erl^rt. Die Ver¬ 
suche, welche nach der Methode der Dämpfung 
eines Nebenfiinkens ausgeführt und ganz besonders 
zum Studium elektiischer Entladungen geeignet 
sind, führten zu dem Schluss, dass das Haupt¬ 
hindernis bei der Überwindung des scheinbaren 
Widerstandes in einem hochverdOnnten Medium an 
der Oberfläche der Elektroden (Übergangswider¬ 
stand) angetroffen wird, und dass,- wenn dieser 
überwunden ist, der Äther nur geringen Wider¬ 
stand darbietet. Die Einzelheiten der kurz mitge¬ 
teilten Versuche müssen in der Originalmitteilung 
nachgelesen werden. Auf den Widerspruch, zu 
welchem der aus den Versuchen abgeleitete Wahr¬ 
scheinlichkeitsschluss mit den eingangs angeführten 
Konsequenzen der Maxwellschen Theorie führt, ist 
Trowbridge nicht weiter eingegangen. 

£lektrizMt, afj. Sept. 1897. 


Über die ethnographischen Beziehungen zwi- 
-schen Asien und Amerika sprach H a m y auf dem 
XI. Internat. Orientalistenkongress zu Paris. Der 
Redner wies zunächst darauf hin, dass in Bezug 
auf diese Frage, welche zum ersten Mal Parazelsus 
im 16. Jahrhundert aufgeworfen hat, zuerst Hum¬ 
boldt eine grundlegende Theorie über den gemein¬ 
samen Ursprung der Rassen und Zivilisationen der 
beiden Küstenstriche des Stillen Ozeans entwickelt 
habe, eine Theorie, der aber die junge amerikan¬ 
ische Schule sich feindlich gegenüberstellte. Die 
Reproduktionen der alten Monumente Amerikas, 
•weiche man auf dem Wege der Prägung und mit 
Hilfe der Photographie mit minutiöser Genauigkeit 
hergestellt habe, insbesondere die unter der Di¬ 
rektion des Herzogs von Lubat für das Museum 
des Trocadero angefertigten Reproduktionen dieser 
Art, lassen ein viel genaueres und eindringenderes 
Studium dieser Frage zu und lassen keinen Zweifel 
an der Analogie aufkommen, welche zwischen die¬ 
sen Denkmälern und denen von Indo-China und 
Java besteht. Zum Schluss macht der Redner 
noch Mitteilung von einer seitens der Amerikaner 
beabsichtigten umfangreichen • Expedition, welche 
.ein gründuches Studium der Völkerschaften an den 
Küstenstrichen von Nordwest-Amerika und Südost- 
Asien zum Ziel hat. Die ersten Resultate dieser 
Expedition sollen dem nächsten Orientalistenkongress 
vorgelegt werden. 


Die historische Kommission bei der kgl. bayr. 
Akademie der Wissenschaften hat nun mit dem 
Erscheinen des VIII. Bandes die Sammlung der 
Hansarezesse abgeschlossen; ebenso nähern sich 
die Chroniken der deutschen Städte ihrer Vollend¬ 
ung ; mit je einem 2. Band Magdeburger und Lü¬ 
becker Chroniken soll das Unternehmen vorläufig 
abgeschlossen werden. Für die Jahrbücher des 
deutschen Reiches unter Friedrich I. ist Dr. Simons- 
feld mit der Sammlung des Stoffes beschäftigt, 
fik den 2. Band der Jahrbücher Friedrichs II. wird 
das von Winkdlftianh hinterlassenc Manuskript 


benützt werden, Meyer von Knonau arbeitet 
am 3. Bande der Jahrbücher Heinrichs IV. und V., 
jene Ottos II. und Ottos III. sind gleichfalls in Vor¬ 
bereitung. Das nächste Jahr wird för die Geschichte 
der Wissenschaften in Deutschland die Geschichte 
der Geologie und Paläontologie von Geheimrat 
von Zittel bringen, dagegen ist die allgemeine 
deutsche Biographie (zuletzt erschien Bd. XLI, Lf. 
2—5, und Bd. äLII, Lf. 1—3) durch Sybels Tod 
bedeutend aufgehalten worden. Auch die Publi¬ 
kation der Reichstagsakten und der Wittelsbacher 
Korrespondenz geht rüstig weiter. Karl Lory. 


• Nach dem Bericht des französischen meteoro¬ 
logischen Instituts wurden von demselben im Jahre 
18^ von vierunddreissig Stürmen, welche die fran¬ 
zösischen Küsten erreichten, einunddreissig, oder 
pi pCt., vorhergesagt. Dieses günstige Resultat 
ist wohl besonders dem Umstande zuzuschreiben, 
dass die Mehrzahl dieser atmosphärischen Störun¬ 
gen die britischen Inseln kreuzt, von denen aus 
regelmässige telegraphische Meldimgen an das fran¬ 
zösische Institut gehen. Einschliesslich einer Anzahl 
aus Amerika stammender Telegramme, welche die 
Beobachtungen der dort ankominenden Dampfer 
enthalten, beläuft sich die Anzahl der Telegramme 
täglich auf hundertsechzig bis hundertsiebzig. 

Nature, 30 Sept. 1897. 

• Die Schnelligkeit, mit der Metallpartikelchen 
im elektrischen Funken bewegt werden, ermittelte 
Professor Schuster, der auf der Jahresversammlung 
der Brit. Vereinigung zu Toronto einen Vortrag 
Ober die Konstitution der elektrischen Funken hielt, 
mit 400 bis 2000 Meter per Sekunde. 

Science, a^« Sept. 1897. 

• Die Gletscher 'der arktischen Regionen schei¬ 
nen nicht wie die* Alpengletscher zurOckzugehen. j 
Nach einem neuen Bericht der Internationalen ; 
Gletscher-Kommission ist das Eis in Grönland zur 
Zeit stationär; in Island bedeutete das achtzehnte 
Jahrhundert ein allgemeines Anwachsen des Eises, 
dem, einmal durch einen partiellen Rückgang unter¬ 
brochen, im neunzehnten Jahrhundert ein sehr aus¬ 
gedehntes Vorgehen folgte. Ein schwacher ROck- 

J ang begann 1855—60 im nördlichen und zwanzig 
ahre später auch im südlichen Island; aber der¬ 
selbe ist mit dem Zuröckgehen der Alpengletscher 
durchaus nicht zu vergleichen. Dieselben Beobacht¬ 
ungen treffen für Grinnel-Land und Jan Mayen zu. 

Nature, 30. Sept. 1897. 


SprechsaaJ. 

Frau Jtf. S. in D. Wir empfehlen Ihnen den 
Kochtopf-Einsatz „Heureka“ von Frau Professor 
Dr. Böhmer, der den Dampftopf in der Küche ent¬ 
behrlich macht. Der in jedem Topf anzubringende 
einfache Einsatz ist mit einer ebenso originellen wie 
einfachen Vorrichtung versehen, weldie anzeigt, 
wann die Speise gar ist. Der Einsatz ist durch 
Gebr. Eyemann in Mühlheim a. d. Ruhr zu be¬ 
ziehen. 


No. 43 der UmBChan wird enthalten: 

MOsebeck, Der Nationalitatenstreit in Österreich-Ung;am. —. 
Werner. Epik und Lyrik im vergang^enen Jahre. II. — Freyer, 
Die Bewegungewerkzeuge der Schiffe. 


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DEM GESAMTGEBIET DER WISSENSCHAFT, TECHNIK, 
LITTERATUR UND KUNST 

herausgegeben von 

dr. j. h. bechhoid. 


Wöchentlich eine Nummer. 

Zu beziehen durch 
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rostzeitungsprcisliste No. 7331?. 

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H. Bechhoid Verlag, Frankfurt a. M. 


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Im Ausland nach Cours. 
Verantwortlicher Redakteur: 

Otto Adolf Wolters, Frankfurt a. BL 


43. I. Jahrg. 1897. 23. Oktober. 


/ 

/ Der Nationalitätenstreit in Österreich*. 

/ Ungarn. 

Von Dr. E, HOsebcck. 

Die historische Entwicklung hat dazu ge¬ 
führt, dass alle grösseren Staaten des mo¬ 
dernen Europa national sind. Eine einzige 
Ausnahme bildet die österreichisch-ungarische 
Monarchie. Als Hausmacht ist sie entstanden 
und niemals wird sie sich zu einem einheit¬ 
lichen Volksstaat umformen lassen. Ewiger 
Streit herrscht zwischen den einzelnen Natio¬ 
nalitäten um das Übergewicht in der Regier¬ 
ung. Dabei gab immer das Verhältnis der 
Dynastie zu den einzelnen Völkern den Aus¬ 
schlag, die sich von den Tagen Maria The¬ 
resias und Josephs II. an bis in die Jetztzeit 
immer auf die Deutschen stützte. Darauf be¬ 
ruhte die führende Rolle unserer Stammes¬ 
genossen, auf dem engen Zusammenhang der 
Dynastie mit ihnen, nicht etwa auf ihrer 
höheren Kultur. Unmöglich konnte es aus- 
bleiben, dass die übrigen Nationalitäten, die 
an Zahl zum Teil stärker sind als jene, da¬ 
nach strebten, dieses Übergewicht zu besei¬ 
tigen. Das Nationalitätsprinzip gewährte auch 
ihnen starke Kraft. Dazu machten sich die 
Ideen des Konstitutionalismus geltend, so dass 
auch hier die revolutionären Bewegungen von 
1848 den Sturz des absoluten Staates herbei- 
führten. Diesem Umschwünge folgte freilich 
bald eine völlige Restauration der absoluten 
kaiserlichen Gewalt, deren Macht durch die 
Beseitigung der alten ungarischen Verfassung 
und die Niederwerfung der nationalen Be¬ 
wegung in Italien in einem Alles umfassen¬ 
den Zentralismus noch erheblich gesteigert 
wurde. In diesem Zentralismus lag zugleich 
die Unmöglichkeit begründet, dass Österreich 
sich jemals der deutschen Einheitsbewegung 
anschliessen würde. Erst das Missgeschick 
auf den italienischen und böhmischen Schlacht¬ 
feldern 1866, deren Errungenschaften für 

Umschau 1897. 


Italien und Deutschland den Sieg des natio¬ 
nalen Einheitsgedankens bedeuteten, führte zu 
einem nochmaligen Bruche mit dem Absolu¬ 
tismus. Durch die Staatsgrundgesetze vom 
21. Dezember 1867 wurde der neue öster¬ 
reichische Staat begründet; und durch sic 
wurde andererseits der Nationalitätenstreit auf 
das heftigste entfacht. 

Die beiden Reichshälften, Cisleithanien 
mit den österreichischen Kronländern nebst 
Galizien, Bukowina und Dalmatien, Trans- 
leithanien mit den.Ländern der ungarischen 
Krone sind durch eine Realupioh i^rtt ein¬ 
ander verbunden. Der Herrscher ist gemein¬ 
schaftlich, aber das jeder Hälfte eigentümliche 
Vej'fa.ssungsrecht ist streng gewahrt. In Un¬ 
garn wurde die alte Verfassung wiederherge¬ 
stellt; und es dauerte nicht lange, so gelang 
es dem Magyarentum, ein national - magyar¬ 
isches Staatswesen zu begründen, das in jener 
Hälfte bald das Übergewicht über die übrige 
Bevölkerung sich erwarb, ja in der aus¬ 
wärtigen Politik Österreichs es zu einer füh¬ 
renden Rolle in der ganzen Monarchie brachte. 
— Österreich diesseits der Leitha baute sicli 
in seiner Verfassung auf zwei Grundlagen 
auf, nämlich auf eine strenge zentralistisch- 
bureaukratische Verwaltung, die von der 
alten Monarchie übernommen wurde und keine 
Rücksicht auf die Besonderheiten der ein¬ 
zelnen Länder nahm, und auf den grösseren 
und mittleren Grundbesitz, der mit politischen 
Rechten von so grosser Bedeutung ausgestattet 
wurde, wie er sonst nirgends besitzt. Man 
nahm an, dass die Träger dieses Besitzes die 
Stützen der zentralistischen Staatsform und 
der Oberherrschaft der Deutschen sein wür¬ 
den; man nahm ferner an, dass der doktrinäre 
deutsche Liberalismus, durch welchen die neue 
konstitutionelle Monarchie in Österreich-Ungarn 
begründet war, hier für immer das Überge¬ 
wicht behaupten werde. 

Allein damit gab man sich grossen Täusch- 

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762 


MOsebeck, Der Nationalitätenstreit in Oesterreich-Ungarn. 


ungen hin.’ Schon cjarin zeigte sich eine ver¬ 
kehrte Auffassung des Staatswesens, dass die 
Verfassung auf einen einseitigen politischen 
Standpunkt der Gegenwart sich stellte, ohne 
auf die weitere historische Entwicklung Rück¬ 
sicht zu nehmen, die sich nicht durch ge¬ 
schriebene Gesetze einengen und beschränken 
lässt. Gerade in den Ländern, in denen der 
Grossgrundbesitz einen namhaften Einfluss 
auf die wirtschaftlichen Verhältnisse ausübte 
und der übrigen Bevölkerung gegenüber eine 
Macht darstellte, entschied sich die Mehrheit 
der Grossgrundbesitzer entschieden für eine 
föderative Ausgestaltung des Staates und 
stellte bald die Forderung auf, dass die Ver¬ 
waltung von den besonderen Zuständen in 
den einzelnen Ländern abhängig gemacht 
werde; nur ein Teil der Grossgrundbesitzer 
blieb zentralistisch gesinnt, und zwar die 
Deutsch-Liberalen, weil diese bureaukratisch 
waren und einen Hofadel bildeten, der sich 
in den Provinzen nicht zur Geltung zu brin¬ 
gen wüsste. Diese verharrten auf dem Stand¬ 
punkte der alten Verfassungspartei, nicht etwa 
weil die Verfassung von 1867 die Garantieen 
einer freiheitlichen Entwickelung bietet, son¬ 
dern weil auf ihr das Beamtentum beruht, 
in dem sie selbst ihre Lebensstellung finden. 
Diese Beamtenhierarchie kann in dem kon¬ 
stitutionellen Staate nur dann fortbestehen, 
wenn die zentralistischen Einrichtungen un¬ 
berührt bleiben. Doktrinärer Liberalismus, 
Bureaukratismus und Zentralismus sind in 
Österreich drei untrennbare Begriffe. 

Des föderativen Gedankens bemächtigten 
sich sofcrt die nationalen Bestrebungen der 
Czechen. Woher stammt diese nationale Be¬ 
wegung? Sie hat ihren Ursprung in dem 
oben angedeuteten Bemühen, das Übergewicht 
der Deutschen zu brechen. Als Vorbild da¬ 
zu diente ihnen das radikale Vorgehen der 
Ungarn gegen die übrigen Nationalitäten bei 
Errichtung ihres magyarischen Staates. Eine 
gewisse Berechtigung darf dieser Bewegung 
derjenige, welcher überhaupt das Nationalitäts¬ 
prinzip als berechtigt anerkennt, nicht ver¬ 
sagen; die Czechen versuchen, ihre eigene 
Kultur, wie sie sich in Recht, Sitte und 
Sprache äussert, zur Geltung zu bringen und 
den Sudetenländern Böhmen, Mähren und 
Österreich-Schlesien ein slavischcs Gepräge 
aufzudrücken. Zwei Mittel sind es, durch die 
sie dies Ziel zu erreichen suchen: durch die 
sogenannte Sprachverordnung und durch die 
Wiederherstellung des böhmischen Staatsrechtes. 

Auf die erste Massregel ist die österreich¬ 
ische Regierung unter dem Ministerium Badeni 
eingegarigen, um im Reichsrate eine Majorität 
für den Ausgleich mit Ungarn zu Stande zu 
bringen. Sie besagt folgendes: Beamte, die 


bei den gerichtlichen und staatsanwaltschaft- 
lichen, sowie denjenigen Behörden, welche 
den Ministerien des Innern, der Finanzen, 
des Handels und des Ackerbaues unterstehen, 
nach dem i. Juli 1901 angestellt werden, 
haben die Kenntnis beider Landessprachen 
in Wort und Schrift nachzuweisen. Der Zweck, 
den die Czechen damit verfolgen, liegt klar 
vor Augen: Sie wollen das deutsche Sprach¬ 
gebiet in Böhmen durchbrechen und bei den 
betreffenden Behörden zweierlei Sprachen 
einfhhren. Den Deutschen, in deren Händen 
sich bis vor Kurzem alle Beamtenstellen be¬ 
fanden, sollen diese verleidet werden, damit 
auch in rein deutschen Gebieten womöglich 
nur czechische Beamte Verwendung finden 
können. Es handelt sich dabei nicht um die 
Vergewaltigung einer kleinen, in slavischen 
Landen lebenden deutschen Minorität, son¬ 
dern um Ober i'/j Million deutscher Bewohner. 
Das Ganze ist eine rein zu Gunsten der 
Czechen konstruierte Verwaltungsmassregel, 
die Böhmen aus der Reihe der übrigen Kron- 
länder heraushebt und der geltenden Verfass¬ 
ung gerade entgegengesetzt ist. 

Das zweite Ziel, wonach das nationale 
Czechentum strebt, ist die Wiederherstellung 
des böhmischen Staatsrechtes, d. h. Wieder¬ 
herstellung des Rechtes der böhmischen Län¬ 
der auf eigene Legislative und eigene Ad¬ 
ministration. 

Die grosse Frage für die Deutschen, 
welche bis jetzt die eigentliche Regierungs¬ 
und Verfassungspartei gebildet hatten, besteht 
darin, wie sie sich diesen Forderungen der 
Czechen gegenüber, die zum Teil von der 
Regierung gebilligt sind, zum Teil in offenem 
Widerspruch mit der heutigen Verfassung 
stehen, verhalten sollen. In dem ersten Punkte 
liegt die Sache sehr einfach! Da dieser von 
der Regierung gebilligte Schritt eine Verge¬ 
waltigung der Deutschen bedeutet, so müssen 
sich diese zusammenschliessen und der Re¬ 
gierung im Reichsrate offene Opposition 
machen. Diese Obstruktion gegen die Re¬ 
gierung muss so lange anhalten, bis sie jene 
Massregel zurOcknimmt und einsieht, dass 
ohne die Deutschen und gar im Gegensatz 
zu den Deutschen die Regierungsmaschine 
einfach stillsteht. Das Recht der Majorität 
ist kein Naturgesetz, wohl aber das Recht 
der Notwehr, das in allen Gesetzbüchern als 
ein solches anerkannt ist. Alle anderen Partei- 
rOcksichten, mögen sie religiöse oder wirt¬ 
schaftliche Fragen betreffen, müssen für die¬ 
sen Augenblick zurücktreten, wo es sich um 
die Wahrung der Rechte der deutschen Na¬ 
tionalität in Österreich handelt. Wie gross 
auch sonst die Zerrissenheit der deutschen 
Parteien gerade im Gegensatz zu den slav- 


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Freyer, Die Bewegungswerkzeuge der Schiffe. 


763 


ischen sein mag, hier müssen, sie sich zu- 
sammenhnden und das polnische Beamten* 
regiment zwingen, jene Massregel zurQckzu- 
nehmen. 

Schwieriger gestaltet sich Wie Frage im 
zweiten Punkte. Für die'Entfaltung wirklich 
nationaler Kraft der Deutschen in Österreich 
giebt es kein grösseres Hemmnis als die 
Legende von der Wahrheit des Zentralismus, 
besonders wenn diese zentralistische Regier¬ 
ung sich auf eine Parlamentsmehrheit stützt, 
die sich aus Slaven und Ultramontanen zu¬ 
sammensetzt und alle nationalen Forderungen 
der Deutschen bei Seite schiebt. Die Deutschen 
müssen den Gedanken aufgeben, dass sie den 
österreichischen Staat in seiner jetzigen Ver¬ 
fassung erhalten wollen und sich entschliessen, 
gegen den Staat die Sachlage rein von ihrem 
nationalen Gesichtspunkte anzusehen, indem 
sie sich bewusst werden, was die Deutschen 
ftlr Österreich geleistet haben und was sie 
noch für diese Monarchie leisten werden, 
wenn ihnen Bedingungen geschaffen sind, die 
ihrem Kulturzustand entsprechen. Es gilt sich 
den föderativen Gedanken gleichfalls zu eigen 
zu machen und eine Verwaltungsgruppe zu 
gründen, in der das deutsche Element das 
Übergewicht hat und vorläufig auch behaup¬ 
ten wird. So berühren sich in diesem Ge¬ 
danken czechische und deutsche Pläne. Wie 
die Czechen einen böhmischen Staat, so müssen 
die Deutschen einen deutsch-österreichischen 
Staat in den alten Herzogtümern aufzurichten 
versuchen. Jener Antrag der Czechen auf 
Herstellung des böhmischen Staatsrechtes bot 
ein erstes Mittel zur Versöhnung; aber an¬ 
statt in eine Verhandlung einzugehen, wählten 
die deutschen Abgeordneten die schroffste 
Form der Ablehnung: sie verliessen den 
Saal. Damit schnitten sie vorläufig jede Mög¬ 
lichkeit einer Verständigung ab. Viel klüger 
und politischer hätten sie gehandelt, hier nach¬ 
zugeben, wenigstens in Verhandlungen ein¬ 
zutreten, um dann ihrerseits Zugeständnisse 
von den Czechen zu gewinnen. Dass die 
Deutschen den Czechen durch die Anerkenn¬ 
ung des böhmischen Staatsrechtes eine grosse 
Forderung ihres nationalen Ehrgeizes befrie¬ 
digen, ist klar; dass demnach die Gegen¬ 
forderungen der Deutschen zu ihrer eigenen 
Sicherheit dazu ira Verhältnis stehen müssen, 
liegt gleichfalls auf der Hand. Besser ist es, 
wenn die Czechen mit Zustimmung der Deut¬ 
schen berechtigte Forderungen durchsetzen, 
als gegen ihren Willen; erlangen werden sie 
sie jedenfalls; und da heisst es dafür sorgen, 
dass es auf dem Wege eines gegenseitigen 
Ausgleiches geschieht. Beide Nationalitäten 
sind aufeinander angewiesen; die ganze histor¬ 
ische Entwicklung des üstcri'eichischen Staates 


liegt darin begründet, dass es ein Mischstaat 
germanischer und slavlscher Völker ist. Vom 
Standpunkte des Nationalitätsprinzipes aus 
darf man es den Slaven nicht verübeln, wenn 
sie sich selbst die herrschende Stellung er¬ 
obern wollen, die die Deutschen lange Zeit 
inne gehabt haben; aber es muss unter Be¬ 
obachtung der gesetzlichen Massregeln ge¬ 
schehen. Man soll es jedoch den deutschen 
Völkern nicht verargen, wenn sie gegen eine 
Regierung Opposition machen, die sich dazu 
hergiebt, mit ungesetzlichen Massregeln gegen 
sie vorzugehen. Wunderbare Wandlungl Die 
bisher stets verfassungsfreundliche Partei muss 
jetzt in den Handlungen opponieren, die dei' 
Regierung genehm sind, sie muss dagegen 
jene Strömungen in den Reihen der eigenen 
Feinde und jetzigen Regierungsfreunde be¬ 
günstigen, die dem Ministerium Badeni ver¬ 
hasst sind. In diesem Kampfe der beiden 
Nationen mit einander wird schliesslich 4 och 
der Teil siegen, dem die höhere geistige 
Macht zur Seite steht. Ein auf physischen 
Kräften beruhendes Übergewicht mag eine 
Zeit lang sich behaupten, es wird doch 
schliesslich von jener zurückgedrängt werden. 
Für unsere deutschen Brüder im Nachbarlände 
gilt hier insbesondere das Wort: Seid einig 
in der Verfolgung des einen Zi^es: dc.s 
Schutzes und der Erhebung deüfecher Na¬ 
tionalität gegenüber slavischen Angriffen. 


Die Bewegungswerkzeuge der Schiffe. 

Von W. Freyer. 

Naturam si sequentur ducem, nunquaut 
aberrabimus,^) das gilt vielleicht nicht, wie 
die Römer es meinten, auf moralischem, wohl 
aber ums<Miehr auf naturwissenschaftlich-tech¬ 
nischem Gebiete. Die Natur zum Vorbild 
nehmen — das ist d«: sicherste Weg zum 
Erfolge in der Bezwingung der Naturkräfte. 
Wenn wir erst einmal die Geheimnisse des 
Vogelfluges in allen seinen statischen und 
dynamischen Verhältnissen erkannt haben 
werden, so wird die Zeit für uns gekommen 
sein, erfolgreich selber den Flug zu wagen; 
und haben wir nicht so manche weniger 
schwierige Fortbewegungsart, welche Mutter 
Natur ihren Geschöpfen verliehen, mit dem 
besten Erfolge an unseren künstlichen Hilfs¬ 
mitteln nachgeahmt? 

Schon die ältesten Völker wurden durch 
die bittere Notwendigkeit gezwungen, wollten 
sie den schweren Kampf ums Dasein siegreich 
bestehen, die natürliche Wehrlosigkeit ihres 

*) Wenn wir der Natur folgen, werden wir nie¬ 
mals irren. 

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764 


Freyer, Die Bewegungswerkzeuge der Schiffe. 


Leibes durch eigene Schöpfungen zu mildern, 
wozu ihnen ja in Hand und Kopf die aus¬ 
gezeichnetsten Werkzeuge gegeben waren. 
So geschah es denn auch wohl schon sehr 
früh, dass man sich vor zahlreichen Feinden 
und Gefahren in einem Flosse, einem ausge¬ 
höhlten Baumstamme auf das Wasser flüch¬ 
tete und die Fortbewegung dieses ersten 
Schiffes dem Schwane ablauschte, welcher 
mittelst seiner Ruderfüsse dahinfuhr oder bei 
günstigem Winde die weissen Flügel blähte, 
um ohne Anstrengung schnell einherzusegeln. 
Noch heute rudern die Neger in der ursprüng¬ 
lichsten Form durch Eintauchen und Rück¬ 
wärtsdrücken eines schaufelförmigen Ruders, 
das Gesicht dem Schnabel des Bootes zuge- 
■wandt, während schon Phöniker und Hellenen 
das mechanische Gesetz der Hebelwirkung 
mit dem Erfolge einer grossen Kraftersparnis 
anwandten, wie wir es thun, wobei ja freilich 
der Ruderer dem Schiffsschnabel den Rücken 
zukehren muss und an der Lenkung des 
Bootes keinen Anteil nehmen kann. In seich¬ 
ten Gewässern und * auf schnellströmenden 
Flüssen mag man ja auch mit geringerem 
Aufwande von Scharfsinn das „Staaken“ mit¬ 
tels einer auf den festen Grund oder das 
Ufer gestemmten Stange erfolgreich angewandt 
haben. Die^ zuverlässigste Fortbewegung blieb 
aber doch das Ruder, und die technischen 
Fortschritte beschränkten sich auf die An¬ 
ordnung möglichst vieler Ruder am Schiffe, 
während das Segel klein blieb und geringere 
Bedeutung behielt, denn die Herstellung 
grosser Segel war damals noch sehr schwierig 
und kostspielig, Menschenmaterial aber zum 
Rudern war trotz der schnellen Abnutzung 
und des dadurch bedingten grossen Ver¬ 
brauches auf den Sklavenmärkten und nach 
jedem siegreichen Kriege zu Spottpreisen er¬ 
hältlich. So ging es noch bis in das Mittel- 
alter hinein. Allmählig aber wurden die Ruder¬ 
knechte doch rarer — das Christentum kannte 
keine Sklaven, und man war bei der Bemann¬ 
ung der Galeeren mit Ruderern auf Sträflinge 
angewiesen; andererseits machte die Webe¬ 
technik solche Fortschritte, dass grosse starke 
Segel ohne allzugrosse Kosten herstellbar 
wurden, und nachdem einmal der Schwer¬ 
punkt der Fortbewegung auf das Segel werk 
gefügt war, gelang es ohne sonderliche Schwie¬ 
rigkeiten, die Betakelung iti Bezug auf Zahl 
und Stellung der Masten und der an ihnen 
befestigten Segel mit allen dazu gehörigen 
Rundhölzern und Tauen so zu vervollkommnen, 
däss man mit einer beträchtlich verringerten 
Mannschaft zur Bedienung des Schiffes aus¬ 
kam und somit erheblich Raum gewann zur 
Unterbringung von Soldaten, Proviant und 
Kriegsgerät, zu welch letzterem bald als ge¬ 


wichtigstes im vollsten Sinne des Wortes die 
Kanonen kamen. Die gesamte Mannschaft war 
jetzt im Gefechte für den Kampf verfügbar; 
wo früher eine zahlreiche Menschenschaar 
auf den Rudel^änken gearbeitet hatte, be¬ 
diente jetzt eine kleine Mannschaft die Ge¬ 
schütze, und die nötigen Bewegungsmanöver 
des Schiffes bewirkte man dazwischen schnell 
durch Herumlegen der Raasegel, welche gross 
genug waren, um nicht zu zahlreich zu wer¬ 
den und doch auch klein genug, um durch 
wenige Menschenkräfte lenkbar zu sein. Viele 
Jahrhunderte hindurch blieb die Besegelung 
im wesentlichen dieselbe, so tiefgreifende 
Wandlungen auch der sie tragende Schiffs¬ 
körper von phantastisch-grotesken Formen im 
Mittelalter bis zur heutigen nüchternen Ge¬ 
stalt durchzumachen hatte. Noch heute führt 
das kleine Fischerboot, die schlanke Kriegs¬ 
schiffsgig und das flotte Einhandboot des 
Wassersportsmannes das dreieckige Lateiner¬ 
segel der alten italienischen Galeeren, und 
noch heute tragen die Segelschiffe von der 
derben kleinen KOstenbrigg bis zum im¬ 
posanten fünfmastigen stählernen Indienfahrer 
im wesentlichen dieselbe Raatakelung, welche 
schon die hansischen Koggen und die be¬ 
scheidenen Transatlanter des Kolumbus führ¬ 
ten — mit der zeitgemässen Neuerung nur, 
dass Masten und „stehendes Gut“ (das fest¬ 
stehende nur zur Übertragung der Kräfte 
dienende Tauwerk, im Gegensatz zum „laufen¬ 
den Gut“, mittels dessen manövriert wird) 
nicht mehr aus Holz und Hanf bestehen, 
sondern haltbarer und billiger aus Stahl in 
Form genieteter Blechröhren und Drahtseile 
hergestellt werden. 

Konnte man nun auch mit Hilfe der Segel 
die grössten Fahrzeuge fortbewegen, welche 
die vorgeschrittene Schiffbautechnik zu er¬ 
zeugen vermochte — und in der That waren 
es ehrfurchtgebietende Gesellen, welche die 
Schlachten bei Abukir und Trafalgar schlugen, 
Linienschiffe von 300 Kanonen und 1000 
Mann Besatzung, und die gewaltigste athen¬ 
ische Triere ■ mochte neben ihnen als 
Spielzeug erscheinen, selbst der sagen¬ 
hafte Zwanzigruderer (d. h. zwanzig-ruder- 
reihiges Schiff) des Hiero von Syrakus noch 
bescheiden Zurückbleiben — so wurden doch 
auch andererseits diese Kolosse immer unge¬ 
fügiger und langsamer, und bei Windstille 
waren sie gänzlich hilflos, ein grosser Rück¬ 
schritt gegen die stets fahrbereiten, blitzschnell 
wendenden Ruderschiffe der alten Zeit; und 
der eigentliche Schnellsegler war in so 
grossen Abmessungen und als Schlachtschiff 
nicht verwendbar. 

Die Zeit war reif für eine neue Fortbe¬ 
wegungsart, welche die beiden bisherigen 


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Freyer, Die Bewegungswerkzeuge der Schiffe. 


765 


zwar nicht überflüssig machen konnte, sie 
aber doch ganz in den Hintergrund drängen 
musste. Der Amerikaner Fulton führte auf der 
Seine vor dem Kaiser Napoleon sein Motor¬ 
boot vor, in welchem er die seit einigen Jahr¬ 
zehnten in England sich so mächtig ent¬ 
wickelnde Dampfmaschine zum Drehen eines 
Ruderrades verwendete; dem eisernen Kriegs¬ 
manne und Völkerzertreter mangelte aber das 
Verständnis für Werke friedlicher Kultur, 
und er verlachte den bescheidenen und doch 
so vielverheissenden Beginn einer neuen Zeit 
des Weltverkehrs. Untergehen konnte die 
Sache natürlich weder durch die Verständnis¬ 
losigkeit eines Machthabers noch durch die 
Brutalität jenes amerikanischen Pöbelhaufens, 
welcher den Erfinder zum Märtyrer machte, 
und schon in den dreissiger Jahren des nun 
sich neigenden Jahrhunderts dampften die 
breiten und flachen Mississippidampfer mit 
ihren turmhohen Schloten und riesigen Schaufel¬ 
rädern als neuestes Weltwunder einher, und 
beräucherten die im übrigen fast unverändert 
ebliebenen Linienschiffe aas einem einzieh- 
aren (um beim Segeln nicht als hemmender 
Windfang zu wirken) lächerlich kurzen und 
dicken Rauchfang ihre weissen Segel zur 
Verzweiflung der Schiffsoffiziere. Das Schaufel¬ 
rad war nicht lange der Alleinherrscher ge¬ 
blieben. Ressel, der Deutsch-Österreicher, 
und mehrere Engländer hatten den naheliegen¬ 
den Gedanken aufgenommen, die in der 
Mechanik und dem Maschinenbau zur Fort¬ 
bewegung vielverwandte Schraubenspindel für 
Schiffszwecke nutzbar zu machen, indem das 
bekanntlich höchst unelastische Wasser die fest¬ 
stehende Schraubenmutter vorstellte, in welcher 
die Schraubenspindel mit zuerst zwei, dann 
mit einem vollen Gange, später mit zwei, 
seit Jahren immer mit drei oder vier Gang¬ 
segmenten, durch die Triebsmaschine des 
Schiffes gedreht wurde, dadurch das Schiff 
vorwärts drückend, welches nun je nach sei¬ 
ner Breite und Tiefe und der schlanken 
Schärfe seines Buges mehr oder minder schnell 
das Wasser durchschnitt. Ein aufmerksamer 
Naturbeobachter konnte finden, dass, wie das 
Schaufelrad als Vereinigung mehrerer Ruder¬ 
schaufeln auf einem Radumfange zwecks 
drehenden Antriebes nichts wesentlich Neues 
war, so auch die Schraubenbewegung bereits 
in der Natur vorhanden ist, indem das Fort- 
schnellen einzelner Fische durch einen ein¬ 
zigen Schlag der Schwanzflosse, wie man es 
z. B. bei Hechten beobachten kann, lediglich 
durch eine kräftige schraubenartige Bewegung 
dieser Flosse geschieht, eine ähnliche Beweg¬ 
ung, wie sie der einzelne, mit nur einem 
Ruder versehene Mann auch wohl ausübt, 
indem er sein Ruder am Stern des Bootes 


in das Wasser senkt und „wrickt“. Beide, 
sowohl Schraube als auch Ruderrad, behaupt 
teten ihren Platz nebeneinander bis heute, 
denn es haben beide ihre eigentümlichen Vor¬ 
züge, keines steht dem andern nach. Das 
Schaufelrad erfordert keine Durchbrechung 
des Schiffskörpers unter Wasser, ist leicht 
behufs Reparaturen zugänglich und während 
der Fahrt nachsehbar. Es verlangt keine 
schnelle Drehung der Welle, so dass die 
langsam arbeitende Maschine schon in früheri, . 
unbeholfenen Stadien des Dampfmaschifith- 
baues solide herzustellen und auch bequem 
zu beaufsichtigen war. Die Radachse kann 
beliebig hoch über Deck gelegt werden, das 
Schiff also unbehindert für unregulierte, Sand¬ 
bank- und treibholzreiche Ströme so flach¬ 
gehend wie nur möglich gebaut werden. Der 
Gang ist ein verhältnismässig sanfter und 
stossfreier. Aber auf See bei schwerem Wetter 
waren die Erschütterungen furchtbar, wenn 
das eine Rad sich tief in einer Welle be¬ 
grub, während das andere in freier Luft' 
wirbelte. Sturzseeen schmetterten auf die leicht¬ 
gebauten grossen Radkästen herab und Hessen' 
nur Trümmer zurück. Die hochliegenden 
schweren Massen vermehrten das Schwanken 
des Schiffes und die breiten Seitenbauten er¬ 
schwerten das Vorwärtskommen. Für Kriegs¬ 
schiffe waren Räder vollends nicht zu ge¬ 
brauchen, denn nichts war den Kugeln des 
Feindes mehr ausgesetzt und bot eine schönere 
Zielscheibe dar, als diese Haupt- und Lebens¬ 
teile des Schiffes. Indessen lag die'Schraube 
tief verborgen und geschützt vor Geschossen 
wie vor Sturzseeen unter WaSser in einem 
Rahmen vor dem Steuerruder. Klein an 
Raumbedarf, weit leichter und billiger als 
die Räder, mahlt sie dort unbeirrt durch 
Wellenberge und Wellenthäler ihren’ Gang 
weiter; nur wenn das Schiff auf der toben¬ 
den See einen gar zu wilden Sprung macht, 
taucht sie auf Augenblicke aus ihrem Element 
auf und bekommt Lust, in dem allgemeinen 
Aufruhr nun auch durchzugehen, so dass der 
Maschinist sie zügeln muss. Der weit schnellere 
Lauf, den sie dem Rade gegenüber erfordert, 
— der sich ohne Verminderung ihres Wirk¬ 
ungsgrades noch weit über die Grenze stei¬ 
gern lässt, den die Kolbengeschwindigkeit 
unserer Maschinen setzt — war anfangs eine 
grosse Verlegenheit für die Maschinenbauer. 
Nachdem man die Schwierigkeiten aber über¬ 
wunden, ist man dessen froh, denn je schnel¬ 
ler die Maschine läuft, umso kleiner und 
leichter, also auch billiger, wird sie, und das 
ist nicht zu verachten, kostet doch die Ma¬ 
schinenanlage etwa ebensoviel wie der ge¬ 
samte grosse Schiffskörper mit Zubehör! 
Anderseits hat die Schraube aber wieder einen! 


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766 


Fklylr, Dil BLWLCUNGSWERKztuGt: DER Schiffe. 


etwas kleineren Nutzeffekt als das Ruderrad, 
sie verlangt einen bestimmten, nicht geringen 
Tiefgang des Fahrzeuges — wogegen sie frei¬ 
lich, sofern nur unter Wasser, bei verschie¬ 
denem Tiefgange gleich gut arbeitet, während 
das Rad gegen zu tiefe Tauchung sehr em¬ 
pfindlich und darum für Frachtdampfer schlecht 
brauchbar ist — sie verringert bei langsamem 
Gange in flachem Wasser empfindlich die 
Steuerfähigkeit des Schiffes, und wenn sie, 
auf einen harten Gegenstand stossend, ihre 
Flügel abschlägt oder ein Tau, ein Netz, in 
sich verwickelnd, hilflos stehen bleibt, so kann 
kein Mensch hinzu, um zu sehen und zu 
helfen; die lange Wellenleitung im Tunnel 
von der Schraube bis zur Maschine ist un¬ 
bequem, die Stopfbüchse in der Durchbrech¬ 
ung der Schiffshaut unter Wasser erfordert 
stete Aufsicht und kann bei Wellenbruch eine 
Quelle grösster Gefahr werden. Leichte 
Schiffe geraten beim Gange der Maschine in 
höchst unangenehme Vibrationen, was beim 
Raddampfer nicht der Fall ist. 

So haben beide Triebwerke ihre Tugen¬ 
den wie ihre Nachteile, und je nachdem diese 
oder jene ins Gewicht fallen, wird man sich 
für eins oder das andere entscheiden. Ele¬ 
gante Personendampfer auf Flüssen, Seen und 
kurzen Meerfahrten, sowie die Schleppschiff¬ 
fahrt sind das gegebene Gebiet für das Rad 
— sei es Seitenrad oder auf schmalen Ka¬ 
nälen das Hinterrad — während Kriegsschiffe 
und überhaupt die gesamte Seeschifffahrt mit 
den für sie unschätzbaren Vorteilen der Schraube 
ihre Gefahren mit in den Kauf nehmen muss. 
Konnte man* letztere nicht beseitigen, so 
schwächte man sie doch erheblich ab, indem 
man statt der einen Schraube im Hintersteven 
deren zwei rechts und links davon anordnete, 
oder, wie neuerdings geübt, gar alle drei, 
mit von einander völlig getrennten Maschinen¬ 
anlagen, in Betrieb nahm. Die Frucht war 
Unabhängigkeit von teilweisen Maschinen¬ 
havarien, wunderbar schnelles und schönes 
Manövrieren des Schiffes und ökonomischer 
Betrieb bei Fahrten mit verringerter Maschinen¬ 
leistung, sowie erleichterter Bau der etwas 
kleiner werdenden Einzelmaschinen bei den 
modernen Riesendampfern mit einer Betriebs- 
kraft von 30,000 Pferdestärken, Maschinen, 
in deren Dampfzylindern und Kanälen man 
beinahe spazieren gehen kann. Rad und 
Schraube sind vervollkommnet worden durch 
geistvolle, scharfsinnige Theorie sowohl wie 
durch praktische Versuche, sow’eit es ging. 
Wesentlichen Änderungen dürften sie nicht 
mehr unterliegen. Die Geschwindigkeit ist 
seit 25 Jahren von 15 Knoten auf das dop¬ 
pelte und schon darüber gewachsen (30 Knoten 
oder Seemeilen in der Stunde sind 15,5 Meter 


sekundlich oder 55,5 Kilometer stündlich, die 
Geschwindigkeit eines stürmischen Windes), 
eine weitere Steigerung dürfte nur durch die 
„kleinen Mittel“ der Erhöhung des Dampf¬ 
druckes und der Umdrehungszahl, sowie 
äusserst mögliche Verringerung des Gewichtes 
von Baumaterial, Brennstoff und Arbeitswasser 
in Dampfkesseln und Kondensatoren, endlich 
Verfeinerung der Form des Schiffsrumpfes, 
möglich sein. 

Sind nun Rad und Schraube die einzigen 
Betriebsmittel für Dampfschiffe? Hat die Natur 
weiter nichts gewusst als Ruderfuss und 
Schwanzflosse? Doch! Da schlängelt sich flink 
und elegant eine Schlange durch das Wasser, 
ohne an ihrem glatten Leibe derartiges zu 
zeigen. Der Aal macht es ihr nach, freilich 
schon durchFlossen unterstützt, und in ähnlicher 
Weise wackelt hastig die breite Flunder über 
den schlammigen Grund dahin. Der Nautilus, 
aber auch der Kalmar mit seinen vielen 
Schlangenarmen voller Schröpfköpfe, wissen 
sich einfacher zu helfen; ohne sich den Luxus 
besonderer Ortsveränderungsorgane zu leisten, 
benutzen sie den Fress- und Verdauungsapparat 
dazu, sich — rückwärts freilich — durch das 
Wasser hindurchzutrinken. So etwas Hesse 
sich nachmachen I Und in der That hat man 
es mit mancher sinnreichen Konstruktion nach 
dieser Richtung hin versucht, von dem ein¬ 
fachen Boote, das der handwerkernde Knabe 
sich erbaut, in welchem ein Dampfkessel mit¬ 
tels aussenbords mündender, rückwärts ge¬ 
bogener Rohre Dampf und Wasser nach 
hinten fortstösst, bis zu dem „Reaktions¬ 
propeller“ mit seiner Kreiselpumpmaschine; 
eine durch Dampf getriebene Zentrifugalpumpe 
schleudert das durch einen Kanal am Schiffs¬ 
buge eintretende Wasser hinten wieder her¬ 
aus; aber ebenso wie die Schraube, oder 
noch leichter, kann hier die Pumpe durch 
schwimmende Gegenstände aller Art „unklar“ 
werden, ohne dass schnelle Abhülfe möglich 
ist. Es sind interessante Versuchsobjekte, 
kommen aber für den praktischen Schiffbau 
gar nicht in Frage. Wenn wir nun auf den 
Kettendampfer kurz hinweisen, der sich in 
stark strömendem Flusse an einer auf dem 
Grunde versenkten meilenlangen Eisenkette 
hinaufhaspelt, und vielleicht noch erwähnen, 
dass der Torpedo, nachdem er durch den 
Lanzierapparat desTorpedobootes oderPanzer- 
schiffes in das Wasser geschleudert ist, mit¬ 
tels seiner eigenen durch Pressluft getriebenen 
Maschine zwei hintereinandersitzende, genau 
gleich grosse, gleich schnell in entgegengesetz¬ 
ter Richtung sich drehende Schrauben betreibt, 
weil eine einzelne Schraube durch den Wider¬ 
stand, den ihr das Wasser bietet, den gänz¬ 
lich untergetauchten, völlig runden, und somit 


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Freyer, Die Bewegungswerkzeuge der Schiffe. 


767 


der Drehung keinen Widerstand bietenden 
Torpedokörper in wirbelnde Drehung ver¬ 
setzen würde, statt ihn vorwärts zu treiben, 
so haben wir die geringe Zahl der verschie¬ 
denen Betriebsmittel erschöpft. Nur verwen¬ 
det man zum Antriebe der Maschinen bei 
kleineren Booten statt des Wasserdampfes 
Dämpfe von Petroleum, Naphta, Benzin, auch 
wohl in Akkumulatoren mitgenommene elek¬ 
trische Energie, oder man lässt zum Antriebe 
den Dampf anstatt in einer Kolbenmaschine 
in einer Dampfturbine wirken, wie Parsons, 
der mit seinem Boote Turbinia dabei 32,75 
Knoten erreicht hat. 

So war es bisher. Kann aber das Jahr¬ 
hundertende, dem eine ötägige Ozeanüber¬ 
fährt als langweilig, ein D-Zug mit 80 km 
stündlich als Bummelzug erscheint, und dem 
immer mehr und mehr die Zeit als das kost¬ 
barste aller Kapitalien gilt, es dulden, dass 
unsere Verkehrsmittel auf dem Wasser noch 
länger bei der. heutigen Geschwindigkeit sich 
bescheiden? Soll wirklich der Schnelldampfer¬ 
sport mit den jetzigen „Windhunden“ von 
20,0001 Gewicht und 27,000 Pferdekräften 
Maschinenleistung bei 21 Knoten Fahrge¬ 
schwindigkeit, einem täglichen Kohlenver¬ 
brauch von 480,000 kg (über 3000 M.) halt 
machen? Das kann doch nicht sein! Und 
allerorten sind die Erfinder thätig, eine Ab- 
hülfe auszusinnen. Es liegt etwas Neues in 
der Luft, und Jeder will der Erste sein, der 
es findet, wenn Mehreren es gelingt, wie Ja 
das schon wiederholt der Fall gewesen ist. 
Da versucht es Einer mit dem löffelförmigen 
Buge. Es wächst ja der Widerstand des 
Wassers, den die Maschinenarbeit zu über¬ 
winden hat, mit zunehmender Schiffsgeschwin¬ 
digkeit in gewaltigem Masse, und man glaubte 
ihm bisher am besten beizukommen, indem 
man dem Schiffe einen möglichst scharfen 
Bug und schlanke Wasserlinien bei thunlichst 
glatter Aussenhaut gab, damit es leicht durch 
die Wassermasse hindurchschneiden könne. 
Statt dieses Durchschneidens soll nun das 
Schiff gewissermassen mehr über das Wasser 
hinweggleiten, und es dürfte erst durch Ver¬ 
suche an Modellen völlig festzustellen sein, 
wieviel an dem Gedanken Gutes ist. Der 
überscharfe Bug hat jedenfalls den Nachteil, 
im Verhältnis zu dem verdrängten Raum zu 
schwer zu werden und somit den Tiefgang 
zu vergrössern, sowie beim Durchqueren 
schwerer Wellenzüge sehr viel Wasser über¬ 
zunehmen ; beides würde der löffelförmige 
Bug ja vermeiden; jedenfalls ist der Gedanke 
des näheren Eingehens wert, was man von 
so manchem anderen nicht sagen kann, der 
nicht von Fachmännern herrührt, sondern von 
berufsmässigen Erfindern, die da glauben, 


dass sie in all und jedem ihnen beliebig frem¬ 
den Gebiete mit der Fackel ihres Geistes nur 
herumzuleuchten brauchen, um epochemachende 
Erfindungen zu zeitigen. So will Einer die 
Geschwindigkeit der Schiffe erhöhen, indem 
er in einer Auskehlung des Schiffsbodens 
eine ganze Anzahl Schrauben hintereinander 
anordnet. Dass der Schiffswiderstand eine 
gegebene Grösse, abhängig von dem Ge¬ 
wichte und der Form des Schiffskörpers, so¬ 
wie dem Quadrate seiner Geschwindigkeit ist, 
dass also die fJauptschwierigkeit, vor der 
man heute steht, mit dem Gewichte der Ma¬ 
schinenanlage und des benötigten Kohlen¬ 
vorrates bald die ganze Ladefähigkeit unter 
Ausschluss aller Güter und Passagiere zu 
beanspruchen, dadurch nicht verringert wird, 
scheint dabei vergessen zu sein, ebenso ficht 
weder der Umstand, dass alle hinteren Schrau¬ 
ben in dem Wirbelwasser der vorderen ar¬ 
beiten, also zu nutzbringender Thätigkeit 
wenig Möglichkeit gewinnen, noch die prak¬ 
tische Unmöglichkeit eines rationellen Antriebes 
dieser Schrauben vom Schiffsinnern aus den 
grossen Geist etwas an. Denn Zahnräder im 
freien Wasser wird kein verständiger Mensch 
anzuwenden wagen. Ähnlich ist die Erfind¬ 
ung, welche von Kanada aus verkündet wird, 
mit 48 Schrauben, die nicht nur hinten, son¬ 
dern auch vorn und an den Seiten ( 1 ) ange¬ 
bracht sind und ihren Antrieb durch Dynamos 
finden, das Schiff zu treiben. Welche Arbeit, 
diese 48 im ganzen Schiff verteilten Arbeiter 
alle zu beaufsichtigen und zu gleichmässiger 
Arbeit anzuhalten! Aber.was kümmert es den 
Erfinder, dass eine grosse Maschine einen 
ungleich besseren Wirkungsgrad hat als 48 
kleine von zusammen gleicher Grösse, und 
bedeutend weniger Anschaffungs-, Aufstell- 
ungs-, Wartungs- und Unterhaltungskosten 
verursacht! Sein klarer Blick ist von keinerlei 
Sachkenntnis getrübt! Ernster zu nehmen 
war das Bazinsche Rollenschiff, obwohl man 
die daran geknüpften überspannten Hoffnun¬ 
gen ebensowenig teilen konnte, wie sich die 
Grösse des Misserfolges voraussehen Hess. 
Es sollte dort die gleitende Reibung des in 
das Wasser getauchten Schiffsrumpfes mit der 
rollenden Reibung einiger (6) schwimmender 
linsenförmiger Räder vertauscht werden, welche 
' auf ihren Achsen eine das eigentliche Schiff 
vorstellende Plattform trugen; das Gewicht 
wurde ja dadurch erheblich grösser, die Tauch¬ 
ung der Räder musste eine sehr tiefe wer¬ 
den; daför genierte sie aber auch keine Un¬ 
tiefe, die Gefahr des Sinkens infolge von Zu- 
sammenstössen schien verringert, und die 
hohe Lage des Gesamtschwerpunktes über 
Wasser Hess sich durch genügend breite 
Stellung der Räder — soweit Hafendurch- 


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768 


WbRNER^ Epik und Lyrik im vergangenen Jahre. 


fahrten und Hafenbehörden es gestatteten — 
ausgleichen. Es ist anzunehmen, dass bei 
schlechtem Wetter das Schiff vom Seegange 
ganz erbärmlich mitgenommen worden wäre, 
doch ist es dazu gar nicht erst gekommen. 
Die rollende Reibung der Räder war ja ge¬ 
ringer, als die gleitende des eingetauchten 
Körpers gewesen wäre; leider aber war sie 
im Wasser zu gering, um das Schiff, wie 
erwartet, vorwärts zu bringen; nur die aus 
Vorsicht mitangebrachte Schraube ermöglichte 
einen geringen Teil der erhofften Geschwin¬ 
digkeit, und das Fahrzeug, auf welches so¬ 
viel Scharfsinn, soviel geistige Arbeit und 
Kapital verwandt worden, wird wohl sein un¬ 
rühmliches Ende in einem Volksbelustigungs¬ 
lokale finden, wo es vielleicht in ähnlicher 
Weise dann über Land und Wasser radelt, 
wie das dänische Amphibienboot, welches 
seit Jahren die trennende Landenge zwischen 
den von ihm befahrenen Seen auf Schienen 
mittelst einiger Räder überschreitet, zu deren 
Antrieb seine Schraubenschiffsmaschine um¬ 
geschaltet wird. Einen ganz eigenartigen Ver¬ 
such, die bewegende Kraft der Wellen, also 
mittelbar wieder die des Windes, zur Fort¬ 
bewegung zu benutzen, hat man in der deut¬ 
schen zoologischen Station zu Neapel gemacht. 
Indem die schaukelnden Wellen das Boot 
heben und senken, setzen sie eine an dem¬ 
selben in gewisser Tiefe angebrachte federnde 
Stahlplatte in Bewegung, welche nun durch 
schlängelnde Schwingungen in der Art einer 
schwimmenden Flunder das Boot mit ange¬ 
messener Geschwindigkeit vorwärts treibt. Es 
steht dahin, ob dieser Gedanke eine prak¬ 
tische Bedeutung erlangen wird — natürlich 
nur für kleine Fahrzeuge. 

Es ist also der Mann noch nicht gekom¬ 
men, der unsere Schiffe das Fliegen lehrte, 
und die gute alte Schraube bleibt einstweilen 
unbestrittene Herrscherin, wir müssen uns 
mit ihr eben noch behelfen. Aber sie ist 
doch auch gar nicht so übel? Man besuche 
nur einmal einen Schnelldampfer des Nord¬ 
deutschen Lloyd oder einen unserer Hoch¬ 
seepanzer und seine Maschinenanlage, diese 
gewaltigen und komplizierten, dem Laien sinn¬ 
verwirrenden Wunderwerke, deren tausende 
von Pferdekräften ein Handgriff zügelt und 
lenkt 1 

Es giebt Seetiere, die schneller sind als 
unsere kunstvollen Stahlgebäude, aber nur 
unvollkommen vermögen wir ihnen einiges 
nachzuahmen, was die Natur ihnen verliehen: 
Hinter dem geschmeidigen, sich schnell da¬ 
hinschlängelnden Tierleibe stehen für alle 
Zeiten die starren Eisenkörper unserer Schiffe 
ebenso weit zurück wie die Gleitschlitten und 
Drehzapfen unserer Maschinen hinter dem 


wundervollen Gelenkmechanismus unserer 
eigenen Glieder. 


Epik und Lyrik im vergangenen Jahre. 

Vou Prof. Dr. Richard Maria Werner. 

II. Die Lyrik der älteren Generation. 

Die Lyrik ist jenes Gebiet der Dichtung, 
auf dem sich die Individualität des Poeten 
am meisten fühlbar macht; er muss zeigen, 
was er ist, was er ward und wie er ward. 
Das stoffliche Element, das für die epische 
und die dramatische Dichtung eine so grosse 
Bedeutung hat, dabei aber auch zu einer Ge¬ 
fahr werden kann, spielt in der Lyrik nur 
eine geringe Nebenrolle, denn der eigenste 
lyrische Stoff wird immer die innere Welt 
des Dichters bleiben, sein Fühlen, sein Er¬ 
leben. Der Unterschied zwischen wirklich 
erlebten und nur mit geschickter Technik ge¬ 
machten lyrischen Dichtungen lässt sich nicht 
abstreifen; den echten Klang des geborenen 
Lyrikers hört man auch aus dem unbehol¬ 
fenen Lallen des Anfängers heraus, man ver¬ 
nimmt ihn nicht minder in dem abgeklärten 
Gesang des Greises. Es ist eben der Hauch 
des Persönlichen, der von der Lyrik aus¬ 
gehen muss, wenn sie nicht mit der Rhetorik 
oder dem konventionellen Singsang zusammen¬ 
fallen soll. 

Und mit Freuden lässt sich feststellen, 
dass echte Lyrik immer noch in Deutschland 
zu finden ist, dass die Dichter nicht müde 
werden zu singen, auch w'enn nur Wenige 
ihnen lauschen, dass aber auch Empfänglich¬ 
keit für Lyrik in Deutschland nach wie vor 
herrscht. Wer mit dem Interesse des For¬ 
schers und des Kunstfreundes die lyrische 
Produktion verfolgt, der wird bald die fauben 
Blüten erkennen und mit Resignation zur 
Seite legen, er wird aber jedes Jahr ein Päck¬ 
chen mit Gedichtbänden auszulesen imstande 
sein, die er von Zeit zu Zeit wieder zur 
Hand nimmt oder aus denen er sich wenig¬ 
stens das eine oder das andere Gedicht notiert 
und merkt. 

Wenn ich es nun versuche, einen Über¬ 
blick der lyrischen Produktion im vergangenen 
Jahre zu geben, so lasse ich selbstverständ- 
*Iich alle Fabrikswaare ganz ausser acht, wenn 
sie nicht in irgend einer Beziehung, und sei 
es nur kulturhistorisch, interessant ist; manches 
wird mir entgangen sein, manches hab’ ich 
nicht zu Gesicht bekommen und auf die 
reiche Publikation in den Zeitschriften nehme 
ich natürlich keine Rücksicht, dazu reicht 
eines einzigen Menschen Kraft nicht aus. 
Übrigens treten Lyriker, deren Gedichte in 


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Werner, Epik und Lyrik im vergangenen Jahre. 


769 


Zeitschriften Beachtung verdienen, — Aus¬ 
nahmen sind selten, —. bald auch mit selbst¬ 
ständigen Bänden vors Publikum. Erwähnt 
seien nur die zierlichen fliegenden Blätter, 
die Karl Henckell unter dem Titel „Son- 
nenb/umen,“ herauszugeben begonnen hat. 
Sie bieten auf je 4 Seiten neben Porträt, Bio¬ 
graphie und Charakteristik jedes Lyrikers eine 
geschickte Auswahl seiner Lyrik; die zehn 
Nummern des ersten Jahrgangs (1896/97) ent¬ 
hielten Theodor Fontane, Martin Greif, Julius 
Hart, R. Burns, Dranmor (Ferd. v. Schmid), 
Hermann Lingg, Hermann Conradi, Heine, 
Shelley und Lenau. Die kurzen Charakter¬ 
istiken sind originell ausgedrückt, manchmal 
sehr glücklich, wenn auch gesucht eigenartig, 
immer modern gefühlt; sie wie Henckells Aus¬ 
wahl verraten Geschmack. Diesen Blattern 
wäre zu wünschen, dass sie ähnlichen Unter¬ 
nehmungen, die aber nur elendste Tingel¬ 
tangel- und Volkssängergassenhauer bringen, 
wirksam Konkurrenz machten und so die 
wichtigsten Lyriker den breiten Kreisen des 
Volkes zufOhrten. Und Henckell berücksichtigt 
ältere wie jüngere Lyriker. 

Im vergangenen Jahre wurden zwei Samm¬ 
lungen aus dem Nachlass zweier Dichter ver¬ 
öffentlicht, die seit langer Zeit einen Platz 
im Herzen der Nation einnehmen. Emanuel 
Gei bei*) und Friedrich Wilhelm Weber*) 
hatten selbst noch eine Auswahl ihrer bisher 
ungedruckten Dichtungen geplant, doch mussten 
ihre Hinterbliebenen die Sammlung vervoll¬ 
ständigen und zum Druck befördern, Die 
beiden Bände haben manches Gemeinsame; 
sie wollen einen Überblick der lyrischen Pro¬ 
duktion beider Dichter von den Anfängen bis 
zum Tode geben; sie zeigen abermals, dass 
beide Dichter eigentlich keine Entwickelung 
durchmachten, sondern nur ihr Wesen immer 
klarer ausprägten; sie verraten aber auch, wo 
die Grenzlinie zwischen Alt und Jung liegt; 

Geibel hatte schon zu Lebzeiten eine so 
giosse Masse lyrischer Gedichte veröffentlicht, 
dass es bei ihm keine Überraschungen mehr 
geben konnte, seine feinfühlige, etwas träu¬ 
merische Natur, genährt an antiker Schönheit 
in der Studienzeit und während seines grie¬ 
chischen Aufenthaltes, durchaus vornehm, 
naticmal tritt auch wieder im Nachlassbande 
zutage. Der Lyriker, der nach dem Wohl- 

* „Sonnenblumen", herausgegeben von Karl 
Henckell. Jährlich 24 Nummern. 2,25 Fres. per 
Jahr, 0,10 per Nummer. 

•) Gedichte von Emanuel Geibel. Aus dem Nach¬ 
lass. Stuttgart. Verlag der J. G. Cotta’schen Buch¬ 
handlung Nachfolger. 

*) Herbstblätter. Nachgelassene Gedichte von 
F. W. Weber. Erste bis vierte Aufl. Mit Stahl¬ 
stich-Porträt. Paderborn. Druck und Verlag von 
Ferdinand Schöningh. M, 4,80. geb. M. 6.—. 


j klang strebt, dessen glatte melodische Verse 
sich dem Ohr einschmeicheln, hat sich viel¬ 
leicht am besten in folgender Strophe (S. 48) 
charakterisiert: 

Ich hab’ ja nicht mit frechem Stolz 
Gesagt, ich sei die Eich’ im Holz, 

Ich habe Blumen nur gestreut. 

Für den, der sich an Blumen freut. 

Und ist mir manche nun verdorrt, 

Was blühen soll, blüht dennoch fort. 

Anmutig hat er in einer zierlichen Er¬ 
findung (S. 84 f.) dargestellt, wie Amor seiner 
Muse den Kothurn vom Fusse löst und ihr 
dafür leichte Schuhe anzieht, so dass sie nun 
nicht ernste Trauerspiele, sondern leichte 
Liebeslieder dichtet. In der vorliegenden 
Sammlung, die auch manches Unvollendete 
bringt, können wir Geibel beim Suchen nach 
der richtigsten Form beobachten; so stehen 
S. 239—242 vier Gedichte, die sein Ringen 
mit einem lyrischen Stoff deutlich verraten. 
Antike Formen, Sonette, Terzinen, Ottave- 
rime, Hinkjamben, spanische Strophen begeg¬ 
nen uns, wie in Geibels früheren Sammlungen. 
Seine „Heroldsrufe“ werden durch politisch¬ 
nationale Gedichte ergänzt, unter denen be¬ 
sonders jene auf Bismarck im Kulturkampf 
hervorzuheben sind; Geibel fühlt sich als 
Rufer im Streit und sagt von sich (S. 267); 

Rosen gewann ich mir einst von den Frau’n als 
Sähger der Liebe; 

Jetzt von der Eiche zum Schmuck gönnt mir, ihr 
Männer, ein Reis! 

In der Zerstückelung Zeit das Panier aufwerfend 
der Hoffnunc, 

Dreissig Jahre getreu rief ich nach Kaiser und Reich. 

Als aber nun das Reich begründet war, 
da fand er nicht mehr jenen hinreissenden 
Ausdruck für die Freude, die ihn beim Mah¬ 
nen zur Eintracht, bei der zuversichtlichen 
Hoffnung auf Einigung ausgezeichnet hatte. 
Das war es, was die Jugend bei ihn ver¬ 
misste, und in einem Gedichte (S. 281 f.) 
spricht er ganz klar den Unterschied der 
Generationen aus: er lebte in der Vergangen¬ 
heit, während seiner Jugend verschloss er 
sich der Gegenwart, die moderne Jugend lebt, 
fühlt und denkt in der Gegenwart und ver¬ 
langt den Ausdruck dessen, was ihre eigene 
Zeit bewegt; Geibel strebt „nach dem me¬ 
lodischen Wort“, die moderne Jugend nach 
dem charakteristischen. Darum ist es auch 
so begreiflich, dass sich Geibel und Hebbel 
als Gegensätze fühlten; den „Dichter der 
vielen Auflagen“ nannte Hebbel Geibel, einen 
„Memnon im Sand“ nennt jetzt Geibel, (S. 272) 
Hebbel und vermisst den „labenden Quell“ 
in dem Gestein. „Sühnung“ und „Kraft" 
bezeichnet Geibel als die Gegensätze zwischen 
sich und Hebbel, Schönheit und Charak¬ 
teristik wäre besser. 


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770 


WtiiNER, Epik und Lyrik im vergangenen Jahre. 


F. W. Weber, dessen Epos „Dreizehn¬ 
linden“ zu so ausserordentlichem Ruhme ge¬ 
langt ist und alle seine übrigen Werke in 
den Schatten stellte, erweist sich auch in den 
„Herbstblättern“ wieder als ein Geistesver¬ 
wandter Geibels. Er betont (S. I3) seine Vor¬ 
liebe für die Antike, die Bibel, das deutsche Mit¬ 
telalter, preist (S. 234 f) Walther von der Vogel¬ 
weide und Uhland, verrät aber seine Abnei¬ 
gung gegen die orientalischen Formen. Wie 
Geibel blickt er auf sein Leben zurück, hasst 
er die Scheinheiligen und ist von tiefer 
Religiosität. Die Weisheit, die er vorträgt, 
ist nicht trüb, sondern froh, ja schalkhaft, 
kommt aus einem kindlichen Herzen, und 
trifft oft einen herzlich heiteren Ton. Sein 
letztes Gedicht „An der Wegscheide“ (S. 150 f) 
ist bezeichnend dafür. Weber ist kein Tadler, 
er hasst die Zeloten, aber er schaut klar ins 
Leben und versteht es, deutlich und klar zu 
sprechen. Viel stärker als bei Geibel ist bei 
ihm die Ballade vertreten, und einen breiten 
Raum in den Herbstblättern nehmen die Über¬ 
setzungen ein, von denen bei Geibel, diesem 
Meisterübersetzer, nur wenige Proben er¬ 
scheinen. Geibel hat mehr vom begeisterten 
Priester der Musen, Weber mehr vom ge¬ 
sunden Menschenkinde; Geibel bewegt sich 
immer mit feierlicher Grandezza, während 
sich Weber ungezwungener giebt. Beide aber 
streben nach der Schönheit. 

ln dieser Beziehung ist ihnen ähnlich 
Johann Georg Fischer, der seine Ver¬ 
ehrer kurz vor seinem 80. Geburtstag durch 
eine neue Sammlung^) „Mit 80 Jahren“ er¬ 
freute und bald darauf durch seinen Tod be¬ 
trübte. Aber Fischer ist nicht einseitig Ver¬ 
treter der Schönheit, sondern opfert die Schön¬ 
heit, wenn es nötig ist, dem Charakteristischen 
auf, und erscheint dadurch trotz seiner Jahre 
so jung. Er meint (S. 134): 

Nun ich fast achtzig erreicht, so redet ihr Guten 
von mehr noch; 

Lasset’s, es haben genug Wald und Gesang mich 
genährt; 

Zwar ist Leben so schön, und schöner ist hoffend 
zu leben; 

Aber zu lange versucht, lahmt auch der beste Besitz. 

Sein sinniges Gemüt verrät sich in der 
milden Auffassung, in dem verzeihenden 
Verstehen der Leidenschaft, in dem tiefen 
Erfassen der Lebensverhältnisse; sein geklärtes 
Alter in der männlichen Ergebung, die aber 
nichts von Schwäche zeigt, in der Sehnsucht 
nach der Vereinigung mit der Gattin, der er 
seine Liebe wie sein Lied gewidmet hat; seine 
Kunst in der Fähigkeit, mit wenigen Strichen 

Mit achtzig Jahren. Lieder und Epigramm 
von I. G. Fischer, Stuttgart. Verlag der J. G. 
Cotta’schen Buchhandlung Nachfolger. M. 2.—. 


echt lyrisch ein Motiv, ja ein ganzes Bild zu 
entwerfen. Dafür bezeichnend sind z. B. 
„Ein Trauungsmorgen“ (S. 58), „Eine Schul¬ 
dige“ (S. 81) und viele andere. Ein gross¬ 
artiges Bild des Menschenlebens in aller 
Schlichtheit giebt „Mahlwerke“ (S. 38). Gerade 
das charakterisiert Fischer als echten Lyriker, 
dass sich ihm auch, das Kleinste durchleuchtet 
und zu einem symbolisch Bedeutsamen ge¬ 
staltet ; man nehme nur etwa das Gedicht 
(S. 67 ff.) „Die Künstlerfamilie Peters in Stutt¬ 
gart", wie wird da jedes Einzelne lebendig 
und wie eröffnet sich dabei ein Blick ins 
Weite, Grosse. Ruht so ein Hauch Goe- 
thischer Kunst auf den Blättern, so ftihlen wir 
auch einen schwäbischen Klang in den Ver¬ 
sen, und Gedichte wie „Ihr Auge“ (S. 26) 
oder „Selige Nacht“ (S. 24), „Verbannt" 
(S. 57), „Zuflucht“ (S. 35) sind Lieder, die 
unvergesslich bleiben. Als Probe sei „Selige 
Nacht“ gegeben, damit der Bericht wenigstens 
einen Abglanz der echten Fischer’schen Kunst 
enthält: 

O wie linde kommt die Nacht: 

Nebelglanz und Mondenstrahl 
Hüllt dich ein, du liebes Thal, 

Das uns heut so froh gemacht; 

O wie linde kommt die Nacht! 

O wie leise haucht die Nacht, 

Die im Duft- und Lichtgewand, 

Bestes Herz und liebste Hand, 

Uber deinen Schlummer wacht; 

O wie leise haucht die Nacht! 

O wie süss verschwebt die Nacht: 

Selig träumen ich und du 
Schon dem neuen Tage zu. 

Der uns morgen zugedacht; 

O wie selig ist die Nacht! 

Die Gedichte sind nicht datiert, möglich 
also, dass dieses Lied aus Fischers Jugend 
stammt, aber auch jene, die nur aus seinen 
letzten Jahren herrühren können, zeigen die¬ 
selbe Frische. Die Lieder eines anderen 
Achtzigers, der 1896 starb, „In Freud und 
Leid" von Julius Sturm, sind mir un¬ 
bekannt geblieben. Die Weise Sturms ist 
übrigens bekannt genug und kehrt nach den 
Besprechungen auch in der letzten Sammlung 
wieder. 

Zwei andere Altersgenossen sind ini 
vorigen Jahre mit neuen Gedichtbänden auf¬ 
getreten, nachdem sie längere Zeit als Lyriker 
geschwiegen hatten, Julius Lohmeyer und 
Hans Grasberger. Beide sind Optimisten, 
beide neigen einer nachdenksamen Auffassung 
zu und fassen gern die Resultate ihrer An¬ 
schauungen in Sprüchen zusammen. Loh¬ 
meyer hat unter dem Titel ®) „Auf Pfaden 

*) Leipzig, F. A. Brockhaus. M. 3.—. 

®) Auf Pfaden des Glückes. Lebenssprüche. 
Mit Titelzeichnung und Vignetten von Alexander 


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Werner, Epik u.nd Lyrik im vergangenen Jahre. 


771 


des Glückes** einen ganzen Band glücklich 
pointierter Sprüche veröffentlicht, die von tiefer 
Frömmigkeit, christlicher Gesinnung, aber 
auch von Milde, Feinsinn und trefflicher 
Menschenkenntnis zeugen. Meist ist der Aus¬ 
druck durchaus natürlich und in seiner Kürze 
von schlagender Wirkung. Lohmeyer bedarf 
keiner Flickwörter, der Reim ist kein äusserer 
Flitter, sondern der richtige Schmuck für die 
vorgetragene Weisheit. Einen ausgezeich¬ 
neten Grundsatz kennt eben der Dichter (S. 55): 

Kein Strich zu wenig, kein Strich zu viel, 
Vollendet Mass, — das nenn’ ich Stil. 

Wie witzig er sein kann, wissen wir schon 
lange, ein Spruch (S. 57) mög’ es wieder 
darthun: 

Dem mangelt an Glück es, dem fehlt es an Geld, 
Dem wurde zu wenig an Ehren beschieden, 
Kurz, jedem an etwas gebricht’s auf der Welt, 

Mit seinem Verstand nur ist jeder zufrieden. 

Die Sprüche werden Vielen Freude bereiten. 

Vielseitiger als Lohmeyer zeigte sich 
Hans Grasberger, von dem der eifrige 
Verleger Österreichischer Litteratur Georg 
Heinrich Meyer zwei Sammlungen'^) er¬ 
scheinen Hess. Leider hat der Dichter zu 
wenig strenge Kritik an seinen Dichtungen 
geübt, und so ist manches Ungleichwertige 
stehen geblieben; oft stört ein banales Wort, 
oft nur eine kleine Wendung, die ein Gedicht 
zum Schluss verdirbt, oder eine unnötige In¬ 
version, der man Reimzwang anfühlt. Hätte 
der Dichter unbarmherziger gestrichen, seine 
Sammlung hätte gewonnen, denn überall dort, 
wo „innere Form“ erreicht ist, wo nämlich 
jede Strophe, jedes Wort nötig sind, da er¬ 
freut er uns durch seine Lyrik. Besonders 
zwei Motive behandelt er überaus glücklich, 
die gewiss erlebt sind: die Liebe zur Mutter, 
und jenes Motiv, das man nach einer Novelle 
Goethes den „Mann von fünfzig Jahren“ 
nennt, die Liebe des alternden Mannes zu 
einem jungen Mädchen. Dieser Johannestrieb 
männlichen Fühlens trägt zwar keine Blüten 
mehr mit betäubendem Aroma, ein etwas 
säuerlicher Duft haftet ihm an, aber er be¬ 
kleidet sich doch mit einem frühlingsmässigen 
Schimmer. Freilich tönt aus den Versen der 
Wunsch (S. 27): 

O hätt’ ich, als ich frisch und jung, 

Genützt es wie die Andern I 
Das Glück mir lachte wohl genung, 

Ich liess es weiter wandern. 


Rothing. Leipzig, Verlag von Georg Wigand (ohne 
Jahr 1896) M. 1.60. 

Licht und Liebe. Gedichte. Leipzig, Verlag 
von Georg Heinrich Meyer. M. 3.—. Ein Triptychon, 
der humoristischen Jugend gewidmet. I. Epigramme, 
II. Elegien, III. Gebundene und freie Rythmen. 
Mit dem Bildnis des Dichters. 


Nun überzähl’ ich Nachts genau — 
Gelegenheiten, frühe. 

Doch, Freund, schon wird der Schädel grau. 
Verlohnt sich’s noch der Mühe? 

Wenn junger Mut das Herz dir schwellt, 

O küss mit rotem Munde, 

Denn nichts verlorner in der Welt 
Als eine blöde Stunde. 

Glücklich ist Grasberger auch dort, wo er 
landschaftliche Eindrücke zu Vergleichen mit 
dem Menschenleben benutzt z. B. „Die Tanne“ 
(S. 54) und besonders wirkungsvoll, wenn 
das Naturbild allein festgehalten wird und die 
tiefere Bedeutung nur durchschimmert, so „Der 
Wasserfall“ (S. 215). Die Begeisterung für 
die Antike zeigt sich überall bei Grasberger 
und führt in der zweiten Sammlung zu einer 
Reihe von Nachbildungen der Antike, unter 
denen die Epigramme mir am gelungensten 
erscheinen; doch wird die starke Verwertung 
antiker mythologischer Vorstellungen dem all¬ 
gemeineren Verständnis entgegenstehen. 

Den Jahren nach etwas älter als Lohmeyer 
und Grasberger, dem Wesen nach jugend¬ 
licher ist Adolf Brieger, der einen Band 
„Ausgewählte Gedichte“ herausgab. ®) Was 
ihn von der jüngeren Generation unterscheidet, 
ist die verhältnismässige Breite seiner Dar¬ 
stellung, die aber nicht etwa als Phrasenhaftig- 
keit, sondern als Versuch erscheint, das Motiv 
auszuschöpfen und künstlerisch abzurunden. 
Er hat eine Vorliebe für längere Verse und 
grössere Strophen, ein Zeichen, dass er seinen 
Gesang gern voll ausströmen lässt. Was ihn 
aber der jüngeren Generation nähert, ist 
das Reale seiner Dichtung. Er zählt zu den 
Realen, die man nicht mit den Realisten ver¬ 
wechseln darf; er giebt nämlich erzählend 
oder beschreibend das äussere Motiv und 
schliesst daran ebenso konstatierend das innere 
Erlebnis. Dabei hegt er besondere Vorliebe 
für die melancholischen Naturstimmungen, 
zumal den’ Herbst, so dass „Herbstabend“ 
(S. 307 f) vielleicht seine gelungenste Land¬ 
schaftsschöpfung ist. Seine Weise zeigt sich 
am reinsten im vierten Gedichte des Cyclus 
,,Aus Prinzessin Theodora" (S. 137): 

Der Hopfen rankt um Haselsprossen, 

Im Grunde dämmert Sträuchergrün. 

Voin späten Sonnenlicht umflossen 
Der höchsten Eichen Gipfel glüh’n. 

Wie sassen wir zu solcher Stunde 
So traulich hier im durt’gen Kraut! 
ln engumhegter Waldesrunde 
Scholl nur des Abends Lispellaut. 

Und wie so nahe höchster Wonne, 

Und doch wie durch ein Schwert getrennt. 
Durch Birken loht die Abendsonne, 

Ein Brand, der in sich selbst verbrennt. 


♦) Ausgewählte Gedichte. Verlag von Baumert 
und Ronge. Grossenhain und Leipzig. M. 2.—. 




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772 


EitlingeR; Georg Hirschfelds „Agnes Jordan. 


Auch ganz modernen Motiven begegnen 
wir bei Brieger, so in der Ballade „Von 
Rechtswegen“ (S. 175 ff) dem socialen Elend, 
in „Nora“ (S. 169—174) der Kellnerin, da¬ 
neben freilich wie bei Grasberger dem melan¬ 
cholischen Motiv der Ruine. Die Liebes¬ 
gedichte müssen erlebt sein, lassen aber den 
liedmässigen Charakter meist vermissen, nur 
die allerwenigsten könnte man sich gesungen 
denken. Dasselbe gilt von den Zeitgedichten, 
die mehr durch ihre Gesinnung als ihren 
Ausdruck anmuten. Dafür leistete Brieger in 
der Ballade Vortreffliches und schuf in „Die 
Rache der toten Mutter“ z. B. (S. 182) das 
Muster einer echten Ballade, die im Wesen 
an Goethes „Erlkönig“ erinnert. 

Mit einem eigenen Bande „Balladen'* ist 
der trefHiche Carl Spitteier®) aufgetreten 
und erbrachte neuerlich den Beweis, dass 
er Etwas sei. Die Bezeichnung „Ballade“ 
nimmt er in einem nicht allgemein üblichen 
umfassenden Sinn, was aber nichts verschlägt, 
weil es, wie beim Wein, auf den Gehalt, nicht 
auf die Marke ankommt. Oft sind seine Bal¬ 
laden schneidende Satire, z. B. „Camera 
obscura und bengalische Beleuchtung^fS. 1550 
und Schilderung des wirklichen Lebens, oft 
tiefsinnige Weisheit in anmutiger Form, oft 
ein feiner Scherz und eine graziöse Deutung. 
Die Verse sind mannigfaltig, die Redewend¬ 
ungen originell und dabei doch nicht gesucht. 
Um einen Begriff von Spittelers Art zu geben, 
sei ein kürzeres Gedicht ausgewählt, nicht 
etwa weil es das beste wäre, aber weil es 
nicht zu viel Raum erfordert; „Berufung“ 
(S. 154 f) 

Es rauschte durch die Luft wie Adlerflug 
Und wetterleuclitend sticss herab der Engel: 
„Nimm dieses Bussgewand und folge mir!“ 
„Wohin?“ — „Mit Ruten weis’ ich dir den Weg**. 
„Um welchen Lohn ?“ — Ein Biss von Odins Rappen 
Üben am Kreuzweg, wo der Erdenpass 
Die Götterstrasse schneidet." „Und das Ende?“ 
„Ein Sturz vom Gipfel jenseits in den Abgrund.“ 
„Dein Wort ist Hohn, empfange Spott zur Antwort!" 
Doch um den Wald.sprung schlich er unbemerkt 
Zurück zum Engel, zupfte seinen Mantel: 

,Ist’s Wahrheit, werd’ ich spüren Odins Rappen?“ 

Man ftlhlt sich an Conrad Ferdinand 
Meyer gemahnt, nur ist Spitteier weniger 
eckig und w'ortkarg als Meyer wenigstens in 
den Überarbeitungen seiner Gedichte sich 
darstellt. 

Alle bisher genannten Dichter sind vor 
der Mitte des Jahrhunderts geboren; der 
älteste Weber ist 1813 geboren, Geibel 1815, 
Julius Sturm und Joh. Georg Fischer 1816, 
Brieger 1832, Lohmeyer 1835, Grasberger 
1836, Spitteier, der jüngste, erst 1845. Die 

Balladen. Zürich, Albert Müllers Verlag. M.3.—, 


alte Garde verblüfft nicht, überrascht nicht 
mehr durch ihre Leistungen, aber sie ist 
immer willkommen. 


Georg Hirschfelds „Agnes Jordan“. 

(Erstaufführung im Berliner Deutschen Theater 
am 9. Oktober 1897.) 

Von Josef Ettlinger. 

Georg Hirschfeld, der Vierundzwanzig- 
jährige, der mit dem älteren Gerhart Haupt¬ 
mann nicht nur das Monogramm und den 
Gesichtsschnitt, sondern auch manchen poet¬ 
ischen Wesenszug gemeinsam besitzt, hatte 
mit seinem talenterfüllten Schauspiel „Die 
Mütter“ vor zwei Jahren alle guten Geister 
der Erwartung dafür rege gemacht, dass sein 
nächstes Werk der deutschen Bühne einen 
bleibenden Gewinn bedeuten werde. Nun ist 
das Werk da; aber die deutsche Bühne wird 
sich mindestens noch bis zu Hirschfelds 
nächster Arbeit gedulden müssen, wenn sie 
auf ihn schon als eine ihrer künftigen Stützen 
gerechnet haben sollte. 

eignes Sommer glaubt in dem Handlungs¬ 
reisenden Gustav Jordan das Ideal ihrer 
Mädchenblütenträume gefunden zu haben und 
hat den vermögenslosen jungen Menschen, der 
weniger auf Bildung, als auf einen schön 
pomadisierten Scheitel hält, aus eigenem Willen 
zum Gatten gewählt. Für den jüngeren Bru¬ 
der ihrer Mutter und Geschäftsteilhaber ihres 
Vaters, den Schöngeist Onkel Adolf, bleibt 
in ihrem jungen Liebesglück nur die schwer¬ 
mütige Rolle eines verzichtenden Brackenburg, 
der erst am Hochzeitstage selbst der holden, 
myrthengeschmückten jungen Frau auf einen 
Augenblick sein heisses Herz zu öffnen wagt. 
Ihm, dem ein hämisches Geschick statt des 
Apoll den prosaischen Merkur zum Brotherrn 
gegeben, schneidet es tief ins weiche Herz, 
seinen Liebling an der Seite eines eitlen, 
oberflächlichen, bildungsfeindlichen Egoisten 
ins Leben gehen zu sehen. Aber Agnes, die 
nicht umsonst unter seiner Anleitung ihren 
Schiller gelesen hat, sieht im Zug ihres 
Herzens des Schicksals Stimme und freut 
sich innig darauf, ihren ungefügen Gustav 
an der Liebe leichtem Gängelbande in sanftere, 
reinere, höhere Regionen zu leiten, ihm 
himmlische Rosen ins irdische Leben zu 
weben: das soll ihr Beruf, ihre Aufgabe, ihr 
Daseinszweck sein. „Was ich habe, muss ich 
gehen können,“ sagt sie selbst. Und daraus 
erwächst die ganze innere Tragödie ihres 
Lebens, dass sie, was sie an Liebe und Güte 
im übervollen Herzen trägt, nicht geben kann. 

Denn der schöne Gustav — man erlebt 


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Ettlinger, Georg Hirschfelds „Agnes Jordan. 


773 


das ohne Staunen im zweiten Aufzug, der 
8 Jahre nach dem ersten im Ostseebad Herings¬ 
dorf spielt — bleibt auch in der Ehe der 
gemütsrohe, selbstgefällige Patron, der er für 
lebenserfahrenere Leute, als es Agnes war, 
schon am Hochzeitstage gewesen. Die gute 
Partie, die er gemacht hat, hat die Überzeug¬ 
ung von dem Werte seiner wohlgebauten 
Persönlichkeit nur noch stärker in ihm wer¬ 
den lassen, und seine groben Sinne werden 
von den robusten Frauen seiner Freunde und 
den drallen Armen der Kinder- und Stuben¬ 
mädchen bedeutend stärker gereizt, als von 
der zarten, schon leicht ins Welken gerathe- 
nen Schönheit seiner Frau. Die Erziehungs¬ 
versuche scheinen gescheitert zu sein, und 
für die ästhetischen Bedürfnisse seiner schönen 
Seele bilden Meyerbeers „Prophet“ und der 
„Graf von Monte Christo“ den Gipfel der 
Befriedigung. Agnes trägt ihr Loos, das 
selbstgeschaffene, schon mit der dumpfen Er¬ 
gebenheit der Dulderin; aber als über ihr 
väterliches Haus der Bankrott hereinbricht 
und ihr Gemütsmensch von Gemahl darob 
erbost ihre Eltern und den armen Onkel 
Adolf mit seiner Wut beschmutzt, da empört 
sich auch in ihr der zertretene Stolz und sie 
findet den Mut, ihm die Erbärmlichkeit seiner 
Gesinnung in bitteren Worten vorzuhalten. . . 

Die Jahre fliehen pfeilgeschwind. Ihrer 
neun sind wieder verstrichen, und Agnes 
Jordan ist eine früh ergraute Frau geworden. 
In ihrem glückleeren Leben sind ihre beiden 
kleinen Söhne der einzige Halt; aber sie 
kann doch nicht verhindern, dass derEinfinss 
des liederlichen Vaters dem ihrigen entgegen¬ 
wirkt und ihr das Gemüt der Kinder zeit¬ 
weise entfremdet. Um dieser Kinder willen 
erträgt sie alles, was das Mass ihrer Leiden 
immer höher steigen lässt; nur ihre eigene 
Kindesliebe lässt sie nicht antasten. Und als 
ihr Gatte an demselben Tage, an dem sie 
ihn in intimen Scherzen mit dem Stubenmäd¬ 
chen gefunden hat, den Kindern verbietet, 
zum Geburtstag des siebzigjährigen Gross¬ 
vaters zu kommen — „zu Pleitemachern geh’ 
ich nicht,“ knurrt er verächtlich — da glaubt 
es Agnes ihrem Rest von Frauen würde schul¬ 
dig zu sein, den fühllosen Schürzen- und 
Vergnügungsjäger, dessen Namen sie trägt, 
zu verlassen und zu den greisen Eltern zu¬ 
rückzukehren . . . Aber nicht für lange. Die 
Sorge um ihren ältesten Jungen, der erkrankt 
ist und im Delirium nach ihr verlangt, treibt 
sie in das Bagno ihrer Pflichten zurück: sie 
wird sich zusammenraffen und auf dem Dornen¬ 
weg, auf dem sie bisher gegangen, sich weiter¬ 
schleppen, so lange es sie tragen will . . . 
Und ihr Harren belohnt sich. Es gelingt ihr 
allmählich, den gealterten Mann mit den 


schwarzgefärbten Schnurrbartspitzen und den 
Simili-Brillanten humoristisch zu nehmen, und 
in dem Aufstreben ihrer erwachsenen Söhne, 
von denen der jüngere das musikalische Ta¬ 
lent des seligen Onkel Adolf ererbt hat, einen 
abendroten Wiederschein ihrer verlorenen 
Ideale zu finden. Resignation bleibt auch jetzt 
ihr Loos; aber ruhige, wunschlose Resigna¬ 
tion, nicht mehr die wunde Resignation der 
Verzweiflung, der aschgrauen Mutlosigkeit. 

Diese dreissig Jahre eines Menschenschick¬ 
sals in einen dramatischen Rahmen zu spannen, 
hat Hirschfeld versucht und sich damit zu¬ 
nächst eine technisch ungemein bequeme Auf¬ 
gabe gestellt. Sein Unterfangen bedeutet nicht 
nur einen Rückfall in primitive Entwicklungs¬ 
stufen des Theaters, es schlägt auch den 
Forderungen der realistischen Bühnenkunst, 
auf deren Boden er mit seinem ganzen 
Schaffen steht, unmittelbar ins Gesicht, weil 
es aus dem Wirklichkeitssinn des modernen 
Zuschauers die Empfindung für grosse Zeit¬ 
räume willkürlich ausschalten und an die 
Illusion, die Nährmutter der älteren Bühnen¬ 
dichtung, die denkbar stärksten Anforderungen 
stellen will. Die drei Einheiten, des seligen 
Aristoteles sind auch im Zeitalter Georg 
Hirschfelds noch kein leerer Wahn, sie sind 
im Gegenteil gerade in der jüngsten Epoche, 
die in Ibsen ihren mächtigen Bahnbrecher ver¬ 
ehrt, wieder ein Grundpfeiler der dramatischen 
Produktion geworden, weil sie die einzige lo¬ 
gische Definition des Dramas in sich schliessen. 
Darin erst zeigt sich der geborene Dramatiker, 
dass er das ganze Um und Mit einer Hand¬ 
lung, wie in einem Brennglase sammelt und 
konzentriert, dass er dem Hörer unmerklich 
alles aus der Vorgeschichte zu wissen giebt, 
was zum Verständnis der Handlung nötig ist. 
Bei Hirschfeld stellt sich die Sache technisch 
ungefähr so dar: Die Stelle der „Handlung“ 
vertritt sein fünfter Akt, und das was man im 
bürgerlichen Leben Exposition nennt, ist in 
ein Vorspiel von vier Akten zerrissen der 
Handlung vorausgeschickt. Fünf dramatisierte 
Kapitel eines psychologischen Romans können 
aber niemals ein lebensfähiges Drama sein, 
auch wenn einzelne Szenen durch Stimmungs¬ 
reiz und feine Beobachtung im Vorüberziehen 
zu fesseln vermögen. Im Roman kann auch 
die blässeste Alltagsgeschichte eines Frauen¬ 
lebens durch die intime Kunst der seelischen 
Analyse poetisch wertvoll werden. Im Drama, 
wo man nur hört, was die Menschen reden, 
nicht was sie denken und fühlen, bleibt das 
Alltägliche alltäglich, das Gewöhnliche banal, 
wenn es derart ungesteigert, unverknüpft und 
ungeordnet hintereinander herkommt. Man 
kann vielleicht das Dilettantische dieser Hirsch- 
feldschen Kunstform nicht greller beleuchten, 


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774 


Zwei neue Kunstzeitschriften. 


als wenn man „Agnes Jordan" einen Augen¬ 
blick neben Ibsens „Nora" stellt, wo die Vor¬ 
gänge eines einzigen Tages genügen, dem 
Hörer nicht nur einen Frauencharakter in 
seiner ganzen Eigenart, auch eine achtjährige 
Ehe in ihrer ganzen Inhaltlosigkei, ohne Rest 
und Lücken zu enthüllen. Neben diesem 
Wunder einer klaren, einheitlichen Kompo¬ 
sition erscheint das neue Stück des jungen 
Berliner Dichters als rechte Knabenarbeit. 
Um einem solchen Meister nachzugeraten, 
muss Georg Hirschfeld sein unbestritten grosses 
Talent weit strenger in Selbstzucht nehmen, 
als er es diesmal gethan, und darf nicht aus 
der Not seines unentwickelten Kompositions¬ 
talents naiv und keck eine Tugend machen 
wollen. 


Zwei neue Kunstzeitsebriften. 

Von der erfreulichen Richtung unserer Zeit, das 
Leben wieder künstlerisch zu vertiefen und die 
Kunst zum Allgemeingut zu machen, geben zwei 
neue Kunstzeitschriften Zeugnis, die soeben mit 
Ihren ersten Heften gleichzeitig an die Öffentlich¬ 
keit treten. 

Beide Blätter (,Dekorative Kunst" und „Deutsche 
Kunst und Dekoration") ') stellen sich das gleiche 
Programm, durch Wort und Bild der modernen 
dekorativen Kunst, in erster Linie dem neuen Kunst¬ 
gewerbe zu dienen und beide sind nach Bedeutung 
der Herausgeber gleich ernst zu nehmen. Während 
die „Deutsche Kunst und Dekoration" ihre Haupt¬ 
sorge in der Pflege des Idioms einer heimischen, in¬ 
dividuell deutschen Kunstsprache, die mehr denn 
je durch ausländische Einflüsse bedroht erscheint, 
sieht, ersetzt die „Dekorative hier das Land 

durch den Rassenbegriff und sieht die Zukunft der 
modernen Kunstindustrie in der Aufnahme und 
Weiterführung der von England und Amerika aus¬ 
gehenden neuen Bewegung. Beide Blätter begegnen 
sich in der Betonung der natürlichen Zusammen¬ 
gehörigkeit aller bildenden Künste und erblicken 
die heute wichtigste Aufgabe unserer Kunst in der 
Rückkehr zum Gewerbe. Das erste Heft der „De¬ 
korativen Kunst" enthält einen Aufsatz des in Frank¬ 
reich lebenden Deutschen S. Bing, „Wohin treiben 
wir ?", der für das neue Unternehmen programmat¬ 
isch ist und eine historische Schilderung der Früh¬ 
zeit der neuen Bewegung, als deren Prophet der 
Engländer Ruskin genannt wird, giebt. Ein Aufsatz 
über moderne Beleuchtungskörper bringt als Belege 
einer gesunden Richtung hübsche Entwürfe des 
Londoner Benson, welche beweisen, dass der 
Schmuck, der das Leben verschönt, da.s Notwendige 
zu ereänzen, aber nicht zu verunstalten hat; einige 
der Entwürfe sind für unser Empfimlen etwas ge- 
such tnOchtern, dafür wohl desto echter englisch. Ein 
weit reicheres Talent offenbart sich in den Ent¬ 
würfen des Deutschen Otto Eck mann, der na¬ 
mentlich mit einfachen Blattmotiven grossartige 

1 ) Drkoraihe Kumt. Zeitschrift für angewandte Kunst. Her- 
ausgegebou von H. Bruckmann, München und 5 . Meier-Gracfc, 
Paris. Monatlich ein Heft. Preis M. 3.75 pro Quartal. (Verlags- 
aiistalt F. Hruckinaon A.-O. in München) 

Drut.'U-hr Kumt timt Monatshefte zur Forderung 

deutscher Kunst und Formeusprache in neuzeitlicher Auflass¬ 
ung. Herausgegeben und redigiert von Alex.nnder Koch. Darm- 
Stadt. Jährlich la reichillii.ftricrte Hefte. U. aa—. (Vcrlagsan- 
stalt Alexander Koch in Darmstadt) 


Wirkungen erreicht. Den praktischen Zweck in der 
schmückenden Kunst betont ein geistreicher Auf¬ 
satz von Alfred Lichtwark, der davor warnt, 
die Vase, das Möbel, den Wandteppich, die Stickerei 
als ein Ding an sich anzusehen, das weiter keine 
Aufgaben hat, als schön zu sein. Besonderen Wert 
legt die „Dekorative Kunst“, die an grösseren Auf¬ 
sätzen noch eine Studie von H. Muthesius, 
Künstlerischer Unterricht für Handwerker in Eng¬ 
land, eine Mitteilung von O, J. B ierbaum Ober 
Altveneaianische Druckstöcke und interessante Be¬ 
richte über die modernen Kunstausstellungen ent¬ 
hält, auf die Abbildungen, die eine Fülle wertvoller 
Entwürfe und ausgeführter Werke wiedergeben. 

In dieser Beziehung wird das Heft fast noch 
übertroffen durch das erste (l)oppel-) Heft der 
„Deutschen Kunst und Dekoration", das, wie das 
bei so gleichartigen Unternehmen beinahe selbst¬ 
verständlich, zum Teil dieselben Künstler bespricht 
Mit besonderem Interesse begegnen wir auch hier 
Otto Eckmann in Entwürfen für Weberei, unter 
denen die Entwürfe für die in Scherrebek gewebten 
Teppiche besonders anziehen. Die Geschichte von 
Scherrebek, über die uns die Atelier-Nachrichten 
am Schluss des Heftes unterrichten, ist übrigens 
ein Beweis dafür, wie verständnisvolle Förderung 
die Kunstübung zu heben vermag. In diesem kleinen, 
im flussersten Norden der preussischen Provinz 
Schleswig-Holstein gelegenen Orte hat der Pastor 
jacobsen in Verbindung mit Dr. Deneken, dem 
Direktor des Crefelder Museum^ eine Schule für 
Kunstw'eberei ins Leben gerufen. Die Weberei 
eignet sich bekanntlich vorzüglich als Hauskunst 
für die ländliche Bevölkerung. Man Übernahm in 
Scherrebek die uralte Technik der Norweger. Zu 
den Entwürfen, die Otto Eckmann fertigt, mussten 
zunächst einfache Motive gewählt werden, die sich 
dem Verständnisse der Bauernmädchen anpassten, 
rasch aber konnte zu Darstellungen fortgeschritten 
werden, welche schon sehr hohe Anforderungen 
an die Geschicklichkeit und das Verständnis der 
Mädchen stellten. Wie glänzend sich das Unter¬ 
nehmen, das ohne Vorteil für die Gründer lediglich 
idealen Zwecken dient, in kürzester Zeit entwickelte, 
geht daraus hervor, dass das Museum von Kopen¬ 
hagen einige Stücke als Muster für eine Kunstübung 
erwarb, welche die Schule von Scherrebek doch 
erst von dort sich angeeignet hatte. Die Webereien 
dienen als Wandschmuck oder Kissen. Ihre tiefen, 
leuchtenden Farben sind ebenso unverwüstlich wie 
ihre körnigen, kräftigen Wollstoffe. Die „Deutsche 
Kunst und Dekoration" bringt ihr Programm in 
dem Aufsatz „Endlich ein Umschwung“ von H. E. 
von Berlepsch, von dem wir auch prächtige 
Entwürfe zu Mappenschränken finden, und in dem 
Artikel „Nationale Kunst — notwendige Kunst" von 
Hans Schliepmann zum Ausdruck. Beide ent¬ 
halten eine Fülle anregender und beherzigenswerter 
Gedanken. Über die Zimmer- Einrichtung auf der 
Internationalen Kunstausstellung su Dresden be¬ 
richtet Paul Schumann. Daran schliessen sich 
interessante Mitteilungen Über neue Denkmäler so¬ 
wie Ateliernachrichten. Ein besonders glücklicher 
Gedanke, der die Herausgeber beider Blätter leitet, 
ist der, Anregungen zu neuen Sch^fungeu in Form 
von Wettbewerben zu geben. Hoffentlich wird da¬ 
durch der Anstoss gegeben, dass wie es in Eng¬ 
land und Frankreich der Fall ist, auch Fabrikanten 
Preise zur Erlangung interessanter Entwürfe aus¬ 
setzen. Auf diesem Wege kann die verloren ge¬ 
gangene Fühlung zwischen Kunst und Gewerbe 
wieder gewonnen und eine Neubefruchtung der 
heimischen Kunstweisc auf allen Gebieten herbei¬ 
geführt werden. An künstlerischen Kräften fehlt 
es nicht und nicht an bedeutendem Können in In- 


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Vorträge auf der Versammlung der Naturforscher u. Ärzte. 


775 


dustrie und Handwerk. Wir werden auf die weitere 
Entwicklung der „Dekorativen Kunst“ und der 
„Deutschen Kunst und Dekoration“, die fOr unser 
Kunstleben von grösster Bedeutung werden können, 
zuröckkommen. o. a. w. 


Vorträge auf der Versammlung der Naturforscher 

und Ärzte in Braunschweig (20. 25. Sept.). 

Von Dr. mcd. L. Mehlcr. 

III. Medizin und Hygiene. 

Es wurden eine Reihe wichtiger hygienischer 
Fragen besprochen,* deren Bedeutung nicht nur das 
Interesse des Fachgelehrten in Anspruch nimmt. 
In erster Linie muss die Tuberkulose und ihre Be¬ 
kämpfung genannt werden. Ist man doch in neuerer 
Zeit immer mehr zu der Erkennlnis gekommen, 
dass eine wirkliche Bekämpfung dieser verheeren* 
den und die Bevölkerung dezimierenden Erkankung 
durch arzneiliche Mittel nicht möglich ist, eine That- 
sache, die leider auch^durch das neueste Koch’sche 
Tuberkulin nicht umgestossen zu werden scheint. 
Immer mehr bricht sich die Ansicht Bahn, dass 
nur eine methodisch geregelte, diätetische und physi¬ 
kalische Therapie Erfolgeverspricht, besonders, wenn 
sie lange genug unter günstigen klimatischen Ver¬ 
hältnissen fortgesetzt wird.' Zumal die Anstalts¬ 
behandlung, wie sie schon seit vielen Jahren in 
Görbersdorf uud Falkenstein gehandhabt wurde, 
und die jetzt in vielen Sanatorien nach diesen Vor¬ 
bildern geregelt und geleitet wird, gilt z. Z. als 
bestes Und sicherstes Mittel, wobei noch der nicht 
zu unterschätzende Faktor in Betracht gezogen 
werden muss, dass infolge der Anstaltsbehandlung 
der Patient,; der doch stets die Gefahr in sich birgt, 
seine Umgebung zu infizieren, dieser Umgebung 
entzogen ist Auf der anderen Seite ist aber eine 
erhöhte Gefahr für die Einwohner der Orte, wo 
Tuberkuloseheilstätten sind, an der Tuberkulose zu 
erkranken, nicht nachzuweisen, wie dies auch in 
Braunschweig von Michaelis-Rehburg u. A. 
betont wurde. — Es ist von Interesse zu sehen, dass 
in Braunschweig fast alle Redner — nebenbeige¬ 
sagt, geradeso wie in Moskau bei der Tuberkulose¬ 
debatte, — sich für Anstaltsbehandlung aussprachen. 
Besonders die sozialpolitisch wichtige Frage der 
Errichtung von Volksheilstätten wurde von vielen 
Seiten betont, und auf die Erfolge dieser Anstalten 
in Österreich, Schweiz und Deutschland hingewiesen. 
Als Prophylaxe gegen die Tuberkulose wird von 
L i e b e - Oderberg eine bessere, d. h. hygienisch 
richtigere Erziehung der Jugend verlangt. Von an¬ 
derer Seite, besonders von Hüppe- Prag wird auf 
die Gefahr der Tuberkelbazillen hingewiesen und 
deren Vernichtung mit möglichster Energie und 
Ausdehnung verlangt. Ortenau-Nervi führt aus, 
dass die Infektionsgefahr der Tuberkulose nicht so 
gross sei, wie allgemein angenommen w'ird, seiner 
Anschauung nach spiele die Disposition die Haupt¬ 
rolle. Wenn eine direkte Übertragung stattfinde, 
so erfolge diese wohl meist durch Tuberkelbazillen¬ 
haltigen Staub. — Schliesslich wurde ein Komit6 
zur Gründung eines Vereins zur Bekämpfung der 
Tuberkulose gewählt, das auf dem nächstjährigen 


Naturforscher- und Ärztetag dann diesbezügliche 
Vorschläge machen solle. — 

In der Abteilung für Hygiene und Bakteriologie 
wird von Gebhard-Berlin auf die hygienische 
Bedeutung des Lichtes hingewiesen. Besonders 
wirksam in therapeutischer Hinsicht seien die blauen 
und violetten Strahlen. In seiner Lichtheilanstalt 
will er bei den verschiedensten Erkrankungen be¬ 
achtenswerte Erfolge erzielt haben. Zu diesen Er¬ 
krankungen gehören Lupus, Hautkrankheiten, ner¬ 
vöse Störungen, Rheumatismus etc. Von einer 
Reihe von Rednern wird auf das Unerklärliche und 
Unwahrscheinliche dieser Erfolge hingewiesen. — 
In der Abteilung für innere Medizin weist 
UnV e rrieh t-Magdebui^ auf die Bedeutung der 
Röntgenstrahlen für diese Disziplin hin. Eine Bes¬ 
serung der Diagnose, resp. die Möglichkeit sie früher 
zu stellen, glaubt Redner infolge der X-Strahlen 
für folgende Erkrankungen annehmen zu können: 
Aortenaueurysma in den ersten Stadien, beginnende 
Erkrankungen der Wirbelsäule, Nierensteine, viel¬ 
leicht auch Wanderniere. — 


Betrachtungen und kleine Mitteilungen. 

Synthese des Theobromins. Das Theobromin 
gehört zu jenen stickstoffhaltigen Pflanzenprodukten, 
die den Stickstoff in ringförmiger Atomverkettung 
tragen. Man fasst sie unter der Bezeichnung Alka¬ 
loide zusammen. Dieselben sind insbesondere in 
den letzten zwanzig Jahren der Gegenstand zahl¬ 
reicher, wichtiger Arbeiten geworden. In neuester 
Zeit ist es E m fl Fischer gelungen, drei Alkaloide, 
welche unter einander und zur Harnsäure in naher 
Beziehung stehen, künstlich darzustellen. Es sind 
dies Theophyllin \)XiA Theobromin. Der Auf¬ 

bau des Theophyllins ergab sich gleichzeitig mit 
demjenigen des Caffelns, da das Theophillin bei dem¬ 
selben als Zwischenprodukt entsteht. Die Synthese 
des Theobromins gelang, nachdem Fischer die dem¬ 
selben entsprechende Harnsäure (3,7— Dimethyl- 
•harnsäure) synthetisch dargestellt hatte. Sie lässt 
sich durch eine Reihe von Operationen, die hier 
nicht weiter erörtert werden können, in das Theo¬ 
bromin zurückverwandeln. Auf diese Weise ist nicht 
nur die künstliche Darstellung möglich geworden, 
sondern es ist auch das thatsächliche Material für 
die Feststellung der Struktur des Theobromins 
gewonnen. 

Berichte d. d. chem. GeselUch. XXX^ 1839 — S. — 

• • 

• 

Die Zersetzung von Fibrin durch Strepto- 
coccen. Vor einiger Zeit hat O. Emmerling 
gefunden, dass bei der Zersetzung von Eieralbumin 
durch einen bekannten Eitererreger (Staphylococcus 
aureus) zwar basische und saure Verbindungen 
(Ammoniak, Amine und Fettsäuren) entstehen, dass 
es aber nicht gelingt, giftige Zersetzungsprodukte 
nachzuweisen. Da indessen die Erscheinungen, 
welche bei der Eitervergiftung (Pyaemie) auftreten, 
auf die Erzeugung giftiger Produkte durch die be¬ 
teiligten Bakterien hindeuten, hat Emmerling die 
Untersuchungen fortgesetzt. Er studierte die Ein¬ 
wirkung einer anderen Klasse von eitererregenden 
Bakterien, der Streptococcen, auf Blutfibnn (ge¬ 
wonnen aus dem Blut frisch geschlachteter Schweine). 
Mit Bestimmtheit konnten als Zersetzungsprodukte 

1 Aul die Synthese des CaSeTns haben wir in No. i6 der 
,Umschau* hingewiesen. 


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776 


Betrachtungen und kleine Mitteilungen. 


verschiedene Fettsäuren nachgewiesen werden; ferner 
eine Base, deren genauer Bau nicht festgestellt 
wurde, die aber ein Pyridinderivat zu sein scheint 
und keine giftigen Eigenschaften zeigt. Somit ist es 
auch hier nicht gelungen, irgend welche giftigen 
Zersetzun^sprodukte zu fassen. Es scheint unmög¬ 
lich zu sein, die bei eitrigen Prozessen etwa gebil¬ 
deten, giftigen Stofiwechselprodukte der Bakterien 
zu isolieren; vielleicht ist nur der lebende Organis¬ 
mus imstande, den betreffenden Mikroorganismen 
die in ihrer Zelle fest zurückgehaltenen Giftstoffe 
zu entziehen. 

B«richte d. d. chem. Gescllsch., XXX, 1863. — S. — 


Neue Untersuchungen über Eiweis und einige 
Verbindungen desselben. Nachdem Bau mann 
jenen lebenswichtigen Bestandtheil, das Jodothyrin 
aus der Schilddrüse gewonnen hatte, der sich als 
ein vorzügliches Mittel gegen Kropf (Struma) und 
Myxoedem erwies, lag es nahe, wenn nicht das 
Jodothyrin selbst, so doch billigere Ersatzstoffe 
künstlich herzustellen. Zwar werden die meisten 
jodhaltigen Substanzen (Jodoform, Todkalium, Stock¬ 
fisch u. a.) vom Organismus ausgenommen unter 
Steigerung des Jodgehalts der Schilddrüse, doch 
gestiebt es sehr viel langsamer, als wenn man das 
teure Jodothyrin (100 Gramm M. 42) eingiebt. Als 
solche Ersatzmittel scheinen sich die jodhaltigen 
Eiweisskörper sehr geeignet zu erweisen. Lieb- 
recht und Röhmann*) in Breslau haben ein 
Patent auf solche genommen, ebenso hat Blum*) 
in Frankfurt a. M. weiche hergestellt. Die Herstell¬ 
ung ist sehr einfach: sämtliche Eiweisskörper bin¬ 
den ganz glatt das freie Jod beim Zusammenbrin¬ 
gen. — Analoge von Blum hergestellte Brom- 
eitveissverbindungen wurden gegen Epilepsie ver¬ 
sucht, scheinen aber keine Resultate ergeben zu 
haben, hingegen sollen die Chlorverbindungen bei 
Magenerkrankungen gute Resultate gehabt ha¬ 
ben. — Ich will hier nur andeuten, dass die ge¬ 
nannten Verbindungen vielleicht ein schätzenswertes 
Ausgangsmaterial für weitere Untersuchungen Ober 
Eiweis bilden können, was die bereits begonnenen 
Arbeiten*) erw'eisen. Solche Forschungen haben 
natürlich zunächst kein praktisches Interesse, son¬ 
dern zielen auf die grosse Frage nach dem Bau 
des EiweissmoIekOls. Wenn auch noch immer sehr 
schwach, so doch unzweifelhaft wahrnehmbar füllt 
da und dort ein Schimmer in das tiefe Dunkel. Es 
ist natürlich Unsinn, von dem Eiweiss zu sprechen; 
es giebt zweifellos eine ganz ausserordentlich grosse 
Zahl verschiedener Körper, die wir teilweise noch 
nicht von einander trennen können. Darin liegt 
auch ein grosser Teil der Schwierigkeiten, dass 
man nicht mit reinen, einheitlichen Substanzen zu 
operieren vermag. Alle diese Eiweisskörper haben 
grosse Ähnlichkeiten mit einander und haWn sicher 
gewisse Atomgruppen gemeinsam. Einen Anlauf 
zu einer rationellen Untersuchung bilden die Ar¬ 
beiten von Hugo Schiff*) (Florenz) und Paal*) 
(Frlangen). Ersterer vermochte zwei freie Amido- 
(N 1 lij Gruppen im Hühnereiweiss iiachzuweisen 
und die Art ihrer Bindung annähernd festzulegen. 
Letzterer wies im Glutinpepton ®) eine Amido- (N Ht) 
und eine Imido- (N H) Gruppe nach. Bechhold. 

• 

• • 

Über den Zusammenhang von Blut- und 
Gallenfarbstoff. Es existieren verschiedene That- 

>) Ber. d. d. ehern. Ges. 1897 No. 14. 

Münch, inird. Wochenschr. 43. 

•1 F. Hopkins in Bct. d. d. chom. Ges. 1897 No. 14. 

*j Zeitwhr. f. physinl. Clieniie 33, 127. 

‘1 Bct. d. d. cliein. Ges. 39, 298, 1354. 

'■'( Kill 8p.^ltungsp^odukt der LeiinHUbstaii*. 


Sachen, aus denen geschlossen werden kann, dass 
Blut- und Gallenfarbstofie chemisch verwandte Körper 
sind und sich aus ähnlichen Atomkomplexen auf¬ 
bauen. Man nimmt an, dass die Gallenfarbstoffe 
aus dem Hämoglobin (der rote Farbstofl' des Bluts) 
entstehen, vor allem deshalb, weil sich erstere nur 
bei Tieren vorfinden, die rotes Blut besitzen. 
William Küster hat neuerdings Blut- und Gallen¬ 
farbstoff genauer untersucht, um den Zusammen¬ 
hang zwischen beiden des weiteren zu begründen. 
Der dazu nötige Gallenfarbstoff wurde aus farbstoff¬ 
haltigen Gallensteinen von Rindern und Schafen 
dargestellt. Küster ist zu folgendem Resultate ge¬ 
kommen: Aus dem Hämatoporphyrin, gewonnen 
aus Rinderblut und dem Bilirubin, gewonnen aus 
Gallensteinen, entstehen durch Oxydation unter den¬ 
selben Bedingungen zwar nicht die gleichen Pro¬ 
dukte, aber doch solche, welche in Folge mannig¬ 
facher Ähnlichkeiten als verwandt angesprochen 
werden können; es sind dies zwei Säuren, die 
einstweilen Hämatin- bezw. Biliverdinsäure genannt 
wurden. Die Konstitution derselben muss erst durch 
weitere Versuche erschlossen werden. 

Berichte d. d« chetn, Geftellsch. XXX, 183t. ^ 
• • 

* Nach Edmund Becquerel, Hankel und 
anderen entsteht ein elektrischer Strom, wenn zwei 
gleiche Elektroden in eine Flüssigkeit getaucht wer¬ 
den und man die eine dem Lichte exponiert; die 
Richtung des Stromes hängt hierbei von den Ver¬ 
suchsbedingungen ab. Mittels einer passenden Ver¬ 
suchsanordnung hat nun Herr S. Puggenheimer 
eine Crookes’sche Röhre als Strahlungsquelle be¬ 
nutzt und hierbei folgende Resultate erhalten: 
Taucht man zwei identische Elektroden ih eine 
Flüssigkeit und exponiert dann die eine den Röntgen- 
strahlen, so entsteht ein Strom, der gewöhnlich von 
der den X-Strahlen exponierten Platte zur anderen 
durch den äusseren Kreis geht. Die Stärke desStromes 
hängt von der Intensität der Strahlen ab, und wenn 
diese intensiv sind, ändert der Strom w'ährend des 
Versuches seine Richtung. (Compt. rend. 1897. 
T. CXXV. p. 19.) Naturw. Rundschau, 9. Okt. 1897. 

* Bei ihren Versuchen über die Möglichkeit 
'^erischen Lebens bei Abwesenheit von Bakterien 

im Darm waren Nuttall und Tierfelder von den 
zuerst als Versuchsobjekte gebrauchten Meer¬ 
schweinchen abgegangen, weil bei denselben der 
von der Geburt der Tierchen an erforderliche asep¬ 
tische Zustand zu schwer zu erreichen ist Merk¬ 
würdigerweise erwiesen sich junge Hühner eben¬ 
falls als nicht geeignete Versuchsobjekte. Obwohl 
die Eierschalen kurz vor dem Auskriechen der 
Kücken sorgfältig mit Sublimat und Salzsäure ge¬ 
waschen wurden, um alle auf denselben befindlichen 
Keime zu töten, gelangten Bakterien in den Apparat 
und verdarben die Beobachtungen. Da nur die 
Eierschalen daran Schuld sein konnten, so wurden 
dieselben genau untersucht und es fanden sich in 
jedem Fall Bakterien auf der Innenseite der Schalen. 
Daraus folgt, dass schon im Ei/e/yer der Muttertiere 
vor- und während der Schalenbildung Bakterien an¬ 
wesend sein müssen, die sich dem Schalenhäutchen 
anheften. Zeitschriü fnr physiologische Chemie. 


No. 44 der Umaebaa wird enthaltea: 

Necker, F.ine Geschichte des Übermenschen. — Ambrono, Die 
Astronomie im verffanitrncn Johre I. Die Sonne. — H. E. von 
Berlepsch, Endlich ein Umscbwiinf-. — Die Einschiencobahaen. 


G. Horatmann’* Druckerei. Freokroit e. M. 


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DIE UMSCHAU 

ÜBERSICHT ÜBER DIE FORTSCHRITTE UND BEWEGUNGEN AUF 
DEM GESAMTGEBIET DER WISSENSCHAFT, TECHNIK, 
LITTERATUR UND KUNST 

herausgegeben von 

DR. J. R BECHHOr D. 


Wöchentlich eine Nummer. 

Zu beziehen durch 
alle Buchhandlungen und 
Postanstalten. 

: cctzcitungsprctsliste No. 7331 r. 

Verlag von: 

H. Bechhold Verlag, Frankfurt a. M. 


Neue Krftnte 1991. 


M s.5a 

Jahres* Abonnement 
Preis M. 10.— 

Im Ausland nach Cours. 
Verantwortlicher Redakteur: 

Otto Adolf Wolters, Frankfurt a. lUL 


J'6 44. I. Jahrg. 1897. 30. Oktober. 


Eine Geschichte des Übermenschen.') 

Von Moritz Necker. 

So wie man das achtzehnte Jahrhundert 
das Zeitalter des Rationalistnus nannte, so 
wird man dieses grosse, gewaltige, seinem 
Ende nun zuneigende neunzehnte Jahrhundert 
wohl das Zeitalter des Voluntarismus nennen 
dürfen. Im vorigen Jahrhundert wiegte sich 
die Menschheit im Glauben, dass die Auf« 
klärung alles leisten könne, um Glück und 
Gedeihen zu schaffen,^ und in diesem Glauben 
verrichtete es seine grosse kritische Arbeit 
an der Überlieferung aller Dogmen, aller 
Wissenschaft, alles Glaubens, begann es seine 
pädagogische und philanthropische Wirksam» 
keit und endete schliesslich mit dem Werke 
der Kritik der reinen Vernunft, des Werk¬ 
zeuges der Aufklärung. An der Schwelle des 
neunzehnten Jahrhunderts aber steht die Ent- 
deckung des Willens, die eben eine Folge der 
Vernunftkritik war. Denn als Kant die Grenzen 
der Vernunft erkannte, gelangte er zum »Ding 
an sich“, das er selbst schon, noch mehr 
aber sein Nachfolger Fichte und dann Schopen¬ 
hauer als den Willen, die spezifisch mensch¬ 
liche Energie erkannten, geradeso wie der 
Naturforscher bei der immer weiter fortschrei¬ 
tenden Analyse der Naturerscheinungen auf 
die Energieen gelangte, in die sich die »Ma¬ 
terie“ auflöste. Die Energieen im Menschen 
und in der Natur filr identisch zu erklären 
und in beiden das zu erkennen, was wir 
Willen nennen, war ein Schluss, den nicht 


*) Unter unseren Einzelbehandlungen hervor¬ 
ragender neuer Werke werden wir auch die be¬ 
deutendsten kritischen Erscheinungen berücksich¬ 
tigen. Wir glauben die Reihe derselben nicht besser 
beginnen zu können, als mit dem in vorstehendem 
Aufsatz besprochenen Werke „Der Übermensch in 
der modernen Liiieratur“, über das sich u. a. Bis¬ 
marck, Carl Bleibtreu, Hans Hoffmann, Friedrich 
Spielhagen, Richard Voss in Zuschriften an den 
Autor anerkennend äusserten. Die Red. 

Umschau 1897. 


bloss die spekulativen, sondern auch die em¬ 
pirischen Philosophen wie Wilhelm Wundt 
gezogen haben. 

Aber nicht blos von spekulativer Seite 
wurde der Rationalismus des vorigen Jahr¬ 
hunderts überwunden, auch die empirischen 
Wissenschaften und die grossen Dichter am 
Ende des vorigen und am Eingang des neuen 
Jahrhunderts nahmen dieselbe Richtung. Ja, 
die grosse Blüte der Kunst hat Oberhaupt 
nur darin ihren Grund, dass die »Natur“ des 
Menschen richtiger erkannt und dargestellt 
wurde. Seit Herder und seinem grösseren 
Schüler Goethe verbreitete sich die grosse 
Anschauung von der Natur im geistigen Le¬ 
ben der Menschheit und des Einzelnen. Dass 
im geschichtlichen Leben der Sprache, der 
Künste, des Rechts und der Sitte, ja selbst 
der Handwerke ein organischer Zusammen¬ 
hang herrscht, der jenseits der bewussten 
Thätigkeit und Absicht des Menschen liegt; 
dass auch der einzelne begabte Mensch ein 
organisches Wachstum ebenso aufweise, wie 
die Palme, die aus unscheinbaren Keimen 
gesetzmässig zu wundersamer Höhe empor¬ 
wächst; dass in der Entwicklung der grossen 
Menschen ebenso wie der Sitten, der Ideen, 
keine Willkür, sondern eine erhabene Kon¬ 
sequenz erkennbar sei: dies waren die Grund¬ 
lehren, mit denen das neunzehnte Jahrhundert 
ausgestattet wurde, und die es zu einem ge¬ 
waltigen Bau der Wissenschaften fortbildete. 
Aber immer und überall wurde der Wille, 
die treibende Energie, die jenseits des hellen 
Bewusstseins des Menschen liegt und die 
dieses Bewusstsein erst schaftt, als das We¬ 
sentliche, das Massgebende, das Primäre an¬ 
erkannt und betont, gleichviel ob man daraus 
metaphysische Folgerungen zog oder nicht. 
Der Geniekultus, die Heroenverehrung, der 
Individualismus, das Ideal der Persönlichkeit, 
die alle unserem Jahrhundert eigentümlich 
sind, hierin haben sie ihren letzten Grund: 

44 


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778 


Necker, Eine Geschichte des Uebermenschen. 


in der Erkenntnis des Wertes der Energie, die 
uns verkörpert doch nur im einzelnen Menschen 
entgegentritt. Ich will nicht sagen, dass 
jene Ideale einzig und allein hierin ihren Grund 
haben, aber er ist der letzte. Um das rechte 
Verständnis des Willens, um seine Erklärung, 
um das Verhältnis des Bewusstseins zu ihm, 
dreht sich die ganze philosophische und zu¬ 
mal die psychologische und ethische Arbeit 
des Jahrhunderts. Die Wandlungen vom Op¬ 
timismus zum Pessimismus und von diesem 
wiederum zum Positivismus hängen mit der 
Verschiedenheit des Urteils Ober den einzelnen 
Willen in seinem Verhältnis zur Gesamtheit 
zusammen. Harmonische Menschen, wie Goethe, 
feierten ihn, wo sie ihn in grossen Persön¬ 
lichkeiten trafen; disharmonische Naturen, 
wie Schopenhauer, sahen in ihm nur die blinde 
Kraft, die sich selber bethätigen und durch¬ 
setzen wolle, ihre Moral forderte die Ver¬ 
neinung des Willens. Friedrich Nietzsche, 
der letzte Philosoph, der die Gegenwart so 
sehr in Atem hält, gelangte aus der Erkennt¬ 
nis der Unfruchtbarkeit des Pessimismus zur 
Forderung der Bejahung des Willens; ihm 
erscheint die Energie allein so massgebend, 
dass er nicht scheut, Immoralist zu sein oder 
vielmehr, dass er jene Moral, die nicht von 
seinem Grundsatz des Überragenden Wertes 
der Energie des Willens ausgeht, umformen 
will, zu einer neuen Willensmoral. Hat man 
früher die Vernunft vergöttlicht, so vergött¬ 
licht Nietzsche den Willen allein, und zwar 
den Willen, wie er sich in der grossen, 
genialen Einzelgestalt darstellt; ja, um seine 
Meinung recht deutlich zu unterstreichen, 
auch dort, wo der Wille roh, als „blonde 
Bestie" auftritt. Nietzsche ist nämlich ein 
halber Dichter und halber Philosoph, und das 
ist sein grösstes Übel. Dem halben Dichter 
fehlt die Klarheit und Plastik des Bildes, tr 
konstruiert seine Ideen zu abstrakten An¬ 
schauungen. Solche halbe Dichter können in 
einem Individuum Eigenschaften vereinigen, 
die sich in Wirklichkeit nur auf verschiedenen 
Individuen verteilt finden. Der halbe Philo¬ 
soph in Nietzsche überschätzt den Wert des 
einzelnen grossen Willens und Genies, indem 
er es als das eigentliche Ziel des Daseins 
der ganzen Menschheit bezeichnet. Sie wäre 
nur dazu da, um einige Prachtexemplare zu 
erzeugen, neben denen die anderen, die Massen 
nicht viel zu sagen hätten. Eä ist eine abstrakte 
und einseitige Phantasie, die sich aus dem 
Wesen der gesamten Menschheit ein Wesen 
konstruiert, das nicht mehr menschlich ist, 
aber doch auch nicht als göttlicii anerkannt 
werden kann, weil wir an ein Wesen, das 
nicht menschlich ist, eben infolge der kant- 
ischen Vernunftkritik überhaupt nicht mehr 


glauben können. Aber unser Zeitalter, das 
einerseits aus Sehnsucht nach einer Verbesser¬ 
ung der bestehenden Zustände, andererseits 
aus Erfahrung (sei es der unmittelbaren Ge¬ 
genwart grosser Persönlichkeiten, oder aus 
historischer Betrachtung) den Segen willens¬ 
mächtiger Menschen zu schätzen lernte; unser 
Zeitalter, das nicht weniger durch seine Er¬ 
weiterung menschlicher Einsichten als durch 
gewaltige Thaten und Werke der ganzen 
Welt ein neues Antlitz gab: dieses Zeitalter 
der Energie, das sich mit Recht im Zeitalter 
der Renaissance historisch bespiegelt, em¬ 
pfindet Sympathien für den Philosophen des 
Willens zur Macht, der zwar Pessimist, aber 
kein Willensverneiner ist. Nietzsches Ideal 
vom Übermenschen spiegelt sich darum man¬ 
nigfach in der Litteratur dieser Zeit, und da 
lag es nahe, einmal diese Litteratur näher 
zu betrachten — ein Unternehmen, wie es 
zeitgemässer und interessanter nicht leicht ge¬ 
wählt werden kann. 

Leo Berg, der eifrige Verehrer Nietzsches 
und ebenso unparteiische, wie schneidige Kri¬ 
tiker der zeitgenössischen Litteratur, hatte 
den guten Einfall, diese Betrachtung ins Werk 
zu setzen, und so entstand sein neues Buch: 
„Der Übermensch in der modernen Litteratur. 
Ein Kapitel zur Geistesgeschichte des 19. 
Jahrhunderts".*) 

Die Aufgabe, die sich Berg stellte, war 
zwiefacher Natur. Einmal die Entstehungs¬ 
geschichte des 'Ideals vom Übermenschen zu 
verfolgen, woran die Denker vor Nietzsche 
gearbeitet haben, und die er auch gekannt 
hatte, denn man weiss, dass Nietzsche von 
Allen gelernt hat, von Plato und Heraklit 
bis auf Schopenhauer, Richard Wagner und 
Paul Röe; mehr als irgend ein anderer Denker 
hat Nietzsche fremdes Gut verarbeitet. So¬ 
dann musste Berg die Dichtungen, in denen 
das moderne Ideal dargestellt wurde, Revue 
passieren lassen. Demgemäss zerfällt sein 
Buch in zwei Teile, in einen historisch-phi¬ 
losophischen und einen litterarisch-ästhetischen; 
und der erste Teil gliedert sich wieder in 
zwei verschiedene Partieen, in die Geschichte 
der religiösen Idee und in die des Indivi¬ 
dualismus, denn Nietzsches „Übertnensch" ist 
der Gott des Individualisten, er ist kein blos 
ästhetisches, sondern auch ein religiöses Ideal. 

Berg geht von dem richtigen Gedanken 
aus, dass die Menschen, wie sie nun einmal 
sind, sich einen Gott schaffen, wenn sie kei¬ 
nen mehr haben. Das religiöse Bedürfnis ist 
unausrottbar; tief in der menschlichen Natur 
begründet ist das Bedürfnis zu verehren; 

‘) Verlag von Albert Langen. München, Leipzig, 
Paris 18^. Preis M. 3.50. 


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Necker, Eine Geschichte des Uebermenschen, 


779 


das Gefühl der „Abhängigkeit vom Unend¬ 
lichen“, wie Schleiermacher den Grund der 
Religion bezeichnete, werden die Menschen 
niemals überwinden, auch wenn wir es noch 
so Iici rlich weit gebracht haben sollten. Und 
der radikale Aristokrat Nietzsche, der furcht¬ 
lose Umwerter aller Werte, der pietätlose 
EntlUillcr verborgenster Seelengeheimnisse, 
hatte ein tiefes Bedürfnis zu verehren. Das 
ist eine* seiner guten Seiten. Darum schuf 
er sich seinen Gott im „Übermenschen“. 
Natürlich konnte er sich das Urbild dazu nur 
im Menschen holen. Seitdem Kant die Un¬ 
möglichkeit einer über die Erfahrung hinaus¬ 
gehenden Erkenntnis nachgewiesen hatte, war 
es mit einem überweltlichen Glauben Obel 
bestellt. Und vollends seitdem Feuerbach mit 
dieser kantischen Lehre die Folgerung ge¬ 
zogen hatte, dass die Menschen sich seit jeher 
Gott nach ihrem Bilde geschaffen haben. Da 
musste alle naive Gläubigkeit ein Ende neh¬ 
men. Ein Gott, von dem wir wissen, dass 
wir ihn uns selber machen ~ den kann man 
nicht sonderlich respektieren! Feuerbach löste 
die Religion in Anthropologie auf. Die Ge¬ 
schichte der Religion ist ihm nur mehr eine 
Geschichte der höchsten Ideale der Mensch¬ 
heit, des Wissens der Menschheit um sich 
selbst. Andere Philosophen, die doch nicht 
die Religion ganz fallen lassen konnten, ver¬ 
kündeten, dass Gott in der Geschichte sich 
offenbare; die Menschheit kommt nicht von 
Gott, aber sie gWit zu Gott, er wird in ihrem 
Fortsehreiten immer sichtbarer, klarer, lebend¬ 
iger. Es ist der Hegelsche Gott; ein auf die 
Geschichte übertragener Pantheismus. Mit so 
einem Gott, der der Persönlichkeit entbehrt, 
eigentlich nur eine Idee ist, kann sich indess 
das religiöse Bewusstsein nicht begnügen. Der 
Mensch hat das Bedürfnis, nicht blos zu denken, 
sondern auch zu schauen. Aus diesem Be¬ 
dürfnis heraus kam Nietzsche zur Schaffung 
eines persönlichen Ideals von Gott im „Über¬ 
menschen“. Es trat aber auch noch der 
durch'das gknze Jahrhundert, eigentlich schon 
von Herder aus‘) gehende Individualismus 
hinzu, die Verehrung des Einzelnen, des 
Genius, der grossen Persönlichkeit. Goethe, 
Carlyle, Emerson, Kierkegaard, Renan, Flau- 
bert, Lagarde sind die Begründer und Träger 
dieses Kultus der Persönlichkeit, der Heroen¬ 
verehrung. Wie sich der Individualismus in 
diesen Denkern und Dichtern verschieden 
gefärbt äussert, zeigt Berg, auch wie er extrem 
bis ins Thörichte verzerrt bei Stirner auftritt. 
Ich kann hier nur darauf verweisen. Der 
Schluss aber ist — und auf den kommt es 

') Vergl. R. M. Meyer, „Deutsche Charaktere“. 
Berlin 1897. S. ^ ff: „Der Kampf um den Ein¬ 
zelnen“. 


an —, dass Nietzsche alle diese verschiede¬ 
nen Anschauungen in seinem „Uebermenschen“ 
vereinigte. Berg sagt: 

„Alle die Motive kommen bei ihm zusam¬ 
men, die im einzelnen vorher (bei Kierke¬ 
gaard, Stirner, Renan, Carlyle, Lagarde u. d. a.) 
zu den Ideen des neuen Adels, der starken 
Individualität, des neuen Heros führten; der 
Ekel an der Gegenwart („Es ist Weisheit 
darin, dass vieles in der Welt Obel riecht: 
der Ekel selber schafft Flügel und quellen¬ 
atmende Kräfte“), — die Erkenntnis der 
historischen Entwicklung, die vom Menschen 
zum Übermenschen führt („Aber wer das 
Land Mensch entdeckte, entdeckte auch das 
Land „Menschen-Zukunft“), — persönlicher 
Stolz („ Wenn es Götter gäbe, wie hielte ichs 
aus, kein Gott zu sein!"), ^ die Ahnung 
von der schöpferischen Kraft grosser Naturen 
(„Was wäre denn zu schaffen, wenn Götter 
— da wären!“), — das kritische Bewusstsein 
über die alten Götter und Religionen („Eines 
Gottes Larve hängtet ihr um vor euch selber, 
ihr ,Reinen'“), -- und dabei ein tiefes reli¬ 
giöses Gefühl („Irgend ein Gott in dir be¬ 
kehrte dich zu deiner Gottlosigkeit“), — die 
Erlöser-Sehnsucht aller modernen Seelen („Wo 
ist — mein Heim?“) — der Schauder vor 
dem Nichts („Denn ich liebe dich, o Ewig¬ 
keit 1 “), — und die tiefe Ergriffenheit um das 
Elend der modernen Völker in allen ihren 
Schichten („Wir bluten Alle an geheimen 
Opfertischen“).“ (S, 68 — 69.) 

Dieser Nachweis des tiefen Zusammen¬ 
hanges Nietzsches mit seinen Vorgängern er¬ 
scheint mir als das positiv wertvollste Resultat 
der ersten Hälfte des Bergschen Buches; denn 
meines Wissens ist in diesem Umfange die 
Untersuchung noch nicht geführt worden. 
Denn die meisterhafte Schrift A. Riehls über 
Nietzsche, die in diesem Sommer, erschien, 
konnte Berg noch nicht gelesen haben. In 
den Resultaten berührt er sich öfter mit Riehl. 
Nur darin unterscheiden sich beide Kritiker, 
dass Riehl den Übermenschen mit „plutarch- 
ischer“ Fülle gezeichnet findet, indess Berg 
bemerkt: „Nietzsche sagt nicht, was und wer 
der Übermensch ist, denn dieser schwebt voll¬ 
ständig in der Luft und ist nur mit wenigen 
Strichen ins Blaue gezeichnet. Er ist ein 
Wort, ein Ideal, ein Gedanke, ein Traum, 
eine Sehnsucht, oder wenn man will, die 
Quintessenz seines neuen Adels: also der 
Traum eines Traumes, die Quintessenz von 
Wünschen.“ Eine Folgerung gegen Nietzsche 
und sein Ideal zieht aber Berg aus dieser 
Charakteristik des Übermenschen durchaus 
nicht, obwohl man sie erwartet. DennNietzsches 
Sehnsucht und Nietzsches Traum sind auch 
die seinigen. Darin liegt die Schwäche der 

4 +* 


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780 


Berlepsch, Endlich ein Umschwung. 


Bergschen Schrift, die sich am Schlüsse wie¬ 
der fühlbar macht. Seine folgende historische 
Darstellung des Übermenschen-Ideals in der 
Litteratur wird davon allerdings nicht wesent¬ 
lich berührt. Immerhin macht sich diese 
Schwäche fühlbar, wo Berg ältere Dichtun¬ 
gen, die sich in der Richtung des Über¬ 
menschen - Ideals bewegen, an Nietzsches 
Zarathustra misst und dabei vergisst, dass 
er auch diesem Mangel an künstlerischem 
Leben zum Vorwurf machte. So in der Kritik 
des „Merlin“ von Immermann. Es ist ein 
glücklicher Gedanke Bergs, diese nicht ohne 
rechten Grund verschollene Dichtung hervor¬ 
zuziehen und die Verwandtschaft zwischen 
Immermann und Nietzsche nachzuweisen — 
sie waren beide Individualisten und unvoll¬ 
kommene Dichter, und so ausserordentliche 
Aufgaben der Kunst, wie die ist, religiös 
mystische Gestalten darzustellen, wie „Merlin“ 
und „Zarathustra", waren beide zu lösen 
nicht ßlhig; beide Dichtungen sind abstrakt 
geblieben, „Schatten“ wie Berg sagt. Nur 
führt er in seiner Kritik den Begriff der 
dichterischen Begabung gar nie ein, es scheint, 
als hätte er vergessen, welche wichtige Rolle 
eben die Kunst, der Sinn fürs edle Mass, für 
Harmonie, für Schönheit bei der Schöpfung 
der Ideale, auch der religiösen, spielt. 

Es ist auch folgendes für ihn sehr be¬ 
zeichnend. In der Heerschau, die er über 
eine sehr grosse Zahl von Übermenschen- 
und Heroendichtungen der Gegenwart giebt, 
kommt er, von den ThatsaChen gedrängt, da* 
zu, nur solche Werke zu loben, die gar nicht 
von dichtenden Nietzscheanern geschaffen 
wurden: „Die Osterinsel“ vonWilbrandt, „Der 
Teufel vom Sande“ von Hans Hoffmann, 
„Über die Kraft“ von Björnson, und allen¬ 
falls noch „Die blonde Kathrein“ von 
R. Voss. Alles andere, die Werke von Bleib¬ 
treu, Conradi u. s. f. bis zur „Versunkenen 
Glocke" von Hauptmann greift Berg mit 
scharfer und meist überzeugender Kritik an. 
Man sollte nun meinen, dass ihn diese That- 
sachen zum Nachdenken brächten. Warum 
gelangen gerade Werke von Dichtern, die 
nicht Anhänger Nietzsches sind? Gab ihnen 
nicht gerade ihre Freiheit und Unbefangen¬ 
heit die Kraft dazu? Schufen sie nicht eben, 
w’eil sie jenseits Nietzsche standen, ihre be¬ 
friedigenden Kunstwerke? . . . Diese Folger¬ 
ung drängt sich uns förmlich aus Bergs eige¬ 
ner Übersicht, die sonst auch sehr lehrreich 
ist, auf — aber er zieht sie nichi\ Und das 
ist ungemein bezeichnend für sein ganzes — 
wir fügen hinzu gegenwärtiges Denken; denn 
dass Berg nicht am Ende seiner Entwicklung 
steht, ist für uns zweifellos. Gegenwärtig hat 
er an Nietzsches Übermenschciitum nur seine 


Traumhaftigkeit, nicht aber seine Masslosig* 
keit, seine Überreizte Einseitigkeit auszusetzen. 
Leo Berg, der Historiker des Individualismus, 
ist derzeit noch selbst ein leidenschaftlicher 
Individualist, zornig erbittert gegen die Menge, 
den Pöbel in Litteratur und Leben, aber er¬ 
bittert wie ein ehrlicher, ja wie ein religiöser 
Fanatiker. Seinem Meister Nietzsche eifert er 
in Invektiven gegen die Vielzuvielen nach, 
wagt er Paradoxe wie die: „Ich glaube, die 
Besten und Stärksten schickt man heute in 
die Zuchthäuser. Und wer weiss, ob man 
nicht hier gerade anfangen müsste, wenn man 
eine Auslese machen will, wie man sich viel¬ 
leicht auch aus Bordellen einiges vom besten 
Weibmaterial wird holen müssen“ . . . Der¬ 
gleichen verzeiht man allmählich dem kranken 
Nietzsche, sein gesunder Anhänger durfte nicht 
so weit gehen und hätte überhaupt besser 
gethan, die Haltung des Historikers bis zum 
Schlüsse unbeirrt festzuhalten. Als litterar- 
historische Leistung ist Bergs Buch voller Ver¬ 
dienste, weil es dazu beiträgt, die litterar- 
ische Atmosphäre zu reinigen und mit mann¬ 
haftem Mute zutreffende, ehrliche Urteile Über 
die Litteratur der Gegenwart zu verbreiten. 


Endlich ein Umschwung.^) 

Von H. E, VOM Berlepsch. 

inchen sah im Jahre 
1876 die erste deutsche 
Kunstgewerbe - Aus¬ 
stellung. Sie brachte, 
nachdem sich die an¬ 
gewandte Kunst in 
Deutschland während 
Jahrzehnten entwe¬ 
der in direktem Ab- 
hängigkeits - Verhält¬ 
nisse zum Auslande 
befand oder in we¬ 
nig erfreulichem Ausdrucke eigener Art sich 
bewegt hatte, mit einem Rucke sozusagen, 
bedeutsame Veränderungen zu Stande. Die 
Zeit der grossen Blüte, mit der Namen wie 
Dürer, Holbein u. s. w. verknüpft waren, trat 
als mächtiges Vorbild ein. Ungezählte An¬ 
regungen alter Meister schienen befruchtend 
auf eine um dreihundert Jahre jüngere Ge¬ 
neration einwirkeh zu sollen. 

Jene Glanzperiode deutscher Kunst frei¬ 
lich unterschied sich ganz wesentlich durch 

*) Mit freundlicher Erlaubnis des Herausgebers 
entnommen aus „Deutsche Kunst und Dekoration*', 
Monatsschrift zur Förderung deutscher Kunst und 
Formensprache in neuzeitlicher Autfassung. (Darm- 
stadt, Verlagsanstalt Alexander Koch.) 



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Berlepsch, Endlich ein Umschwung. 


781 



Zeichnung von Bernhard Wenig. (Aus „Deutsche Kunst und Dekoration“). 


eines von unseren Tagen: es war ihr eine 
lange, lange Entwickelung vorausgegangen. 
Sie fusste auf Errungenschaften, die mit der 
kunstreichen Verzierung mönchischer Hand¬ 
schriften beginnend, durch die mittelalterlichen 
Bauhütten und künstlerisch - handwerklichen 
Werkstätten aller Art, die Werkstatt des Ma¬ 
lers nicht ausgeschlossen, allmählich zu voller 
Entwickelung gediehen waren. Deswegen 
trug diese Kunst ihren durchaus eigenartigen 
Stempel der Selbständigkeit. Was diese Zeit 
hinterliess, konnte im ausgiebigsten Masse 
fördernd für eine Neubelebung gleichen Stre- 
bens werden. Es kam nur auf die Art an, 
tvie die Einwirkung vor sich ging. Schlug 
man allerdings den bequemen Weg der plat¬ 
ten Nachahmung ein, sah man das Alte als 
eine feststehende Norm, als ein Einmal-Eins 
an, an dem nicht geschüttelt und gerüttelt 
werden dürfe, glaubte man die Fundgruben: 
Kupferstichkabinette, Handzeichnungs-Samm¬ 
lungen und ähnliche Institute, unergründlich, 
unausschöpfbar, suchte man die Patina, die 
sonst das Resultat langer Zeitläufe zu sein 
pdegt, künstlich von heute auf morgen in 
allen Dingen zu erreichen, so war ein er- 
spriessliches Gedeihen, ein eigentliches „Neu- 
Werden“ ausgeschlossen. In dieser Beziehung 
ist viel gesündigt worden. 

Alles Ererbte, alles was andere Zeiten 
leisteten, über Bord werfen' wollen, ist ein 
Beginnen, das Unreifheit, unhistorischen Sinn 
verrät. Wo giebt es Kinder ohne Vater und 
Mutter? Der Fortentwickelung aber, die nach 
erst zu erreichenden Zielen strebt, immer das 
längst Erreichte, als einzig wünschenswert hin¬ 
stellen, das ist ebenso verfehlt. Es ist das 
Zeichen der Greisenhaftigkeit, der Fortbild¬ 
ungs-Unfähigkeit. Dahin sind allmählich die 
Wege der angewandten Kunst, brauchen wir 
vorerst der Kürze wegen den Ausdruck 
„Kunstgewerbe" Idas englische „Applied .Arts“ 
ist der weitaus zutreffendste Terminusl noch, 
in Deutschland speziell im „Vorort" deutschen 


Kunstgewerbes, in München, geraten. Die 
Goldadern, wo immer und immer wieder ge¬ 
schürft wurde, der direkte Vorbilderschatz 
der Vergangenheit, ist erschöpft; Armut der 
Erfindung, völliges Verkennen der Ziele 
unserer Zeit sind die unausbleiblichen Resul¬ 
tate geworden. Wir haben keine Fortschritte 
gemacht, höchstens wurde nach anderen „An¬ 
leihe-Stationen" Ausschau gehalten, um, wenn 
Not an Mann ging, das „Nachempfinden“ 
anderswo als bei den alten Meistern in An¬ 
wendung zu bringen. Es war das gleiche 
Bild, das auch die Kunstausstellungen boten. 
Diesen oder jenen fremden Künstler kopieren 
(nur nicht in seiner Originalität) das nannte 
man schliesslich ,,Modern sein". 

Ein anderer Umstand kommt noch hinzu, 
der das Kunstgewerbe unserer Tage im Ver¬ 
gleiche zu früheren Glanzepochen wie ein 
Aschenbrödel erscheinen lässt: Sein Verhält¬ 
nis zur sog. „hohen Kunst". In Zeiten, wo 
künstlerische Umgebung so viel wie Lebens¬ 
bedingung war, sicht man alle dahin ab¬ 
zielenden Bestrebungen aufs innigste unter 
einander verknüpft. Eines greift ins andere, 
Von einem Vorrange der Malerei beispiels¬ 
weise war nicht die Rede. Der Tempel, der 
öffentliche Platz, das Wohnhaus des Alter¬ 
tums sind im ganzen genommen künstlerische 
Erscheinungen, ebenso wie die Kirche, das 
Rathaus, der Fürstensitz des Quattro- und 
Cinque-Cento als ein Gefüge von Einzel¬ 
leistungen zum abgerundeten Gesamt-Kunst- 
werke werden. Man schaute nicht den als 
Mäcen an, der in seinen Räumen da und 
dort ein gutes Bild hängen hatte und sich 
im übrigen der schön ausgestalteten Umgeb¬ 
ung seines Lebens wenig annahm. Auf diesen 
Standpunkt ist erst unsere von Emporkimnn- 
lingen aller Art beherrschte Zeit herabge¬ 
sunken. Mit dem schnellen Eneerb grosser 
Reichtiimer hält die innerliche Bildung des 
Menschen seltoi Schritt. Unsere Plutokratie 
gehört durchschnittlich, wird sie auf eigen!- 


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782 


Berlepsch, Endlich ein Umschwung. 


liehe Bildung abgewogen, weit unter das 
Niveau der Mittelmässigkeit. Daher die Sucht, 
den Mangel an wirklich feinem Sinne durch 
auflFällige Erwerbungen, durch Bezahlung 
hoher Preise zu vertuschen. Spricht man heute 
von einem Kunstfreunde und Beschützer, so 
verbindet sich in erster Linie der Begriff des 
Bilderbesitzes damit. Damit ist die Malerei 
zu einer Höhe der Bedeutung — nicht im¬ 
mer des Wesens — emporgestiegen, deren 
nachteilige Folgen nicht ausbleiben konnten. 
Angewandte Kunst, Kunstgewerbe — sie 
sanken in den Augen der „Künstler“ zum 
niedrig stehenden Wesen herab. Dass zur 
stofflichen und künstlerischen Durchbildung 
eines Dinges, das nicht im Goldrahmen pa¬ 
radiert, unter Umständen weit mehr gehört 
als zur Herstellung eines Durchschnittsbildes, 
— das schien völlig vergessen. Leistungen 
der angewandten Kunst aber in Wettbewerb 
mit der „hohen“ Kunst treten zu lassen, er¬ 
schien einfach als Unsinn. Für Bilder und 
deren Autoren gab es immerfort Auszeich¬ 
nungen aller Art. Der deutlichste Beweis 
dafür, wie wenig hoch diese Sparte nationaler 
Arbeit und ihre Bedeutung angeschlagen und 
verstanden werde, liegt in dem Umstande 
allein schon, dass die notorische Niederlage 
in Chicago keinerlei wesentliche Änderungen 
nach sich zog, dass nie die Frage: „wo steckt 
der Fortschritt?“ auf praktische Gebiete über¬ 
geführt wurde, sofern die Anregung dazu 
nicht aus Privatkreisen kam. Was nützen in 
solchen Fällen alle Kongresse, ihre schönen 
TrinksprOche und die alles beherrschende Schul¬ 
weisheit administrativ gut beanlagter Kräfte, 
die ihr Können niemals auf schöpferischem 
Gebiete bewiesen oder auch nur erprobt ha¬ 
ben? Geringschätzung seitens der Vertreter 
der „hohen“ Kunst und bureaukratische Be¬ 
handlung wichtiger Fragen auf der andern 
Seite haben zu gleichen Teilen dem Fort¬ 
schritte der angewandten Kunst in Deutsch¬ 
land Dämme entgegengesetzt, wo es nur im¬ 
mer anging, d. h. sie thun es zur Stunde 
noch, wenn auch allmählich die Situation 
manchen Ortes etwas andere als die bisher 
allein gültigen Anschauungen hervorzubringen 
beginnt. Dies Erkennen kommt freilich, es 
darf getrost angenommen werden, nicht von 
innen heraus, vielmehr ist es ein Resultat der 
unumstösslichen Thatsache, dass des Aus¬ 
landes Konkurrenz unter Umständen alle tö¬ 
nenden Worte unserer offiziellen Hoiiepriester 
von der Unbesiegbarkeit der deutschen Sache 
zu Schanden zu machen droht. Wer aber sind 
diese Hohepriester? 

Einzelne deutsche Kräfte, die mit den 
grundlegenden Arbeiten eines Krumbholz, 
Oalland, Bl(Jry, Schiatter, Dumont, Chabal, 


Edouard Müller (La flore pittoresque) u. a. 
bekannt waren und ihre Blicke nicht blos 
innerhalb der heimischen Musecn-Grenzpfähle 
umherschweifen liessen, haben längst die 
Bahnen konventionell gewordener Anschauung 
verlassen. Die Geringschätzung der Vertreter 
der „hohen“ Kunst schnitt ihnen auch nicht 
so sehr ins Herz, dass ein Seder, Stauffacher, 
Meurer deswegen der Ausbildung ihrer Arbeit 
nicht nach wie vor mit gleicher Liebe nach¬ 
gegangen wären. Aber was bedeuteten diese 
Einzelnen? Ihr Wirken war auf einen ganz 
engen Kreis beschränkt; rechts und links 
harrte ihrer blos Zurückweisung, Bespöttelung 
seitens der ,.Berufenen und Auserwählten“. 
Der Stoss, der Bewegung in die Sache brachte, 
musste, wie das — zu unserer Schande sei 
es gestanden — schon oft der Fall war, von 
Aussen kommen. Und er kam. 

In England, das schon so oft der Träger 
neuer, gesunder Bewegungen auf den ver¬ 
schiedensten Gebieten gewesen ist, begann 
mit dem Durchdringen der sog. präraphaelit- 
ischen Bewegung gleichzeitig ein von den 
besten künstlerischen Kräften getragenes Inter¬ 
esse für die angewandte Kunst sich geltend 
zu machen. Freilich darf nicht ausser Acht 
gelassen werden, dass dem Engländer sein 
Haus — und wäre er selbst ein einfacher 
Bürgersmann — etwas ganz anderes bedeutet 
als dem Deutschen, der neben seinem eigent¬ 
lichen Heim auch jenes, das der wein- und 
bierverschenkende Wirt bietet, nicht verachtet. 
Alles Interesse aber, das dem Wirtshause 
entgegengebracht wird, geht am eigenen Herd 
verloren; deshalb giebt es auch in Deutsch¬ 
land durchschnittlich mehr Kneipen mit mehr 
oder weniger gelungen künstlerischem An¬ 
striche als anderwärts! Welche deutsche Stadt 
hätte nicht ihre „altdeutschen“ Trinkstuben, 
deren Dämmerlicht vielleicht dazu angethan 
ist, im Gaste tiefsinnige Gedanken erstehen 
zu lassen über den Unterschied der Quanti¬ 
täten, die unsere trinkfesten Altvordern im 
Vergleich zum heutigen Epigonengeschlecht, 
das übrigens auch stets gut bei Durst zu 
sein pflegt, vertilgten. Anregungen anderer 
Art entsprangen diesen „künstlerisch ausge¬ 
statteten Räumen“ wohl selten. 

Wer sein Heim liebt, der schmückt es, 
der kauft auch Bücher, deren Inhalt die 
geistige Nahrung der Mussestunden bildet. Es 
würde zu weit führen, sollte der Aufschwung 
in England nach dieser Seite detailliert be¬ 
schrieben werden. Erwähnt sei blos, dass 
z. B. die künstlerisch ausserordentlich hoch¬ 
stehenden Kinderbilderbücher von Walter 
Crane, von Kate Greenway u. k. in 
Riesenauflagen hergestellt und abgesetzt 
wurden. 


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Berlepsch, Endlich ein Umschwung. 


783 



Zeichnung von M. J. Gradl. (Aus „Deutsche Kunst und Dekoration“.) 


Dieser allgemeine Zug nach künstlerischer 
Befriedigung, der sichtlich darauf abzielte, 
die Kunst zu demokratisieren, sie wieder zum 
Allgemeingut, nicht aber zum Privilegium der 
oberen Zehntausend zu machen, brachte, wie 
nicht anders zu erwarten, im weiteren auch 
die Gründung von Organen mit sich, welche 
die einschlägige Bewegung der Zeit veran¬ 
schaulichen. So entstand neben manchen, 
die gleichen Ziele verfolgenden Blättern das 
„Studio'*. Binnen kürzester Zeit trug es die 
Kunde von englischer Eigenart in alle Welt 
hinaus. Ungeheurer Erfolg begleitete das 
Unternehmen auf Schritt und Tritt. Nicht zu 
verkennen ist, dass der Einfluss, den es aus¬ 
geübt, auf die unglaublich grosse Zahl leicht 
umstimmbarer Gemüter im Auslande, speziell 
in Deutschland ein beinahe verderblicher ge¬ 
worden ist, denn als sich nun Viele von den 
leer geplünderten Schubladen mit der Auf¬ 
schrift: „Unserer Väter Werke“ abwandten, 
um in etwas anderem das Heil ihres Ab¬ 
hängigkeitsgenies zu suchen, da konnte es 
natürlich nur die neu-englische Kunst sein, 
von der man es erwartete. Und das Nach¬ 
ahmen hirt) abermals an. In welchem Masse 
die Anempfindung an diese Vorbilder sich 
eingebürgert hat, davon legte die Konkurrenz 
zur Schaffung eines neuen Titelblattes für die 
Zeitschrift des Bayerischen Kunstgewerbe- 
Vereins in München schlagenden Beweis ab. 
Die Mehrzahl der eingelaufenen, von deutschen, 
speziell von Münchener Künstlern, herrühren¬ 
den Entwürfe hatte eine geradezu erschreckende 
Ähnlichkeit mit englischen Vorbildern, die 
sich leicht nach Namen, nach Seitenzahl und 
Jahrgang des „Studio“ namhaft machen Hessen. 
Die Voraussetzung mancher der Beteiligten, 
die englischen Originale seien wahrscheinlich 
in weiteren Kreisen doch nicht allzu bekannt, 
war leider nicht zutreffend, und so bot sich 
denn ein bis zu gewissem Grade humorvolles, 
freilich auch etwas beschämendes Bild für 
den nur einigermassen Eingeweihten dar. 

Frankreich nahm, obschon ein genialer 


Künstler wie Eugene Grasset schon längst 
in Paris thätig ist, die von England aus¬ 
gehende Bewegung erst spät auf, freilich ohne 
— das Gebiet des Plakates ausgenommen — 
gerade mit Leistungen sehr originaler Art 
aufzutreten. Sind auch z. B. Arbeiten, wie 
die keramischen Produkte von Gallet vorzüg¬ 
liche zu nennen, so bedeuten sie doch keines¬ 
wegs die Begründung einer neuen, auf breiter 
Basis gegründeten Richtung. Eine solche baut 
sich auf ganz anderen Dingen als auf Gläsern 
und Vasen auf, deren kleinste schon enorm 
hoch im Preise stehen. Sowie die moderne 
Bewegung auf dem Gebiete der angewandten 
Kunst blos darauf hinausläuft, den Wohnungs¬ 
schmuck der oberen Zehntausend umzuge¬ 
stalten, also wie die Malerei in erster Linie 
ein Luxusartikel zu sein ebenso wie theuere 
Orchideen und kostbare Weine — dann ist 
und bleibt sie ein totgeborenes Kind. Wenn 
nicht, was uns während des grössten Teiles 
unserer Zeit beeinflusst, einfach - schön ge¬ 
staltet werden kann, wenn nicht unsere Um¬ 
gebung, mag sie sich aus den heterogensten 
Dingen zusammensetzen, den Stempel fein¬ 
stimmender Empfindung trägt, so kommen wir 
auf keinen gesunden Standpunkt. Dass die 
„Hof-Kunst" ebenso wie die „Börsen-Kunst" 
unserer Tage nichts, rein gar nichts Fördern¬ 
des, vielleicht sogar das Gegenteil in sich 
tragen, dafür Hessen sich Beweise in er¬ 
drückender Menge bringen. — Doch noch 
ein Wort über Frankreich, dem zahlreiche 
eigene Schriftsteller schon vor zehn Jahren 
zuriefen: „Schau hinüber Über den Kanal und 
lerne dort, was Eigenart, w^ glänzende Fort¬ 
entwickelung sei 1 Es giebt eine englische 
Kunst, aber bald keine französische mehr!" 

Eine in Paris erscheinende neue Zeit¬ 
schrift „Art et Döcoration" müsste in Zukunft 
sich wesentlich anders gestalten, sollte sie für 
Frankreich zum Träger des gleichen Einflusses 
werden, den „Studio“ in seinem Heimatlande 
längst inne hat. Grasset hat zwar mit seinen 
Panneaux d^coratifs den Anfang zu einer 


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784 


Bkrlepsch, Endlich ein Umschwung. 


eigentlichen Volkskunst gemacht. Er ist wohl 
auch der einzig Berufene, um die französische 
Bewegung einem bestimmten Ziele entgegen 
zu führen, denn in ihm steckt nicht blos der 
Maler, sondern auch der Praktiker, anderer: 
seits ist er nicht blos Praktiker, sondern auch 
vielseitiger Künstler. An L,euten solcher 
Art aber ist Mangel, denn nur bildnerisches 
Können und praktisches Wissen im Verein 
können zu wirklichen Resultaten in Sachen 
der angewandten Kunst führen- Das Papier, 
die Leinwand tragen jeden Entwurf geduldig. 
In Sachen der wirklichen Ausführung gestaltet 
sich manches anders. In der Ausführbarkeit 
aber liegt das eigentliche Lebenselemcnt der 
angewandten Kunst. 

Wesentlich war freilich für Frankreich der 
Umstand, dass schon seit geraumer Zeit „les 
arts d^coratifs“ in den Salons als völlig gleich¬ 
berechtigt mit Malerei und Bildhauerei zur 
Geltung kamen. 

In Deutschland rührte sich nichts, rein 
gar nichts. Die offiziellen Schönredner sahen 
nichts oder sie thaten wie der Vogel Strauss 
und wollten nichts sehen. 

Nun brachte der Sommer 1897 für Dres¬ 
den und München internationale Kunstaus¬ 
stellungen. Sollten diese abermals verlaufen, 
ohne dass auch nur im Entferntesten auf eine 
brennende Zeitfrage Rücksicht genommen 
wurde? Wäre es in München auf die Ver¬ 
treter der „hohen" Kunst allein angekommen, 
so hätte man die Sache abermals totge¬ 
schwiegen, denn das gebot der Selbsterhal¬ 
tungstrieb. 

In Dresden war von Anfang an die Her¬ 
beiziehung des „Kunstgewerbes" geplant, 
doch reflektierte man hauptsächlich auf das 
Ausland. Man war dort offenbar weitsichtiger 
als in München, wo die kleine Gruppe, die 
eine Beteiligung an der Ausstellung als wün¬ 
schenswert anstrebte, so gut wie nur möglich 
an die Wand gedrückt wurde. 

„Giebt es denn überhaupt ein modernes 
Kunstgewerbe", soll eine der hervorragendsten 
Persönlichkeiten ärgerlich gesagt haben, als 
das Ersuchen um Üeberlassung von Räumen 
im Glaspalaste immer und immer wieder ge¬ 
stellt wurde. Nach endlosen Schwierigkeiten 
wurden schliesslich die zwei Kämmerchen be¬ 
willigt, in denen eine kleine Zahl praktisch 
arbeitender Künstler zum ersten Male Resultate 
eigenen Schaflfens auf dem Gebiete der de¬ 
korativen Künste in anderer Weise vorführte, 
als dies in den Ausstellungsräumen offizieller 
kunstgewerblicher Institute der Fall zu sein 
pflegt. Der Hauptsache nach sind die Mün¬ 
chener Aussteller in München thätig. Das 
ist ein wesentlicher Untei schied gegenüber 
Dresden/ an dessen kunstgewerblicher Aus¬ 


stellungsabteilung die Zimmer des Magazins 
„L’Art nouveau" in Paris den weitaus meisten 
Kaum einnehmen. Der Erfolg lehrte alsbald, 
in wie weit einer Tagesfrage entsprochen 
wurde. Es sei darüber weiter gar kein Wort 
verloren: Facta loquuntur! Die Bewegung 
hat sich Bahn gebrochen. Der Stein ist end¬ 
lich ins Rollen gekommen und wird durch 
nichts aufgehalten werden. 

Zweifelsohne werden nicht wenige, die 
als Maler ihre Rechnung nicht fanden, es nun 
mit der angewandten Kunst „probieren", so 
etwa, wie wenn man einen Anzug mit einem an¬ 
dern vertauscht. Nun, schlechte Maler werden 
auch auf diesem Felde sich keine Lorbeeren 
holen, um so mehr als bei Bemeisterung der 
Materie auch noch allerlei Dinge des Wissens 
und der praktischen Erfahrung in Betracht 
zu ziehen sind, die man als Vertreter der 
„hohen Kunst“ oft glücklich umgehen kann. 
An Leuten aber, die mit handwerklichem 
Können ausgestattet das künstlerische Element 
heben, durch künstlerisches Empfinden aber 
anderseits dem handwerklichen Teile die 
rechte Seele einzuhauchen wissen, fehlt es 
uns bis jetzt. Die Kunstgewerbe - Schulen in 
aller erster Linie ziehen, bei uns wenigstens, 
dergleichen Kräfte nicht heran, weil man zu 
viel mit akademischer Kunst liebäugelt, statt 
dass mit praktischer Schulung ein richtiges 
Fundament gelegt wird. Die jungen Leute 
„komponieren" und „konkurrieren" bevor sie 
das Einfachste vom Handwerk gelernt und 
begriffen haben. Vergleiche man damit ein¬ 
mal die Schulung, die ein „dessinateur" in 
Paris durchmachen muss! Auf einzelne eigent¬ 
liche Fachschulen wie sie z. B. für Textil¬ 
industrie existieren, hat dies keinen Bezug, 
weil diese von Anfang an die Heranziehung 
von Spezialisten zum Programme haben, 
künstlerische Ausbildung in umfassendem Sinne 
also nicht bezwecken. Von künstlerisch- 
praktischer Schulung aber hängt die Zukunft 
der Bewegung ab, die, das steht zu hoffen, 
vorerst ohne die Einmischung bureaukratischer 
Weisheit sich weiter entwickelt. In England, 
in Amerika vor allem, ist man uns weit Über¬ 
legen und das sicherlich nicht zum Mindesten 
aus dem Grunde, weil das motorische Moment 
nicht bereits in den Fächern und Schubladen 
von Kanzleien untergebracht ist, und von da 
aus dosenweise abgegeben wird. 

An originaler Kraft, das hat sich oft genug 
gezeigt (man denke nur an die glänzenden 
Feste der Akademiker in München), ist bei 
uns kein Mangel. Gebt dieser Kr.-ifc die Mittel 
und Wege zur Äusserung, schafft ihr Werk¬ 
stätten, wo sie neben dem eingehendsten 
künstlerischen Studium die technische Be¬ 
zwingung des Stoffes lernen kann, gründet 


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Amuuonn, Die Astronomie im Jahre 1896. 


785 


etwas wie handwerkliche Akademien, ähnlich 
der Schule des k. k. österr. Museums für 
Kunst und Industrie in Wien, dann wird eine 
Generation erwachsen, die in seltsamern Kon¬ 
traste zum Durchschnittskünstler von heute 
steht. Schliesse man dabei die Kenntnis 
mustergiltiger .nlter Arbeit keineswegs aus, 
aber verbinde damit keine Musterreiterei. 
Lasse man die Ornamente anderer Epochen 
studieren, aber schaffe man daneben Gärten, 
Aquarien, Terraiien, wo die lebende Natur 
immer wieder die einzig unauslöschliche An¬ 
regung bildet. Lasse man alte Muster aller 
Art auf ihre künstlerische Wirkung, auf die 
Zusammenstellung der Farben und deren Ver¬ 
teilung in der zu behandelnden Fläche hin 
studieren, weise man aber gleichzeitig an 
natürlichen Erscheinungen die Ableitung nach. 
Lasse man vor Allem der unerbittlichen Logik 
der natürlichen Formenentwickelung ihr Recht 
zukommen und verweise man darauf immer 
wieder unter Hinweis auf die stylistisch besten 
Artefakte, dann wird der Weg zu vernünftigem 
und schönem Schaffen geebnet. Was am 
lebenden Organismus Gesetz ist, gilt auch 
ftlr das Kunstwerk. Seine erste Existenz- 
Bedingungsei organisches Wesen durchdachte 
Entwickelung, nicht Phrase. Lehre man den 


werdenden Künstler vor allem durch die Er¬ 
kenntnis der Natur, nicht durch Auswendig¬ 
lernen der Gedanken Anderer, denken und 
verwerfe man den leicht erzielten Ausdruck 
oberflächlich malerischer Erscheinung. Lasse 
man Akte, Tiere, Pflanzen auf ihren architek¬ 
tonischen Grundgedanken hin studieren, eben¬ 
so wie auf die plastische und farbige Er¬ 
scheinung, stelle man aber auch, die solches 
treiben, an den Ambos, an den Webstuhl, an 
die Drehscheibe, den Brennofen und die 
Hobelbank! Stoff-Erkenntnis ist Styl-Erkennt- 
nis! Geselle man mit einem Worte der Kunst 
das Handwerk, dem Handwerke die Kunst, 
dann werden die Reihen Jener bald dünn 
werden, die, um den Ernst des Lebens zu 
meiden, sich die „heitere“ Kunst als Stecken¬ 
pferd erwählen. Wenn etwas ernst ist, so 
ist es gerade die Kunst, mag sie auch im 
fertigen Ausdruck heiter erscheinen. Dann 
wird sich erst recht offenbaren, was wir von 
den alten Meistern in erster Linie hätten 
lernen sollen. Der Adel der Arbeit, des 
ernsthaften Schaffens, das mit Schwierigkeiten 
kämpft und sie überwindet in zäher Ausdauer, 
das allein sei ausschlaggebend. Dann, nur 
dann hat unsere Sache eine Zukunft. 



Zeichnung von Bernhard Wenig. (Aus „Deutsche Kunst und Dekoration.“) 


Die Astronomie im Jahre 1896. 

Von Dr. L. Ahbronn. 

I. Die Sonne. 

Seit die Spektralanalyse im Jahre 1862 
wissenschaftlich begründet wurde, hat sich in 
der Astronomie ein besonderer Zweig der Be- 
obachtungsthätigkeit ausgebildet, welcher da¬ 
rauf ausgeht, die Oberflächenbeschaffenheit und 
die chemische Zusammensetzung der Himmels¬ 
körper der Beobachtung zugänglich zu machen. 
Während man früher es für die Aufgabe der 
Astronomen hielt, nur die Orte der Gestirne 
am Himmel festzulegen und auf Grund der 
Beobachtungen die zukünftige Stellung der 
Wandelsterne vorauszuberechnen oder wohl 
auch für ein zurückgelegenes Datum ihren 
Ort zu bestimmen, kam so noch zu diesen 


die sphärische und theoretische Astronomie 
bildenden Zweigen, die heute ein weites Gebiet 
umfassende physikalische hinzu. Es unterliegt 
keinem Zweifel, dass, wie in allen neuen 
Wissenschaften auch hier das neue Gebiet 
eifrig bebaut wurde, waren doch auf ihm mit 
zunächst verhältnismässig geringeren Mitteln 
neue Erfolge zu erringen, während in den 
rein sphärischen Teilen der Astronomie nur 
noch die exaktesten Beobachtungsmethoden 
und auf theoretischem Gebiet die Anwendung 
des gesamten Rüstzeugestiefstermathematischer 
Kenntnisse zur schärferen Festlegung der in 
grossen Zügen schon bekannten Thatsachen 
führen konnten. 

So ist denn auch im vergangenen Jahre 
ein erheblicher Teil der astronomischen 
Schriften der Astrophysik gewidmet. Vor 


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786 


Ambronn, Die Astronomie im Jahre 1896. 


Allem ist es dabei die Sonne, welche bezüg¬ 
lich ihrer Konstitution und ihrer Bewegungs¬ 
erscheinungen die Thätigkeit der Astrophysiker 
auf sich lenkt. Es mag daher auch zunächst 
über das berichtet werden, was sich auf den 
Zentralkörper unseres Sonnensystems bezieht. 

Trotz der vielen verschiedenartigen Sonnen¬ 
theorien, welche von Secchi, Faye, Young, 
Langley, Newcomb, A. Schmidt und An¬ 
deren aufgestellt worden sind, befindet sich 
darunter noch keine, welche allen Beobach¬ 
tungen, die w;ir an der Oberfläche der Sonne 
machen, zugleich völlig Rechnung trägt. Es 
werden deshalb immer neue Versuche ge¬ 
macht werden müssen, die Gesamtheit der 
Phaenomene in eine sie erklärende Hypothese 
zusammen zu fassen. Es hat der eifrige ! 
Sonnenbeobachter Fenyi in Kalosca im 
vorigen Jahre einen neuen Gesichtspunkt sei¬ 
nen Betrachtungen über die Sonne zu Grunde 
gelegt. Sein Bestreben ist es, die Not¬ 
wendigkeit einer ungeheuer hohen Sonnen¬ 
atmosphäre,, wie man sie wohl häufig in der 
sogenannten Corona geglaubt hat vor sich 
zu sehen, ftir die Erklärung der von ihm na¬ 
mentlich beobachteten Protuberanzen als un¬ 
nötig nachzuweisen. 

Er zeigt, wie eine eruptive Protuberanz 
selbst in einem nur mit „Aethcr“ erfüllten 
Raume längere Zeit sichtbar bleiben kann, 
indem er zu diesem Zweck den Fall betrachtet, 
dass eine Wasserstoffkugel von 10 000 ® 
Wärme und einem Radius von 5800 km, wie 
sie der Grösse einer solchen Protuberanz ent¬ 
spricht, plötzlich in den leeren Raum versetzt 
würde. Eine solche Kugel würde sich näm¬ 
lich mit explosionsartiger Gewalt auszudehnen 
suchen, aber trotzdem würde es nach seinen 
Annahmen einer Zeit von 14 Minuten 41 Se¬ 
kunden bedürfen, bis die Ausdehnung das 
Zentrum ergriffen haben würde. Eine aus 
dem Innern der Sonne hervorgeschleuderte 
Protuberanz verhält sich einer solchen Kugel 
analog, da sie wegen der grossen Geschwin¬ 
digkeit des Aufstieges bis zum Erreichen der 
obersten Sonnenschichten keine Zeit findet 
sich auszudehnen. Beim Austritt aus der 
Sonnenatmosphäre in den nahezu leeren Raum 
würde dann aber die Auflösung der Protuber¬ 
anz erfolgen, bis selbst in ihrem Innern die 
Temperatur des Weltenraumes und der Druck 
Null eingetreten ist. Die zerstreuten Moleküle 
würden dann mit grosser Geschwindigkeit bis 
zu ungeheuren Höhen in den leeren Raum 
hinein getrieben; dort nur noch der Gravi¬ 
tation der Sonne ausgesetzt, würden sie 
schliesslich in grossen Strömen zu dieser zu¬ 
rück geführt. Fenyi sieht nun die gewöhnlich 


*) Astr. Nachr. No. 3335. 


als Atmosphäre aufgefasste Corona eben als 
das Konglomerat dieser zahllosen „Gasmeteore“ 
an. Die nieder sinkenden Ströme werden von 
ihm dann zur Erklärung der Sonnenfackeln 
benutzt, indem er meint, dass diese offenbar 
eine höhere Temperatur besitzenden helleren 
Stellen der Sonnenoberfläche durch das Zu¬ 
sammentreffen dieser mit der Geschwindigkeit 
des Aufstieges wieder an der Sonnenoberfläche 
ankommenden Gasmeteore erzeugt würden, 
da die Überführung dieser grossen Geschwin¬ 
digkeit in Wärme leicht die als Fackeln be¬ 
kannte Erscheinung hervorzurufen vermöge. 
Damit würden auch die bei diesen Erschein¬ 
ungen mehrfach beobachteten Verschiebungen 
der Spektrallinien und das schnelle Ver¬ 
schwinden dieser Verschiebungen im Einklänge 
stehen, da auf diese Weise die starken Be¬ 
wegungen in den die Fackeln bildenden Gas¬ 
massen zum Ausdruck gelangten. 

Eine Protuberanz, welche die grosse Ge¬ 
schwindigkeit von 858 km in der Sekunde in 
tangentieller Richtung zum Sonnenrande er¬ 
reicht hat, ist von Fenyi der 15. Juli 1895 
in ihrem ganzen Verlaufe beobachtet und im 



Sonnenprotuberanz v. 30. Sept. 1895. 
Beob. V. F. Fenyi, Kalosca. 


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Sonnenprotuberanz, beob. am.KenwoodjObservatorium_24. März 1894, auf photogr. Wege, 

Astr. Journ. von 1896 zugleich mit einer^,be¬ 
merkenswerten Protuberanz vom 30. September 
1895 beschrieben worden. Die letztere, welche 
sich um die kolossale Höhe von 65000 Meilen, 
also um etwa “/? des Halbmessers der Sonne 
über den Rand derselben erhob und dabei 
interessante Formveränderungen zeigte, ist in 
Fig. I in drei verschiedenen Stadien, nämlich 
um IO** o.”’’ um IO** 14™ und um 10** 46"* 

Mittlere Zeit Greenwich dargestellt. 

Eine zweite Protuberanz von charakterist¬ 
ischer Form stellt Fig. 2 dar. Sie wurde am 
24. März 1894 am Kenwood Observatory auf 
photographischem Wege beobachtet und fixiert. 

Die Figur ist ebenfalls dem Astrph. Journal 
von 1896 entnommen. 

Derselbe Jahrgang dieser für die Astro¬ 
physik so wichtigen Zeitschrift enthält auch 
die Ansichten vonSampson und Wilsing 
über die Rotation des Sonnenkörpers. 

Es ist seit Carringtons ausführlichen Be¬ 
obachtungen über die Veränderung der Örter 
der Sonnenflecke aus den Jahren 1853—1861, 
denen sich die Spörerschen Beobachtungen bis 
zum Jahre 1894 anschliessen, eine bekannte 
Thatsache, dass die Oberfläche der Sonne in 
verschiedenen Breiten eine verschiedene Ro¬ 
tationsdauer besitzt. Während sie in der 
Nahe desÄquators etwa =25.1 Tagen ist, be¬ 
trägt sie in 30® heliograph. Breite nach Spörer 
26.5 Tage. Diese Erscheinung erklärt sich 
nach den Ansichten Sampsons und Wilsings 
leicht, wenn man den gegenwärtigen Bewe¬ 
gungszustand als einen vorübergehenden an¬ 
sieht, welcher der augenblicklichen Entvvick- 
lungsphase der Sonne eigentümlich ist. 


Wilsing sagt: „Der Anblick der unregelmäs¬ 
sigen Gasnebel z. B. des Orionnrtels zeigt, 
dass die Materie in ihm sich weder im Zu¬ 
stand relativen Gleichgewichts noch absoluter 
Ruhe befindet. Ein weiter vorgeschrittenes 
Stadium der Entwicklung trifft man in den 
planetärischen Nebeln an, — welche durch 
ihre kugelförmige Gestalt ausgezeichnet sind; 
aber auch hier kommen weder Gleichgewichts¬ 
bedingungen noch Bewegungshindernisse in 
Frage. Die Fixsterne, zu denen unsere Sonne 
gehört, stellen eine noch spätere Enwicklungs- 
phase dar. Hier können wir annehmen, dass 
die Schichten gleicher Dichtigkeit im Innern 
die Körper mit den konzentrischen Flächen 
der Rotation übereinstimmen und dass radial 
gerichtete Strömungen zu verschwinden 
beginnen.“ 

Strömungen innerhalb der Schichten von 
gleicher Dichte können jedoch noch weiter 
fortbestehen, da solche Strömungen, wenn die 
Bewegung der Teilchen dieser Schichten 
bereits nahezu um eine gemeinsame Axe vor 
sich geht, nur durch die innere Reibung der 
Teilchen an einander zerstört werden können. 
Diese Ströme werden erst sehr langsam im 
Laufe der weiteren Entwicklung verschwinden, 
und erst hernach wird sich eine gleichförmige 
Rotation, wie sie ein starrer Körper besitzt, 
einstellen. Dass dieser Prozess wirklich sehr 
langsam vor sich geht, so langsam, dass solche 
Änderungen in den Oberflächenströmungen 
der Sonne für uns erst nach Millionen von 
Jahren merkbar werden würden, hat Wilsing 
in einer theoretischen Untersuchung dieses 
Punktes im Jahre 1891 nachgewiesen. Dieses 


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788 


Aubronn, Die Astronomie im Jahre 1896. 


Ergebnis findet dadurch, dass Sampson unab¬ 
hängig zu gleichen Schlüssen wie Wilsing 
kam, eine bedeutsame Bestätigung. 

Das Rotationsgesetz der Sonne, welches 
zuerst in den 60er Jahren von Carrington aus 
den Fleckenbeobachtungen abgeleitet worden 
ist, hat in neuerer Zeit durch die Beobachtung 
der mit den Flecken so eng zusammenhän¬ 
genden Sonnenfackeln mehrfache Bestätigung ; 
gefunden. Wolfer hat im vorigen Jahre in i 
dieser Hinsicht insofern einen interessanten , 
neuen Beitrag geliefert, als er die Rotations- [ 
zeit nicht, wie man es bisher that, aus der 1 
Wiederkehr eines und desselben Objektes i 
nach Ablauf einer Rotation ableitete, sondern 
seinen Rechnungen vielmehr die Beobacht¬ 
ungen ganzer Gebiete von Fackeln zu Grunde 
legte. 

Er hat nämlich in den Jahren 1887—89 j 

Fig. 


erst von einem eingehenderen Bericht zu 
erwarten. 

Eine weitere Frage hinsichtlich der Kon¬ 
stitution der Sonne ist die, ob wohl unter den 
Elementen, welche unseren Zentralkörper zu¬ 
sammensetzen, auch Sauerstoff in freier Form 
sich befinden möge. Bis jetzt ist es nicht 
gelungen, mit unzweifelhafter Gewissheit den¬ 
selben nachzuweisen. In neuester Zeit haben 
Runge und Paschen ‘) im Sauerstoffspek¬ 
trum drei dicht benachbarte Linien gefunden, 
welche sowohl ihrer Wellenlänge, als ihrer 
Intensität nach drei ähnlichen Linien im Son¬ 
nenspektrum entsprechen, wie dies aus der 
beistehenden Fig. 3 ersichtlich ist. 

Auch nach Mc. Cleans und den vor¬ 
läufig daraus abgeleiteten Resultaten, ist es 
wahrscheinlich, dass diese drei Linien nicht 
den sogenannten atmosphärischen Linien zuge- 

3 - 



zwei solche sich nahezu gegenüber liegende 
Fleckengebiete, Herde, wie er sie bezeichnet, 
deutlich bemerken können, deren Zentren 
südlich des Sonnenäquators lagen. Der 
von ihm auf diesem Wege gefundene Wert 
für die Rotationsdauer, welche also gegründet 
ist auf die Mittel der Bewegungen der ge¬ 
wiss im physischen Zusammenhang stehenden 
Einzelglieder grösserer Gebiete eruptiver. 
Thätigkeit der Sonne, stimmt aber mit den 
von Spörer und Faye gefundenen Werten 
recht gut überein. 

Ausser einer weiteren Untersuchung von 
Stratono ff in Pulkowa, ,,Über die Rotations¬ 
verhältnisse der Sonne auf Grund von Fackel¬ 
beobachtungen, *) findet sich in der letzten 
Augustnummer des Astroph. Journal noch eine 
Notiz, der zufolge Je well aus Messungen von 
Linien im Sonnenspektrum gefunden hat, dass 
die äusseren Schichten der Sonnenatmosphäre 
eine um etliche Tage kürzere Rotationszeit 
besitzen, als die tieferen; doch sind die Ein¬ 
zelheiten dieser Untersuchungen, die ein Urteil 
über die Genauigkeit derselben ermöglichen, 

*) Vierteljahrsschrifl der Naturforschenden Ge¬ 
sellschaft in Zürrich, No. XLI 1896. 

*) Astr. Nachr. No. 3344. 


hören, da ihre Intensität nicht vom Stande der 
Sonne abzuhängen scheint, wie das bei jenen 
der Fall ist. Immerhin bedarf es noch einer 
weiteren Untersuchung über den Ursprung 
dieser Linien, ehe ein sicherer Schluss hin¬ 
sichtlich des Vorkommens freien Sauerstoffs 
auf der Sonne gestattet sein wird. Es sei hier 
auch erwähnt, dass Hutchins und Trow- 
bridge, welche die Existenz von freiem Koh¬ 
lenstoff auf der Sonne nachgewiesen zu haben 
glauben, Sauerstoff dort nicht finden konnten. 
Auch die von Jansen in den letzten Jahren 
auf dem Mont Blanc aufgestellten Untersuch¬ 
ungen führen noch nicht zur vollen Gewiss¬ 
heit über diese Frage. *) 

Eine wichtige Arbeit aus dem Gebiete der 
Astrophysik muss im Anschluss hieran er¬ 
wähnt werden; das ist die Untersuchung, 
welchen Stoffen die einzelnen Linien des 
Sonnenspektrums angehören. Gegenüber der 


‘) Astroph. Journal 1896. 

*) Ausser in den Mem. de l’Acad. des sdences 
finden sich kürzere resümierende Aufsätze von 
Jansen über seine höchst interessanten Beobach¬ 
tungen auf dem Mont Blanc in den letzten Jahr¬ 
gängen des „Annuaire du Bureau de Longitude“, 
Paris. 


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Wischin, Die Naphta-Industrie der Halbinsel Apscheron. 


789 


Genauigkeit, mit welcher Angström, Müller 
und Kempf, sowie Rowland das Sonnenspek¬ 
trum dargestellt haben, sind die Spektra der 
Metalle verhältnismässig nur ungenau bekannt. 
Darin liegt der Grund, dass man bis in die 
Neuzeit nur eine relativ geringe Anzahl von 
Identifizierungen zwischen den Linien der 
Sonne und deneiv irdischer Stoffe hat vor¬ 
nehmen können. ' Rowland beschäftigt sich 
schon lange mit der Lösung dieser Frage. 
Er hat die Spektren aller bekannten Elemente, 
mit Ausnahme des Galliums, zugleich mit dem 
Sonnenspektrum photographiert und veröffent¬ 
licht im Astrophysical Journal seit 1895 zu¬ 
nächst seine Ausmessungen des vergleichen¬ 
den Sormenspekti-ums, denen sich die der 
Spektren der Elemente anschliessen werden. 
Doch werden wegen des ungeheuren Umfanges 
des vorliegenden Materials noch einige Jahre 
vergehen, bis diese Untersuchungen abge¬ 
schlossen sind. Erwähnt müssen hierbei die 
neuesten Publikationen Hasselbergs (Pulkowa) 
werden, welche eine detaillierte Darstellung 
der Spektren von Titan, Kobalt und Nickel 
enthalten, die sich seinen älteren Thalön’schen 
Untersuchungen über das Eisenspektrum würdig 
an die Seite stellen. 

sei an dieser Stelle noch auf die in 
den vorigen Jahren erschienenen Abhand¬ 
lungen von Kayser und Runge hingewiesen, 
welche sich ebenfalls besonders auf die Spek¬ 
tren verschiedener Metalle und dabei aber 
auch besonders auf das Spektrum des Kohlen¬ 
lichtbogens in der atmosphärischen Luft be¬ 
ziehen, da es durch eine genaue Feststellung 
dieses Spektrums erst möglich wird, diejenigen 
Linien anzugeben, welche den Metallspektren 
eigentümlich sind. Anschliessend an die 
Untersuchungen des Sonnenspektrums mag 
noch bemerkt werden, dass man auch versucht 
hat, den Feuchtigkeitsgehalt unserer Atmos¬ 
phäre auf Grund derjenigen Absorptions¬ 
linien zu bestimmen, welche durch den 
Durchgang des Lichtes, durch unsere Atmos¬ 
phäre erzeugt werden. Die Intensität dieser 
Linien und ihre Anzahl ist nämlich abhängig 
von dem jeweiligen Feuchtigkeitsgehalt der 
Luft. Th. Arendt*) und Jew eil ■*) haben 
unabhängig von einander auf Grund des 
Studiums dieser Linien die relative Feuchtig¬ 
keit zu bestimmen versucht. 

Es ist aus dem Vorigen ersichtlich, dass 
wir über die chemischen und physikalischen 
Verhältnisse der S(Äine noch nicht mit aller 
wünschenswerten Sicherheit unterrichtet sind, 
sondern das noch eine Reihe von Fragen un¬ 
gelöst bleibt und dass es infolge dessen höchst 
wünschenswert erscheint, wenn sich ein grös- 

•) Metrol. Zeitschrift 1896, S. 376. 

*) Astr. Journal, 1896. 


serer Kreis von Beobachtern einer möglichst 
regelmässigen, in manchen Fällen schon mit 
geringen Hilfsmitteln ausführbaren Aufzeich¬ 
nung der auf der Sonne vor sich gehenden 
Erscheinungen annimmt. Von Fachastro¬ 
nomen sind in den letzten Jahren dem 
Vorgänge der eifrigen Beobachter Carring¬ 
ton, Spörer, Rudof Wolf und Anderen 
die Asti'onomen Tacchini in Rom und 
Lewitzky in Dorpat gefolgt, welche auch 
im Vorjahre eine statistische Übersicht 
über die selbst in den Jahren der Sonnen- 
fleckenminirha nie ganz erlöschende Sonnen- 
thätigkeit gegeben haben. Nach Möglichkeit 
sucht man auch fernerhin die totalen Sonnen¬ 
finsternisse zu beobachten, da sich bei diesen 
Gelegenheiten die Erscheinungen der Protu¬ 
beranzen und der Corona besonders gut 
beobachten lassen. Die Expeditionen zur 
Beobachtung der vorjährigen Finsternis am 
8. August sind leider nicht vom Wetter be¬ 
günstigt gewesen.. Nur die russischen Expe¬ 
ditionen an der Westküste von Nowaja-Semlja, 
und am Amur haben das wichtige Ereignis mit 
einiger Vollständigkeit zu beobachten Gelegen¬ 
heit gehabt. — 


Die Naphta-Industrie. der Halbinsel 
Apscheron.^) 

Von Dr. Rud. Wischin (Baku). 

Gerade in den letzten Jahren haben sich 
unsere Parlamentarier und Sozialpolitiker viel 
mit dem Artikel Petroleum zu beschäftigen 
gehabt, wobei das Hauptbestreben darauf ge¬ 
richtet war, der Bevölkerung ein billiges Be¬ 
leuchtungsmaterial zu schaffen, ohne die wich¬ 
tige Einnahme, die dem Staate jährlich aus 
dem Petroleumzolle erwächst, zu schmälern. 

Deutschland erzeugt nur sehr geringe 
Mengen dieses flüssigen Leuchtstoffes und 
ist daher auf den Import angewiesen. Dieser 
wurde bis jetzt fast ausschliesslich von Amerika 
besorgt, welches aber damit gleichzeitig eine 
Art Monopolisierung des deutschen Petroleum¬ 
handels anstrebte. Zieht man die enorme 
Wichtigkeit eines billigen Petroleumpreises 
in volkswirtschaftlicher Hinsicht in Betracht, 
bedenkt man ferner, dass in Deutschland 
jährlich etwa 800 Millionen Kilogramm Pe-' 
troleum konsumiert werden, wobei der Staat 
rund 55 Millionen Mark jährliche Zollein¬ 
nahmen zu verzeichnen hat, so wird man die 
Wichtigkeit der Bestrebungen einsehen, die 
darauf gerichtet sind, einem amerikanischen 
Petroleummonopol in Deutschland die Spitze 

*) Apscheron ist eine Halbinsel an der West¬ 
küste des Kaspischen Meeres; in der Süd-Westecke 
liegt Baku. 


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790 


Wischin, Die Naphta-Industrie der Halbinsf.i. Apscheron. 



Bohrtürme. 


zu bieten. Hierfür giebt es zwei Wege: Ent¬ 
weder man erhöht den Zoll für raffiniertes 
Petroleum bedeutend, und setzt den Rohöl- 
zoll herab, so dass es lohnend wird, rohes 
Ol aus Amerika, dem Kaukasus und Galizien 
einzuführen und in Deutschland mit deutschem 
Kapital daraus Petroleum zu fabrizieren, oder 
man räumt der russischen und galizischen 
Industrie gewisse Begünstigungen ein, die es 
ermöglichen, auf dem deutschen Markte mit 
den Amerikanern zu konkurrieren. 

Leider herrscht in Deutschland ein un¬ 
erklärliches Vorurteil gegen das russische 
Petroleum, welches zwar in den letzten Jahren 
etwas abgenommen hat, aber noch lange nicht 
beseitigt ist. Die russische Naphtaindustrie 
steht auf dem Höhepunkte der modernen 
Technik und ist in dieser 'Beziehung der 
amerikanischen weit überlegen, weshalb es 
von Interesse sein wird, etwas über die Ge¬ 
winnung und Fabrikation der Naphta und 
ihrer Produkte auf der Halbinsel Apscheron 
im Kaspisee — dem Zentrum der russischen 
Petroleumindustrie — zu hören. 

Die Naphta wird auf Apscheron auf vier 
grossen Naphtafeldern gewonnen, die bei den 
Orten Balachani, Surachani, Romani und Bibi- 
Eybat etwa 10 — 15 Kilometer von der 
„Schwarzen Stadt“ (Baku), dem Fabriks¬ 
zentrum entfernt liegen. Die Gewinnung ge¬ 
schieht ausschliesslich durch Bohrung und 
niemals mehr durch Schachtbau. Die Bohrun¬ 
gen werden teils nach dem sogenannten Freifall¬ 
system, teils nach amerikanischer Art mittelst 
eines Manilaseils durchgeführt, wobei in bei¬ 
den Fällen das Niederstossen des Bohrloches 
in der Weise geschieht, dass ein schwerer 
Meissei durch eine geeignete Maschinerie 
abwechselnd gehoben und sodann vertikal 
fallen gelassen wird; gleichzeitig wird er bei 
jeder Tour um ein Stück gedreht, sodass 
bei seinem Eindringen in das Erdreich ein 
zylindrisches Loch geschlagen wird. Der 
Meissei befindet sich in einem hohen Holz¬ 
gerüst, dem Bohrturm aufgehängt. Die Bohr¬ 
ung wird meist mit einem Durchmesser von 
26 englischen Zoll begonnen, und bei zu¬ 
nehmender Tiefe stets vermindert, sodass 


der Enddurchmesser oft nur 10 Zoll beträgt. 
Wenn eine gewisse Tiefe erreicht ist, wird 
in das Bohrloch ein Eisenrohr eingeschoben, 
welches mit zunehmender Tiefe stets weiter 
nach unten geschoben und gleichzeitig oben 
angestückt wird. Man kann mit einem Rohre 
meist nur etwa 200 Fuss tief gehen, dann 
muss mit geringerem Meisseidurchmesser wei¬ 
ter gebohrt werden und naturgemäss auch die 
nächste Rohrtour dementsprechend enger sein. 
Auf diese Art wird oft bis zu einer Tiefe von 
1700 engl. Fuss gebohrt, bis das öllager 
angefahren wird. 

Das Öl fördert man entweder durch 
Schöpfen oder durch Pumpen, doch nicht 
selten ist Beides überflüssig, da die Naphta 
mit ungeheurer Gewalt aus der Tiefe empor¬ 
geschleudert wird. Solche Naphtafontainen 
treten besonders auf Apscheron häufig auf, 
und erreichen mitunter eine unglaubliche 
Mächtigkeit. Es giebt solche, die 100,000 
Doppelzentner und darüber täglich auswerfen 
und dabei Monate lang aushalten. Früher 
ging bei Ausbruch einer Naphtafontaine' stets 
der grösste Teil verloren, da man des aus- 
gebrochenen Strahles nicht Herr werden 
konnte und gezwungen war, die Naphta auf 
die umliegenden Ländereien oder in das 
Meer fliessen zu lassen, was nicht nur Ver¬ 
lust des Rohproduktes bedeutete, sondern für 
den Quellenbesitzer noch obendrein die sehr 
unangenehme Folge hatte, dass er oft sein 
ganzes Vermögen für Schadenersätze an seine 
Nachbaren bezahlen musste. Jetzt hilft man 
sich meist dadurch, dass man in einer ge¬ 
wissen Höhe des Bohrturmes eine starke 
gusseiserne Platte einsetzt, gegen die der 
Naphtastrahl schlägt und so am Aufsteigen 
verhindert wird. 

Bevor die Naphta aus der Tiefe hervor¬ 
bricht, strömen meist erst Gase unter ftlrch- 
! terlichem Getöse aus,, die Sand und Steine 
I mit emporreissen und oft über 100 Meter 
hoch in die Luft schleudern. Die Gewalt 
dieses aus der Tiefe emporsausenden Gerölles 
ist so bedeutend, dass der obere Teil des 
Bohrturmes in der Regel mit fortgerissen 
wird, Ja es kommt nicht selten vor, dass selbst 



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Wischin, Die Naphta-Industrie der Halbinsel Apscheron. 


791 


wenn das Naphta emporsteigt, und die oben 
erwähnte gusseiserne Platte zu früh eingesetzt 
wird, diese in wenigen Stunden durch die 
Gewalt des mitgerissenen Sandes durch- 
geschliffen ist. 

Vor mehreren Jahren brach auf dem Pe¬ 
troleumfelde in Bibi-Eybat eine der Firma 
Rothschild gehörige Fontaine aus, die auf 
eine Tagesproduktion von ca. 120,000 Doppel¬ 
zentner geschätzt wurde. Schon nach einigen 
Stunden, als man eben die gusseiserne Schutz¬ 
platte einsetzen wollte, geriet die Fontaine 
plötzlich in Brand und brannte zehn Tage 
und zehn Nächte fort, bis sie endlich von 
selber aufhörte. Die Flammensäule war gegen 
200 Meter hoch und das Geräusch der bren¬ 
nenden Naphta konnte auf 10 — 15 Kilometer 
gehört werden. In solchem Falle ist jede 
Löschaktion illusorisch, denn man kann wegen 
der herrschenden Glut absolut nicht beikom¬ 
men, ganz abgesehen davon, dass man den 
kräftigen Strahl überhaupt nicht drosseln 
könnte. Allerdings wurde vor einigen Jahren 
eine kleine Fontaine, die der Firma Nobel 
gehörte und in Brand geriet, in der Weise 
gelöscht, dass man in entsprechender Ent¬ 
fernung einen Ringwall um dieselbe anlegte, 
mit diesem durch Aufschütten von Erde dem 
Zentrum immer näher rückte und endlich den 
dadurch immer enger werdenden Kessel mit 
£rde verschüttete. Das war aber nur in An¬ 
betracht der geringen Mächtigkeit der Fontaine 


möglich. Die Rothschild’sche Fontaine suchte 
man auf folgende originelle Art zu löschen: 
„Es wurde in respektabler Entfernung ein 
hoher Wall aufgeworfen, um die Arbeiter 
vor der sengenden Glut zu schützen; mit 
diesem Walle rückte man so weit wie möglich 
vor, und nun versuchte man einen Schacht 
schräg nach abwärts gegen das Bohrloch 
niederzubringen. Man hoffte auf diese Art 
die Eisenröhren unter der Erde zu treffen, 
abzuschneiden und der Naphta die Möglich¬ 
keit zu geben, durch den schiefen Schacht zu 
entweichen, auf diese Art der ober Tages 
wütenden Flammen die Nahrung entziehend. 
Bevor jedoch der Schacht fertig war, hörte 
die Fontaine auf zu schlagen". 

Die Ursache dieses und vieler anderer 
Brände ist npch nicht aufgeklärt, scheint aber 
in elektrischen Erscheinungen zu liegen, die 
man schon oft bei Naphta beobachtet hat. 

Zur Aufbewahrung des Öls dienen grosse 
Erdbassins, aus denen die Naphta durch 
10 — 15 .Kilometer lange Rohrleitungen in die 
„Schwarze Stadt“ befördert wird, um hier in 
etwa 200 Fabriken auf Benzin, Petroleum, 
Schmieröle und'Masut (flüssiges Brennmaterial) 
verarbeitet zu werden. Zu diesem Zwecke 
destilliert man sie zuerst aus grossen schmiede¬ 
eisernen Destillierblasen mit freiem Feuer 


•) Erst in jüngster Zeit wurde wieder ein Brand 
von gewaltigem Umfang aus Baku gemeldet. 



Batterie von Destillirblasen. 


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792 


Mehler, Narkotisierung?-Statistik. 



Rothschild’sche Fontaine in BibUEybart in Brand. 


und gleichzeitigem Einblasen von überhitztem 
Wasserdampf ab, indem man die einzelnen 
Fraktionen getrennt auffängt, und auf diese 
Art Benzin, Gasolin, Petroleum und Solaröl 
erhält, wogegen das zurückbleibende dicke, 
braune Residuum entweder als Masut zu Heiz- 
zw,ccken, oder zur Verarbeitung auf Schmier¬ 
öle dient. In letzterem Falle wird es noch¬ 
mals aus separaten Destillierblasen destilliert, 
wobei aber ausser überhitztem Wasserdampf 
auch noch ein Vakuum in Anwendung kom¬ 
men muss, um eine Zersetzung der schweren 
Destillate möglichst zu umgehen. 

Die auf die eine oder andere Art ge¬ 
wonnenen Produkte werden — mit Ausnahme 
des Solaröls, welches meist zur Erzeugung 
von Leuchtgas dient, und das Masut — noch 
einer chemischen Reinigung unterworfen, in¬ 
dem man sie in geeigneten -Gefässen der 
Reihe nach mit konzentrierter Schwefelsäure, 
Natronlauge oder Kalkmilch und Wasser 
durchmischt. Alle verunreinigenden Bestand¬ 
teile werden bei dieser Prozedur entfernt und 
reine, fette Produkte erhalten. 

Der Versandt geschieht von der „Schwarzen 
Stadt“ aus entweder auf der transkaukasischen 
Bahn via Tiflis nach Basum, oder per Schiff 
nach Astrachan. In beiden Orten befinden 
sich kolossale Lagerräume, bezw. eiserne 
Reservoirs, in die das Petroleum gefüllt und 


sodann in die ganze Welt verschickt wird. 
Die Naphta-Industrie auf Apscheron ist in 
fortwährender Zunahme begriffen, wogegen 
die Ergiebigkeit der amerikanischen Naphta- 
felder permanent nachlässt. 

Aus folgender Zusammenstellung ist der 
Zuwachs der Naphtagewinnung zu ersehen. 


Es wurden gewonnen 
im Jahre: 

1832 . . 

1870 . . 

1880 . 

1885 . . 

1890 . 

1896 - . 


Tonnen ä 1000 kg 
. 2,466 

27,911 

409,698 
. 1,883,702 

. 3,914,820 

. 6,650.300. 


NarkotisierungS'Statistik. 

Von Dr. med. L. Mehler. 

Im 55. Band des Archives für klinische Cliirurgie 
veröffentlicht Prof. E. Gurlt in Berlin seinen VI. 
Bericht über die Narkotisierungs-Statistik, die den 
Zeitraum von 1895—1897 umfasst. Es dürfte viel¬ 
leicht am Platze sein, ;iuf die grosse Bedeutung 
dieser Statistik hinzuweisen. Bekanntlich hat man 
erst vor ca. 50 Jahren gelernt, Patienten bei Aus¬ 
führung einer Operation zu narkotisieren, d. h. so 
einzuschläfern, dass sie selbst gegen die heftigsten 
Schmerzerregungen unempfindlich wurden. Als Nar- 
kotisierungsmittel wurde zuerst in Amerika Äther 
angewandt, der später vom Chloroform ab^döst 
wurde. Dieses blieb bis in die neueste Zeit da» 
souveräne Narkotisierungsmittel, und erst in den 
letzten Jahren hat man versucht, den Äther wieder 
einzuführen. — Neben diesen hauptsächlichsten 
Mitteln giebt es noch eine Reihe anderer Narkosen¬ 
erreger, z. B. Bromaethyl und Pental oder Misch¬ 
ungen von Chloroform mit Äther und Alkohol (sog. 
Bilfrothsche Mischung). Der Grund, dass man naA 
einem Ersatz für das so vorzüglich und exakt 
wirkende Chloroform suchte, lag in seiner Giftwirk¬ 
ung. Abgesehen von der lästigen und manchmal 
besorgniserregenden AhrAwirkung der Narkose, 
treten häufig genug zu Anfang der Narkose gefahr¬ 
drohende Zufälle ein, die in den allermeisten Fällen 
gehoben werden, aber vereinzelt trotz aller ange¬ 
wandten Gegenmittel den Tod herbeiführen. Eine 
grosse Reihe dieser Chloroformtodesfälle sind aller¬ 
dings nicht auf Rechnung des Chloroforms zu setzen, 
oder wenigstens nicht ausschliesslich diesem zuzu¬ 
schreiben, sondern durch andere Ursachen zu er¬ 
klären. I Herzu gehören in erster Linie die Erkrank¬ 
ungen selbst, wegen deren operiert resp. narkoti¬ 
siert wird und die häufig den Körper des Patient«! 
bereits so geschwächt haben, dass selbst der ge¬ 
ringste Anlass den Tod verursacht. Ferner ist der 
Blutverlust, der während der Operation entsteh^ 
häufig ein nicht zu unterschätzendes schädigwdes 
Moment, ebenso der Shok, ‘) der bei allen Opera¬ 
tionen fast unvermeidlich ist. Ganz besonders ist 
noch auf bereits bestehende Herzerkrankungen oder 
sonstige schwere Zirkulationsstörungen hinzuweisen. 
Aber es giebt immer wieder Todesfälle während 
der Narkose, wo alle diese Schädigungen nicht be¬ 
standen haben, wo gesunde kräftige Menschen, 
nachdem sie kaum einige Gramm Chloroform ein¬ 
geatmet haben, häufig ehe die Operation angefan- 


■ ) I.fthmiinK der Herzlhatijrkeit verbunden mit Lähmung der 
Gefassnerven. 


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Betrachtungen und kleine Mitteilungen. 


793 


gen wurde, plötzlich verfallen und trotz aller er¬ 
denklichen Wiederbelebungsversuche starben. — 
Es ist nun das Verdienst von Gurlt, seit 
Jahren eine möglichst grosse Zahl von Narkosen 
statistisch zusammengestellt zu haben, um einmal 
die Gefährlichkeit der einzelnen Mittel untereinander 
zu vergleichen, dann aber die Todesfälle darauf zu 
prüfen, inwieweit sie dem Narkotisierungsmittel zur 
Last zu legen sind. Von geringerer allgemeiner Be¬ 
deutung ist dann noch der Vergleich der einzelnen 
Chloroformarten untereinander, der dabei benutzten 
Masken etc. Seit dem Jahre 1890 ist in sechs Be¬ 
richten das Gesamtmaterial von 330,429 Narkosen 
mit 136 Todesfällen mitgeteilt worden, das ergiebt 
eine Sterblichkeit von i: 2429. Das gefährlichste 
Narkotisierungsmittel ist das jetzt fast ganz ver¬ 
lassene Pental, das bei 631 Narkosen 3 Todesfälle 
hatte, eine Mortalität von 1:213. Dann folgt das 
Chloroform mit i: 2075, Billrothsche Mischung mit 
1:3370, Äther 1:5112, Bromaethyl 1:5396 und am 
günstigsten die ChToroform-Äthernarkose mit i: 7613. 
Dass manche von diesen 136 Todesfällen nicht 
der Narkose allein zur Last zu legen sind, ist be¬ 
reits oben gesagt worden, eine Reihe von Fällen 
bleiben aber immer noch übrig, wo der Tod auch 
durch die Sektion keine Aufklärung fand, wo also 
eine individuelle abnorm hohe Empfänglichkeit für 
die Giflwirkung des betäubenden Mittels angenom¬ 
men werden muss. — Jedenfalls ist man bemüht, 
durch sorgfältige Auswahl der zur Narkose be¬ 
stimmten Mittel, vorsichtige Dosierung (sog. Tropf¬ 
methode), energische Wiederbelebungsversuche bei 
den geringsten bedrohlichen Anzeichen u. s. w. dife 
Gefahr der Narkose auf ein Minimum herabzusetzen 
und es steht somit zu hoffen, dass die zukünftigen 
5 tatistiken eine verringerte Mortalität zeigen werden; 


Betrachtungen und kleine Mitteilungen. 


Die internationale Lepra-Konferenz in Berlin 
hat ihre Sitzungen beendigt und Folgendes als das 
Gesamtergebnis der Beratungen festgestellt; Der 
Krankheitserreger der Lepra ist der von Armauer 
Hansen entdeckte Bazillus Leprae, 
von Neisser eingehend studiert wurde. Er jst nur 
für den Menschen krankheitserregend, Tiere werden 
nicht vom Aussatz ergriffen. Die Art der Über¬ 
tragung, die Eingangspforten in den menschlichen 
Körper, sowie die Existenzbedingungen der Lepra¬ 
bazillen sind nicht bekannt. Jedoch steht fest, dass 
er besonders in dem Sekret aus Mund und Nase 
von Aussätzigen sich massenhaft findet. Sicher ist 
der Aussatz ansteckend und somit ist jeder Lepröse 
eine Gefahr für seine Umgebung. Insbesondere 
begünstigen schlechte hygienische Verhältnisse, so¬ 
wie längeres und inniges Zusammenleben mit dem 
Leprösen, diese Gefahr. Vererbung der Lepra ist 
unsicher. — Der Aussatz ist unheilbar; auch die 
Serumbehandlung hat dies nicht geändert. Bei der 
grossen Gefahr der Ansteckung, sowie der Unheil- 
barkeit des Aussatzes besteht als einziger Schutz 
die strengste Isolierung der Kranken. Die sofortige 
Isolierung ist das radilcalste und am sichersten wir¬ 
kende Mittel zur Unterdrückung der Lepra. Die 
staatlich durchgeführten, auf dem Grundsätze der 
Isolierung bestehenden Massnahmen in Norwegen, 
wo der Aussatz sehr häufig vorkam, zeigen die 
Richtigkeit dieses Verfahrens. — m. 


Die Steinkohlenerzetigung Japans. Die För¬ 
derung der Steinkohlen in Japan, welche 1875 erst 
560,000 Tonnen betrug, ist gegenwärtig auf mehr 


als 3 Millionen Tonnen gestiegen, von denen die 
Hälfte im Lande verbraucht, die andere Hälfte nach 
China (namentlich Hongkong und Schanghai), Sin¬ 
gapur und San Francisco in Kalifornien ausgeführt 
wird. Die Ausfuhrkohle stammt aus den Kohlen¬ 
lagern von Mike auf Kiuschiu und aus den Lagern 
von Hokkaido. Hongkong führt allein 600,000 Ton¬ 
nen j^apanische Kohle jämlich ein, die für Dampf¬ 
schiffe und in den Fabriken verbraucht wird. In 
San Francisco benutzt man die japanische Kohle 
zur Gasbereitung. Die Einfuhr japanischer Kohle 
nach Kalifornien ist noch im Steigen, trotzdem die 
Frachten hoch zu stehen kommen und Rückfracht 
für Japan in San Francisco nicht zu haben ist. 

Globus, 16. Okt. 1697. 


Gährungs-Kohlensäurd. Die „Chem.-Ztg.“ bringt 
eine kurze Mitteilung aus Stockholm über die v aeuum- 
gährung in der Bierbrauerei. Die Gährung geschieht 
im Vaeuum mit kontinuierlicher Zufuhr kleiner Luft¬ 
quantitäten, wodurch die Gährung schon in 7 Tagen 
beendigt wird und die Nachgährung wegfällt. Die 
entwickelte Kohlensäure wird aufgesammelt, kom¬ 
primiert und dem Bier künstlich zugegeben. Der 
ganze Prozess, um fertiges Bier zu erzeugen, nimmt 
nur 12 Tage (gegen 4 Monate bei gewöhnlichem 
Verfahren) in Anspruch. Das Verfahren ist schon 
seit einiger Zeit in Nordamerika praktisch ausge¬ 
führt und die angeblich erste Brauerei in Europa 
nach dieser Methode wird jetzt in Helsingborg von 
E. Dölling gebaut. 


X * Zur Erforschung der Korallen-Inseln, deren 
Entstehung eine der wichtigsten Fragen der Geo¬ 
graphie und Geologie is^ hatte die Geographische 
Gesellschaft von Australien eine Expedition unter 
Leitung von Professor David aus Sidney nach 
dem Korallenatoll Funafati der Ellice-Gruppe ge¬ 
sandt, die inzwischen ihre Arbeiten beendet hat. 
Nach den bisherigen Mitteilungen darüber sind die 
vorgenommenen Tiefbohrungen, für welche eine 
besondere, 500 Zentner schwere, vorzügliche Bohr¬ 
maschine mit Diamantbohrer zur Verfügung stand, 
von Erfolg begleitet gewesen. Der Bohrer drang 
5^7 Fuss (170 Meter) tief in die Koralle ein, ohne 
eine Grundlage aus anderem Gestein zu erreichen. 
Wenn eine endgültige Beurteilung des Resultats 
auch von der mikroskopischen Untersuchung des 
Bohrkerns, der zur Hälfte der Königlichen Gesell¬ 
schaft in London und der Geographischen Gesell¬ 
schaft in Australien zur Verfügung gestellt wird, 
abhängen muss, so scheint der Befund doch jeden¬ 
falls eine vollkommene Bestätigung der Theorie 
Darwins Ober die Entstehung der Koralleninseln 
beizubringen. Bekanntlich stellte Darwin nach seiner 
berühmten Reise um die Erde die Theorie auf, dass 
die Korallen sich zunächst an seichten Stellen an¬ 
siedeln, während dann der Boden sich unter ihnen 
senkt, werden die neuen Generationen gezwungen, 
um im warmen und klaren Wasser zu bleiben, auf 
den oberen Rändern des Korallenriffes weiter zu 
bauen. Darwins Theorie hat in neuerer Zeit 
verschiedene Gegner gefunden, welche an die Stelle 
der Senkung andere Erklärungen setzten, so Dana, 
Semper, Rein u. a. 


Sein 5ojähriges Bestehen feierte das Königlich 
Preussische meteorologische Institut am 17. Ok¬ 
tober. Das auf die Anregung von Alexander 
von Humboldt 1847 als eine Abteilung des könig¬ 
lich statistischen Bureaus ins Leben gerufene Institut 
gelangte früh zu grossem wissenschaftlichem An- 


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794 


Betrachtungen und kleine Mitteilungen. 


sehen, als Heinrich Wilhelm Dove (der erste 
Direktor war Mahlmann) Direktor war. Man er¬ 
kannte aber bald, dass das, was man bis dahin 
Meteorologie genannt hatte, eigentlich Klimatologie 
war, und dass, um einen Einblick in die Witterungs¬ 
verhältnisse selbst zu erhalten, die bisher ange¬ 
wandte statistische Behandlungsweise neuen Me¬ 
thoden Platz machen müsste. Aber erst nach den 
Erfolgen des Krieges mit Frankreich, nachdem im 
Anschluss an die kaiserliche Marine die deutsche 
Sternwarte in Hamburg gegründet worden war, 
wurde auf deren Anregung wie in anderen deutschen 
Staaten, so auch in Preussen die Reorganisation 
des meteorologischen Instituts 1885 in Angriff ge¬ 
nommen. Das wissenschaftliche Personal, das bis 
dahin nur aus dem Direktor und einem Assistenten 
bestanden hatte, wurde beträchtlich vergrössert, 
die Ansprüche an die Genauigkeit der Beobacht¬ 
ungen stiegen, die Stationen wurden bedeutend ver¬ 
mehrt und gegenwärtig hat das Institut in Nord¬ 
deutschland 138 Stationen höherer Ordnung, 1336 
Gewitterstationen und 1844 Niederschlagsstationen 
in Thätigkeit, von denen die letzteren besondere 
Bedeutung für die Bekämpfung der Überschwem¬ 
mungsgefahr und andere wasserbautechnische Mass¬ 
nahmen haben. Die Bearbeitung dieses Materials 
liegt dem Zentralinstitut zu Berlin ob, das ausser¬ 
dem auch Lehrzwecke verfolgt, während das 
meteorologische und magnetische Observatorium 
zu Potsdam hauptsächlich experimentellen und 
Forschungszwecken dienen. In Verbindung mit dem 
astrophysikalischen Observatorium und dem geo¬ 
dätischen Institut, die auf dem gleichen Gelände 
liegen, stellen sie gewissermassen einen Mikrokosmos 
dar, indem jedes dieser Institute' von einer Linie, 
die sich vom Erdmittelpunkt bis zu den Gestirnen 
erstreckt, einen bestimmten Teil als Forschungs¬ 
gebiet in Anspruch nehmen kann. 


Sprechsaal. 

Auf unsere Bitte um Angabe weiterer Inter¬ 
essenten für die „Umsrhau* sind uns von so vielen 
unserer geehrten Abonnenten Adressen mitgeteilt 
worden, dass es uns unmöglich ist, jedem einzelnen 
Einsender persönlich zu danken. Wir erlauben uns 
unsem Dank daher auf diesem Wege allen, die 
uns ihr freundliches Interesse für die Umschau so 
zu erkennen gegeben, auszudrücken. Auch ferner¬ 
hin sind uns Adressen von Interessenten ftlr die 
„Umschau“ stets willkommen. 

Die Redaktion. 

Herrn E. H. in W. Die Adresse der Deutschen 
Genossenschaft dramatischer Autoren und Kom¬ 
ponisten ist Leipzig, Nürnbergerstr. 47. Verleger für 
Bohnenwerke sind Georg Bondy, Berlin, S. Fischers 
Verlag, Berlin, W. 35, Köthenerstr. 44, Ed. Bloch, 
Berlin C. 2, BrOderstr. 2, eine Reihe weiterer 
Firmen finden Sie im Anhang von Kürschners 
Deutsch. Litteratur-Kalender. 

Herrn Dr. J. M. in R. Wir empfehlen Ihnen 
„Köhlers nützliche Vogelarten“ und „Köhlers 
schädliche Vogelarten“ (Verlag von Fr. Eugen 
Köhler in Gera-Untermhausl. Diese Vogelbücner 
sind bereits von allen Seiten in gebührender 
Weise ausgezeichnet worden (Empfehlungen von 
'Regierungen, Behörden, Vereinen u. s. w., prämiiert 
in Triest, Crefeld, Hannover, Düsseldorf), und es 
ist in der Vogellitteratur für einen solchen billigen 
Preis^isher etwas Ähnliches nicht geboten worden. 
(Einzelpreis per Stück M. 2.—, bei ao Exemplaren 
M. 1.50.) Die zahlreichen Chromo-Abbildungen (25 


Tafeln mit 48 Vogelarten und ihren Eiern in den 
nützlichen, 24 Tafeln mit 35 Vogelarten in den 
schädlichen Vögeln) sind wirklich mustergiltig. Der 
Text ist leicht verständlich und klar und bringt in 
lobenswerter Kürze und Schärfe eine Kennzeich¬ 
nung der abgebildeten Arten (Aussehen, Lebens¬ 
weise, Vorkommen, Nester u. s. w.). Bei jeder Art 
ist die Familie, zu der sie gehört, genannt und in 
jedem Buch findet sich eine kurze Übersicht und 
Beschreibung der einzelnen Vogelfamilien. Die 
Bücher sind besonders dazu berufen, bei unserer 
Jugend Liebe und Verständnis für die munteren 
Sänger zu erwecken und eignen sich daher ausser¬ 
ordentlich zu Festgeschenken, Prämien und Preisen 
bei festlichen Veranstaltungen der Schulen u. dgl. 
Für die Vortrefilichkeit dieses äusserst geschmaclc- 
voU ausgestatteten Werkchens spricht ja allein schon 
seine riesenhafte Verbreitung in bisher 21,000 Exem¬ 
plaren, worüber die Verlagsbuchhandlung genaue 
Ausweise versendet. f. r. 

Herrn N. in G. Eine Botanik, welche „ein neues, 
wissenschaftlich begründetes System" einführt, ist 
in der letzten Zeit nicht erschienen und wird meines 
Erachtens auch nicht erscheinen. Allen neuen, sys¬ 
tematischen Werken ist bekanntlich .das natth'liche 
System" zu Grunde gelegt, das nun weiter ausge¬ 
baut werden muss. So ist in dem Lehrbuch der 
Botanik für Hochschulen (von Strassburger, 
Noll, Schenk und Schimper, Verlag von 
Fischer in Jena 1895', welches die Morphologie^ 
Physiologie und Systematik der Pflanzen enthält 
das von Alex. Braun aufgestellte, von Eichler u. A. 
weiter ausgebildete, natürliche System verwendet 
worden. — Ein sehr gutes neueres Werk, das aber 
bereits einige Vorkenntnisse voraussetzt, um in 
allen Teilen verstanden zu werden, ist „E.Warming. 
Handbuch der System. Botanik"; — ferner ist fm- 
den Selbstunterricht anzuführen: „K. Schumann 
1 nd E. Gilg. Das Pflanzenreich, Hausschatz des 
Wissens. Abt. V. (Verlag _von Neumann in Neu¬ 
damm) 8‘. 863 S. 6 Taf. — Eine System. Botanik, 
welche die in den letzten Jahren insbesondere auf 
dem Gebiete der niederen Pflanzen gewonnenen 
Erfahrungen und notwendig gewordenen Neuerun¬ 
gen enthalten wir^ dürfte in ungefähr zwei Jahren 
von Prof. Dr. R. R. v. Wettstein herausgegebert 
werden. n. 

Herrn M. P. in B. Da Sie auch Farbendrucke 
sammeln, so machen wir Sie auf die Publikationen 
von Julius Schmidt in Florenz aufmerksam, 
welcher Verlag besonders den Farbenholzschnitt 
pflegt und bereits eine Anzahl trefflicher mehr¬ 
farbiger Reproduktionen nach Fra Angelico n. a. 
herausgegeben hat. Neuerdings sind chromotypische 
Nachbildungen der lo Wickelkinder - Medaillons 
Andrea della Robbias erschienen, die vorzüglich 
gelungen sind. Die Terracotta-Medaillons der Wickel¬ 
kinder dürften Ihnen aus Florenz bekannt sein. Die¬ 
selben befinden sich in den Zwickeln der Rund¬ 
bogen der Fa^ade des Findelhauses, das im Jahre 
1421 nach den Plänen Brunnelleschis erbaut wurde. 


No. 45 der Umsebaa wird enthalten; 

Ambronn, Die Astronoruie im Jahre 1696 11 . — Die Glasuren 
von Pagan. — HofTmann, KfinstHche RieebstofTe. — Die bakte¬ 
riologische Klärung der Abwftaacr. 


G. HM-atmaBD'a Druckerei. Frankfurt a. M. 


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DIE UMSCHAU 

ÜBERSICHT ÜBER DIE FORTSCHRITTE ÜND BEWEGÜNGEN AÜF 
DEM GESAMTGEBIET DER WISSENSCHAFT, tECHNIK, 
LITTERATUR ÜND KUNST 


Zu beziehen durch, 
alle Buchhandlungen und 
Postanstaltcn. 
cstzeitungspreislistc No. 7aai a. 

Verlag von: 

H. Bechhold Verlag, Frankfurt a. M. 


hernusgegeben von 

DR. J. H. BECHHOr D. 


Neue Rr&me 1931. 


Preis vierteljährlich 
M a.sa 

Jahres-Abonnement 
Preis M. 10.-- 
Im Ausland nach Cours. 
Verantwortlicher Redakteur; 

Otto Adolf Wolters, Frankfurt a. M. 


JVß 45. I. Jahrg. 

d»r RtdakHon vfrboitn. 1897. 6. November. 


Die Glasuren von Pagan. 

Ein ungenannter Gönner hat den königl. 
Museen zu Berlin eine Reihe von Altertümern 
aus AlUBinua überwiesen. Dieselben werden 
zusammengestellt, bearbeitet und was von 
Interesse ist, publiziert. — Soeben erschien 
die erste Reihe dieser Bearbeitungen ') von 
Prof. Dr. Gruenwedel, unter denen be¬ 
sonders die Glasuren von dem Mangalatscheti 
genannten Tempel in Pagan hei vorragendes 
Interesse beanspruchen. Dieser Tempel ist 
von dem unter dem Namen des »Flüchtlings 
vor den Chinesen“ in der Geschichte weiter 
lebenden Könige (1248—1279 n. Chr.) erbaut 
worden. Er muss nach den Berichten von 
Marco-Polo ganz grossartig ausgestattet ge¬ 
wesen sein, sodass man im Volke sprich¬ 
wörtlich sagte: »Die Pagode ist fertig und 
das Land ruiniert“. Als das Reich kurz 
darauf erobert wurde, wurden die Reichtümer 
wohl geplündert, trotz aller Verehrung, die 
der Mongolenchan vor dem Heiligtum gehabt 
haben soll. — Der Tempel bildet eine glocken¬ 
förmige Pagode mit quadratischem Unterbau, 
welcher aus 3 Terrassen besteht.(Fig. i). In die 
äusseren Seitenwände dieser Terrassen waren 
die Glasuren, um die es sich hier handelt, 
eingelassen. (Fig. 2) Es sind schwach gebrannte 
Ziegel, mit Reliefdarstellungen, die mit einer, 
jetzt meist blau-grün erscheinenden dicken 
Glasur überzogen sind. Die Platten haben 
die Grösse 33x40 cm oder 27X32 cm. Leider 
kamen sie — über Hundert total zerstört in 
Berlin an und es machte die grösste Mühe, 
aus diesen Trümmern die Platten zu rekon¬ 
struieren. Nun, nachdem dies gelungen, er- 

') Veröffentlichungen aus dem königl. Museum 
für Völkerkunde 5. Bd. Buddhistische Studien von 
Albert Gruenwedel (1897). Mit 97 Abbildungen, 136 
Seiten. Preis M. 24.-. (Verlag der Geograph. Ver¬ 
lagshandlung Dietrich Reimer (Ernst Vohsen) in Berlin. 
Nachstehende Abbildungen entstammen diesemWerk. 

Umschau 1897. 


weisen sie sich als bildliche Darstellungen der 
DschotakasI' d. h. jener 550 Legenden aus 
Buddhas früheren Gehurten. Jedes Relief 
enthält ausserdem eine Zuschrift mit dem 
Titel der betr. Legende; danach die Ausgabe in 
welcher Gestalt (als Mensch oder Tier) Buddha 
damals auf Erden weilte (dies in birmanischer 
Sprache), zum Schluss' die Nummer der Er¬ 
zählung in birmanischen Ziffern. — Der Name 
und die Zahl der Legende stimmte in den 
meisten Fällen durchaus mit dem alten Pali¬ 
texte überein; es stellt sich somit die hirma' 
nische Veberlieferung als sehr gut heraus. 

„Was die Darstellungen betrifft, sagt Prof. 
Gruenwedel, so gehören jene Legenden zu 
den ältesten Stoffen, die in Indien dargestcllt 
werden und welche heute noch zu den be¬ 
liebtesten Vorlagen für Skulptur und Malerei 
dienen. Während jedoch die ältesten Dar¬ 
stellungen, besonders die zu Barahat, sich 
dadurch auszeichnen, dass jede individuell 
und naiv aufgebaut ist, zeigen die ganz jungen 
Reliefs von Pagan einen trostlosen Schema¬ 
tismus, sowohl mit Bezug auf die Gesamtkompo¬ 
sition, wie auch auf die einzelnen Figuren. 
Ausser dem Typus (Fig. 4) einer sitzenden, 
mit der Hand agirenden, also sprechend ge¬ 
dachten Gestalt (A) einer anbetenden Figur 
(B) eines halb nach vorn gedreht stehenden, 
der meist die Hand nach unten hält, manch¬ 
mal auch wie A hebt (G), einer schwebenden 
Figur D („deus ex machina“) und dem medi¬ 
tierenden („Buddha“) Typus hat der Bildner 
der Reliefs sehr wenig Formen zu verwenden. 
Die fünf Figuren sind abgedroschene statu¬ 
arische Typen, die der ganzen buddhistischen 
Plastik der späteren Zeit (aber auch der brah- 
manischen) geläufig sind und welche bis zur 
Ermüdung immer wiederholt werden. 

Wo der handwerksmässige Bildner der 
Platten (oder seine Genossen) etwas selbst¬ 
ständiger auftritt, hat er entschieden f’n- 
glück und verfällt dabei in Formen, welche 

45 


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796 


Die Glasuren von Pagan. 



Fig. I. Der Mangalatscheti-Tempel zu Pagan. 

Nach einer Photographie. Wiedergegeben von Noeüing in der „Zeitschr. f. Ethnologie“ 1895, S. 233. 


auf gemalte Vorlagen Hinweisen. Besser ist 
die Tierwelt dargestellt, am besten wohl der 
Büffel. Eine ganze Reihe wunderlicher Miss¬ 
verständnisse, welche wohl durch sklavisches 
Nachkopieren der gezeichneten Vorlagen seitens 
des Modelleurs entstanden sind, begegnen 
einem, sie sind höchst charakteristisch für 
die gedankenlose Mache überhaupt: ähnliches 
begegnet in den Inschriften. — Die ganzen 
Darstellungen sind kaum mehr als abgekürzte 
Inhaltsangaben in Figuren, die beinahe den 
Wert von Hieroglyphen haben. Am meisten 
Ähnlichkeit haben die Glasuren mit den be¬ 
kannten abgekürzten Darstellungen des In¬ 
halts der einzelnen Gesänge der Ilias, der 
.sogen, „tabula lliaca". Nach der Einleitung, 
deren wesentlichen Inhalt wir in obigem wieder- 
gegenben haben, folgt in der beiläufig bemerkt 
brillant ausgestatteten Publikation die Beschrei¬ 
bung der Platten, welche von besonderem 
Interesssesind. JederPlatte ist eine schematische 
Zeichnung (Fig. 5 u. 6) beigefügt und die betref¬ 
fende Legende wird wiedergegeben, um alles 
bemerkenswerte leicht ersichtlich zu machen. 

Vielen unserer Leser w'ird es willkommen 
sein, eine Probe dieser Legenden kennen 
zu lernen, ln der Publikation sind 55 wieder¬ 
gegeben, eine hübscher als die andere. 


Illisadschätaka 

Ein geiziger reicher Kaufmannn sieht 
einen Burschen, welcher einen Reiskuchen 
verzehrt. Er möchte gerne einen solchen 
Kuchen — aber dabei gehen soviel Körner 
darauf, — auch fürchtet er, dabei Jemand zu 
Gast laden zu müssen. Endlich setzt er es 
durch, dass seine Frau in der siebenten 
Terrasse seines Palastes bei verschlossenen 
Thüren „nicht für den ganzen Ort“, wie die 
Frau vorgeschlagen hat, „auch nicht für eine 
Strasse“, „auch nicht für seine Sippe, seine 
Kinder, noch für seine Frau“, sondern nur 
für ihn einen Kuchen backen will. Moggal- 
läna kommt auf Geheiss Gautama’s von 
Dschetavana durch die Luft in die Stadt des 
Geizhalses und erscheint am Fenster. Um 
den Bettler, der ihn erschreckt, los zu werden, 
lässt der Geizhals für ihn einen kleinen Kuchen 
backen, aber der Kuchen wird ungeheuer 
gross und alle anderen Kuchen bleiben daran 
hängen; w'eder die Frau des Geizhalses noch 
er selbst können sie los machen. Moggalläna 
bringt die beiden durch die Luft nach Dsche¬ 
tavana, wo sie den Buddha und seine Ge¬ 
meinde bewirten. Auch da bleiben noch 
Kuchen über, welche auf Buddha’s Geheiss 
in eine Höhle geworfen werden, die seit der 


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Die Glasuren von Pagan. 


797 


Zeit Kapallapüva heisst. Moggalläna hat aber 
auch in früherer Zeit den Geizhals bekehrt. 

Nun wird dieselbe Geschichte erzählt, nur 
war der verlockende Anblick für den Geiz¬ 
hals ein Mann, der Branntwein trank und 
einen stinkenden Fisch ass. In ein Gebüsch 
versteckt, geniesst Illlsa — diesen Namen 
führte der reiche, übrigens missgestaltete 
Mann in jener Existenz — Branntwein und 
Fisch. Sakka, Illisa’s Vater, geht, um seinen 
Sohn zu strafen, in seiner Gestalt, bucklig, 
lahm und einäugig, in dessen Maus, wo ihn 
seine Familie als echten Illisa anerkennt. Mit 
Erlaubnis des Königs und unter Beistimmung 
seiner Familie verschenkt der falsche Illisa 
das ungeheure Vermögen des echten. Ein 
Mann, der einen Wagen geschenkt erhalten 
hat, singt an dem Gebüsch, wo der echte 
Illisa Schnaps trinkt, vorüberfahrend, dessen 
Lob. Entsetzt erkennt der Geizhals seinen 
Wagen; als er Einspruch erhebt, erhält er 
furchtbare Prügel und noch mehr, als er nach 
Hause eilt und sieht, wie sein Eigentum ver¬ 
schenkt wird. Er kommt mit Sakka, dem 
falschen Illisa, vor den König; Niemand ver¬ 
mag die Beiden zu unterscheiden, so ähnlich 
sind sie. Selbst der Barbier Illisa’s, welcher 
weiss, dass der echte Illisa eine Warze unter 
dem Haare hat, wird irre, als beide an der¬ 
selben Stelle die Warze haben. Da giebt 
sich Sakka zu erkennen und erteilt seinem 


Sohne eine derbe Zurechtweisung, bevor er 
in den Himmel zurückkehrt. 

Die Darstellung (Fig. 5) zeigt einen König 
auf einem bedeckten Throne sitzend, in der 
Brechenden Pose unserer Glasuren (A); vor 
ihm mit einer einfachen Krone, einem Brust¬ 
gehänge, den einen der beiden Illisa’s, hinter 
ihm in Adorantenposition (B) der Barbier, 
durch den Schirm bezeichnet als Bodhisatva. 
Hinter diesen drei Figuren heraneilend, mit 
lebhaft erhobener Rechten und wehendendem 
Oberkleide, der zweite — echte Illlsa, in 
gleichem Schmuck wie der vor dem König 
knieende, in welchem Sakka zu erkennen sein 
dürfte. Von der im Text erwähnten hässlichen 
Gestalt der beiden Illisa’s — einäugig, bucklig 
und lahm sollen sie sein — ist auf der Ab¬ 
bildung nichts zu sehen. 

Die Inschrift lautet: „Illisadsat. . . ts’it- 
ts’a-safi (abgekürzt) p’yac-i 18." Das Illisa- 
dschätaka; er (der Bodhisatva) war wiederge¬ 
boren als Barbier. 


Katthahäridschätaka. 

„Ich bin dein Sohn, o Grosskönig." Dies 
sprach der Meister, zu Dschetavana weilend, 
in Bezug auf den -Vorgang mit der Vasab- 
hakhattiyä. Die Geschichte wird im Bhad- 
dasäladschätaka im zwölften Buche Vorkom¬ 
men. Die Genannte, eine Tochter des Sakka 
Mahänäman, war, im Schoss der Dienerin 



Fig. 2. Unterste Terrasse des Mangalatscheti-Tempels. 

Die Nischen zeigen noch die Platten mit den Dschätaka Darstellungen. 


45’ 


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790 


Die Glasuren von Pagan. 



Fig. 3. Das Mittavindakadschfttaka nach den Glasuren des MangalatschetFTempels zu Pagan. 

(Nach einer Natiiraufnaliniej. 


Nägamundä wiedergeboren, die erste Gemahlin 
des Kosalakönigs geworden. Sie gebar dem 
König einen Sohn. Als der König spater I 
erfuhr, dass sie aus dem dienenden Stande [ 
war, vermied er den Verkehr mit ihr und ver* ! 
mied auch ihren Sohn Vidüdabha. Beide 
blieben im Inneren des Palastes wohnen. Als | 
der Meister den Vorgang erfuhr, ging er am 
Morgen, umgeben von fünfhundert Mönchen, 
in den Palast des Königs, setzte sich auf den 
ihm gebotenen Sitz nieder und frug: „O Gross¬ 
könig, wessen Tochter ist Vasabhakhatti^'ä?" 
„Des Mahänäman, Ehrwürdiger.“ „Und als 
sie kam, zu wem kam sie da?“ „Zu mir. 
Ehrwürdiger!" „O Grosskönig, so ist sie, die 
Tochter eines Königs zu einem König ge¬ 
kommen, sie ist durch einen König Mutter 
eines Sohnes geworden und dieser Sohn ist 
nicht der Herr des Reiches, das seinem Vater 
gehört? In alten Zeiten haben die Könige, 



lypische Figuren der Dsciiiitnka-D.irstflhingru. 


wenn sie von einem zufällig getroffenen Mäd¬ 
chen, das Holz im Walde sammelte, einen 
Sohn bekamen, dem Sohne das Erbreich 
nicht versagt.“ Da der König den Vorgang 
nicht kannte, bat er Bhagavän um die Er¬ 
zählung. Der Herr erzählte das Ereignis, 
welches unbekannt war, da es in einer anderen 
Existenz geschehen war. 

In der alten Zeit ging König Brahmadatta 
mit grossem Gepränge in den Wald, und 
während*^ er Blumen und Früchte suchend hcr- 



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Kalt-Reüleaux, Die Entwickelung des Gold- und Silberpreises. 


799 


^ Q 



OQQOQOOOPIffiMpQQgQOOQgQQ j 


Flg. 6. lilisadschätaka. 

umging, sah er ein Mädchen, das im Walde 
immerfort singend Brennholz sammelte, ver¬ 
liebte sich und genoss ihre Liebe. In diesem 
Moment nahm der Bodhisatva Wohnung in 
ihrem Leibe. Da war ihr Leib schwer wie 
mit Donnersteinen gefüllt. Als sie daran er¬ 
kannte, dass sie schwanger sei, sprach sie: 
„O König, ich habe empfangen.“ Da gab 
ihr der König einen Ring und sagte zu ihr: 
„Wenn es ein Mädchen wird, so gieb den 
Ring hin und ernähre das Kind damit, ist es 
aber ein Knabe, so schicke ihn mit dem Ringe 
zu mir. Darauf ging er. Als nun das Kind reif 
war, gebar sie den Bodhisatva. Als er nun auf¬ 
gezogen war, und schon gehen konnte, riefen 
einmal, als er im Kreise seiner Gespielen 
war, einige: „Der Knabe ohne Vater hat uns 
geschlagen.“ Als nun dies der Bodhisatva 
hörte, lief er zu seiner Mutier und frug sie: 
„Wer ist mein Väter?“ „Mein König, du 
bist der Sohn des Königs von Bäränasi.“ 
„Meine Mutter ist ein Beweis dafür da?“ 
„Mein Sohn, der König gab mir einen Ring 
mit den Worten: „Wenn es ein Mädchen ist, 
so verkaufe den Ring und erziehe das Mäd¬ 
chen, wenn es aber ein Knabe, so bringe ihn 
mit dem Ringe zu mir.“ „O Mutter, wenn 
dies so ist, warum führst du mich nicht zum 
König?“ Als die Mutter den festen Entschluss 
des Knaben sah, ging sie zum Palast und 
Hess sich dem König melden; nachdem sie 
vom Könige vorgelassen worden, trat sie ein, 
verneigte sich vor ihm und sprach: „O König, 
dies ist dein Sohn.“ Obwohl der König ihn 
nun erkannte, sagte er doch aus Verlegenheit | 
inmitten seiner Hofgesellschaft: „Das ist nicht, j 
mein Sohn.“ „Hier ist dein Siegelring, 
o König, diesen wirst du doch wieder er- , 
kennen." „Auch dieser Ring gehört mir nicht." ' 
„O König, ausser diesem habe ich keinen j 


Beweis, wenn nun der Knabe dein Kind ist, 
so wird er in der Luft stehen können, wenn 
nicht, so mag er sterben." Dabei fasste sie 
den Bodhisatva am Fusse und warf ihn in 
die Luft. Der Bodhisatva setzte sich mit 
gekreuzten Beinen in der Luft nieder und 
seinem Vater mit volltönender Stimme die 
Wahrheit verkündend, sprach er: 

,,Dein Sohn bin ich, o Grosskönig, erhalte 
du mich, Beherrscher der Menschheit, die 
anderen Menschen erhält doch der göttliche 
Herrscher, jeder Herr die, welche ihm ent¬ 
sprossen sind." 

Als der König den Bodhisatva, während 
derselbe in der Luft sass, die Wahrheit ver¬ 
künden hörte, streckte er ihm die Hand ent¬ 
gegen: „Komm, mein Kind, ich will dich ja 
auch schützen, ich will es ja auch." Und 
tausend Hände streckten sich ihm entgegen. 
Der Bodhisatva kam aber in keines an¬ 
deren Arme als die des Königs und setzte 
sich neben ihm nieder. Der König machte 
ihn zu seinem Nachfolger und seine Mutter 
zur ersten Königin. Nach dem Tode des 
Königs wurde er König unter dem Namen 
Katthavähana, regierte in Recht und Gerech¬ 
tigkeit und ging dahin, wie er gelebt hatte. 

Nachdem der Meister dem König der 
Kosala dieses Beispiel erzählt hatte, zeigte 
er den Zusammenhang zwischen den beiden 
Vorgängen und wandte die Erzählung an. 
Damals wer die Mutter die erhabene Mäyü, 
der Vater König Suddhodana, der König 
Katthavähana aber war ich. 

Die Platte (Fig. 5) zeigt vor einem Hause 
erhöht sitzend den König, der die Hände, wie um 
etwas in Empfang zu nehmen, vor die Brust 
hält; er trägt eine Krone, Ohrpftöcke und 
ein eigentümliches mantelartiges Oberkleid, 
das beim Ellbogen endet. Hinter ihm kniet 
in Adorantenstellung (B) eine Frau als Be¬ 
gleiterin des Königs. Dem König zugewendet, 
ebenfalls in Stellung eines Adoranten, eine 
zweite Frau, die Überbringerin des Ringes, 
ihr Oberkleid flattert wie ein Aureol um den 
Kopf und kommt unter dem rechten Arme 
wieder zum Vorschein. In der Luft, zwischen 
dem König und der zweiten Frau, sitzt mit 
untergeschlagenen Beinen der Bodhisatva, 
vollkommen wie eine Buddhafigur abgebüdet, 
doch mit vor der Brust gefalteten Händen. 

— R. — 


Die Entwickelung des Gold- und Silberpreises 
im Laufe der Geschichte. 

Von O. Ka lt-Reule AL X. 

Wie gegenwärtig die Währungsfrage die 
Industriestaaten lebhaft beschäftigt, so suchten 


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8oo 


KALT-RtuLEAUx, Die Eniwickelung des Gold- und Silberpreises. 


die ältesten Kulturvölker Ägypter, Griechen 
u. a., nach der grösseren Entwickelung des 
Handelsverkehrs zur Erleichterung des Waren¬ 
umtausches nach den geeignetesten Wert¬ 
messern und erachteten als solche die beiden 
Edelmetalle Gold und Silber, da sie in ver¬ 
hältnismässig beschränkter Menge produziert 
und ohne grosse Schwierigkeiten und Kosten 
versendet werden können. Um nun die 
Schwankungen der Preise dieser Metalle fest¬ 
zustellen, muss man, da sie selbst Wertmesser 
sind, untersuchen, wie sie sich zu den Preisen 
der sonstigen wichtigen Güter, insbesondere 
der hauptsächlichsten Nahrungsmittel ver¬ 
halten, wobei Zufälligkeiten, vornehmlich reiche 
oder schlechte Ernten, unbeachtet bleiben 
müssen. Diese Preisschwankungen der Edel¬ 
metalle sind nun nicht blos zeitlich, sondern 
auch örtlich, bedeutend gewesen. Während 
der Preis der Edelmetalle, besonders des 
Goldes, bis zur blühendsten Zeit des römischen 
Kaisertums, bis zum ersten Jahrhundert nach 
Christi Geburt, infolge der starken asiatischen 
Goldzufuhren sinkend war, stieg er erheblich, 
als diese Zufuhren während der Völkerwan¬ 
derung von 375 bis 568 n. Chr. aufhörten. 
Die grossen Schatzverluste, sowie das beinahe 
plötzliche Einstellen fast der gesamten Berg- 
und Hüttenindustrie, nebst der Langsamkeit 
des Geldumlaufes fielen schwerer ins Gewicht, 
als die Abnahme des Verkehrs, also der Nach¬ 
frage nach Edelmetallen. 

Später veranlasste, vom Ende des 15. Jahr¬ 
hunderts wiederum die Entdeckung Amerikas, 
woher nunmehr ein ganzer Strom von Edel¬ 
metallen nach Europa sich ergoss, zuerst von 
Gold, sodann auch vom Silber, ein Sinken 
der Preise. Zudem hatte im Laufe des 15. 
und 16. Jahrhunderts die Edelmetallgewinnung 
einen bedeutenden Aufschwung genommen. 
Obgleich das Gewinnungsverfahren durch 
Amalgamation schon seit dem 14. Jahr¬ 
hundert zur Extraktion des Goldes von den 
Arabern angewendet wurde, fand dasselbe für 
Gold und Silber erst in dem genanntem Jahr¬ 
hundert. in Südamerika Verwendung und ge¬ 
langte nach Europa sogar erst am Ende des 18. 
Jahrhunderts, wurde 1780 in Chemnitz und 
1790 in Freiberg i. S. eingeführt. Durch 
dieses rationellere Gewinnungsverfahren ver¬ 
minderte man die Erzeugungskosten des Sil¬ 
bers dermassen, dass sein Preis einen seit 
Jahrhunderten nicht erreichten Tiefstand 
fand. Im Laufe des 17. Jahrhunderts kam 
allerdings infolge des dreissigjährigen Krieges 
ein grosser Teil der Erzgruben in Europa 
wieder zum Erliegen, allein die Edelmetall¬ 
preise stiegen nicht, weil gleichzeitig die Nach¬ 
frage nach Gold zurückgegangen, und Edel¬ 
metall von Amerika in genügenden Mengen 


zugeführt worden war. Erst am Ende des 
18. Jahrhunderts stellte sich ein neuer Auf¬ 
schwung ein, der bis in die Neuzeit ange¬ 
halten und nach vorübergehendem Steigen ein 
abermaliges Sinken der Edelmetallpreise be¬ 
wirkt hat. Verbesserte und neue Gewinnungs¬ 
verfahren, wie z. B. Zinkentsilberung, die 
Extraktion des Goldes vermittelst Chlorgas und 
Cyankaliumlösung, haben die Verarbeitung 
auch ärmerer, gold- und silberhaltiger Erze 
ermöglicht und sind zugleich teilweise die 
Veranlassung zu erhöhter Produktion gewor¬ 
den. Bei der Verbilligung des Geldwertes 
und somit des Wertes der Edelmetalle sind 
jedoch vielleicht in noch verstärktem Masse 
der schnellere Geldumlauf und die Einführ¬ 
ung der Geldersatzmittel: Wechsel, Banknoten 
und Girokontos von Einfluss gewesen. Das 
Verhältnis der Preisverminderung der Edel¬ 
metalle von der Entdeckung Amerikas bis 
zur neuesten Zeit ist gleich 4:1. 

Fussend auf Funde von Mustergewichten 
zu Khorsabad, auf griechische und römische 
Schriften, sowie auf alte Münzgesetze u. s. f. 
hat man die Änderung des Wertverhältnisses 
zwischen Gold und Silber folgendermassen 
berechnet. Es ist gewesen: 
im asiatischen Altertum, Babylon, 

Assyrien. 1:13 

im alten Griechenland, 400 Jahre 

V. Chr. Geb. 1:13 

zur Zeit der römischen Republik, 

310 — 31 V. Chr. Geb. 1:11.9 

im Merowingerreich, im 5. Jahrh. 

n. Chr. Geb.1:9 

in Mitteleuropa, zur Zeit der Karo¬ 
linger, i. 8. u. 9. Jahrh. n. Chr. Geb. i : 12 
in der 2. Hälfte des 13. Jahrh. bis 

Ende d. 15. Jahrh. in Mitteleuropa i : 10 
in der Mitte des 16. Jahrhund, in 


Mitteleuropa.i : 11.5 

im Anfang des 17. Jahrh. in Mittel- 

Europa . 1:12 

in der Mitte des 17. Jahrh. in Mittel- 

Europa .X : 14 

am Ende des 17. Jahrh. in Mittel- 

Europa . 1-15 

in der i. Hälfte des 18. Jahrh. in 

Mitteleuropa.i ■ ^5 

in der 2. Hälfte des 18. Jahrh. in 

Mitteleuropa. 1:14 

in der i. Hälfte des 19. Jahrh. in 

Mitteleuropa.1 • I 5 

von 185I bis 1870 durchschnittlich 

in Europa.1 : I5.5 

von 1870 bis 1897 durchschnittlich 

in Europa.i : 32 


Vergleicht man die Schwankungen dieses 
Wertverhältnisses, sowie der Silberpreise be¬ 
ziehentlich jährlicher Durchschnitte, so ergiebt 


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Wölffing, Die moderne Dreiecksgeometrie. 


8oi 


sich, dass das Wertverhältnis in den beiden 
Jahren 1854 und 1859 mit i : 15 seit Mitte 
dieses Jahrhunderts am grössten gewesen ist, 
indem das Silber hoch, das Gold niedrig im 
Preise stand. Es ist der Silberpreis gefallen: 

von 260. — Mark für das Kilogr. Feinsilber 
am Anfang des 16. Jahrh. 
auf 186.— Mark für das Kilogr. Feinsilber 
Ende des 17. Jahrh. 

gestiegen: auf 192.50 Mark für das Kilogr. 

Feinsilber Mitte des 18. Jahrh. 
gefallen: auf 182.30 Mark ftlr das Kilogr. 

Feinsilber Ende der 50er Jahre 
des 19. Jahrhunderts. 

„ auf 178.80 Mark für das Kilogr. 

Feinsilber von 1860—1872. 

„ auf 87.94 Mai'k für das Kilogramm 
Feinsilber im Jahre 1897. 

Die Hauptursachen des gewaltigen Preis¬ 
sturzes des Silbers in der neueren Zeit gaben 
in erster Linie die Silberverkäufe Deutsch¬ 
lands nach der Neugründung des Reiches und 
dem Übergange zur Goldwährung, die Bild¬ 
ung des skandinavischen Münzvereins auf 
Grund reiner Goldprägung, der Einstellung 
der Silberprägung in Belgien, Holland und 
Frankreich in der Mitte der siebziger Jahre. 
Zu dieser Verringerung des Silberbedarfs, 
kam sodann noch die gesteigerte Silbererzeug¬ 
ung in Amerika und Australien — die Welt¬ 
produktion an Silber betrug in den Jahren 
von 1866—1871 durchschnittlich 1,339,000 
Kilogramm jährlich, 1896 hingegen 5,260,000 
Kilogramm, gegenüber der weniger geän¬ 
derten Goldproduktion: 1866/71 durchschnitt¬ 
lich 195,000 Kilogramm, im Jahre 1896: 
360,000 Kilogramm — sodass trotz der fort¬ 
gesetzten starken Silberausfuhr nach Ostafrika 
der Silberpreis innerhalb 4 Jahren um etwa 
35 Prozent stürzte. 

Infolge seiner Entwertung ist das Silber 
für alle Kulturstaaten mehr oder weniger zur 
Marktware herabgesunken. Während die 
Silberpartei unter den Statistikern behauptet, 
dass infolge der Demonetisierung des Silbers, 
d. h. der Verteuerung des Goldes, das Sinken 
des Silberpreises und dann der Warenpreise 
entstanden sei, meint die Goldpartei, dass als¬ 
dann alle Warenpreise gleichmässig gesunken 
sein müssten, was nicht der Fall sei. Das 
Sinken des Silberpreises sei vielmehr in der 
Hauptsache, die natürliche Folge der stark 
vermehrten Silberproduktion, des mithin ver¬ 
stärkten Wettbewerbes, während das Sinken 
der Warenpreise den niedrigeren Produktions¬ 
und Verkehrskosten zuzuschreiben sei. Durch 
den langanhaltenden Frieden sei das Sinken 
der Warenpreise begünstigt worden, während 
umgekehrt die Arbeiterlöhne gestiegen seien. 


Was den Goldpreis betrifft, so ergiebt sich 
derselbe aus den oben angeführten Wertver¬ 
hältnissen. Für Ende der 6oer Jahre dieses 
Jahrhunderts bis 1872 stellt sich für das Gold 
ein Durchschnittspreis von 2755 Mark für 
das Kilogramm heraus. Im Oktober 1873 
betrug der Hainburger Kurs für das Kilogr. 
Gold erst 2766 Mark, dann 2768 Mark pro 
Kilogramm. Im Jahre 1874 sank der Kurs 
auf 2740 Mark, stieg wieder bis 2790 Mark 
im Jahre 1879 und hält sich seit November 
1892 durchweg auf 2784 Mark Hamburger 
Goldkurs — die Tarifnotierung ist durchweg 
5 — 8 Mark höher. 

Der industrielle Nettoverbrauch beträgt 
beim Golde ein Drittel der jetzigen Welt¬ 
produktion, und beim Silber ein Achtel bis 
ein Neuntel desselben. Bei dem jetzigen nenn¬ 
baren Vorrat von mehr als 10,000 Tonnen 
Gold und mehr als 100,000 Tonnen Silber 
beträgt die durchschnittliche jährliche Ab¬ 
nutzung Vs Prozent beim Golde, d. i. 2000 
Kilogramm, und i Prozent beim- Silber, d. i. 
100,000 Kilogramm. Beträchtlichere Gold- 
und Silbermengen, als es wohl scheinen möchte, 
gehen alljährlich durch Verflüchtigung beim 
Schmelzen und Umschmelzen, sowie durch 
Verstäuben beim Sammeln und Verarbeiten 
der Abfälle von Edelmetallen veHoren. Nicht 
unbedeutende Mengen von Edelmetallen sind 
früher, namentlich bei den alten Ägyptern 
und Römern, durch Beigaben in die Gräber 
dem Verbrauch entzogen worden. Die zu 
wirklichen Prägungen verbleibenden Edel¬ 
metalle, insbesondere Goldmengen, würden 
nicht genügen, wenn nicht der Verkehr mit 
barer Münze immerfort mehr beschränkt wor¬ 
den wäre und sich die Abwickelung im grossen 
Verkehr nicht im Wege der Übertragung und 
Abrechnung vollzöge. Dieser Thatsache ent¬ 
spricht die Erscheinung, dass — nach Ottomar 
Haupt in Paris — der Edelmetallvorrat der 
Banken allein in den Jahren 1890 bis 1895 
von 6,3 auf 8,8 Milliarden Mark Gold und 
von 3,4 auf 4,2 Milliarden Mark Silber-sich 
vermehrt hat. 


Die moderne Dreiecksgeometrie. 

Von Dr. E. Wölfkino. 

Viele Leser werden, wenn sie an ihre 
Schulzeit zurückdenken, sich an die bedeu¬ 
tende Rolle erinnern, welche das Dreieck im 
elementargeometrischen Unterricht spielt. Von 
dieser einfachsten aller geometrischen Figuren, 
diejedoch an Eigenschaften gradezu unerschöpf¬ 
lich ist, werden ausser den Seiten und Winkeln 
noch zahlreiche andere Bestinimungsstücke, 


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8o2 


Wölffing, Die moderne Dreiecksgeometrie. 


wie z. B. die Höhen, Schwerlinien, Winkel¬ 
halbierenden, die Radien des Umkreises, des 
Inkreises u. s. f. in Betracht gezogen. Indem 
sodann je drei dieser Stücke als gegeben an¬ 
genommen werden, werden in der Elementar¬ 
geometrie alle möglichen und oft auch un¬ 
möglichen Dreieckskonstruktionen verlangt, 
welche mit Zirkel und Lineal ausführbar sein 
sollen. Diese Konstruktionen und die ihnen 
zu Grunde liegenden Lehrsätze und Eigen¬ 
schaften des Dreiecks werden, trotz manchen 
Widerspruchs, noch heutzutage für würdig 
erachtet, an der Spitze des geometrischen 
Unterrichts zu stehen; sie spielen in vielen 
Prüfungen eine grosse Rolle, und es wird 
ihnen nachgerühmt, dass sie in ihren über¬ 
raschenden Kombinationen ganz besonders 
geeignet seien, den Scharfsinn für geometrische 
Forschung auszubilden. Dabei darf aber nicht 
übersehen werden, dass die genannten Drei¬ 
eckskonstruktionen meistens keiner allgemeinen 
Methode zugänglich sind, dass sie vielmehr 
häufig auf gewissen Kunstgriffen beruhen. Diese 
liegen bei manchen Aufgaben so versteckt, dass 
das Auffinden der Lösung eine reine Glücks¬ 
sache ist und selbst erprobten Mathematikern 
nicht gelingen will. Verfolgen wir die Drei¬ 
ecksgeometrie in geschichtlicher Hinsicht, so 
finden wir, dass dieselbe ins griechische Alter¬ 
tum zurückreicht, wie ja viele ihrer Sätze die 
Namen eines Pythagoras, Menelaus, Pappus 
und anderer griechischer Geometer tragen. 
Die Elementargeometrie, wie sie in unseren 
Schulen gelehrt wird — und von ihr bildet 
die Dreiecksgeometrie den grössten und wich¬ 
tigsten Teil! — war in dieser Gestalt bereits 
im Altertum vorhanden; sie bildet, von der 
Arithmetik abgesehen, die Grundlage des ge¬ 
samten mathematischen Wissens, und aus ihr 
heraus hat sich im Wesentlichen die ganze 
moderne Mathematik allmählig entwickelt. 
Aber im Lauf dieses Entwicklungsprozesses 
sind ganz andere Prinzipien zur Geltung ge¬ 
langt. Die Algebra, welche die alten Griechen 
nur in geometrischer Einkleidung kannten, 
hat sich selbständig gemacht und weiterhin 
die Differentialrechnung und die Funktionen¬ 
theorie aus sich geboren. Auch in das geo¬ 
metrische Gebiet selbst hat die Rechnung 
ihren Einzug gehalten und beherrscht das¬ 
selbe in Gestalt der analytischen Geometrie. 
Die synthetische Geometrie endlich, welche 
die Rechnung verschmäht, hat ebenfalls von 
der griechischen Geometrie gänzlich ab¬ 
weichende Bahnen betreten, indem sie die 
durch Projektion nicht zerstörbaren Eigen¬ 
schaften der Figuren in den Vordergrund 
stellte. Diesem gewaltigen Aufschwung ge¬ 
genüber darf man sich billig fragen, ob denn 
die Dreiecksgeometrie selbst, die Mutter all 


dieser neuen Disziplinen, ganz zurückgeblie¬ 
ben und verkümmert sei, ob sie denn in fast 
zwei Jahrtausenden gar keine Fortschritte 
mehr gemacht habe und ob denn die griech¬ 
ischen Geometer bereits alle Eigenschaften 
des Dreiecks in erschöpfender Weise entdeckt 
haben. Noch im letzten Jahrhundert schien 
es, als müsse die letztere Frage in der That 
bejaht werden, und noch heute stehen die 
meisten unserer Schullehrbücher auf diesem 
Standpunkt; wurde doch noch vor nicht all¬ 
zulanger Zeit an manchen Orten die Geo¬ 
metrie nach dem Text des griechischen Geo¬ 
meters Euclides gelehrt! 

Erst zu Anfang und um die Mitte des 
19. Jahrhunderts gelang es einigen meist 
deutschen Geometern wie Grelle, Feuerbach, 
Jacobi, Grebe u. a. einige Sätze über das 
Dreieck zu finden, welche den Alten nicht 
bekannt waren. Aber diese neuen Sätze stan¬ 
den unter sich in durchaus keinem Zusam¬ 
menhang; sie vermochten daher auch nicht 
die Aufmerksamkeit der Mathematiker auf 
sich zu ziehen und verfielen bald der Ver¬ 
gessenheit. Die ganze Angelegenheit ruhte 
alsdann bis zum Jahre 1873. Da trat eine 
entscheidende Wendung ein. Bei dem in 
diesem Jahre zu Lyon abgehaltenen Kongress 
der „Association fran<;aise pour 1 ’Avancement 
des Sciences“ sprach der Geometer Lemoine 
über einen Punkt, welcher merkwürdige Eigen¬ 
schaften in Beziehung auf das ebene Drei¬ 
eck besitzt und später den Namen seines 
Entdeckers erhielt. Diese Ausführungen er¬ 
weckten das Interesse der Versammlung und 
riefen weitere Untersuchungen über diesen 
Gegenstand hervor. Dabei stellte sich bald 
heraus, dass all die neugefundenen Eigen¬ 
schaften des Dreiecks unter einander in einem 
inneren Zusammenhang stehen, und so ent¬ 
wickelte sich denn seit 1881 eine ganz neue 
mathematische Disziplin : die moderne Drei¬ 
ecksgeometrie. Ausser einigen Engländern, 
wie Tucker, Taylor und Mac Cay sind es 
hauptsächlich die Franzosen Lemoine, Brocard, 
Tarry, Vigarie und der Belgier Neuberg, 
welche das neue Gebiet angebaut und deren 
Arbeiten in französischen und belgischen Zeit¬ 
schriften eine Heimstätte gefunden haben. 
Die Association fran^aise nimmt daher mit 
Recht die neue Wissenschaft als eine wesent¬ 
lich französische in Anspruch, deren Ver- 
i treter sich auf ihren Kongressen Rendezvous 
geben. Übrigens wurden auch die von den 
deutschen Geometern einst aufgestellten Sätze 
von den Franzosen wiedergefunden und in 
das System eingefügt. 

Der Leser wird nun aber auch zu erfahren 
wünschen, in welcher Richtung die Erweiter¬ 
ung unserer Kenntnisse hinsichtlich des Drei- 


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Wölffing, Die moderne Dreiecksgeometrie. 


803 



ecks stattgefunden hat. Da zum Verständnis 
der modernen Dreiecksgeometrie die elemen* 
tarsten Vorkenntnisse in Schulgeometpie ge¬ 
nügen, so bin ich in der Lage, diese Neu¬ 
gier befriedigen zu können. An der Hand 
der beigegebenen Figuren wird es nicht all¬ 
zuschwer sein, die im Folgenden gegebenen 
Entwicklungen zu verstehen; dieselben sind 
genügend, um von der Richtung der neuen 
Forschungen einen ungefähren Begriff zu ge¬ 
ben. Als Brocardscher Punkt eines Dreiecks 
ABC wird der Punkt ^ (Fig, i) bezeich¬ 
net, welcher so gelegen ist, dass die drei 
Winkel ^ A B, B C, ^ C A dieselbe 
Grösse haben. Dieser Winkel 01 heisst Bro¬ 
cardscher Winkel des Dreiecks; derselbe kann 
höchstens den dritten Theil eines rechten 
Winkels betragen. Übrigens existiert noch 
ein zweiter Brocardscher Punkt (Fig. 2) 
derart, dass die Winkel -Q' B A, iV A C, 
PJ C B den gemeinsamen Wert w besitzen. 
Jeder der Brocardschen Punkte ergiebt sich 
als Schnittpunkt dreier Kreise (sog. Beikreise), 
von denen jeder durch zwei Ecken des Drei¬ 
ecks geht und eine Seite berührt (Fig. i). 


Zu weiteren Eigenschaften gelangt man durch 
Betrachtung der Dreiecke, welche dem Haupt¬ 
dreieck ABC einbeschrieben sind, sodass 
ihre Ecken auf dessen Seiten liegen, und dem¬ 
selben ähnlich, d. h. mit ihm gleichwinklig 
sind. Ist D E F (Fig. 3) ein solches Drei¬ 
eck, so haben die Winkel B D E, CEF, 
AFD einen gemeinsamen Wert, derselbe 
sei (f. Das Dreieck DEF heisst dann dem 
Hauptdreieck ABC unter dem Winkel (p 
einbeschrieben. Alsdann existiert noch ein 
zweites unter dem Winkel 7; einbeschriebenes 
Dreieck ZX E' F'. Die Endpunkte beider liegen 
alle sechs auf einem Kreis, der als Tucker- 


A 



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8 o 4 


Hoffmann, Künstliche Riechstoffe. 



scher Kreis bezeichnet wird. Nun gehört aber 
zu jedem Wert von (f ein Tuckerscher Kreis; 
man erhält daher eine ganze Schar von solchen 
Kreisen. Die Betrachtung einer solchen Schar 
ist bereits ein moderner Gedanke, der den 
alten Geometern ziemlich ferne lag. Die 
Mittelpunkte dieser Kreise liegen alle auf 
einer Geraden durch den Mittelpunkt des 
Umkreises; letzterer Kreis gehört ebenfalls 
zu der Schar. Wählt man den Winkel qc 
gleich dem Brocardschen Winkel so erhält 
man den ersten Lemoineschen Kreis (Fig. 4); 
dieser teilt Jede Dreiecksseite in drei Ab* 
schnitte, die sich wie die Quadrate der Drei- 
ccksseiten verhalten. Ist dagegen (p gleich 
einem rechten Winkel, so bekommt man den 
zweiten Lemoineschen Kreis (Fig. 5); dessen 
Mittelpunkt heisst der Lemoinesche (oder Grebe- 
sche) Punkt L. Dieser wurde schon oben 
erwähnt und besitzt merkwürdige Eigenschaften. 
Seine rechtwinklig gemessenen Entfernungen 
L G, L H, L J von den Dreiecksseiten ver¬ 
halten sich wie die letzteren (in der Figur 
wie 4:2:3). Die Summe der Quadrate dieser 
Entfernungen ist kleiner als die Quadratsumme 
der Entfernlingen irgend eines anderen Punktes 




von den Seiten. Auch das Hereinreichen einer 
solchen Minimumeigenschaft ist durchaus mo¬ 
dern und der Dreiecksgeometrie ursprünglich 
fremd. Verbindet man endlich L mit einer 
Ecke A, so teilt die Transversale AM im 
Verhältnis der Quadrate der anliegenden 
Seiten. Die Brocardschen Punkte und 
der Lemoinesche Punkt. L und der Mittel¬ 
punkt des Umkreises O bilden ein rechtwink¬ 
liges Deltoid (Fig. 4) (Viereck mit je zwei 
Paaren anstossender gleicher Seiten); sie lie¬ 
gen auf dem Brocardschen Kreise, welcher 
mit dem ersten Lemoineschen Kreis denselben 
Mittelpunkt Z hat. Diesen und noch einigen 
andern Punkten,Kreisen und Geraden schliessen 
sich ein paar Kegelschnitte an, w'ie die sechs 
Parabeln von Artzt und die Hyperbel von 
Kiepert, welche durch die drei Ecken des 
Dreiecks, den Höhenschnittpunkt und den 
Schwerpunkt bestimmt ist. Alle diese Gebilde 
besitzen eine grosse Zahl höchst eleganter 
Eigenschaften. Seit einigen Jahren haben wir 
auch eine deutsche Darstellung der modernen 
Dreiecksgeometrie: Emmerich, Die Brocard¬ 
schen Gebilde’) und ihre Beziehungen zu den 
verwandten merkwürdigen Punkten und Kreisen 
des Dreiecks. Berlin 1891. Es wäre wohl zu 
wünschen, dass die neuen Untersuchungen 
auch in unsern Schulen Eingang fänden, wo 
sie zur Belebung des elementargeometrischen 
Unterrichts und zur Abwechslung in den 
Aufgaben viel beitragen könnten. 


Künstliche Riechstoffe. 

^ Von Dr. Felix Hoffman n. 

iZeiUchria für onfew. Chemie, 15. Okt, 1897.) 

Wie die Industrie der synthetischen Farb¬ 
stoffe und Arzneimittel, so hat auch die der 
künstlichen Riechstoffe, befruchtet durch die 
Resultate modern-chemischer Forschung grosse 
Fortschritte zu verzeichnen. Beginnend mit 
der Gewinnung der natürlichen Riechstoffe, 

‘) So nennt man auch bisweilen den Gegenstand 
der modernen Dreiecksgeometrie. 


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Hoffmann, Künstliche Riechstoffe. 


805 


die uralt ist, gelang es jetzt, durch Vervoll¬ 
kommnung der Methoden dieselben in wesent¬ 
lich besserer Güte und Menge zu erhalten. 
Die RiechstofFchemiker sind indess hierbei 
nicht stehen geblieben, sondern sind zur ge¬ 
nauen Durchforschung der Riechstoffe über¬ 
gegangen und bei vielen gelang es, durch 
chemische Synthese (Aufbau) die Gewinnung 
zu vereinfachen und zu verbilligen. Als Re¬ 
sultat dieser Untersuchungen werden 2. B. 
seit Neuestem sogar ätherische öle in den 
Handel gebracht, deren Zusammensetzung sich 
mit der recht komplizierten der Naturprodukte 
zu decken scheint. — Eines der schönsten 
Beispiele für den Ersatz eines Naturproduktes 
durch ein vom Chemiker hergestelltes ist der 
künstliche Moschus. Obgleich dessen chem¬ 
ische Zusammensetzung weit davon entfernt 
ist, die des bekannten natürlichen Sekretes 
zu besitzen, so decken sich doch deren Ge¬ 
ruchseigentümlichkeit fast vollständig. Die 
Bedeutung, die synthetische (künstliche) Pro¬ 
dukte für den Handel haben, liegt neben der 
Wohlfeilheit zugleich in der Sicherheit, stets 
ein absolut gleichwertiges Material liefern zu 
können. 

Werfen wir einen Blick auf die Chemie 
der Fettreihe, so begegnen uns in den Fett¬ 
säureestern ‘) wohl die ältesteten Repräsen¬ 
tanten künstlicher Riechstoffe; ist doch schon 
Mitte vorigen Jahrhunderts eine genaue Vor¬ 
schrift zur Gewinnung des Essigäthers in der 
chemischen Litteratur beschrieben. Geringe 
Menge von Fettsäureestern finden sich in fast 
allen ätherischen ölen, sie bedingen die 
Blume des Weines, den Wohlgeschmack der 
Ananas und der Banane. Von den unter 
dem Namen Fruchtäther bekannten Fettsäure¬ 
estern findet das Ameisenäthyl als Rum- und 
Arak-, das Essigamyl als Birn-, das Butter¬ 
äthyl als Ananas-, das Isovalerianamyl als 
Apfelessenz Verwendung in der Fabrikation 
der Parfüms, Bonbons, Schnäpse u. dgl. 

Die aromatische Reihe, die ja ihren Na¬ 
men den sie umfassenden Riechstoffen ver¬ 
dankt, liefert mit der Entdeckung des Nitro¬ 
benzols 4 urch Mitscherlich den ersten 
Repräsentanten eines in der Natur nicht vor¬ 
kommenden Riechstoffes. Unter dem Namen 
Mirbanöl bietet derselbe, ausgezeichnet durch 
seinen intensiven Bittermandelöl%^c\x<^y einen 
Ersatz für letzteres, das damals ein sehr kost¬ 
barer Körper gewesen sein mag. 

Baur lehrte im Jahre 1888 dasTrinitro- 
butyltoluol — den künstlichen Moschus — 
kennen. Ein Ersatz des tierischen Sekretes, 
dessen hoher Preis (Kilo 2600 M.) die chem¬ 
ische Synthese zu derartigen Versuchen ge- 


*) Verbindungen von Fettsäuren mit Alkoholen. 


radezu herausforderte, war schon lange neben 
vielen pflanzlichen Stoffen in einem Kunst¬ 
produkt im Handel, das durch Behandlung 
des sog. Bernsteinöles mit Salpetersäure er¬ 
halten wurde. Baur gelang es, durch um¬ 
fassende Untersuchungen einen Körper in 
dem obengenannten Nitroprodukte auf rein 
Synthetischem Wege darzustellen, der viel¬ 
leicht in geringen Mengen im Bernsteinöl¬ 
moschus enthalten war und dessen intensiven 
Geruch bedingte. Zugleich machte er die Be¬ 
obachtung, dass die so geschätzten Geruchs¬ 
eigentümlichkeiten auch vielen ähnlichen 
chemischen Stoffen in mehr oder minderem 
Grade zukommen. Bei einem Preise von etwa 
800 M. für das Kilo ist die Verwendung 
dieses Körpers, der infolge seiner ausser¬ 
ordentlichen Intensität viele Gerüche hebt 
oder verstärkt, eine recht vielseitige; freilich 
darf nicht übersehen werden, dass das Kunst¬ 
produkt wohl dieselbe Intensität, aber doch 
eine etwas abweichende Nüance von dem 
natürlichen besitzt, wie es auch die einst¬ 
mals so hoch geschätzten physiologischen 
Eigenschaften des letzteren nicht teilt. 

Den Reigen von Derivaten der aromat¬ 
ischen Carbonsäureester eröffnet die Benzoe¬ 
säure, die als solche den Tolu-, Styrax- und 
Perubalsamen einen Teil ihres angenehmen 
Geruches" verleiht. Der Benzoömethylester, 
aus der Säure und Methylalkohol leicht dar¬ 
stellbar, stellt (nfolge seines ausgiebigen 
Fruchtgeruches und billigen Preises einen 
Repräsentanten der billigen Seifenparfüms dar. 

Ihm schliesst sich der durch Kondensation 
von Benzaldehyd und essigsaurem Natron 
entstehende Ziww/säureester an, der in sei¬ 
nem Methylderivat Eigenschaften besitzt, die 
dem Benzoöster sehr nahestehen. 

Der Salicylsäuremethylester, der lange nur 
als Bestandteil des Wintergrünöles bekannt 
war, ist jetzt ein recht leicht zugänglicher 
Körper. Fast 90 pCt. des Wintergrünöles, 
eines in Amerika gewonnenen und dort sehr 

f pschätzten Parfüms, bestehen aus obigem 
Ster und dürfte letzterer das Naturprodukt 
fast ganz ersetzen. 

Das Cumarin ist jener Duftstoff, der dem 
Waldmeister, dem Steinklee das süsse, inten¬ 
sive Aroma erteilt. Zu seiner Darstellung ver¬ 
wandte man früher die im tropischen Amerika 
wachsende Tonkabohne, welche indess seit 
Perkins Entdeckung des synthetischen We¬ 
ges diese Rolle ausgespielt hat. Aus Salicyl- 
aldehyd und Essigsäure stellt man jetzt das 
Cumarin sehr billig her. 

Die aromatischen Aldehyde, die fast in 
jedem natürlichen Riechstoffe Vorkommen, 
umfassen eine Serie von recht wertvollen 
Riechstoffen. Als einfachsten Repräsentanten 


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806 


Moffmann, Künstliche Riechstoffe. 


kennen wir den Benzaldchyd, der früher aus 
den bitteren Mandeln durch Wasserdampf¬ 
destillation gewonnen wurde. Seit langem 
kennen wir ihn indess als Abkömmling der 
Steinkohle, indem das aus ihr gewonnene 
Toluol das Allsgangsmaterial für diesen Al¬ 
dehyd liefert. Wir vergessen nicht, dass die 
Farbstofftechnik denselben in grossen Quan¬ 
titäten bedarf und er deshalb einen so bil¬ 
ligen Handelsartikel darstellt. 

Dem Benzaldehyd schliesst sich der chem¬ 
isch recht nahe verwandte Zimmtaldehyd an, 
der einstmals aus dem Zimmtöle gewonnen 
wurde. Seit sich die chemische Synthese 
seiner bemächtigt hat, wird er aus Acetalde¬ 
hydes und Benzaldehyd gewonnen. 

Ähnlich geht es dem Anisaldehyd, der im 
natürlichen Anis und Fenchelöl den angenehm 
süsslichen Geruch mitbedingt. Man stellt ihn 
durch Oxydation des Anethols, eines Bestand¬ 
teils des Anisöles, dar. 

Das hierher gehörige Piperonal, dem vor¬ 
stehenden Anisaldehyd chemisch sehr nahe 
verwandt, zeichnet sich durch einen recht in¬ 
tensiven //^//o/ro^geruch aus, der ihm den 
Namen Heliotropin eingetragen hat. Dasselbe 
findet sich in den natürlichen Riechstoffen 
nicht vor, doch dient als Ausgangsmaterial, 
ganz ähnlich wie bei der Anisaldehydgewinn¬ 
ung, ein natürliches Produkt, das Safrol. 
Letzteres entsteht als Abfallprodukt bei der 
Kamphergewinnung und wir verstehen so den 
billigen Preis für das Heliotropin, das heute 
mit M. 35 pro Kilo bezahlt wird. 

Einen chemisch ebenfalls dem. Piperonal 
nahestehenden Riechstoff von sehr geschätz¬ 
ten Eigenschaften kennen wir im Vanillin. 
Sein Vorkommen in das Vanilleschote, die es 
häufig in Form kleiner Nädelchen bedeckt, ist 
wohl der bekannteste, doch ist seine Ver¬ 
breitung in anderen natürlichen Riechstoffen 
eine sehr grosse; fast alle aromatischen 
Harze und Balsame, wie Benzoö-, Peru-, 
Tolubalsam enthalten geringe Mengen davon. 
Der chemische Aufbau des Vanillins, wie er 
anfangs der siebziger Jahr.c von Tiemann 
ausgeführt wurde, war geradezu grundlegend 
für die Entwicklung der Ricchstoffsynthese. 
Tiemann gelang es, durch umfassende Unter¬ 
suchung die chemische Konstitution des in 
der Vanilleschote vorkommenden Aldehydes 
festzustellcn und diesen aus anderen Stoffen 
wieder aufzubauen. Zur technischen Gewinn¬ 
ung des Vanillins dient das Öl der Gewürz¬ 
nelke, das diesen Körper so billig liefert, 
dass das Kilo heute etwa 100 M. kostet. 
Was die Verwendung des Vanillins im Haus¬ 
halte anlangt, so unterscheiden sich mit der 
natürlichen Schote gewürzte Speisen von denen 
mit reinem Vanillin versetzten insofern, als 


erstere, bei sonst gleicher Reinheit des 
Aromas, einen etwas volleren Geschmack 
zeigen. 

Von den Ketonen der aroii^ischcn 
sind als Riechstoff nur das Ävophenon be¬ 
kannt, das durch Destillation von benzoesaurem 
und cssigsaurem Kalk gewonnen wird. In 
grosser Verdünnung zeigt cs einen angeneh¬ 
men Blumengeruch. 

Ebensowenig ergiebig, wie diese letzte 
Gruppe ist bis jetzt die Naphtalinreihc ge¬ 
wesen; wir kennen in dem (■«-Naphtolmethyl- 
äther einen sehr intensiv riechenden Körper, 
auf dessen Eigenschaft im Jahre 1885 Ja¬ 
cobson die Chemiker aufmerksam machte. 
Lebhaft an Ananas erinnernd, soll er das 
so kostbare Orangebliitenöl teilweise ersetzen. 
Unter dem Namen Nerolin findet cs sich im 
Handel. 

Die Reihe der ob ihres Reichtums an 
Riechstoffen bekannten TerpeneA) die ja auch 
heute noch weitaus den grössten Teil aller 
Riechstoffe liefert, hat der Technik eine be¬ 
trächtliche Zahl neuer Duftstoffe von recht 
wertvollen Eigenschaften geschenkt. Hat es 
doch den Anschein, als ob durch die um¬ 
fassenden Untersuchungen, wie ihr zur Zeit 
noch die Gelehrtenwelt obliegt, ein für alle 
Mal Licht in den so komplizierten Bau der 
Terpene gebracht würde, und hofft doch der 
Ricchstoffchemikcr so jene Gesetzmässigkeiten 
kennen zu lernen, die ihm ermöglichen sollen, 
den Bau der synthetischen Riechstoffindustric 
vergrössern zu können. 

Das Terpineol, ein Alkohol der Terpen¬ 
reihe, findet sich recht. spärlich in einigen 
ätherischen Ölen und wird heute durch Be¬ 
handlung des gewöhnlichen Terpentinöles mit 
verdünnten Säuren gewonnen. Infolge seines 
angenehmen, deutlich an Maiglöckchen und 
Flieder erinnernden Geruches, sowie seines 
ausserordentlich billigen Preises findet es viel¬ 
fache Verwendung in der Parfümerie. 

Die Durchforschung der Lavendel- und 
Bergamottöle lehrte eine Verbindung von 
Essigsäure mit einem Terpenalkohol, dem 
Linalool, kennen. Da fast der Hauptbestand¬ 
teil des Bcrgamottölcs aus diesem Linalyl- 
acetat besteht, wird letzteres als dessen Er¬ 
satz in den Handel gebracht, was um so 
wünschenswerter war, als besagtes öl, sei cs 
infolge schlechterer Ernte oder betrügerischer 
Manipulationen, meist einen sehr schwanken¬ 
den Gehalt an diesem Ester zeigte. 

Auf ganz ähnlichem Wege und von den¬ 
selben Intentionen geleitet, kam man zur Auf¬ 
findung des Geraniols, das sich als Terpen- 

*) Zu den Terpenen gehören als die bekanntesten 
Glieder der Gruppe das Terpentinöl und de;* 
Kampher. 


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Die bakteriologische Klärung der AßwässiR in England. 


nlkohol in sehr vielen Htherischen ölen findet. 
Der Hauptbestandteil des türkischen Rosen- 
cles ist Geraniol und so hoffte man, diesen 
kost^ren Körper durch diesen Alkohol, wie 
er-aus den billigen Gcraniumölen gewonnen 
wird, zu ersetzen. Unter der Bezeichnung 
Rhodinol findet sich ein mit anderen Bestand¬ 
teilen des Rosenöls vermischtes Geraniol im 
Handel, das aber auch keinen vollwertigen 
Ersatz für jenes darstcllt. Recht gute Präpa¬ 
rate lieferte die Leipziger Firma Schimmel 
& Co., indem sie das billige Geraniol über 
Rosenblätter destillierte. Indess steht ein 
vollwertiger Rosenölersatz aus. 

Mit mehr Glück gelang es, des Veilchen- 
aromas auf S3’nthetischem Wege habhaft zu 
werden. Wieder war es Tiema n n, der durch 
umfassende Untersuchungen die Riechstoff- 
chemic damit beschenkt hat. Ausgehend von 
der Feststellung des Veilchcnholzwurzelaromas, 
dem er den Namen Iron (Iris) gab, gelang 
cs ihm nach genauer Aufklärung des chem¬ 
ischen Baues des letzteren, aus Aceton und 
einem Terpenaldehyde Citral und Nachbe¬ 
handlung mit verdünnter Schwefelsäure das 
Jonon darzustellen. Dieses Jonon, obgleich 
chemisch nicht völlig identisch mit dem Ins¬ 
aroma, besitzt doch vollkommen den Geruch 
blühender Veilchen. Das zur Synthese not¬ 
wendige Citral findet sich in vielen äther¬ 
ischen ölen, so im Zitronen-, im Melissenöl. 

Mit grossen Hoffnungen folgen wir den 
Untersuchungen eines Wallach, Baeyer, 
Tiemann in der festen Überzeugung, dass 
cs diesen Gelehrten gelingen wird, den 
Schleier, der über den Gesetzmässigkeiten 
dieser Körpcrklasse ruht, auf immer zu lüften. 


Die bakteriologische Klärung der Abwässer. 

{Zcntralbl.ilt der Bauvcrvvaituiig; v 6. Oktober ȣ97). 

Die Klärung der Abwässer von Städten hat in 
den letzten fünfzig Jahren in England vielleicht noch 
mehr als in anderen Ländern im Mittelpunkte des 
öffentlichen Interesses gestanden. Die früher hier 
allgemein übliche Einführung der Abwässer in Fluss¬ 
läufe — bekanntlich wegen der rasch klärenden 
Einwirkung des Flusswassers eine keineswegs so 
gefährliche Art der Beseitigung, als es zunächst den 
Anschein hat — wurde mit dem Überhandnehmen 
von Fabriken in den grossen Industriemittelpunkten 
immer unmöglicher, da gegenüber der starken Bei¬ 
mischung von Fabrikabwässern, besonders von Rück¬ 
ständen chemischer Vorgänge, die reinigende Wir¬ 
kung der Flüsse bald versagte. In den letzten 
Jahrzehnten ist nun eine lange Reihe von paten¬ 
tierten Verfahren angew’andt worden, um eine 
Klärung der Abwässer auf chemischem Wege her- 
beizuführen. Man setzte, als man mit dieser che¬ 
mischen Behandlung begann, die kühnsten Hoffnungen 
auf ihre Erfolge. Denn die Wirkung chemischer 
Reagentien war augenscheinlich und fast augen¬ 


807 


blicklich. Sie schien noch insofern von ganz be¬ 
sonderem Werte, als man durch sie alle Jene 
Krankheit verbreitenden Lebewesen niederster 
Ordnung, auf deren Spur die ärztliche Wissenschaft 
nicht lange vorher erst gekommen war, im Keime 
vernichten konnte. Das letztere ist vielleicht er¬ 
reicht worden, aber in Bezug auf die endgOliige 
Re’nigung hat man sich in vielen Fällen einer Täu- 
schung hingegeben. Die Flüssigkeit kam zwar 
vvasserheli und geruchlos aus dem Klärbecken her¬ 
aus, sobald sie aber mit Wasser verdünnt wurde, 
d. h. in die Flussläufe gelangte, trat eine Nach¬ 
fäulnis ein, deren Wirkung oft weit unangenehmer 
war, als der chemisch unbeeinflusste Gang der Zer 
Setzung gewesen sein würde. 

Schon vor dreissig Jahren sprach*sich daher ein 
englischer Regierungsausschuss daliin aus, dass man 
zur Beseitigung der Abwässer am besten dem na- 
tOrjichen Wege folgen, d. h. sie zur Umsetzui^ der 
in ihnen enthaltenen organischen Stoffe dem Grund 
und Boden übergeben solle. Er drückte sich dras- 
' tisch dahin aus, dass „in Bezug auf Abwässer 
Desinfizierungsmittel nicht desinfizieren und Filter¬ 
becken nicht filtern“. Als einzig richtige Art ihrer 
Unterbringung wurden Rieselfelder empfohlen. Mr.n 
suchte die Städte dadurch zur Annahme des Riesel¬ 
verfahrens zu zwingen, dass man ihnen die Erlaub¬ 
nis zur Aufnahme von Anleihen für Jede andere 
Art von Kläranlagen verweigerte. Trotz dieses 
Zwanges hat die Anwendung der Rieselfelder in 
England keine allzugrossen Fortschritte gemacht. 
Dies liegt zum Teil an den Bodenverhätnissen, 
deren vorherrschend thonige Beschaffenheit eine 
nur sehr geringe Filterungsföhigkeit für Wasser und 
Durchlüftung besitzt. Hierzu kommt wohl aber in 
vielen Fällen die Scheu vor den bedeutenden Kosten 
einer Rieselanlage, und schliesslich hat wohl auch 
die geringe Ertragsfähigkeit der Bodenbebauung in 
England etwas hiermit zu thun. Thatsache ist, dass 
hier eine Abneigung gegen Rieselfelder zu beobachten 
ist. Die Versuche, auf anderer Grundlage zu be¬ 
friedigenden Ergebnissen zu gelangen, sind daher 
eifrigst fortgesetzt worden. 

Der Hauptanteil an derartigen Versuchen in 
neuester Zeit gebührt dem Chemiker W. J. D i b d i n, 
von 1882 bis jetzt erstem Chemiker des Grafschafts¬ 
rates von London. Er ist seit dem Jahre 1884 mit 
dem chemischen Teile der Entwässerung Londons 
betraut und hat daher reichlich Gelegenheit gehabt, 
der Frage einer zweckentsprechenden Klärung von 
Abwässern seine Aufmerksamkeit zu widmen. Be¬ 
kanntlich werden die Abwässer der über 5 Millionen 
Einwohner zählenden Grafschaft London von zwei 
Sammelstellen aus unterhalb Londons der Themse 
übergeben, nachdem durch ein chemisches Klärver¬ 
fahren die festen Stoffe ausgeschieden sind. Die 
letzteren werden durch eine beständig im Betriebe 
befindliche Flotte von fünf Schiffen dem Meere zu- 
geführt, ln welches sic 50 Meilen vom Lande ent¬ 
fernt entladen werden. Was die in die Themse 
gehenden Stoffe anbetrifft, so ist ihre Beschaffen¬ 
heit von der äussersten Bedeutung für die Gesund¬ 
heitsverhältnisse Londons deshalb, weil der Fluss 
bis weit oberhalb Londons der Ebbe und Flut aus¬ 
gesetzt ist, die hereinkommende Flut also täglich 
zweimal den ganzen Inhalt des unteren Wasser¬ 
beckens nach London treibt. Dibdin versuchte, als 
er 1884 vor die Lösung dieser Schwierigkeiten ge¬ 
stellt wurde, die Klärung mittels Chlorkalks. Gerade 
hierbei stellte sich jedoch die oben erwähnte Nach¬ 
fäulnis ein, die die Zustände nur verschlimmerte. 
Er fand darauf, dass Manganverbindungen diesen 
Übelstand nicht mit sich fünften, und gab die An¬ 
wendung von Chlorkalk bald auf. 

Schon seit geraumer Zeit war sich die Wissen- 


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8 o8 


Die bakteriologische Klärung der Abwässer. 


Schaft darüber klar, dass die Zersetzungsvorgänge 
organischer Stoffe nicht auf rein chemischen Vor¬ 
gängen beruhten, sondern, dass sie von der Ein¬ 
wirkung kleinster Lebewesen abhingen. Im Zu¬ 
sammenhänge mit dieser Thatsache sprach der 
englische Chemiker Dr. D u p r e schon 1886 den 
Gedanken aus, und Dibdin verfolgte ihn weiter in 
einem Vortrage von 1887, dass ein Klärverfahren 
von Abwässern darauf auszugehen habe, die diese 
Zersetzung bewirkenden kleinsten Lebi'wesen viel 
eher zu erhalten und durch Verbesserung ihrer 
Lebensbedingungen sie selbst fiir die Klärung nutz¬ 
bar zu machen, als sie durch chemische Eingriffe zu 
zerstören. Die oben erwähnte Nachföulnis nach 
chemischen Klärverfahren fand jetzt ihre Erklärung 
darin, dass die unterdrückte natürliche Umbildung 
durch Lebewesen nachträglich doch noch eintrat, 
sobald jene Lebewesen, wie nach Einführung der 
Wässer in Flussläufe, in welchen sie in gewisser 
Anzahl vorhanden waren, wieder die Lebensbeding¬ 
ungen in den in Lösung befindlichen organischen 
Stoffen fanden. Diejenigen Chemikalien, welche 
eine NachfÜulnis nicht im Gefolge hatten, töteten 
nur eine Gruppe von Bakterien und liessen einer 
anderen Gruppe Raum, ihr Zersetzungswerk zu 
vollenden. 

Auf Grund dieser neuen Erkenntnis wurden zu¬ 
erst vom Staate Massachusetts in Nordamerika 
während der Jahre 1889 und 90 ausführliche Unter¬ 
suchungen veranstaltet, welche die Nutzbarmachung 
dieser Lebewesen für die Klärung von Abwässern 
zum Ziele hatten. Die Klärung wurde dadurch 
bewirkt, dass man die Abwässer durch ein Bett 
mit einer durchlässigen Füllung (Kies, Koks, Ziegel¬ 
brocken u. s. w.) leitete, in welchem den Lebewesen 
Gelegenheit geboten w’ard, sich in Masse zu ver¬ 
mehren und ihr Zersetzungsw'erk unter günstigen 
Bedingungen auszuführen. Die Versuche verliefen 
in hohem Masse zufriedenstellend, und die ausführ¬ 
liche Veröffentlichung über den Gegenstand ‘) Hess 
darüber nicht im Zweifel, dass der eingeschlagene 
Weg zum Ziele führen würde. Dibdin nahm daher 
im Aufträge des Grafschaftsrates von London die 
Weiterführung der Versuche an der nördlichen 
Sammelstclle der Londoner Entw’ässerung, bei Bar¬ 
king, auf Man leitete das Abwasser in das Bett, 
bis es die Oberkante des Füllungsmaterials erreichte, 
überliess es zw'ei volle Stunden der Einwirkung 
der Bakterien und zog es dann rasch ab. Hierauf 
trat eine Ruhepause ein, um dem Bett Gelegenheit 
zur Lüftung zu geben, w'orauf, etwa sieben Stunden 
nach Beginn der vorhergehenden, eine neue Füllung 
vorgenommen w-urde. Auf diese Weise arbeitete 
man während der sechs Wochentage, den ganzen 
Sonntag dagegen blieb das Bett unbenutzt. Dieser 
Ruhetag wird für den Fortbestand der Leistungs¬ 
fähigkeit des Bettes für wesentlich gehalten. 

In der amtlichen Veröffentlichung über die Er¬ 
gebnisse der Versuche *) w'erden folgende Schluss¬ 
folgerungen gezogen: „Die Klärung der Abwässer 
kann aufbakteriologischem Wege auf jeden Grad der 
Reinheit gebracht werden; dieser Grad ist abhängig 
1) von der Länge der Zeit, in welcher das Ab¬ 
wasser in Berührung mit dem FOllungsmaterial des 
Bettes verbleibt, 2) von der Länge der Zeit der 
Lüftung des Bettes. Die Wirkung des Bettes ist 
zweifach: lies trennt mechanisch alle gröberen 
ungelösten Bestandteile von der Flüssigkeit, 2) cs 
bewirkt die Oxydation der organischen Stoffe durch 
die Thätigkeit kleinster Lebewesen, und zwar so- 

ij Stato Board of He.tUh of Massachusetts: Expenincnts and 
investigations upon the Piirificulion of Sewage, id^o. 

*) London County Council; Report by the Chemist on the 
Experimeots on the Filtration of Sewagc Efflucnt during tlic 
ycars 1892—95, Edw.ard Stanford,36,'a7 CoclcspurStreelJ-ondon .S \V. 


wohl der gelösten wie der ungelösten. Die Grün¬ 
dung und Kultur von Kolonieen dieser Lebewesen 
ist daher das Ziel einer auf wissenschaftlicher Grund¬ 
lage beruhenden Reinigung von Abwässern. Die 
Klärung geht wie folgt vor sich. Die gewöhnlichen 
föulnisbewirkenden und andere ähnliche Lebewesen 
beginnen ihr Werk damit, dass sie die organischen 
Verbindungen in einfachere Formen verwandeln, 
hauptsächlich in Wasser, Kohlensäure und Am¬ 
moniak. Hierauf setzen andere, die nitrifizierend 
wirkenden Lebewesen ein, welche das Ammoniak 
in salpetrige und Salpetersäure verwandeln. Hierzu 
sind drei Bedingungen nötig; erstens müssen die 
Lebewesen mit möglichst viel Sauerstoff versorgt 
werden, zweitens muss eine Base vorhanden sein, 
mit welcher sich die Salpetersäure verbinden kann 
und drittens muss die Umbildung im Dunkeln, also 
im unteren Teile des Bettes, vor sich gehen. Um 
mit Erfolg zu arbeiten, muss das Bett zunächst mit 
Lebewesen reichlich bevölkert werden; diesgeschieht, 
da die Lebewesen in den Abwässern selbst enthalten 
sind, dadurch, dass man vorsichtig beginnend erst 
allmählich die Menge des eingebrachten Abwassers 
steigert, bis der höchste Grad von Wirkung erreicht 
ist. Dieser Vorgang ist an dem Gehalt an Salpeter¬ 
säure der geklärten Flüssigkeit erkennbar, der sich 
beim Beginn des Betriebes aus geringen Anfängen 
ständig vermehrt.“ 

Auf Grund der günstigen Erfahrungen in Barking 
machte nun Dibdin den Versuch, die bakteriologische 
Kläaing auch auf solche Abwässer anzuwenden, 
welche vorher keinem anderen Klärverfahren unter¬ 
worfen worden waren, also alle üblichen Bestand¬ 
teile eines städtischen Abganges gelöst und Ungelöst, 
und zwar eine beträchtliche Menge in letzterer 
Form, enthielten. Der Versuch fand inSutton statt, 
einem südlichen Vororte Londons. Die bisherige 
Entwässerungsanlage ist eine Verbindung von che¬ 
mischer Klärung mit Rieselfelderanlage. Da wegen 
des sehr thonigen Bodens der Rieselfelderbetrieb 
auf Schwierigkeiten stiess, waren schon vorher zur 
Nachklärung der aus dem chemischen Klärbecken 
kommenden Flüssigkeit Bakterienbetten in der Art 
derer in Barking angelegt worden. Im Herbst 
vorigen Jahres ging man nun dazu Ober, auch eines 
der von früher bestehenden chemischen Klärbecken 
in ein Baktcrienbett umzuwandeln, um mit seiner 
Hilfe auch die Vorklärung bakteriologisch bewirken 
zu können. Die bakteriologische Behandlung findet 
somit in zwei Stufen statt, die erste Stufe vertritt 
die frühere chemische Klärung, die letzte bewirkt 
die Nachklärung. Nur die gröbsten ungelösten 
Stoffe, wie Papier u. s. w., werden zurOckgehalten. 

Die Erfolge dieses Versuches sind nach vor¬ 
liegenden Veröftcntlichungen über Erwarten günstig. 
Das rohe Abwasser enthielt nach dem Durchschnitt 
von 23 in der Zeit vom 21. November vorigen 
Jahres bis r. Juni dieses Jahres gemachten Analysen 
rund 0,86 g ungelöster Stoffe im Liter Flüssigkeit, 
nach der ersten Klärung waren diese bis auf 0,04, 
nach der zweiten bis auf 0,01 g verschwunden. 
Nach der zweiten Klärung war das Wasser klar 
und vollständig geruchlos und blieb auch bei längerem 
Stehen in offenen oder geschlossenen Gefässen oder 
bei Verdünnung mit Wasser frei von irgend welchen 
P'äulniserscheinungen. ’) 

Geht die Dibdinsche Behandlung der Abwässer 
davon aus, die Fäulnis, soweit sie mit der Ent¬ 
wicklung gesundheitsschädlicher, im allgemeinen 
übelriechender Gase verbunden ist, durch reichliche 
Sauerstoftzuführung möglichst zu verhindern, so 
beruht ein anderes, ebenfalls neuerdings in An- 


1) Eint- umfasscnck: Tabelle chemischer Analysen ist ver- 
>^f^c^tlicht in der ZcitsciiriU „The Surveyor* vom 9. Juli d. J. 


'S. 


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Die bakteriologische Klärung der Abwässer. 


809 


Wendung gekommenes Verfahren darauf, gerade 
einen durch gönstige Umstände beschleunigten 
Fäulnisprozess, welcher in einem licht- und luftdicht 
abgeschlossenen Behälter vor sich |eht, zur Klär¬ 
ung der Abwässer zu verwenden. Ls ist das Klär¬ 
verfahren des städtischen Ingenieurs Cameron in 
Exeter. Nach vielen Versuchen kleineren Umfanges 
ist in Exeter seit vorigem Sommer ein Klärwerk 
für einen der Hauptkanäle der dortigen Entwässer¬ 
ung eingerichtet. Das Verfahren zerfällt in zwei 
Stufen, in eine Vorklärung in dem luftdichten Be¬ 
hälter und in eine Nachklärung in Bakterienbetten. 
Auch die fäulnisartige Umsetzung im Behälter wird 
durch Lebewesen bewirkt. Diese gehören jedoch 
den unter Abschluss von Luft lebenden Arten, den 
anaöroben Bakterien an. Der Behälter ist im Stande, 
die unter gewöhnlichen Umständen erzeugte Ab¬ 
wässermenge eines ganzen Tages in sich zu fassen. 
Die Abwässer sind etwa 24 Stunden der Fäulnis 
ausgesetzt. Die Abwässer treten ohne vorherige 
Behandlung oder ohne dass gröbere Stoffe zurück- 
ehalten würden in das Becken ein. Die ungelösten 
toffe steigen sogleich an die Oberfläche oder sinken 
an den Boden, je nach ihrem spezifischen Gewicht. 
An der Oberfläche bildet sich durch sie eine meh¬ 
rere Zoll starke schleimige Schicht aus faulenden 
Stoffen, welche trotz der stetig stattfindenden Zu¬ 
fuhr, nachdem sie eine gewisse Stäi ke erreicht hat, 
nicht wesentlich mehr zunimmt. In dieser Schicht 
findet die lebhafteste Wirkung der anaöroben Bak¬ 
terien statt, die sich unter Abwesenheit von Licht 
und Luft ungemein rasch vermehren. Dort ist eine 
ständige Gasentwicklung bemerkbar, das Gas bricht 
in Blasen durch die Schleinischiclit. Die Stoffe, 
welche schwerer als Wasser sind, werden an der 
Bodenfläche des Behälters abgesetzt. Durch die 
Gasblasen, welche bei der Zersetzung sich bilden, 
werden beständig Teile derselben an die Ober¬ 
fläche getragen und sinken darauf wieder hinab, 
sodass innerhalb der Flüssigkeit ein fortwährender 
Austausch zwischen unten und oben stattfindet. 
Eine von Dibdin veranstaltete Untersuchung ergab, 
dass die aus einer Öffnung im Behälterdeckel her¬ 
austretende Luft nach Bestreichung eines Gas¬ 
brenners keinen Schwefelwasserstoff enthielt und 
frei von üblen Gerüchen war. Die ungelösten organ¬ 
ischen Stoffe werden im Behälter vollständig auf¬ 
gezehrt. Am Boden setzt sich kein Schlamm ab, 
und als Ergebnis einer sechsmonatlichen Thätigkeit 
war in dieser Beziehung nur eine sehr dünne Schicht 
erdiger unlöslicher Bestandteile bemerkbar. Die 
Wirkung des Beckens ist nach einem Gutachten 
Dibdins derart, dass die organischen Stoffe in im¬ 
mer einfachere Formen in der Richtung auf die 
Endprodukte Wasser, Ammoniak und Kohlensäure 
zerlegt werden. 

Zur Nachklärung sind fünf Betten vorhanden, 
die sich im Grundgedanken nicht von der der oben 
erwähnten Dibdinschen unterscheiden. 

Neben den beiden bisher betrachteten Verfahren 
verdient noch ein anderes auf bakteriologischer 
Grundlage beruhendes Klärverfahren der Erwähn¬ 
ung, welches in neuester Zeit von dem Obersten 
W. M. Ducat erprobt und in dem Londoner Vor¬ 
ort Hendon angewandt worden ist. Es bezweckt 
die Reinigung in einem einzigen Bakterienbett, und 
zwar mit dauerndem Betriebe. Hierzu ist die durch¬ 
lässige Füllungsschicht auf eine Höhe von etwa 
3 m gesteigert, und es ist ausserdem, um möglichst 
viel Sauerstoff zuzuführen, die Einrichtung getrof¬ 
fen, dass das Bett mit luftdurchlässigen Mauern 
versehen ist und auch im Innern eine das ganze 
FüUunMmaterial durchsetzende Luftröhrenleitung 
bii^t. Das Verfahren von LovVcock und Waring 
gr^ft sogar zu einer künstlichen Lüftung durch 


Luftpumpen. Bezüglich der drei letztgenannten Ver¬ 
fahren liegen Angaben Über ihre Anwendung 
und Bewährung im grösseren Massstabe noch nicht 
vor. Alle angeführten Verfahren, mit Ausnahme 
des Dibdinschen, sind patentiert. Man wird nicht 
zögern, dem letzteren dabei die Vorzüge der Bil¬ 
ligkeit und Anpassungsfähigkeit an die verschie¬ 
densten Verhältnisse zuzugeslehen.' 

Tn den Erörterungen, die sich im letzten Winter 
gelegentlich verschiedener über die bakteriologische 
Klärung gehaltener Vorträge in technischen Ver¬ 
einen entspannen, spielte stets die Frage, wie sich 
die Kiärverfahren den Fabrikabwässern gegenüber 
verhalten, eine Hauptrolle. Im ganzen sind die Er¬ 
finder eine klare Ant\vort hierauf schuldig geblie¬ 
ben, Wenn auch oft von ihnen versichert worden 
ist, dass die Beimischung von chemischen Stoffen 
keinen Unterschied mache. (?) Allerdings sind auch 
schon die Londoner Abwässer, an denen Dibdins 
Versuche vorgenommen wurden, ziemlich beträcht¬ 
lich mit Fabrikabwässern durchsetzt. Sie können in 
dieser Beziehung aber noch immer nicht mit denen 
der nördlichen englischen Industriestädte verglichen 
werden, auf deren Abwässer zunächst sich die Ver¬ 
suche zu erstrecken hätten, bevor sich ein klares 
Bild in dieser Beziehung gewinnen Hesse. Vielfach 
ist vorgeschlagen worden, allzu stark mit Fabrik¬ 
abgängen versetzte Abwässer vorher chemisch zu 
behandeln, eine Aussicht, die den wesentlichsten Vor¬ 
zug der bakteriologischen Klärung, den der Ein¬ 
fachheit und Billigkeit, ziemlich in Frage stellen 
würde. Ebenso ist von den Erfindern vielfach eine 
Verbindung von bakteriologischer Reinigung und 
Rieselfelderanlage in Aussicht genommen worden, 
derart, dass die erstere als eine Art Aushilfever¬ 
fahren für Fälle der Übersättigung des Bodens An¬ 
wendung finden solle. Cameron empfiehlt auch, 
den Ausfluss seines Fäulnisbeckens zur Berieselung 
der Felder zu verwenden, da er alle Dungstoffe, 
und zwar in einer zur Aufnahme durch die Pflanzen 
sehr geeigneten Form, in Lösung enthalte. In 
solchen Vorschlägen ist aber vorzugsweise das Be¬ 
streben zu erblicken, sich der oben erwähnten Re¬ 
gierungsvorschrift anzupassen, wonach die Un’er- 
Stützung der Regierung von der Annahme des 
Rieselfeldersystems abhängig gemacht wird. 

Zum Schluss darf nicht unterlassen werden, her¬ 
zuheben, dass sich die bisherigen Versuche in Eng¬ 
land lediglich auf rein praktischer Grundlage be¬ 
wegt haben. Wissenschaftliche Untersuchungen, die 
im Zusammenhänge damit erwünscht oder erforder¬ 
lich gewesen wären, sind, wie es scheint, bisher 
ganz unterlassen worden, und die Befürworter der 
bakteriologischen Klärung wissen keine Auskunft 
über die Art und die Lebensbedingungen der Bak¬ 
terien zu geben, denen sie ihr Klärungswerk an¬ 
vertrauen. Ebensowenig ist festgestellt worden, ob 
sich bei Zerlegung der Abwasserstoffe nicht etw’a 
giftige Basen von der Art der Toxine bilden. Im 
ganzen muss daher zunächst abgewartet werden, 
wie die Zweifel, die etwa von Seiten der Wissen¬ 
schaft auftauchen werden, von den Praktikern zer¬ 
streut werden können. Die vorstehende Mitteilung 
verfolgt nur den Zweck, auf das, was in der an¬ 
gedeuteten Richtung in England neuerdings ge¬ 
schehen ist, hinzuweisen und gründet sich in ihren 
Angaben über Ergebnisse u. s. w. auf die in ihr 
angezogenen Verönentlichungen. n. m. 


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8 io 


Betrachtungen und kleine Mitteilungen. 


Betrachtungen und kleine Mitteilungen. 

Wie leitet der Draht die Elektrizität. 

Wenn wir das Funktionieren eines Telegraphen¬ 
apparates oder einer Dynamomaschine überwachen, 
so erblicken wir eine feeihe von Phänomenen, die 
als einzelne wohl bekannt sind. Wir sehen Bewe¬ 
gungen von Körpern, Entwicklung von Licht oder 
Wärme oder von chemischen Reaktionen. In allen 
diesen Phänomenen erblicken wir, einzeln genommen, 
nichts Elektrisches. Aber die ganze Reihenfolge 
und Verkettung dieser Erscheinungen, ihr wechsel¬ 
seitiges Auftreten zeigt sich uns von einer der¬ 
artigen Form, dass wir als Ursache dieser Phäno¬ 
mene eine weitere vorübergehende Form der Ener¬ 
gie betrachten müssen. Von allen elektrischen Er¬ 
scheinungen war uns zuerst bekannt, dass Körper 
geladen werden können und dass einzelne Körper 
die Elektrizität besser fortleiten als andere. Später 
fand man, dass zwischen elektrischen Massen ge¬ 
nau dieselben Gesetze der gegenseitigen Anziehung 
herrschen, nach w'elchen die Himmelskörper sich 
bewegen und unser Erdball die Sonne umkreist. 
Vor loo Jahren erfand Volta seine galvanische 
Batterie und vor etwa 65 Jahren begann Faraday 
seine elektrischen Untersuchungen, deren Endergeb¬ 
nisse die'Grundlagen zu jenem schier unglaublichen 
Aufschwünge waren, welchen die Wissenschaft von 
den elektrischen Erscheinungen und die technische 
Verw’ertung derselben in den letzten Jahrzehnten 
genommen hat. Seit Faraday’s Zeiten hat Niemand 
eine weitere grundlegende Thatsache auf elek¬ 
trischem Gebiete entdecken können, welche nicht 
schon in jener glänzenden Entdeckungsreihe Fara¬ 
day’s enthalten gewesen wäre, und das Werk der’ 
Experimentatoren und Mathematiker seitdem war 
der Ausbau jenes wissenschaftlichen Gebäudes, 
dessen Grundmauern Faraday errichtet hatte. Durch¬ 
drungen von den Ideen dieses Königs der Ex¬ 
perimentatoren bewies der Mathematiker Maxwell, 
in einer glänzenden mathematischen Abhandlung, 
dass wir den Sitz des elektrischen Phänomens 
der „Ladung“ eines Körpers an der Grenze zwischen 
ihm und jenem isolierenden Medium zu suchen haben, 
welches ihn umgiebt, dass wir befugt seien, als 
Träger dessen, was wir Elektrizität nennen, den- 
reiben /\ther zu betrachten, der die Lichtwellen 
fortpflanzt, und dass die Fortpflanzung elektrischer 
Energie in diesem Äther sich mit genau derselben 
Geschwindigkeit vollzieht, mit welcher Lichtstrahlen 
den Äther durchsetzen. Der leitende Körper er¬ 
scheint also als eine Vntfrbrechung des Raumes, 
w'elcher von jener Form der Energie nicht durch¬ 
drungen werden kann, und anstatt zu sagen, der 
Körper sei geladen, müssten wir richtiger sagen: 
die denselben umgebende Luft ist mit elektrischer 
Energie geladen. W’ir sind gew’öhnt, einen Metall¬ 
draht als eine Art Kanal zu betrachten, durch dessen 
Inneres die Elektrizität strömt: thatsäohlich aber 
verhält sich die Sache gei’ade umgekehrt;_ die elek¬ 
trische Energie kann sich frei nur im Äther des 
isolierenden Mediums bewegen; die Leiter der 
Elektrizität aber sind solche Körper, in deren Poren 
der Äther seine Fähigkeit, Elektrizität leicht fortzu¬ 
pflanzen, verloren hat. Der Metalldraht spielt also 
nur die Rolle des Vernichters der Energie, und 
was man im Gewöhnlichen als unangenehme Neben¬ 
erscheinung auffasst, ist thatsächlich die wichtigste 
Rolle des Drahtes. Der Draht ist notwendig, da¬ 
mit er fortwährend den Gleichgewichtszustand 
stören, damit er ohne Unterlass Energie absorbieren 
und in Wärme umsetzen kann. Der im Drahte 
auftretende Effcktverlust ist eigentlich also nicht 
eine Folge, sondern die Ursache des Stromes, da 


er eine beständige Neuwirkung der Elektrizitäts- 
uelle erfordert und so nur jenen dauernden Zu- 
uss erhält, den wir Strom nennen. Der Draht 
verdient nur deshalb allenfalls den Namen eines 
Leiters, weil er der sich ausbreitenden elektrischen 
Energie eine Richtung verleiht, indem er sie längs 
seiner Oberfläche dahingleiten lässt. 'Die Rolle eines 
Leitungsdrahtes kann man sich am einfachsten 
durch den Vergleich mit dem Dochte einer brenn¬ 
enden Lampe versinnbildlichen. Der Docht ist un¬ 
entbehrlich, .weil er als Ort der Zerstörung des 
brennbaren Öles eine ununterbrochene Störung des 
Gleichgewichtes und einen stets erneuten Zufluss 
von Brennmaterial bewirkt, weil er der Flamme 
seine Richtung wenigstens angenähert verleiht und 
weil er die allmäliliche und dauernde Umsetzung 
der chemischen Energie in strahlende bewirkt, ob¬ 
wohl sein Material selbst nicht die Quelle dieser 
Umsetzung ist Elektrizität, 9. Okt. 97. 

» 9 

• 

Zur Frage der Entstehung des Erdöls. Von 
den zahlreichen Hypothesen Ober die Entstehung 
des Erdöls ist diejenige die wahrscheinlichste, welche 
die Tierreste früher^ geologischer Epochen als die 
Rohstoffe für die Erdölbildung heranzieht und ihrer bei 
nicht allzuhoher Temperatur, aber unter starkem 
Druck erfolgten Zersetzung die Entstehung der Erdöl¬ 
lager zuschreibt. Eine wichtige Stütze erhielt diese 
Anschauung durch den von Engler‘) erbrachten 
Nachweis, dass Fischthran bei der Destillation unter 
Druck ein öl liefer^ welches zum grossen Teile 
aus einem dem amerikanischen Petroleum sehr ähn¬ 
lichen Kohlenwasserstoflgemisch besteht. Der Deut¬ 
ung des Chemismus bei Bildung des Erdöls, welche 
von Engler aufgestellt wurde, hat man nun er.t- 
gegengenalten, dass das aus Thran erhaltene Druck¬ 
destillat von dem natürlichen Erdöl sich durch hohen 
Gehalt von leichtsiedenden Kohlenwasserstoffen 
(Äthylenen) ^anz wesentlich unterscheide. EngIcr 
hat diesen Einwand neuerdings entkrältet durch 
den Nachweis, dass die leichten Atliylene, welche 
bei der Thrandruckdestillation entstehen, sich beim 
Stehen bei gewöhnlicher Temperatur ganz von selbst 
in höher siedende Kohlenwasserstoffe (schwere 
Schmieröle) umwandeln. Auf Grund dieses experi¬ 
mentellen Materials spricht Engler folgende Ansicht 
über den Chemismus der Petroleuinbildung aus: 
Die stickstoffhaltige Substanz der Tierleichen hat 
durch Fäulnis und Verwesung Zersetzung erlitten 
unter Hinterlassung des Fettes. Diese Fettreste 
haben sich durch Druck und Wärme, teilweise viel¬ 
leicht auch durch ersteren allein, umgewandelt in 
sogenanntes Protopetroleum (gesättigte und unge¬ 
sättigte Kohlenwasserstoffe, grossenteils unter 300“ 
siedend). Die leicht siedenden, ungesättigten Kohlen¬ 
wasserstoffe dieses Protopetroleums sind dann all¬ 
mählich in spezifisch schwerere und hochsiedende 
Schmieröle übergegangen. Von Temperatur und 
Druck, denen das Erdöl bei seiner ersten Bildung, 
aber auch nachher noch ausgesetzt war, dürfte m 
erster Reihe sein wechselnder Gehalt an den ver¬ 
schiedenen Kohlenwasserstoffen abzuleiten sein, und 
damit dürfte sich die verschiedene Zusammensetzung 
der natürlichen Erdöle, ohne verschiedene Ausgans- 
stofl'e annehmen zu müssen, erklären. 

Ber. d. d. ehern. Gesellschaft XXX, 3338. - S.— 


Über die chemische Beschaffenheit derDiastase. 
Die Diastase ist ein Körper von noch unbekannter 
Zusammensetzung, den man als ein „ungeformtes 
Ferment“ bezeichnet. Sie bildet sich beim Keimen 


■) Bciichlc d. d. ehern. Gosellsduft ai, 1B16; aa, 59a. 


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Betrachtungen und kleine Mitteilungen. 


8 ii 


^er Gerste und anderer Gelreidearten und spielt 
«ine grosse Rolle bei der Spriterzeugung, indem 
sie die Verzuckerung der Stärke herbeiführt. Die 
Diastase ist schon von vielen Seiten untersucht wor¬ 
den, neuerdings von A. Wroblew'ski. Seine 
Untersuchung fährt zum Schluss, dass Diastase ein 
Protelnsioff sei. Diese Ansicht ist schon früher 
von anderen Forschem ausgesprochen, aber expe¬ 
rimentell nicht nachgewiesen worden. Wir müssen 
also nach unserem gegenwärtigen Wissen die 
Euzyme den Protelnstoften anreihen und in der 
Klassifikation der Protelngruppe ihren Platz geben. 
Euzyme sind den Eiweissstoffen ähnlich, gehören 
zur Klasse der albuminolden Substanzen und zwar 
als eine besondere Unterklasse. 

Ber. d. d. ehern. Gesellschaft XXX, 3089. —8.— 

* • 

• 

Über die Geschwindigkeit des Windes ver¬ 
öffentlicht Professor G. H e 11 m a n n Untersuchungen 
in der Meteorologischen Zeitschrift, die auf einen 
Zeitraum von 10 Jahren sich erstreckenden Beob¬ 
achtungen von Stationen ai^ allen Teilen der Erde 
beruhen. Die hauptsächlichsten Ergebnisse der¬ 
selben sind: 1) Die Geschwindigkeit wächst mit der 
Breite und nimmt von der Küste dem Inland zu 
ab. 2) In der jährlichen Periode tritt das Maximum 
in höheren Breiten und an exponierten Küsten in 
der kalten Jahreszeit ein, während das im Inneren 
des Festlandes zwischen März und Juli der Fall 
ist 3) Die Periode der Maximaigeschwindigkeit 
entspricht gewönlich der stürmischen Jahreszeit. 
4) Die Minimalgeschwindigkeit wurde gewöhnlich 
im August oder September auf den Inland-Statio¬ 
nen beobachtet, welche ein Frühjahrs-Maximum 
haben, während das Minimum aufKüsten-Stationen 
mit einem Winter-Maximum in den J’uni oder Juli 
fällt 5) Der Umfang der Jährlichen Periode ist an 
der Küste grösser als im Innland, aber am grössten 
in Gegenden, die starken periodischen Winden und 
Passatströmungen ausgesetzt sind. 

♦ * 

• 

Molekulare Vorgänge beim Polieren spröder 
Körper. Im Verein für Naturwissenschaft zu Braun¬ 
schweig sprach vor einiger Zeit Dr. A. M i e t h e 
über diesen Gegenstand und präzisierte zunächst 
die Begriffe „schleifen“ und „polieren* dahin, dass 
das Schleifen eines Körpers stattfindet, wenn der¬ 
selbe mit einem Material gerieben wird^ welches 
härter ist als er selbst, während ein Polieren nur 
bei Anwendung solcher Materialien eintritt, welche 
weicher oder höchstens ebenso hart sind als der 
bearbeitete Körper. Wesentlich fär die Technik des 
Polierens, wie fär die theoretische Erklärung der 
dabei stattfindenden molekularen Vorgänge, ist der 
Umstand, dass die Unterlage, auf welcher das Po¬ 
liermittel in Anwendung gebracht wird, stets wie¬ 
der weicher sein muss, als dieses selbst, z. B. 
Leder, Papier, Wachs etc. Beobachtungen, die der 
Vortragende beim Polieren des Bernsteins gemacht 
hat, machen es ihm wahrscheinlich, dass hierbei 
die Unebenheiten auf der Oberfläche des Körpers 
nicht abgescheuert, sondern gewissermassen, viel¬ 
leicht infolge einer durch die Reibungswärme her- 
beigeführten Verflüssigung der obersten Oberflächen¬ 
schicht, ausgewalzt werden. Daraus erklärt sich 
die ausserordentlich dichte und feine Struktur der 
Oberfläche polierter Körper. Von Wichtigkeit ist 
das optische Verhalten polierter Oberflächen. Wenn 
ein Lichtstrahl schief auf eine Körperfläche fällt, 
deren Strukturelemente verschwindend klein sind 
im Vergleich zu seiner Wellenlänge, so wird er 
beim Durchgang durch den Körper gebrochen. Ein 
solches Grössenverhältnis besteht aber zwischen 


den Strukturelementen polierter Oberflächen und 
der Wellenlänge aller Lichtstrahlen, auch der ultra¬ 
violetten; daher unterliegen diese sämtlich bei der 
Passierung solcher Flächen der Brechung. Wird 
indess eine polierte Obeifläche von Stranlen ge¬ 
troffen, deren Wellenlänge nicht grösser, sondern 
womöglich kleiner als die Strukturelemente der¬ 
selben ist, so müssen sich solche Strahlen verhalten 
wie Lichtstrahlen beim Auftreffen auf rauhe Flächen, 
d. h. sie gehen diffus ohne erkennbare Brechung 
weiter. Redner meint nun, dass die bis jetzt be¬ 
obachtete Nichtbrechbarkeit der Röntgenstrahlen 
möglicherweise auf diesen Umstand zurOckzuführen 
sein dürfte, da die Wellenlänge dieser Strahlen min¬ 
destens 15 mal kleiner ist, als die der äussersten 
ultravioletten Lichtstrahlen. Prof.Dr. Elster(Wolfen- 
bOttel) bemerkt hierzu, dass diese Vermutung auch 
bereijs von J. J. Thomson ausgesprochen worden 
sei. Uhlands Technische Rundschau v. 14. Okt. 1697. 


Über die Verbreitung der Hefe durch Insekten 
sind von Dr. Amadeo B e r 1 e s e im Laboratorium fär 
Agrikulturchemie zu Portici interessante Versuche 
angeführt worden. Wir entnehmen Mitteilungen der 
Voss. Ztg. darüber folgendes. Schon früher hatte Dr. 
Berlese beobachtet dass in den Ritzen der Borke 
an den Stämmen von Obst- und Waldbäumen ge¬ 
wöhnlich Zellen von Alkoholhefen (Saccharomyces 
apiculatus und S. ellipsoideus) zu finden sind. Die 
Vermutung lag nahe, dass Ameisen, die beständig 
an den Stämmen auf- und niederkriechen, und viet 
leicht auch Fliegen bei der Verbreitung der Hefe 
auf den Bäumen hauptsächlich wirksam sein 
möchten, zumal Dr. Berlese auch wahrgenommen 
hatte, dass die Hefezellen häufig am zahlreichsten 
sind an der Sonnenseite der Stämme, wo sich In¬ 
sekten, namentlich Fliegen mit Vorliebe aufhalten. 
Die unter Benutzung sorgfältig sterilisierter, durch 
lange Röhren mit einander verbundener gro^r 
Glasflaschen ausgeführten Versuche mit Ameisen 
(Cremastogastes scutellaris) lieferten nun thatsäch- 
lich den Beweis, dass die Tierchen die genannten 
Hefepilze an keimfreie Orte übertragen. Das Gleiche 
wurde fär Fliegen (Sarcophaga carnaria, Calliphora 
erythrocephala, Drosophila cellaris) nachgewiesen. 
Neben den oben genannten beiden Hefearten fand 
sich auch noch eine dritte, Saccharomyces pastori- 
anus. Mehrere Versuche mit Fliegen liessen er¬ 
kennen, dass die Hefezellen in deren Körper häufig 
viel reichlicher vorhanden waren, als an ihren 
Beinen und Füssen, und ausserdem zeigte sich, dass 
die Exkremente der Tiere grosse Mengen davon 
enthielten. Hierdurch wurde Dr. Berlese veran¬ 
lasst, zu untersuchen, ob die Hefezellen beim Durch¬ 
gang durch den Körper der Fliegen lebensfähig 
bleiben. Zu diesem Zwecke befestigte er lebende 
Fliegen der genannten Arten an Glasplatten und 
fütterte sie m^rere Tage lang teils mit sterilisiertem 
Traubenmost, teils mit Most, der eine Reinkultur 
von Hefe enthielt. Bei der Untersuchung der Ex¬ 
kremente fanden sich darin grosse Mengen der 
Hefe, die in der Nahrung enthalten war, und als 
diese Hefe in geeignete Kulturlösungen übertragen 
wurde, vermehrte sie sich mit grosser Schnelligkeit. 
Sie war also ungeschädigt durch den Darmkanal 
der Fliegen hindurchgegangen. Ja, noch mehr, es 
stellte sich heraus, dass im Innem des Fliegenkörpers 
eine starke Vermehrung der Hefe vor sich geht 
Denn als Fliegen nur das erste Mal mit einem 
Tropfen hefehaltigen Mosts in dem etwa 500000 
Hefezellen vorhanden waren, gefüttert wurden, dann 
aber nur noch sterilisierten Most erhielten, wurden 
in jeder einzelnen ihrer Ausscheidungen 4—600000 
Hefezellen gezählt.; Bei einer Fliege, die acht Tage 


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8i2 


Betrachtungen und kleine Mitteilungen. 


lebte, wurde die Zahl der während dieser Zeit aus¬ 
geschiedenen Hefezellen auf 35 Millionen berechnet, 
während sie nur 500000 in der Nahrung erhalten 
hatte. Diese Versuche zeigen, welch grossen An¬ 
teil die Insekten, zunächst Ameisen und Fliegen 
sowohl an der Verbreitung wie auch an der Ver¬ 
mehrung der Erreger alkoholischer Gährung haben. 
Anscheinend ist der sogenannte „Kropf der In¬ 
sekten, den Berlese mit stark zuckerhaltigem Sa(\ 
gefüllt fand, der Ort, wo die Vermehrung der Hefe¬ 
zellen vor sich geht. 

Zur Geschichte der Revolution und Napoleon I. 
erbringt die gelehrte Forschung fast Tag für Tag 
neues MateriS, so dass heutzutage auch die Werke 
von Tocqueville, Taine und Sybel bereits als ver¬ 
altet gelten können. Denn zunächsk ist der Napoleon¬ 
kultus in Frankreich wieder einmal modern und 
fördert Publikationen um Publikationen ans Tages¬ 
licht - im Mittelpunkt derselben steht der bekannte 
Bonapartist Massen —; wie gross das Interesse des 
Publikums ist, dürfte z. B. der Umstand beweisen, 
dass das in diesem Jahre erschienene Werk von 
Massen „Napoleon etsa famille* bereits zum vierten- 
mal aufgelegt wurde! Ganz im Gegensatz zu dieser 
Art der Forschung wandten sich andere ebenfalls 
in neuester Zeit den kulturgeschichtlichen Fragen 
zu. Und nun erlebte man ein eigenartiges Schau¬ 
spiel: während uns die Einen den grossen Mann 
in der Kleinlichkeit des alltäglichen Lebens mit 
seinen Gewohnheiten und Schwachheiten schilderten, 
die anderen auf Grund seiner Briefe, in denen er 
freilich von den berühmtesten Persönlichkeiten sich 
sehr respektlos zn reden erlaubt und mit Worten 
wie „Kanaille“, „füsilieren“ etc. sehr verschwender¬ 
isch umgeht, ihn als Tyrannen, als blutdürstiges 
Scheusal hinzustellen suchten, fand er an den Kultur- 
historikem plötzlich warme Freunde. So hat z. B. 
Passy kürzlich nachgewiesen, dass es eigentlich 
mit der Getreideversorgung von Paris umer dem 
Konsulat und dem Kaiserreich ganz gut bestellt ge¬ 
wesen, dass das Magazinsystem' anfangs die glän¬ 
zendsten Erfolge erzielte und eret in den Krisen 
von 1811/12 versagte. Auch das kirchliche und re¬ 
ligiöse Leben von anno dazumal hat man sich jüngst 
wieder angesehen (Aulard.,, in der „Revue de Paris", 
I. Mai) und ist zu der Überzeugung gekommen, 
dass es eigentlich - bei der absoluten Trennung 
von Kirche und Staat und infolge der Niederhaltung 
hierarchischer Herrschafisgelüste - sich ganz gut, 
d. h. in Frieden leben liess. Eine Zusammenfass¬ 
ung und geistreiche Verarbeitung des haufenweise 
geschichteteu Materials von berufener Seite (wir 
denken z. B. an Karl Theodor Heigel) wäre gewiss 

kein unverdiensiliches Werk. Karl Lory. 

• • 

* Bei Cannatello in der Provinz Girg^enti, dem 
alten Agrigent auf Sizilien hat Professor G. E. Rizzo, 
wie wir der Voss. Ztg. nach einer Mitteilung im 
„Bullet, di pal. ital.“ entnehmen, eine wichtige Ent¬ 
deckung aus prähistorischer Zeit ge¬ 
macht, die geeignet scheint, auf die Kultur Siziliens 
vor der Einwanderung der Griechen unter den 
Sicularen und Sicanern ein helleres Licht zu werfen. 
Während die bisher gemachten Funde ausschliess» 
lieh Nekropolen oder Einzelgräbcr aus dieser 
Periode betrafen, hat Prof. Rizzo eine Anzahl Wohn¬ 
häuser entdeckt, die ohne Zweifel ehemals eine zu¬ 
sammenhängende Ortschaft bildeten. Leider hat 
der Einspruch des betreffenden Grundbesitzers die 
Fortsetzung der begonnenen Ausgrabungen ver¬ 
hindert, so dass die Untersuchung nicht abgeschlossen 
werden konnte und mancher Zweifel noch-ungelöst 
geblieben ist. Die Anzahl der freigelegten Gebäude 
beträgt etwa acht oder wenig wehr; wie viel sich 


noch auf dem undurchforschten Gebiet befinden, 
lässt sich auch durch Schätzung nicht annähernd 
bestimmen. Die Form der einzelnen Hütten ist rund, 
ihr Umfang gering, ihr Durchmesser wenig grösser 
als drei Meter. Die Gegenstände, die sich darin 
gefunden haben, sind ausser Knochen von Menschen 
und Tieren thönerne Gefässe und Waffen aus Bronze, 
Von den ersteren ist am merkwOrdiesten eine 
grosse dickbauchige Urne mit acht HenSeln an der 
Mitte der Aussenseite, die vielleicht dazu dienen 
mochten, das Gefäss an Stricken aufzuhängen. Die 
Form ist bisher noch unbekannt. Andere Gefässe 
ähneln in Form und Material den im archäologischen 
Museum zu Syrakus befindlichen, aus Nekropolen 
stammenden Funden. Die Waffen bestehen aus 
Schwertern, Dolchen, Lanzenspitzen und Beilen aus 
Bronze. Unter den Dolchen befindet sich einen der 
noch ungebraucht und sogar noch nicht völlig fertig 
ist. Die Folgerung, die rrof. Rizzo daraus zieht, 
dass das Haus, worin dieser Dolch gefunden wurde, 
als die Wohn- und Werkstätte eines alten Waffen¬ 
schmiedes anzusehen sei, dürfte allerdiMs etwas zu 
weit gehen. Im allgemeinen zeigen die Gegenstände 
viel Aehnlichkeit mit den Funden der sogenannten 
mykenischen Zeit; doch fehlt es auch nicht an 
einzelnen Abweichungen und Besonderheiten. Als 
die Zeit ihrer Herstellung dürfte die Mitte oder das 
Ende der älteren Bronzeperiode zu betrachten sein. 

Der Nachlass Heinrich Barths, des Er- 
schliessers von Afrika, wie man ihn heute wohl 
nennen darf, wird zum ersten Male in einem bio¬ 
graphischen Werke („Heinrich Barth, der Bahn¬ 
brecher der deutschen Afrikaforschung“) verw’ertet 
und teilweise erschlossen, das in einigen Wochen 
im Verlage von Dietrich Reimer (Emst Vohsen), 
Berlin, erscheint. Verfasser ist der Schwager und 
Freund des zu früh (18651 seinem hohen Berufe 
entrissenen Forschers, der kgl. sächsische General- 
Lieut. z. D. Gust. von Schubert. Das Buch ent¬ 
hält w’ertvolle Aufschlüsse zur Geschichte der 
deutschen Afrikaforschung und eine Reihe unge¬ 
druckter Briefe von A. v. Humboldt, Bunsen, Aug. 
Böckh, Karl Ritter und Barth selbst. Speziell die 
Geschichte seiner ersten Reise, die ihn den Benuö 
entdecken liess, wird jetzt, wo, die Togofrage.sich; 
mehr und mehr in den Vordergrund kolonialpolit-. 
ischer Erörterungen schiebt, lebhaftes Interesse er¬ 
regen. — E.— 

• Zur Beobachtung der nächsten völ¬ 
ligen Sonnenfinsternis am 22. lanuar i8p8 
gehen von England drei wissenschaftliche Expe-: 
ditionen nach Indien. Professor Lockyer, wird ru-" 
sammen mit Fowler bei dem Orte Ratnagiri an der 
Westküste von Dekkan Stellung nehmen, der könig¬ 
liche Astronom Turner mit Dr. Common an einer 
Stelle der Eisenbahn von Bombay nach Puna und 
endlich Dr. Newall in Wardha südwestlich von der 
Stadt Nagpur. Der letzgenannle hat eine ganz be¬ 
sonders interessante Untersuchung auf sein Pro¬ 
ramm gesetzt, er will nämlich mittels eines grossen 
chlitien-Spektroskdpes mit 2 Prismen von Grad 
versuchen, de Umdrehungsgeschwindigkeit der 
Sonnen-Corona nach der Verschiebung ihrer Spek¬ 
trallinien östlich und wesüich vom Sonnenkörper 
zu bestimmen. 


No. 46 der Umsebau wird enUialteo: 

Die lechnisthen Fwrtsctiritte- im Heerwesen. Von Ma)or L. —' 
Ambronn, Die Astronomie im verg. Jahre II. Die Pi»ncteu. —. 
Michaelis, Das biogenetische Grundgesetz. — Arends,- Die. 
Kanipherindustrie in Japan und Chin.i. — Schmidt, Neuere 
UnlersuchungcD aber Kampber. — Die Einschreuenbabh. • 


G. Horstmann's Druckerei. Fraokfutt tu M- 


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DIE UMSCHAU 

ÜBERSICHT ÜBER DIE FORTSCHRITTE UND BEWEGUNGEN AUF 
DEM GESAMTGEBIET DER WISSENSCHAFT, TECHNIK, 
LITTERATUR UND KUNST 

herau8g:egebcn von 

DR. J. H. BECHHOID. 


WooV.entlieh eine Nummer. 

Zu beziehen durch 
alte Buchhaodhmgen und 
Postanstaltcn. 
fostzc itungspreisliste No. 7021.1. 

Verlag von; 

H. Bechhold Verlag, Frankfurt a. M. 


Neue Kr&me 1921. 


Preis vierteljährlich 
M 2.50. 

Jahres* Abonnement 
Preis M. 10.— 

Im Ausland nach Cours. 
Vfiaiitwortlichcr Redakteur: 

Otto Adolf Wolters, Frankfurt a. M. 


46. I. Jahrg. 1897. 13. November. 


Die technischen Fortschritte im Heerwesen. 

In Bezug auf die Ausrüstung des Mannes 
ist man in allen Heeren bestrebt, Gewichts- 
Ersparnisse zu erzielen; die Verwendung des 
Aluminiums spielt hierbei die wesentlichste 
Rolle. Lange Zeit hatten die Versuche mit 
diesem ■ leichten Metall keinen Erfolg, da das¬ 
selbe sich den äusseren Einflüssen gegenüber 
nicht genügend haltbar erwies. Zuerst gelang 
es der deutschen Industrie durch ein beson¬ 
deres Stanzverfahren diesen Nachteil zu über¬ 
winden. Seitdem werden Kochgeschirr, Feld¬ 
flasche und Trinkbecher aus Aluminium her¬ 
gestellt, ~ ersteres brüniert, ~ ebenso der 
Beschlag des Helmes, welcher, wie auch der 
Tornister leichter geworden ist. Das Gesamt¬ 
gewicht der neuen Ausrüstung, aiisschl. Ge¬ 
wehr und der am Leib getragenen Bekleid¬ 
ung, beträgt 18,700 kg gegen 23,950 bisher. 

In Frankreich war man bis vor Kurzem 
trotz zahlreicher Versuche nicht so weit 
gekommen. Ausgedehnte neue Erprobungen 
mit einer grossen Sammlung der verschie¬ 
densten Geräte wurde während des Feld¬ 
zugs auf Madagaskar vorgenommen, welche 
selbst in Bezug auf Einwirkung von See¬ 
luft und -Wasser ausserordentlich befrie¬ 
digend ausgefallen sein sollen; Trinkge- 
fässe, Feldflaschen, Kochgeschirre, Feldkessel 
u. s. w. werden künftighin um die Hälfte 
leichter sein wie bisher. Für Sattelbäumc der 
Truppensättel, sog. Bocksättel, hat sich Alu¬ 
minium nicht bewährt, dagegen für die der 
englischen Sättel. — In Russland werden 
auch beim Kriegsmaterial Versuche angestellt; 
die Anwendung des Aluminiums bei Munitions- 
Fahrzeugen soll durch die Verminderung ihrer 
eigenen Last eine vermehrte Munitionsauf¬ 
nahme ermöglichen. -- Eine fernere hohe 
Bedeutung scheint das Aluminium für die 
Lußschifffahrl zu gewinnen, indem die Her- 

Umschau 1897. 


Stellung der Rippenkonstruktion des Ballons, 
des Netzes, ja des ganzen Fahrzeugs aus die¬ 
sem Metall Versuchen unterliegt. 

Die Bewaffnung, sowohl in Bezug auf 
Gewehr wie Geschütz, befindet sich zur Zeit 
bei allen Staaten, ausschliesslich Griechenland 
und Serbien, ungefähr auf dem gleichen Stand¬ 
punkt. Die verschiedenen eingeführten Gewehr- 
Systeme beruhen sämtlich auf Mehrladung mit 
einem Geschosskaliber von meist 7—8 mm. 
Als am wenigsten aufderHöhe der Zeit stehend 
dürfte das französische Lebel-Gewehr bezeich¬ 
net werden, welches das Magazin für die 
Patronen noch im Vorderlaufschaft liegen hat 
und zu vielen Klagen über notwendig wer¬ 
dende Reparaturen Veranlassung gab. Man 
sprach daher viel von der beabsichtigten Ein¬ 
führung eines neuen Gewehres, indessen hat 
man sich vorläufig mit Verbesserungen am 
alten begnügt. Wenn nun auch in Hinsicht 
auf Neubeschaffungen die Gewehrfrage als 
vorläufig abgeschlossen gelten kann, so be¬ 
schäftigt sie die technischen Kreise um so 
lebhafter in Bezug auf neue Versuche. Zu¬ 
nächst harrt die Kaliberfrage noch der Lös¬ 
ung, da ein noch kleineres Kaliber als 7 mm 
von Vielen angestrebt wird; wo aber die 
Kalibergrenze für die nötige Wirkungsfähig¬ 
keit liegt, ist bis jetzt noch keineswegs zweifel¬ 
los festgestellt worden, trotzdem einige Staa¬ 
ten, — Dänemark, Italien, Niederlande, Ru¬ 
mänien, Schweden, Norwegen, — mit der 
Annahme eines Kalibers von 6,5 mm vorge¬ 
gangen sind.') — Sehr in den Vordergrund 
treten sodann die Konstruktionsversuche von 
selbstthätigen Handfeuerwaffen, „Selbstspan¬ 
ner" oder „Automatengewehr“. Die Vorzüge 
eines solchen sind bereits in No. 28 der Um¬ 
schau (Einführung eines neuen Infanteriege¬ 
wehrs) geschildert. Hervorzuheben sind die 

U Nordamerika hat sich neuerdings sogar für 
ein 6 mm Repetier-Gewehr für die Marinetruppen 
entschieden. 


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Die tECHNiscHEN Fortschritte im JIeerwesei^. 


Ö14 


verschiedenen Systeme von Mannlicher, Bor- 
chards Pistole, das italienische Cei-Gewehr. 

Zusammenstellung der in den europäischen 
Staaten eingeführten Mehrlader*Gewehre: 

Deutschland,*) Frankreich und Österreich 
8 mm, letzteres besitzt in dem Mannlicher- 
Modell 95 bis jetzt das leichteste Gewehr: 
3»63 —78 kg; Deutschlands Mod. 88 wiegt 
3»8 kg. 

Italien, Mod. 91 = 6,5 mm. 

Spanien, Dänemark und Schweden Mauser, 
7 mm, 8 mm und 6,5 mm. 

Norwegen Krag-Jörgensen, 6,5 mm. 

England Lee-Metford, 7,7 mm, ausserdem 
ein Revolver-Geschütz zur Beigabe an die Ka¬ 
vallerie bezw. beritt. Infanterie. 

Schweiz Mod. 89, ausserdem eine Maxim- 
Mitrailleuse für Kavallerie und Gebirgskrieg. 

Russland 3 Linien-Gewehr = 7,62 mm. 

Belgien Mod. 89=7,65mm;erwähnenswert 
ist hier die „Strike“-Patrone, d. h. eine Kar¬ 
tätschenpatrone mit der besonderen Bestimm¬ 
ung, bei Exzessen auf kurze Entfernungen 
eine grössere Anzahl von Patronen mit einem 
weniger mörderischen Erfolg wirken zu lassen, 
als dies bei der normalen Kartätsche der 
Fall sein würde. 

Niederlande, Neues Mannlicher 6,5 mm. 

Die Fortschritte im Artilleriewesen können 
wir hier übergehen, da diese schon ausführ¬ 
lich in No. 24, 35 — 37 der Umschau be¬ 
sprochen sind. 

Als eine ihrer Folgen hat sich eine voll¬ 
ständige Umwandlung auf dem Gebiete der 
Festungsbaukunst ergeben. Die grossartigen 
Erfolge der Belagerungs-Artillerie bewirkten 
anfangs, dass man den permanenten Festungen 
überhaupt keine Daseinsberechtigung mehr zu¬ 
gestehen wollte; bald aber begann man wirk¬ 
sam entgegenzuarbeiten, zunächst mit Gement 
und Beton, — wodurch den Eindeckungen 
eine ausserordentlich erhöhte Widerstandskraft 
verliehen wurde, — und in neuester Zeit mit 
Panzerung, Wellblech und Draht. Durch die 
letzteren Hilfsmittel hat die Festungsbaukunst 
der Angriffsartillerie gegenüber nicht allein 
wieder das Gleichgewicht, vielmehr das Über¬ 
gewicht errungen, da die Panzertechnik zur 
Zeit der Geschoss- und Geschütztechnik noch 
überlegen ist. Allerdings sind Panzerungen 
ein äusserst kostspieliges Material, sodass ge¬ 
rade die kleineren, lediglich auf die Vertei¬ 
digung beschränkten Staaten dieselben in 
ausgedehnterem Masse anzuwenden in der 
Lage sind, als die Grossstaaten, deren Haupt- 

*) Irrtümlich ist kürzlich in Zeitung^en von der 
Ausgabe neuer Gewehre an einige Truppenteile 
berichtet worden —- es handelt sich hierbei ledig¬ 
lich um den Austausch der bisher im Gebraut 
gewesenen Gewehre gegen andere derselben Art. 


krall in der Feldarmee beruht. Dies finden 
wir durch die umfangreichen Panzerungen bei 
don neuen Befestigungsanlagen Dänemarks, 
Belgiens, Rumäniens bestätigt, während die 
Grossmächte hiermit nur die wichtigsten Punkte 
schützen und sonst nur allmälig nach Mass- 
gäbe der vorhandenen Geldmittel Vorgehen 
können. Unser westlicher Nachbar ist fort¬ 
während an der Arbeit, vor Allem die Sperr¬ 
forts nach dieser Richtung durch Verstärkung 
der Hohlbauten und Ausrüstung derselben 
mit Panzergeschützen umzugestalten. Unter 
„Panzergeschütze“ ist zu verstehen, dass die 
schweren Fernkampf-Geschütze in drehbaren 
Panzertürmen und -kuppeln, sowie in Panzer¬ 
kasematten, die Nahkampf-Geschütze (meist 
Schnellfeuerkanonen kleinen Kalibers) in Senk¬ 
oder fahrbaren Panzerungen aufgestellt wer¬ 
den. Durch diese ^ mwandlung der Festungs- 
Armierung werden die Forts entweder zu 
„Panzerbatterien“ ohne Infanterie-Verteidigung 
— diese wird dann in Zwischenwerke oder 
-Stellungen verlegt — oder zur Infanterie- 
Hauptstellung, während in diesem Fall der 
artillerisUsche Fernkampf dem Zwischenge¬ 
lände zufällt. — Indessen ist auch diese Frage 
des neuesten Befestigungssystems noch keines¬ 
wegs, geklärt und stehen sich die Meinungen 
der berufenen Fachleute in mancherlei Be¬ 
ziehung noch gegenüber. 

Das Erkundungs- und Meldewesen hat mit 
der immer mehr wachsenden Vergrösserung 
der Heere eine erhöhte Bedeutung gewonnen. 
Je mehr Truppen zu den entscheidenden 
Schlachten vereinigt werden müssen, Je grösser 
dadurch die Entfernungen zu und auf den 
Gefechtsfeldern sich gestalten, desto schwie¬ 
riger wird es werden, einen ausreichenden 
Kundschaflsdienst ausüben zu können, wäh¬ 
rend andererseits die Notwendigkeit ein^s 
solchen für die Führer zunimmt, damit so¬ 
wohl die entscheidenden Entschlüsse recht¬ 
zeitig gefasst, als auch ihre Ausführungen 
für Ort und Zeit rechtzeitig gewährleistet 
werden können. In allen Heeren ist man da¬ 
her bestrebt, diesem Zweig des militärischen 
Lebens immer neue Mittel dienstbar zu machen 
oder die schon gekannten mit Hilfe der Tech¬ 
nik zu vervollkommnen. 

Der Organisation von Meldereiter-Detache¬ 
ments, *) Jagdkommandos, berittener Infanterie, 
Fahrrad-Abteilungen haben wir bereits früher an 
entsprechender Stelle gedacht. Bezüglich des 
Fahrrads verweisen wir noch auf No. 2 der 
Umschau und möchten hierzu nur noch er¬ 
wähnen, dass für das Fahrrad des Systems 
G^rard eine leicht trennbare Zusammenkupp- 


*) In Deutschland: „Detachements Jäger zu 
Pferd“. 


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Die technischen Fortschritte im Heerwesen. 


lung erfunden worden ist, wodurch zwei Rä¬ 
der gemeinsam zu benutzen sind; es wird 
dadurch erzielt: grosse Raumersparnis auf 
dem Marsch; Verhinderung des Stürzens und 
leichterer Gebrauch auf schlechten Wegen; 
die Möglichkeit, verwundete Fahrer zurück- 
zubringen und diesen Ausfall wieder zu decken 
durch weniger geübte Leute; die Möglichkeit 
der leichten Gepäckbeförderung für die Rad¬ 
truppe und damit endlich noch die grösst- 
mögliche Unabhängigkeit derselben. 

Kriegshunde und Brieftauben vermögen 
als Stephansjünger zwischen Vorposten und 
den rückwärtigen Abteilungen (Hundepost) 
oder zur Vermittlung der Verbindung zwischen 
eingeschlossenen Festungen und der Aussen- 
weit (Taubenpost) dem Heere treue Dienste 
zu leisten. Die Verwendbarkeit der Kriegs¬ 
hunde ist jedoch eine noch vielseitigere. Im 
Sicherheitsdienst ergänzen sie die Wachsam¬ 
keit der Posten und die Findigkeit von Pa¬ 
trouillen, in und nach dem Gefecht ist das 
Aufsuchen von Verwundeten und Vermissten 
eine dankbare Aufgabe derselben. Auf Kuba 
sollen die Spanier mehrfach durch Kriegs¬ 
hunde rechtzeitig von beabsichtigten Über¬ 
fällen der Aufständischen Kenntnis erhalten 
haben. In Deutschland ist jedes Jägerbataillon 
mit einer Anzahl von Hunden ausgerüstet, 
welche bei demselben nach einer besonderen 
Vorschrift dressiert werden. — Die Verwend¬ 
ung der Brieftauben beschränkt sich nicht 
mehr nur auf Festungen, in neuester Zeit sind 
auch vielfache Versuche von Schiffen aus zur 
Herstellung der Verbindung mit dem Fest¬ 
lande gemacht worden, welche sehr befrie¬ 
digend ausgefallen sind und ergeben haben, 
dass die Tauben der Seekrankheit nicht unter¬ 
liegen, sondern sofort richtig aufsteigen, dass 
sie aber während des Gefechts nicht verwend¬ 
bar sind, da sie durch das Getöse des Ge¬ 
schützkampfes betäubt werden und den Orien¬ 
tierungssinn verlieren; das Gleiche dürfte 
wohl auch im Festungskriege eintreten. Da 
die Tauben nach dem Telegraph die schnellsten 
Melder sind, so dienen sie auch zu rascher 
Nachrichtenbeförderung auf weitere Entfern¬ 
ungen, oder wenn der Telegraph versagt. 
Auf Madagaskar ist eine Taubenpost einge¬ 
richtet zwischen dem Küstenort Tamatave und 
der Hauptstadt Antananarivo; ferner besteht 
eine solche mit gutem Erfolg im Sudoran 
zwischen Ain Lefra und Timbuktu. Im Durch¬ 
schnitt erstreckt sich die Verwendbarkeit der 
Tauben bis zu Entfernungen von 300 km, 
und beträgt ihre Leistungsfähigkeit r km in 
einer Minute. 

Über die Verwendung des elektrischen 
Telegraphs und des Fernsprechers im Allge¬ 
meinen dürfen wir umsomehr hinweggehen, 


Ö15 


als über wesentliche Vervollkommnungen in 
der neueren Zeit nicht zu berichten ist. Die 
Telegraphie ohne Draht, die vielleicht recht 
eingreifend wird, befindet sich noch zu sehr 
im Versuchsstadium. Im Einzelnen interessiert 
uns insbesonders die Herstellung elektrischer 
Leitungen in der vordersten der vier Zonen, 
in welche die Heerestelegraphie eingeteilt 
wird,^) nämlich in und vor der Front der 
Armeen, da hier einige Verbesserungen ein¬ 
getreten sind. Das Legen des Kabels durch 
kleine besonders ausgebildete Abteilungen — 
Radfahrer, Kavalleristen — geht ausserordent¬ 
lich schnell von statten; bei Rkdfahrern rollt 
sich der Draht (ganz dünner Stahldraht) wäh¬ 
rend des Fahrens ab, Kavalleristen können 
ihn beim Vorbeireiten über Baumäste werfen 
oder mittelst besonderer an der Lanze an¬ 
gebrachter Gabelzinken aufiegen. Durch die 
Erfindung eines tragbaren Feldtelegraphen, 
der in Tornisterform auf dem Rücken oder 
auch umgehängt oder in der Hand getragen 
werden kann, sowie durch vorgenommene 
Verbesserung des Kavallerie-Telegraphen (vgl. 
No. 5 der Umschau) erfährt diese Thätigkeit 
jioch eine vermehrte und erleichterte Ver¬ 
wendbarkeit für Vorposten, Patrouillen und im 
Gefecht. Durch Einschaltung eines Fernsprech¬ 
apparates mit Klopfer und Summer in eine 
Telegraphenleitung vermag man durch Ab¬ 
hören der Morse-Zeichen an jedem beliebigen 
Ort ohne Batterieen die Verbindung herzu¬ 
stellen. In den meisten Staaten sind schon 
im Frieden Feldtelegraphen-Truppen organi¬ 
siert, in Deutschland und Frankreich bisher 
noch nicht, für letzteres hat jedoch der Kriegs¬ 
minister in der Deputiertenkammer die dem- 
nächstige Errichtung eines Feldtelegraphen- 
Bataillons angekündigt. — An diesem Orte 
sei auch noch der weiteren Dienste der Elek¬ 
trizität für militärische Zwecke kurz gedacht. 
Das elektrische Licht hat eine sehr viel¬ 
seitige Verwendung: der „Scheinwerfer*^ er¬ 
möglicht auch in der Nacht die ununter¬ 
brochene Ausführung der Armierungsarbeiten 
in Festungen, die Entdeckung der Angriffs¬ 
arbeiten des Belagerers, wie auch seiner An¬ 
näherungs- und Sturmversuche, für den Be¬ 
lagerer das Erkennen der feindlichen Ziele, 
und endlich für Freund und Feind das Auf¬ 
suchen von Toten und Verwundeten auf dem 
Schlachtfeld; mit Hilfe emtr elektrischen Lampe 
und eines Vergrösserungsglases werden die 


I. Zone: AnschlussUnien an das Netz des 
eigenen Landes, ausgebaut wie dieses; 2. Zone: 
Etappen-Zone; 3. Zone: Feldzone, feldmässig ge¬ 
baut, zur Verbindung der einzelnen Heereskörper, 
Kommandostellen unter sich; 4. Zone: vorüber¬ 
gehend, flüchtige Verbindungen, Kavallerie- und 
Vorpostentelegraphen. ,, 


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8 i6 


t)lE TECHNISCHEN FORTSCHRITTE IM MeERWES^N. 


durch photographische Verkleinerung in win¬ 
ziger Schrift hergestellten Brieftauben-De- 
peschen auf eine weisse Wand geworfen und 
lesbar gemacht; elektrische Leitungen be¬ 
wirken das Abfeuern von schweren Geschützen 
und die Explosion von Sprengstoffen über 
und unter der Erde von beliebiger Entfern¬ 
ung aus. Zu letzterem Zweck ist im deutschen 
Heere in allemeuester Zeit an Stelle der elek¬ 
trischen Funken — die elektrische Glühzünd¬ 
ung eingeführt worden, welche der ersteren 
gegenüber eine absolute Sicherheit, die Un¬ 
abhängigkeit von der Geschicklichkeit des 
Sprengenden und die Gebrauchs-Möglichkeit 
in allen Körperlagen voraus hat.’) Auch die 
selbsthätige Sprengung von Eisenbahnschienen 
vermittelt die Elektrizität, indem in dem Augen¬ 
blick, wo der Zug über die zu sprengende 
Stelle fährt, sich die Leitung schlicsst und 
die Sprengladung zum Explodieren gebracht 
wird, ist hier zu nennen. 

Durch den elektrischen Telegraph wurde 
eine Zeitlang die optische Signalgebung sehr 
in den Hintergrund gedrängt und vernach¬ 
lässigt. Mit der Erkenntnisjedoch, dass ersterer 
manchmal doch ein sehr unsicheres Hilfsmittel 
ist, das leicht im wichtigsten Augenblick ver¬ 
sagen kann, hat man überall den verschie¬ 
denen Arten der optischen Melde-Möglichkeit 
wieder Aufmerksamkeit zugewandt. Die opt¬ 
ische Signalgebung hat namentlich Air den 
Gebirgs- und Kostenkrieg und da, wo über 
feindliche Stellungen hinweg eine Verständig¬ 
ung eintreten soll, ihre zweifellosen Vorzüge, 
indessen ist sie sehr von der Beschaffenheit 
der Luft abhängig und daher auch nur be¬ 
schränkt anwendbar. Zur Abgabe von Zeichen 
durch verschiedenartige Schwenkungen oder 
Zusammenstellungen werden rahmenartige 
Signalflaggen von verschiedenen Farben — 
bei Nacht Signallaternen oder elektrische 
Scheinwerfer — benutzt, oder an Masten be¬ 
wegliche Flügel (Semaphore), ferner die Zeichen 
des Morse-Apparates nach Verabredung oder 
durch reflektiertes Sonnenlicht als Lichtblitze 
(Heliotrope), bei Nacht hervorgerufen durch 
die mannigfachen Lichtquellen (l^rümmong- 
sches Kalklicht, Magnesium, elektrisches Licht 
u. s. w.). 

Es erübrigt uns nun noch die Besprech¬ 
ung desjenigen Erkundigungsmittels, welches 
seit einiger Zeit das allgemeine Interesse im 
hervorragendsten Masse in Anspruch nimmt: 
des Luftballons, 

Solange die Lenkbarkeit des Luftschiffes 
nicht erfunden ist, hat für militärische Zwecke 
eigentlich nur der Fesselballon Bedeutung. In 


*) Erfindung und Herstellung des Gliilizflnd*Ap¬ 
parates durch Siemens und Halskc. 


ganz besonders energischer und erfolgreicher 
Weise hat sich die deutsche Militär-Luftschiffer¬ 
abteilung die Weiterentwicklung und Nutzbar¬ 
machung diesses wichtigen Beobachtungsmittels 
angelegen sein lassen. Indessen ist noch in 
keinem Lande die Organisation der Luft- 
schiffer-Formationen abgeschlossen; letztere 
sind von Bedeutung neben Deutschland nur 
in Frankreich, England, Russland und in 
jüngster Zeit auch in Österreich vorhanden. 
Bis 1890 war der Fesselballon im Allgemeinen 
nur für die ständigen Verhältnisse des Fest¬ 
ungskrieges verwendbar, da die Erzeugung 
des Gases sehr umständlich war und die 
Füllung des Ballons mehrere Stunden in An¬ 
spruchnahm. Seither ist es durch den Fortschritt 
der Technik gelungen, das zur Füllung nötige 
Gas im zusammengepressten Zustande in Stahl¬ 
flaschen mitzuführen. Durch entsprechende 
Umgestaltung des Wagen-Materials, haben die 
Luftschifferabteilungen die Beweglichkeit einer 
Batterie erhalten, und dauert die Füllung nur 
noch ’/i Stunde. Auf Grund dieser Einricht¬ 
ungen ist die Verwendbarkeit des Fessel¬ 
ballons auch im Feldkriegc durch zahlreiche 
Versuche zweifellos festgestellt worden. Die 
im Kaisermanöver 1896 beiden Seiten zuge¬ 
teilten Luftschifferparks haben ein ganz ausser¬ 
ordentlich befriedigendes Resultat ergeben. 
Wenn auch die Gefahr des Herunterschiessens 
durch Artillerie und Gewehrfeuer bis zu 5000 m 
Enfernung und 800 m Höhe vorliegt, so haben 
ausgedehnte Versuche besonders in Österreich 
ergeben, dass dieselbe namentlich bei Orts¬ 
und Höhe-Veränderungen nicht so bedeutend 
ist, als man angenommen hatte, und einen ganz 
bedeutenden Munitionsverbrauch nötig macht; 
nur wenige Durchlöcherungen durch Gewehr¬ 
kugeln vermögen den Ballon überhaupt nicht 
zum Sinken zu bringen. Durch frühzeitige 
Verwendung bei der Avantgarde, während des 
feindlichen An- und Aufmarsches, wird man 
dieser Gefahr zu begegnen suchen. Die nach¬ 
teiligste Einwirkung auf die beobachtende 
Ausnützung des Ballons üben niedrige Wind¬ 
verhältnisse aus, wodurch die Schwankungen 
sehr bedeutend werden und der Ballon leicht 
niedergedrückt wird. Diesem Übelstand ver¬ 
suchte man in neuster Zeit durch Anwendung 
einer Drachenform zu begegnen, infolge 
dessen der Ballon durch den Wind gehoben 
und die Bewegung der Gondel vermindert 
werden soll; die Versuche, die bis dahin be¬ 
friedigt haben, sind noch nicht abgeschlossen. 
Der Hauptvorteil der Erkundung und Be¬ 
obachtung vom Ballon aus liegt in der weiten 
umfassenden Übersicht unter gewöhnlichen 
Verhältnissen über ein Gelände von 7 km 
Breite bei 6 — 800 m Steighöhe. 

Die Ausführung richtiger Beobachtung 


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Die technischen Fortschritte im Heerwesen. 


817 


setzt indessen ein ausserordentlich gut vor- 
geübtes und geschultes Personal voraus, 
welches das Gelände, die Verhältnisse bei 
den eigenen und feindlichen Truppen, die 
Markierungsorte derselben im Gelände richtig 
zu beurteilen und zu melden versteht. Noch 
im Jahre 1895 hat ein namhafter russischer 
Militär-Luftschiffer die Möglichkeit der zuver¬ 
lässigen Beobachtung nur unter den günstig¬ 
sten Umständen zugegeben, da er den atmos¬ 
phärischen, den Wind- und Gelände-Verhält¬ 
nissen (Wald) die nachteiligsten Einwirkungen 
zuschrieb, nicht minder aber auch dem Ge¬ 
sichtswinkel, unter welchem die Beobachtung 
erfolgen muss; nach seiner Behauptung kann 
schon niedriges Gestrüpp zum Verbergen 
ganzer Schwadronen hinreichen, Infanterie 
wird irrtümlich für Kavallerie gehalten, eine 
Division bietet den Anblick eines Regiments 
u. dgl. m. — 

Die Mitteilung der Beobachtung nach unten 
erfolgt entweder mittelst Herablassen der 
Meldungen am Tau, oder durch Fernsprecher 
unmittelbar an die empfangende Stelle, oder 
auch durch Herablassen eines Insassen des 
Ballons in einem kleinen Ballon; bei Nacht 
kann auch mittels elektrischem Licht auf weite 
Entfernungen signalisiert werden. — Die Ver¬ 
wendung des frei schwebenden Ballons findet 
bei entsprechender Windrichtung zum Über¬ 
mitteln von Depeschen und Mitnahme von 
Brieftauben aus eingeschlossenen Plätzen statt; 
immerhin kann aber bei günstigen Verhält¬ 
nissen seine Wirksamkeit auch dadurch eine 
bedeutende werden, dass es dem Verteidiger 
wie Angreifer gelingen kann, durch Uberfliegen 
der feindlichen Stellung entweder durch freies 
Beobachten oder durch photographische Augen- 
blicksbilder wertvolle Erkundungen zu be¬ 
werkstelligen. — Somit sehen wir auch die 
Photographie als neuestes Hilfsmittel den Er¬ 
kundungszwecken dienstbar gemacht. Zwar 
stand sie in militärischer Hinsicht schon früher 
zur Verfügung, aber doch meist nur als wissen¬ 
schaftliches Hilfsmittel: zur Aufnahme von 
Schlachtfeldern und bemerkenswerten Örtlich¬ 
keiten und Befestigungen, ferner von Ge¬ 
schossbahnen nach Abfeuerung des Ge¬ 
schützes und von Geschosswirkungen behufs 
Lösung ballistischer Fragen, zur Verkleinerung 
der Brieftauben-Depeschen, zur Ergänzung, 
Nachbildung und Vervielfältigung von Karten 
und Plänen. Aber erst durch die Entwicklung 
der Momentphotographie und die Konstruktion 
von Fern- oder Teleobjektiven, die aus weiter 
Entfernung scharfe und richtige Bilder liefern, 
ist die Photographie in die Reihe der un¬ 
mittelbaren Feld - Erkundungsmittel getreten, 
mit Hilfe von leicht tragbaren Handapparaten 
nach kurzer Übung unschwer und überall an¬ 


wendbar. Die Entwicklung der Platten kann 
entweder an Ort und Stelle oder, vom Be¬ 
obachtungsposten durch Meldereiter oder Rad¬ 
fahrer zurückgebracht, beim Empfänger er¬ 
folgen, da man weiter nichts bedarf als ein 
leicht herstellbares rotes Licht (z. B. geschlos¬ 
senes Fenster mit einer durch rotes Tuch 
verhängten kleinen Öffnung), 2 flache Teller 
und einen Eimer Wasser; die nötigen Chemi¬ 
kalien werden für den Feldgebrauch als Pa¬ 
tronen (kleine Rollen in Bleistiftstärke) in ein¬ 
fachster Weise mitgeführt; in 10—15 Min. 
können die ersten Abzüge fertig sein. — 

Die Photographie wird oft eine wichtige 
Ergänzung der persönlichen Beobachtung da¬ 
durch sein, dass sie auch das wiedergiebt, 
was der Erkundende selbst in manchen Fällen 
nicht sehen kann. — 

Ein Kriegsmittel von höchster Bedeutung 
bildet das Eisenbahnwesen. Auf diesem Ge¬ 
biet sind erwähnenswerte Neuerungen in den 
letzten Jahren nicht zu verzeichnen. Das 
Bestreben der Heeresverwaltungen ist darauf 
gerichtet, bereits im Frieden die Fortentwick¬ 
lung des heimischen Eisenbahnnetzes von 
militärischen Gesichtspunkten aus zu gestalten, 
die Leistungsfähigkeit der Eisenbahnen durch 
Bau und Material zu Steigern, durch Erricht¬ 
ung von Parks und Ausrüstung der betreffen¬ 
den Truppenteile das Material bereit zu legen 
für ausreichende Neuanlagen im Kriegsfall, 
sowohl im eigenen als im feindlichen Lande. 
Für den Feldeisenbahnbau wird fast in allen 
Staaten eine besondere Eisenbahn-Truppe aus¬ 
gebildet. Die Kavallerie, wie die technische 
Truppe führt brisante Sprengstoffe mit sich 
zur raschen Zerstörung von Eisenbahnen. 
Ganz besonders gut zu diesem Zweck ist in 
ausgiebigstem Masse die russische Grenz¬ 
kavallerie mit Pyroxilin-Patronen (Schiess¬ 
baumwolle) ausgerüstet, und es darf wohl als 
sicher anzusehen sein, dass die bereit ge¬ 
haltenen, starken russischen Kavallerie-Massen 
in erster Linie sich die gründliche Zerstörung 
der deutschen Grenzbahnen auf weite Strecken 
zur Aufgabe machen werden, um dadurch die 
Mobilmachung der deutschen Truppen zu 
stören. — 

Zum Schluss unserer betrachtenden Dar¬ 
stellung über die europäischen Heere können 
wir noch über einen sehr erfreulichen Fort¬ 
schritt auf dem Gebiete des Sanitätswesens 
berichten. Der Gesundheitszustand der Heere 
hat sich im Allgemeinen gebessert, sowohl 
in Beziehung auf die Zahl der Erkrankungen, 
als auch der Sterbefälle, Deutschland' steht 
aber allen Staaten voran. An der Hand der 
Statistik ist nachgewiesen, dass seit 1868 bis 
1893/94 die Zahl der Erkrankungen sich um 
42^ vermindert hat, d. h. es erkrankten all- 


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8 i8 


Michaelis, Das biogenetische Grundgesetz. 


jährlich ca. 230 000 Mann weniger als früher, 
dadurch werden 2 Millionen Behandlungstage 
zu Gunsten der Ausbildung erspart; die Ge¬ 
samtsterblichkeit hat sich in demselben Zeit¬ 
raum um 65% verringert, d. h. es starben 
während der Dienstzeit 2200 Mann weniger. 
Dieses gute Resultat haben einerseits die 
Fortschritte in der Krankenbehandlung, an¬ 
dererseits aber vornehmlich die erweiterten 
Kenntnisse und Handhabung der Gesundheits¬ 
pflege als Voröeugungsmittel erzielt, hierzu 
gehören die Verbesserungen in Bekleidung, 
Ernährung, Unterkunft und Körperpflege. Die 
Erfindung der Röntgenstrahlen kommt in 
wesentlichem Masse der Chirurgie zu Nutzen, 
welche mit ihrer Hilfe sonst nicht auffindbare 
Bruchstellen, Kugeln, Gesehosssplitter bei den 
Verwundeten feststellen kann. Es wird zwar 
von den kleinkalibrigen Geschossen behauptet, 
dass sie, in Folge der grossen Anfangsge¬ 
schwindigkeit als Sprenggeschosse wirkend, 
die Gewebe des Körpers nach allen Rich¬ 
tungen zerreissen und dadurch bei Verletz¬ 
ungen auch von weniger wichtigen Organen die 
Lebensgefahr und Unmöglichkeit der Heilung 
vergrössern. Die neuesten Untersuchungen 
eines schweizerischen Militär-Oberarztes wider¬ 
sprechen jedoch dieser' Annahme, sie haben 
ergeben, dass gerade Gewebeschüsse fast aus¬ 
nahmslos und zum Teil in sehr kurzer Zeit 
heilbar sind, dass aber allerdings Schüsse in 
den unteren Extremitäten schwererer Natur 
sein werden; ferner sollen nach diesen Unter¬ 
suchungen die tötlichen Schüsse um ein ge¬ 
ringes, die stärkeren Knochensplitterungen 
etwas mehr zunehmen, dem gegenüber steht 
aber ein viel besseres und zahlreicheres 
Sanitätspersonal mit weit zweckmässigeren 
Sanitätseinrichtungen, sowie die grossen Fort¬ 
schritte der Wundbehandlung. — „l“. 


y Das biogenetische Grundgesetz. 

Von Dr. L. Micharlis. 

„Die Entwickelung des Individuums ist, 
eine gedrängte Rekapitulation der Entwickel¬ 
ung seines Stammes.“ So lautet das berühmte 
biogenetische Grundgesetz, welches Haeckel, 
unser Dolmetscher Darwinscher Ideen, zum 
ersten Male in dieser präzisen Form aufge- 
stellt hat. Das heisst mit etwas ausführlicheren 
Worten, die höheren Tiere - und unter ihnen 
auch der Mensch — durchlaufen während 
ihrer Entwickelung vom Ei bis zum fertigen 
Organismus einzelne Stadien, die dem blei¬ 
benden Zustande der niederen Tiere ent¬ 
sprechen , von denen sie abstammen. So 
ähnelt der menschliche Embryo erst einem 


einzelligen Lebewesen, dann einem Fisch, 
einem Lurch, einem niederen Säugetier, bis 
schliesslich ganz zuletzt die nur dem Menschen 
eigentümlichen Charaktere zu Tage treten. 
Es lässt sich denken, dass infolge der ver¬ 
änderten Lebensbedingungen diese Ähnlich¬ 
keiten nur annähernd sind und durch manche 
durch Anpassung an die neuen Verhältnisse 
entstandene Abweichung verdeckt werden. Aber 
die Zahl der Ähnlichkeiten ist doch noch so 
gross, dass man noch deutlich durch den 
Schleier dieser Abänderungen hindurch in 
dem menschlichen Embryo einen Fisch, ein 
Amphib erkennt. 

Da ist es zunächst das Auftreten der 
Kiemenspalten beim Menschen, das seine Bluts¬ 
verwandtschaft mit den Fischen verrät. Die 
Kiemenspalten sind Durchbrechungen des 
Schlundes, auf deren Oberfläche sich bei den 
Fischen zahlreiche feine Blutgefässe verästeln; 
sie vermitteln den Gasaustausch des Blutes, 
sie dienen den Fischen zur Atmung. Nun 
atmet der Mensch niemals durch Kiemen, und 
doch bilden sich am menschlichen Embryo die 
Kiemenspalten, die der Mensch niemals braucht. 
Freilich haben sie auch keinen langen Be¬ 
stand, aber ihr Auftreten zeigt uns doch 
deutlich, dass in der Ahnenreihe des Menschen 
sich ein fischähnliches Lebewesen befunden 
haben muss. 

Das für die Wirbeltiere so überaus cha¬ 
rakteristische ursprünglichste Axenskelett ist 
die Rückensaite (chorda dorsalis), ein Strang 
aus ziemlich festem Gewebe, der den Rücken 
des Tieres der ganzen Länge nach durch¬ 
zieht. Bei den niedersten Wirbeltieren bleibt 
die Rückensaite auch zeitlebens das einzige 
Axenskelett; beim Neunauge z. B. umgiebt sie 
sich zu diesem Zweck einfach mit einer 
Scheide von etwas festerer Konsistenz. 

Mit dem feineren Ausbau des Wirbeltier¬ 
körpers erwies sich die Rückensaite als un¬ 
zulänglich und bei den höheren Vertretern 
des Stammes der Wirbeltiere übernimmt die 
Wirbelsäule die Rolle des Axenskelettes. Sie 
ist aus dem festen Knochen erbaut, gewisser- 
massen einer Erfindung der höheren Wirbel¬ 
tiere. Aber in pietätvollem Angedenken an 
seine niedere Herkunft begnügt sich auch 
der Mensch in früher embryonaler Zeit mit 
der Rückensaite und erst späterhin macht er 
sich die Annehmlichkeiten einer knöchernen 
Wirbelsäule zu Nutze. Dann verkümmert die 
überflüssig gewordene Rückensaite zu un¬ 
scheinbaren Resten, die sich noch beim Er¬ 
wachsenen zwischen den einzelnen Wirbeln 
nachweisen lassen. 

Ein weiteres sehr lehrreiches Beispiel 
bietet die Entwickelung des Herzens dar. Bel 
den [Fischen besteht das Herz aus einem 


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Michaelis, Das biogenetische Grundgesetz. 


819 


muskulösen Schlauch, an dem man zwei 
hintereinander gelegene Abteilungen unter¬ 
scheiden kann. In die hintere Abteilung, die 
Vorkammer, möndet die grosse Körpervene 
ein, die dem Herzen das Blut zuführt, und 
aus der vorderen Abteilung, der Kammer, 
entspringt die grosse Körperarterie, die Aorta, 
die das Blut aus dem Herzen wegführt. 

Bei den schon höher organisierten Am¬ 
phibien ist die Vorkammer durch eine Scheide¬ 
wand in eine rechte und eine linke Hälfte 
zerlegt. In die linke Vorkammer mündet die 
Lungenvene, in die rechte die übrigen Venen. 
Die Kammer aber ist noch ein einheitlicher 
Raum. 

Steigen wir die Stufenfolge der Wirbel¬ 
tiere noch höher hinauf, so finden wir bei 
den Reptilien, Vögeln und Säugetieren, auch 
beim Menschen, auch die Kammer in eine 
rechte und linke Hälfte zerlegt. Aus der 
linken Kammer entspringt die Aorta, die 
grosse Schlagader, die mit ihren zahlreichen 
Verzweigungen alle Organe des Körpers mit 
Blut versorgt; aus der rechten Kammer ent¬ 
springt die Lungenarterie. Das Herz des 
Menschen besteht demnach aus vier Höhlen: 
zwei Kammern und zwei Vorkammern. 

Verfolgen wir jetzt die Entwickelungsge¬ 
schichte des menschlichen Herzens! Und da 
begegnen wir denn bei ganz jungen Embry¬ 
onen dem Zustande, wie er bei den Fischen 
gefunden wird: Das Herz besteht aus einer 
Kammer und einer Vorkammer. Doch nicht 
lange währt dieser Zustand. Das Fischherz 
wandelt sich in ein Amphibienherz um, in¬ 
dem die Vorkammer durch eine Scheidewand 
in eine rechte und linke Hälfte zerlegt wird. 
Und das Amphibienherz wird zu einem echten 
Menschenherzen, indem auch die Kammer 
durch eine Scheidewand geteilt wird. 

Aber gerade die Entwickelung des Herzens 
ist auch ein gutes Beispiel, um zu zeigen, 
dass die Entwickelung des Individuums doch 
nur eine kurz gedrängte Rekapitulation der 
Stammesentwickelung ist. So lässt sich das 
Herz des menschlichen Embryo nicht Zeit, 
sich zu einem vollkommenen Amphibienherz 
mit zwei Vorkammern und einer Kammer 
auszubilden; vielmehr entsteht die Scheide¬ 
wand der Kammern schon, bevor die Scheid¬ 
ung der Vorkammern noch vollendet ist. Aber 
die Reihenfolge bleibt erhalten: Die Vorkam¬ 
mer beginnt die Scheidung, die Kammer ist 
hinter ihr immer einen Schritt zurück. 

Ähnlich wie mit dem Herzen ist es mit 
dem Zentralnervensystem, welches bei allen 
höheren Wirbeltieren aus dem Rückenmark 
und dem Gehirn besteht. Nur bei dem nie¬ 
dersten Vertreter derselben, dem Amphioxus, 
einem Seetiere, das früher für eine Schnecke 


gehalten wurde, ist noch keine Sonderung 
dieser beiden Abschnitte ausgeprägt. Ein ein¬ 
facher hohler Strang bildet bei diesem pri¬ 
mitiven Lebewesen das ganze Zentralnerven¬ 
system. Aber schon bei den Fischen zeich¬ 
net sich der vorderste Abschnitt dieses Stran¬ 
ges durch, eine eigenartige Entwickelung in 
Form und Grösse aus und verdient, als Ge¬ 
hirn bezeichnet zu werden. Freilich ist ge¬ 
rade derjenige Teil des Gehirns, den der 
Laie wohl vor allem unter diesem Begriff 
versteht, nämlich das Grosshirn, noch in 
einem sehr kümmerlichem Zustande. Es wird 
fast ganz von dem für diese Tiere allerdings 
sehr wichtigen Zentrum für den Riechsinn 
eingenommen. Sehr viel Intelligenz produziert 
dieses Grosshirn noch nicht, und wenn diese 
Tiere immerhin einen gewissen Grad seel¬ 
ischen Lebens besitzen, so liegt das daran, 
dass die höheren Funktionen des Zentral¬ 
nervensystems sich noch nicht auf das Gross¬ 
hirn konzentriert haben. Ein des Grosshirns 
beraubter Fisch lebt ohne wesentlichen Stör¬ 
ungen weiter. 

Schon ansehnlicher ist das Grosshirn der 
Amphibien, und es hat sich dementsprechend 
die Seelenthätigkeit schon mehr auf dieses 
Organ konzentriert. Ein Frosch, den man 
seines Grosshirns beraubt, macht aus eigenem 
Willensimpuls keine Bewegung, wohl aber 
reagiert er noch auf Reize und macht, wenn 
man ihn quält, Abwehrbewegungen; seine 
„Reflexthätigkeit“ ist noch vorhanden, das 
eigentliche psychische Leben aber erloschen. 

Bei noch höheren Wirbeltieren, den Säuge¬ 
tieren, hat sich das Grosshirn zu einem volu¬ 
minösen Organ ausgebildet, welches nunmehr 
das alleinige Zentrum des psychischen Lebens, 
beim Menschen insbesondere eines einzig da¬ 
stehenden intellektuellen Vermögens ist. 

Aber die Entwickelung des Zentralnerven¬ 
systems des Menschen beginnt nicht etwa 
gleich mit der Ausbildung des Grosshirns, 
sondern es bildet sich zuerst ein einfacher, 
hohler Strang, wie beim Amphioxus-. Dann 
hebt sich der vorderste Abschnitt dieses 
Stranges durch ein eigenartiges Wachstum 
heraus und ist dem Fischhirn vergleichbar. 
Dann erst zeigen sich die Anfänge des Gross¬ 
hirns und erinnern an das Froschhirn. Ganz 
zuletzt schiesst das Grosshim mit einem Male 
dem übrigen Zentralnervensytem im Wachs¬ 
tum voraus und überholt bald alle anderen 
Teile des Zentralnervensystems zusammen¬ 
genommen an Umfang: Das ist der eigentliche 
menschliche Zustand des Gehirns. 

Ein anderes Beispiel liefert uns die Ent¬ 
wickelung des Kiefergelenks. Bei den Hai¬ 
fischen, sehr niedrig organisierten Wirbeltieren, 
wird das Skelett des Kiefers jederseits von 


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820 


Ettlingkr, Ludwig Fuldas „Jugendfreunde“. 


einem oberen und einem unteren Knorpelstück 
gebildet, die beide mit einander in Gelenk¬ 
verbindung stehen. Dieses Gelenk tritt beim 
öffnen des Mundes in Thätigkeit und kann 
deshalb als das Kiefergelenk bezeichnet werden. 

Das Kiefergelenk des Menschen entsteht 
nun auf eine ganz andere Weise, die uns im 
Einzelnen hier nicht interessiert. Aber wo¬ 
rauf es ankommt, ist, dass auch der Mensch 
zu einer gewissen Zeit der Entwickelung zwei 
solche durch ein Gelenk verbundene Knorpel 
besitzt, und zwar zu einer Zeit, wo sein 
späteres Kiefergelenk noch nicht gebildet ist. 
Man kann es daher füglich als das primäre 
Kiefergelenk bezeichnen, und der Mensch be¬ 
weist uns durch das Vorhandensein desselben 
seine Blutsverwandtschaft mit den Haien. 

Das Interessanteste an diesem Vorgänge 
aber ist, was aus diesem niemals zum Kauen 
gebrauchten primären Kiefergelenk wird. Der 
Mensch macht sich den Umstand zu Nutze, 
dass dieses Gelenk ganz in der Nähe des 
Gehörorgans liegt und verarbeitet es zu einem 
Hilfsapparat für dieses Sinnesorgan. Die beiden 
Knorpelstocke bleiben sehr klein und bilden 
sich zu den Gehörknöchelchen, Hammer und 
Ambos, um. Das Gelenk zwischen dem 
Hammer und Ambos entspricht also dem 
Kiefergelenk der Haifische! Diese unbestreit¬ 
bare Thatsache verdient geradezu, paradox 
genannt zu werden. Ein voluminöses Organ, 
für die roheste Thätigkeit des Tieres, Beissen 
und Kauen, eingerichtet, verwandelt sich, nach¬ 
dem es für diesen Zweck überflüssig gewor¬ 
den ist, in einen überaus fein konstruierten 
Mechanismus, der die zartesten Schwingungen 
der Luft den Hörnerven übermittelt. 

So lässt sich noch manches Beispiel finden, 
welches das biogenetische Grundgesetz aufs 
Glänzendste bestätigt und einen unwiderleg¬ 
lichen Beweis für die Richtigkeit der Descen- 
denztheorie liefert. Das hindert aber nicht, 
dass man zu Anfang auch gewisse Thatsachen 
als Beweise für jenes Gesetz aufgestellt hat, 
die sich -als falsche Beobachtungen heraus¬ 
gestellt haben, die durch die noch mangel¬ 
haften Untersuchungsmethoden hervorgetäuscht 
wurden. 

So hat Haeckcl selber ursprünglich eine 
Beobachtung als Beleg für sein Gesetz hin¬ 
gestellt, die auf den ersten Augenblick aller- 
dings geradezu überraschend wirkt. Dieser 
Forscher nimmt als die einfachsten und ur¬ 
sprünglichsten Vertreter lebender Organismen 
die „Moneren“ an, die aus weiter nichts, be¬ 
stehen, als einem formlosen und vor allen 
Dingen kern\osQn Klümpchen Protoplasmas, 
ausgerüstet mit allen für diese Substanz char¬ 
akteristischen Eigenschaften: aktiver Beweg¬ 
lichkeit, Assimilations- und Teilungsfähigkeit. 


Nun durchläuft auch das tierische Ei nach 
seiner Befruchtung ein Stadium, wo anschein¬ 
end der vorher in ihm vorhanden gewesene 
Kern verschwunden ist. Haeckel deutete diesen 
Vorgang dahin, dass das Wirbeltierei hiermit 
seine Abstammung von den Moneren bekunde. 
Nun ist aber die Zahl von Hacckels Moneren 
stark zusammengeschrumpft, seitdem man ge¬ 
lernt hat, auch da Kerne nachzuweisen, wo 
sie nicht ohne Weiteres sichtbar sind. Ja die 
Existenz kernloser einzelliger Lebewesen ist 
mit Recht stark angezweifelt worden. Anderer¬ 
seits hat sich herausgestellt, dass der kern¬ 
lose Zustand des tierischen Eies nur scheinbar 
existiert, denn der wesentliche Bestandteil des 
Kernes ist auch während der scheinbar kern¬ 
losen Periode im Ei vorhanden; freilich 
konnte man in früherer Zeit sich diese Kem- 
bestandteile wegen ihrer Kleinheit und wegen 
anderer ungünstiger Umstände nicht zu Ge¬ 
wicht bringen. Dazu kommt, dass man immer 
mehr sich dazu neigt, auf den Zell^rr« alle 
die Eigenschaften zu verlegen, die man dem 
Protoplasma zugeschrieben hatte und den 
Kern als das Zentralorgan der Zelle aufzu¬ 
fassen, welcher dem Protoplasma erst jene 
Eigenschaften verleiht, und mit dessen Unter¬ 
gang auch das Protoplasma dem Zerfall ent¬ 
gegengeht. Gerade diese kühne Hypothese 
Haeckels hat sich also als ein Irrtum heraus¬ 
gestellt. Aber was vermag das gegenüber 
der erdrückenden Fülle unzweifelhafter That¬ 
sachen, die wir durch Kombination der ver¬ 
gleichenden Anatomie und der Entwickelungs¬ 
geschichte erhalten! 


Ludwig Fuldas „Jugendfreunde“. 

(Erstautiülirung am Berliner Deutschen 7 'heater 
30. Oktober 1897.) 

Von Josef Ettlingf.r. 

Zwanzig gute Jahre hindurch, von den 
Bänken der Quarta an, hat die Kameradschaft 
zwischen Scholz dem Techniker, Hagedorn 
dem Maler, Winkler dem Musiker und Martens 
dem Weltreisenden gewährt; nun soll sie 
plötzlich gefährdet sein. Cherches les femtnes! 
Eines Tages überrumpeln den ahnungslosen 
Bruno Martens in seiner Berliner Vorortvilla 
die Freunde Scholz und Winkler mit der 
Hiobspost, dass sie sich verlobt haben, und 
um das Unglück voll zu machen, spricht auch 
Hagedorn das trockene Wort gelassen aus, dass 
er seit zwei Jahren schon der Bräutigam 
einer gewissen Toni sei, es aber als „mo¬ 
derner Mensch“ nicht für nötig befunden 
habe, diese reine „Privatangelegenheit“ an 
die grosse Glocke zu hängen. Der gänzlich 


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Ettljngeu, Ludwig Fuldas „Jugendfreunde“. 


821 


unverlobte, ehefeindliche Bruno sieht sich 
plötzlich durch das fremde Ewig-Weibliche 
aus ällen Positionen seines Freundschaftsbe¬ 
sitzes verdrängt und wird für diese Gewiss¬ 
heit nur sehr mangelhaft durch die Versicher¬ 
ung der drei Bräutigams entschädigt, dass 
man nach der Rückkehr von der Hochzeits¬ 
reise seine gemütliche Villa nach wie vor 
zum Mittelpunkte des gemeinsamen Verkehrs 
zu machen gedenke. Aneinund demselben Tage 
findet bei ihm das Rendezvous der drei 
frischgebackenen Ehepaare statt, und es er- 
giebt sich, dass jeder der drei Gatten seinem 
eigensten Wesen und Temperament getreu die 
Genossin gewählt hat: der korrekte, etwas 
pedantische Musikschriftsteller eine hochnäsig 
angehauchte Tochter „aus guter Familie“, 
der phlegmatisch-dicke, ewig qualmende und 
durstgesegnete Malerein ungebundenes Wiener 
Grisettchen, der fixe, überschwängliche, kleine 
Techniker ein blondes Gänschen vom Lande, 
das in seiner Verliebtheit selbst auf die 
Freunde ihres Waldemar zum Rasen eifer¬ 
süchtig ist. Mit der Harmonie dieses weib¬ 
lichen Dreiklangs ist es natürlich nicht weit 
her. Man beobachtet, man belächelt, man 
bemitleidet sich. Vorübergehend scheint es, 
als ob das gemeinsame Fraueninteresse zu 
einem Komplott wider die Selbständigkeit der 
Männer führen sollte. Aber das Blatt wen¬ 
det sich rasch, als Frau Toni Hagedorn einer 
unvorsichtigen Äusserung der Frau Scholz 
entnimmt, dass die spitze Zunge der Frau 
Winkler die Echtheit ihres goldroten Haares 
angezweifelt habe, worüber empört Frau Toni 
ihren Gemahl zum Rächer ihrer Ehre aufruft, 
der nun seinerseits den peinlich berührten 
Winkler zur Rede stellt, w'as diesen wieder 
mit Scholzen in Wortwechsel bringt, weil 
Frau Winkler der Frau Scholz die Bemerk¬ 
ung über Frau Hagedorns Haar nur unter 
dem Siegel strengster Verschwiegenheit ver¬ 
traut hat, während Frau Scholz sich mit 
Recht über Frau Hagedorns Indiskretion ent¬ 
rüstet, die ihr mit ihrem Worte versprochen 
hatte, von ihrer Mitteilung keinen Gebrauch 
zu machen, indess Frau Amelie Winkler es 
stolz und brüsk ihrem Gatten abschlägt, für 
ihre ruchbar gewordene Bosheit irgendwelche 
Abbitte zu thun. Frau Toni grollt, Frau 
Scholz liegt in Krämpfen, Frau Amalie rauscht 
von dannen: ade Einigkeit, ade Freundschaft! 
Etwas zerknitter erkennen die drei gestraften 
Gatten, dass man wohl zu vieren befreundet, 
aber nicht zu sieben verheiratet sein kann, 
und beschliessen, künftig Frauendienst und 
Freundesdienst getrennt zu kultivieren, damit 
der arme Bruno nicht ganz verwaist zurück¬ 
bleibe. Der aber hat ihre Teilnahme gar nicht 
mehr nötig: er hat genug gesehen undjer¬ 


lebt, um genau zu wissen, was künftig von 
der alten Freundschaft noch für ihn übrig 
sein dürfte, und sich schnell entschlossen den 
Ersatz in Gestalt einer jungen Stenographin 
verschafft, die er in gemeinsamer Arbeit als 
guten Kameraden schätzen gelernt hat. 

Eine Art Quadrille ä la cour ist cs, die 
Ludwig Fulda hier von vier jungen Paaren 
tanzen lässt, und in einer gewissen Symmetrie 
der Touren, in dem vorgeschriebenen Hin 
und Her der Figuren und Gruppen liegt, 
genau wie bei dem Tanze, die Ergötzlichkeit 
dieses ziemlich spielerig behandelten Lust¬ 
spiels. Die Idee, die ihm zu Grunde liegt, 
dass die Ehe das Grab der meisten Jugend¬ 
freundschaften zu sein pflegt, ist eine von 
denen, die für jeden an der Landstrasse 
wachsen, ohne dass sie doch bisher einer 
gepflückt hätte. Man müsste sich denn an 
Wolzogens Komödie vom „Lumpengesindel“ 
erinnern, in der eine junge Frau ihren Gatten 
verlässt, weil dieser seinen Freunden mehr 
Rechte einräumt, als ihr selbst. Fulda wollte 
keine ernste Lebenswahrheit in lachende Sa¬ 
tire kleiden: ihm lag diesmal nur der Unter¬ 
haltungszweck am Herzen. Es geht in seinem 
Lustspiel gar nicht viel moderner zu, als bei 
L’Arronge oder Herrn von Moser. Jede Per¬ 
son ist mit ihrer bestimmten Farbe sauber 
angestrichen und bläst immer in dasselbe 
Hörnchen, das nur einen Ton hat. Die Aktion 
geht wie am Schnürchen ihren leicht voraus¬ 
sehbaren Weg; fast gesetzmässig folgt auf 
jeden Auftritt sein Seiten- oder Gegenstück, 
ja, man hat manchmal das lebhafte Gefühl, 
als wüssten die Menschen da oben auf der 
Bühne ganz genau, dass sie nur ein verab¬ 
redetes Spiel treiben. Aber Ernst bei Seite: 
wir brauchen solche Lustspielware viel zu 
nötig, um sie kritisch-grämlich abzukanzeln. 
Wir dürfen sie sogar als angenehme Gabe 
willkommen heissen in einer Zeit, die in den 
Herren Skowronnek, Schönthan, Koppel-EIl- 
feld ihre Lustspielheiligen verehrt. Es ist 
doch immerhin Arbeit und keine handgreif¬ 
liche Spekulation, was man sieht, und man 
braucht sich nicht nachträglich vor sich selbst 
zu schämen, dass man gelacht hat. Schade 
nur, dass sich Fulda durch die eigene tech¬ 
nische Fertigkeit hat verleiten lassen, den 
Stoff in vier Akte breitzuschlagen: es wäre 
ein kleines gewesen, die beiden Mittelakte 
in einen einzigen zu kondensrieren; dann hätten 
sich Volumen und Gewicht des Stückes un¬ 
gleich besser entsprochen als jetzt, und man 
hätte nicht so viel Zeit, sich den Gang der 
Dinge schon im voraus Zug für Zug zurecht¬ 
zulegen. 


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822 


Pasig, Das moderne ägyptische Volkslied. 


Das moderne ägjrptische Volkslied. 

Von Paul Pasig 

Die heutigen Ägypter halten sich für ein 
besonders musikalisch veranlagtes Volk. Der 
Fremde, der zum ersten Male das Land der 
Pharaonen besucht, fühlt sich in der That 
eigenartig berührt, wenn er unter dem Gewirr 
von fremdartigen Tönen und Lauten, die an 
sein Ohr schlagen, jenes näselnde Singen 
oder Summen melodienartiger Klänge vernimmt, 
mit dem der moderne Ägypter jede Thätig- 
keit, selbst das gedankenlose Dahinschlendern, 
begleitet. Der Hang zur Musik aber, der 
offenbar den heutigen Nilbewohnem eigen ist, 
steht in innigem Zusammenhänge mit der 
poetischen Anlage des Südländers überhaupt, 
die sich in der bilder- und figurenreichen 
Sprache desselben verkörpert. Und erklärt 
sich diese letztere nicht aus der Atmosphäre, 
in der der Orientale geboren wird, atmet, auf- 
wächst und lebt? Der leuchtende Himmel 
in seinem goldenklaren Gewände ist Poesie. 
Die Erdein ihrem buntfarbigen Blütenschmuck, 
der fast ununterbrochen gleich einem ewig 
sich verjüngenden Teppiche das Land bedeckt, 
ist Poesie. Der Tag in seiner blendenden 
Lichtgestalt, die siegreich über die dOstern 
Naturgewalten triumphiert und in der blenden¬ 
den Sonnenscheibe ihr göttliches Sinnbild 
besitzt, ist Poesie. Und die orientalische 
Nacht mit ihren milden, weichen, würze¬ 
atmenden Zephyren, ihrem tiefblauen, juwelen- 
besäeten Himmelsgewölbe, ihrem unbeschreib¬ 
lichen Zauber am verfallenden Gemäuer, unter 
leise flüsternden Palmen, in der einsamen, 
schweigenden Wüste draussen — was ist sie 
anders, als ein uraltes, ewig schönes Gedicht? 
Das empfängliche Gemüt aber vermag diesen 
Eindrücken von Kindheit an um so weniger 
sich zu entziehen, als infolge der klimatischen 
Verhältnisse der Südländer mehr und inniger 
am „Herzen der Natur“ ruht und ihren ge¬ 
heimnisvollen Offenbarungen lauscht. Was 
aber das empfängliche Gemüt vernahm, das 
verkörpert die Sprache und sucht ihm in 
ihren Ausdrücken Deutung und Anwendung 
zu geben. 

Freilich müssen wir zunächst zugeben, 
dass das ägyptische Volkslied im Grunde ge¬ 
nommen eine eigentliche Melodie d. h. eine 
einheitlich gestaltete und in sich abgeschlossene 
harmonische Wiedergabe der dichterischen 
Form nicht kennt. Jeder ist gewissermassen 
sein eigener Komponist, indem er je nach dem 
Inhalt des Liedes und der ihn gerade be¬ 
herrschenden Stimmung, nach seinem Tem¬ 
peramente, ja, wohl auch beeinflusst durch 
rein äussere Verhältnisse, wie seine Umgebung, 
den Zweck, den er dabei verfolgt, u. a. m. 


dem Texte seine Melodie unterlegt, wobei er 
sich in der Hauptsache zwischen sechs bis 
acht Haupttönen bewegt und Forte, Piano, 
Ausdruck, Klangfarbe u. s. w ganz nach Be¬ 
lieben wechselt. Daher tragen alle ägyptischen 
„Melodien“ den Charakter des Regellosen 
und Monotonen an sich und gemahnen an 
unsere Rezitative. 

Inhaltlich befasst sich das ägyptische Volks¬ 
lied mit allem, was die Volksseele bewegt, 
wobei selbstverständlich auch nationalen und 
individuellen Eigentümlichkeiten Rechnung ge¬ 
tragen wird. Heiterer Lebensgenuss, Lob der 
Freundestreue, Verspottung des Feindes, offene 
Verhöhnung der beklagenswerten Fellachen 
und — last not least — die Verherrlichung 
der Liebe und ihrer Seligkeit — das etwa 
sind die Grundstimmungen, die auch im 
ägyptischen Volksliede in allen nur denkbaren 
Variationen ausklingen. Freilich ist in Bezug 
auf letztere Lieder ein nicht unerheblicher 
Vorbehalt zu machen, der in den heimischen 
Anschauungen, namentlich in der lasciven 
Beurteilung der sinnlichen Liebe seitens der 
mohammedanischen Religion, seine Begrün¬ 
dung findet. Ein guter Teil dieser sprachlich 
nicht selten vollendetsten Liebeslieder ist der¬ 
art reich an Nuditäten, dass sie für europäische 
Ohren geradezu ungeniessbar sind. Daher 
ist es auch für den Europäer nicht ratsam, den 
Vorträgen der „fahrenden Sänger“, die sich 
in den arabischen und griechischen Kaffee¬ 
häusern hören lassen, einen Besuch abzustatten: 
das hier Gebotene wird, vorausgesetzt, dass 
er des Vulgärarabischen mächtig ist, ihn sitt¬ 
lich und ästhetisch vielfach geradezu anwidern, 
zumal wenn er die Gesten und die plastische 
und körperliche Begleitung der Vorträge hin¬ 
zunimmt, die — wir erinnern nur an die 
Bauchverdrehungen der Tänzerinnen u. a. m. 
— unsern künstlerischen Voraussetzungen 
schroff entgegenstehen. 

Werfen wir nun einen Blick auf die 
besseren Erzeugnisse der heutigen ägyptischen 
Volkslyrik, so wird es am zweckmässigsten 
sein, dieselben kurz in Stände', Rauch- und 
Liebeslieder zu gruppieren. Eigentliche 
Wander- und Trinklieder fehlen. Denn der 
urgermanische Wandertrieb, dem wir ja eine 
ganz beträchtliche Anzahl unserer stimmungs¬ 
vollsten Volkslieder verdanken, ist dem Ägypter 
und mit ihm den südlichen Nationen ebenso 
fremd, wie die Lust am Trinkend An die 
Stelle der letzteren tritt das Rauchen, und so 
finden wir den Genuss von Tabak und 
Haschisch — orientalischem Hanf — an Stelle 
unserer germanischen Trinkgelage. 

Unter den Ständeliedcrn ist das wohl jedem 
Nilreisenden wenigstens wegen seines Refrains 
und seiner übermütigen Melodie bekannte 


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Pasig, Das moderne ägyptische Volkslied. 


823 


Spottlied auf den Eseljungen Ali erwähnens¬ 
wert, -der durch seine halsbrecherischen, nicht 
gerade den Regeln der edlen Reitkunst ent¬ 
sprechenden, equilibristischen Künste der 
Schrecken der Nachbarschaft geworden war. 
Dasselbe beginnt in möglichst rhythmischer 
Übertragung: 

„Saht ihr Ali, o Leute, 

In Hemd und Hoftenkleide, 

Wie er auf Abbas’ Brücke 
Zeigt seine Reiterstücke? 

Die Brücke liegt in Trümmern schon. 

Das halbe Dorf ist längst entflohn! 

Um Alis Willen das geschah, 

Ja, ja, ja, ja, 

•Um Aü das geschah 1 “ 

Selbst ein Soldatenlied haben wir zu ent¬ 
decken gewusst, in welchem ein junger, zum 
Militär ausgehobener Ägypter, der die Braut 
mit den dunkeln, wie „fingän“ (Kaffeetässchen) 
grossen Augen verlassen musste, sein Leiden 
schildert, bis es ihm endlich gelingt, nach 
langer, gefahrvoller Irrfahrt, mit der Geliebten 
vereint zu werden 

„Und dem Alten fromm zu nahn, 

Seinen Segen zu empfahn, 

Um der Liebe zu geniessen — 

Allah, Allah sei gepriesen!" 

Wir erwähnten ferner der Rauchlieder. 
Auch der Deutsche kennt den Genuss des 
Rauchens und weiss in Liedern diese Selig¬ 
keit zu preisen. Wer erinnerte sich z. B. 
nicht des namentlich von unsern Vätern gern 
gesungenen, gemütvollen; 

„Wenn mein Pfeifchen dampft und glüht 
Und der Rauch von Blättern 
Sanft mir um die Nase zieht, 

O dann tausch’ ich nicht mit Göttern!“ 

Auch unsere Studenten feiern die Wonne 
des Rauchens im Liede. 

„Ihr Brüder, seid mir all’ Willkomm’ 

Und setzt euch urn den Tisch herum“ 

beginnt ein solches lustiges Liedlein, dessen 
Refrain das ominöse: 

„Tobak, bak, bak, Tobak, bak, bak“ 
bildet. Während aber in unsern Rauchliedern 
die echt deutsche Gemütlichkeit, die offenbar 
durch den Tabaksgenuss eine nicht unwesent¬ 
liche Erhöhung erfährt, die Grundstimmung 
bildet, so in den ägyptischen die bis zur 
Betäubung gesteigerte Wollust des Rauchens. 
Die Wonne des Rausches, der Bewusstlosig¬ 
keit, die den Raucher in ein Meer erträumter 
Glückseligkeit versenkt, ist es, die den Inhalt 
dieser RauchWtd^r bildet und diese daher zu 
echten y?m/scÄliedern stempelt. 

Um das folgende als Muster dieser Lieder 
zu verstehen, sei vorausgeschickt, dass der 
ägyptische, häufig mit den getrockneten Blättern 
des berauschenden indischen Hanfes (cannabis 


indica) vermischte Tabak aus einem langen, 
oft kunstvoll verzierten Rohre geraucht wird, 
das in einer Kokosnuss befestigt ist. Es wird 
daher dem Leser nicht allzu schwer sein, sich 
].,age und Gemütsverfassung des ägyptischen 
Rauchers zu vergegenwärtigen, den der Ge¬ 
nuss des narkotischen Krautes zu folgendem 
Hymnus begeistert: 

„O Kokosnuss aus Inderland 
An perlgeschmücktem Rohre, 

Du öffnest, nehm’ ich dich zur Hand, 

Der Freundschaft lichte Thore! 

Wohl Zug um Zug nun saug* ich da, 
Flieht auch der Geist zur Stunde; 

Das ^rgelt lustig, ha, ha, ha. 

Wie in Kameles Schlunde. 

O Sündentilger, hör’ mich an 
Mit mild geneigtem Ohre: 

Verzeihe mir, was ich gethan. 

Die Lust an Nuss und Rohre!“ 

Um den poetischen Wert dieses Liedes 
voll zu würdigen, machen wir darauf auf¬ 
merksam, dass die Züge aus dem Rohre in 
der Regel nach längeren Pausen und bis zur 
Betäubung erfolgen, wobei sich infolge des 
Verschluckens des überaus scharfen Rauches 
meist ein heftiger, stossweiser Husten ein¬ 
stellt. Diesen ahmt das Lied in dem „Hahaha“ 
onomatopoetisch nach. 

Dass die Liebe den Grundton der meisten 
ägyptischen Lieder bildet, bedarf für den, 
der die Volksseele überhaupt und diejenige 
des Südländers Im besonderen kennt, keiner 
Erklärung. Dem Orientalen aber ist die Liebe 
keineswegs nur eine mehr oder minder heftige 
Neigung zur Geliebten, die auf sittlichen Mo¬ 
tiven ruht und höhere Zwecke verfolgt, son¬ 
dern sie ist, wenn man will, höchst subjektiv, 
selbstsüchtig, Selbstzweck und bildet für den 
Orientalen gewissermassen die Panacee ftlr 
alle Lagen und Leiden dieses Daseins, das 
eben nur durch die Liebe und deren Lust 
einigermassen erträglich gestaltet werden kann. 
Jene selbstlose, zu jedem Opfer fähige Liebe 
mit rein sittlichen Motiven und Zielen, die 
vor allem das Christentum zur Parole des 
reinen Menschentums erhoben hat, ist dem 
Orientalen so gut wie fremd, und aus dieser 
Thatsache allein erklärt sich die Stellung des 
Weibes bei jenen Völkern zur Genüge. 

In Bildern freilich zur Verherrlichung der 
äusseren Vorzüge der Angebeteten ist auch 
das ägyptische Volkslied unerschöpflich, und 
bei einigen derselben werden wir unwillkür¬ 
lich der liebeglühenden Ergüsse des könig¬ 
lichen Sängers des „Liedes der Lieder“ im 
alten Testamente erinnert (vgl. Hoheslied 
Salomonis cap. 4 und 7). So hören wir z. B. 
vonden „Perlenzähnen“ und „Perlenschenkeln" 
der Geliebten, und von ihrem Busen wird 
gepriesen, dass er dem Marmor gleicht und 
auf ihm die duftberauschte Rose erblüht. 


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Arends, Die Kampferindustrie in Japan und China. 


8 ^^ 

Oder der Mund wird mit einem halbgeöff¬ 
neten Granatapfel verglichen, und von den 
Lippen heisst es, dass sie von Korallen zu¬ 
sammengehalten werden. 

Will das Lied den Gesamteindruck des 
gefiebten Wesens schildern, so bedient es 
sich mit Vorliebe des Vergleiches mit der 
CitronenblQte, deren jungfräuliche Frische und 
Reinheit, gepaart mit ihrem süssberauschen- 
den Dufte, sie doppelt begehrenswert macht. 
Darum heisst es: 

„O Citronenblöte, nächtlich 
Süss berauschend mir erschlossen. 
Glücklich, wer dein darf geniessen, 

Mild vom Mondesglanz umflossen [ 

Dreimal glücklich, wer noch immer 
Schwelgt in deines Zaubers Bann, 

Wenn des Dunkels flOcht’ge Stunde 
Längst, ein goldner Traum, verrann!“ 

Eins der zartesten Lieder, das wir aus¬ 
findig zu machen das Glück hatten, dürfte 
das folgende sein. Wir bemerken, dass wir 
dasselbe um so lieber der Öffentlichkeit über¬ 
geben, als es eben eine seltene Ausnahme 
von der oben angedeuteten Regel bildet. 

„Endlich muss ich dir gestehen 
Meiner Liebe Allgewalt: 

Höre, Liebste, hör’ mein Flehen, 

Denn die Jugend schwindet bald! 

Lass uns ihre Rosen pflücken. 

Eh’ ihr süsser Duft entflieht - 
Komm, Geliebte, zu beglücken. 

Sieh', die Rose ist erblüht! 

Wenn im duftdurchwehten Garten 
Du dein Antlitz keusch enthüllt, 
Andachtsseliges Erwarten 
Blote, Baum und Strauch erfüllt. 

Selbst das Lied der Nachtigallen 
Schweigt und all der laute Chor, 
Grüssend dir zu Füssen fallen 
Seh’ dort das schwanke Rohr. 

Rosen selbst auf Purpurthrone 
Werden bleich vor Neid und krank. 

Und die Sonne reicht die Krone 
Meiner Lilie, rein und schlank. 

Schöner du als Mond und Sonne 
Und der Schönheit Wunder du: 

Sterbend in der Küsse Wonne, 

Find' mein Glück ich, meine Ruh’!“ 

Bezeichneten wir das wahrhaft keusche 
Liebeslied als eine thatsächlich seltene Aus¬ 
nahme im Wunderhorn der modernen ägypt¬ 
ischen VolksljTik, so findet auch das ernstere 
Lied im allgemeinen, besonders das erotische, 
nur selten Gnade vor den heutigen Nilbe¬ 
wohnern. Die alten Ägypter huldigten mit 
Vorliebe den dOstern Todesgöttern, und ihr 
gesamtes Denken und Thun war eng ver¬ 
flochten mit den Voraussetzungen eines auf 
das Jenseits hinweisenden Totenkultus. Die 
heutigen Ägypter täuschen sich bei frohem 
Sang und süssem Minnespiel Ober den Ernst 
des Lebens hinweg, je drückender die äussern 
Verhältnisse auf ihnen lasten. Und wer möchte 


sie darob schelten? Liegt doch im Liede eine 
Heilkraft, die Jahrtausende schon sich als 
unfehlbar und wunderwirkend erwiesen hat. 
Gleichwohl weiss auch das moderne ägyptische 
Volkslied zuweilen ernstere Töne anzuschla- 
gen, wenn es z. B. gilt, die Untreue oder 
die Sprödigkeit der Geliebten zu beklagen, 
in glühenden Worten Rache und Vergeltung 
ihr anzudrohen u. a. m. Als Probe solcher 
Lieder, die überaus selten sind, möge am 
Schlüsse folgendes stehen: 

„Warum wohl, spröde Schöne, 

Warum bin ich dir gut? 

Weil, ach, mein Herz an deinem 
Fest angeschmiedet ruht! 

Was hab’ ich denn für Freude 
Von all dem süssen Traum? 

Für andre bist du käuflich, 

Und ich - ich acht* es kaum! 

Erhöre meine Bitte 
Und ende meine Qual, 

Dann wird zum Paradiese 
Auch mir das Erdenthal!" 

Wir dürfen schon in obigen Proben zur 
Genüge den Beweis für die eingangs ausge¬ 
sprochene Behauptung erbracht sehen, dass 
thatsächlich auch der moderne Ägypter, wenn¬ 
gleich er es bislang zu grössern dichter¬ 
ischen Schöpfungen noch nicht gebracht hat, 
die poetische Anlage mit dem Südländer 
überhaupt gemein hat. Es würde hier zu weit 
führen, diese Thatsache ferner aus den oft 
tief poetischen Strassenrufen zu erweisen, die 
mehr oder minder melodisch an unser Ohr 
schlagen, wenn wir in einer grössern Stadt 
Ägyptens weilen. Der temperamentvolle 
Orientale geniesst in der reinen, sonnigen 
Atmosphäre seiner Breiten in vollen Zügen 
die Freuden des Daseins, das eine glückliche 
Naturanlage ihm in den verlockendsten Far¬ 
ben erscheinen lässt, während der kühlere Nord¬ 
länder unter seinem nebelgrauen, wolkenvcr- 
hangenen Himmel den Ernst des Lebens gc- 
wissermassen von Kindheit an einatmet, über 
den die heitere Muse der Dichtkunst nur ein¬ 
zelne Erwählte in ihre lichten Höhen empor¬ 
hebt. 


Der Kampfer. *) 

I. Die Kampferindustrie in Japan 
und China. 

Vou C. Abeni>8 . 

Der Kampfer, der in grossen Mengen als Mitte* 
zur Vertreibung von schädlichen Insekten u. dergl., 
zu medizinischen Zwecken und zur Fabrikation von 
Celluloid in allen Kulturstaaten ausgedehnte An¬ 
wendung findet, ist schon im Mittelalter unter dem 

*) Sowohl wirtschaftlich als wissenschaftlich err«^ zur Zeit 
der Kampfer das liöchate Interesse der beteiligten Kreise. Wirt- 
Hchaftlicb dadurch, dass das Hauptproduktionsgebiet, Formosa, 


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ArENDS, t)lE I^AMPFERINbUSTRIE IN JaPAN UND ChINA. 


Ö25 


Namen Caphura bekannt und als Arzneimittel ge¬ 
schätzt gewesen. Man hielt ihn froher ftjr ein 
sublimiertes Erdharz, ähnlich unserem Asphalt, bis 
schlieslich durch die Holländer, welche im vorigen 
Jahrhundert Europa fast allein mit Kampfer ver- 
versorgten, auch nähere Mitteilungen über seine 
Abstammung und Darstellung zu uns gelangten. 

Wir wissen jetzt, dass unter Kampfer ein Teil 
des ätherischen Öls zu verstehen ist, welches der 
sogen. Kampferbaum, Cinnamomum Camphora, 
eine Laurinee, in allen seinen Teilen enthält. 

Der Kampferbaum wächst an der Küste Ost¬ 
asiens von Cochinchina bis an den Jang-tse-Kiang 
und nach Westen bis Schang in der Provinz Hupeh. 
Besonders zahlreich ist sein Vorkommen auf den 
Inseln Hainan, Formosa, den Kiu-Kiu-Inseln und im 
südlichen Teile von Japan bis zum 34., ausnahms¬ 
weise auch bis zum 36. Breitengrade. Übrigens ist, 
wie Grasmann mitgeteilt hat *) Cinnamomum 
Camphora auch auf Madagaskar mit Erfolg ange¬ 
pflanzt worden, doch bedient man sich daselbst nur 
des sehr geschätzten Holzes zu Bauzwecken. 
Kampfer wird dort nicht gewonnen. Der Kampfer¬ 
baum wird bis zu 40 m hoch und erreicht nach 
Grasmanns Messungen einen Durchmesser von 4,5 m. 
Er bildet grosse Wälder, die aber in den Gegenden, 
in welchen man Kampfer gewinnt, infolge des hier¬ 
bei angewendeten Raubsystems schon sehr stark 
gelichtet worden sind. 

Trotz der verhältnismässig weiten Verbreitung 
des Kampferbaumes findet die Gewinnung von 
Kampfer fast ausschliesslich auf Formosa und in 
Japan statt. Nur geringe Mengen werden in China 
h ergestellt. 

Nach den neuesten Mitteilungen über die E.\- 
portverhältnisse Chinas scheint es allerdings, als ob 
man auch auf dem chinesischen Festlande jetzt 
ernstlich daran denke, den seit Jahrliundcrten dort- 
selbst als Bauholz hochgeschätzten Kampferbaum 
auch fhr die Gewinnung der wertvollen Droge zu 
verarbeiten. A. Henry *) giebt an, dass China 
im Jahre 1895 bereits 1756 Pikuls (i Pikul = ca. 
60 Kg.) Kampfer exportierte, und zwar beteiligten 
sich daran die Häfen Foochow, Amoy, Canton, 
Kowlosa und Pakhod. Wenn, wie dies Henry vor¬ 
aussagt, die Kampferproduktion in China stetig zu¬ 
nimmt, und nebenher eine geregeltere Ausnutzung 
der grossen Kampferwälder Platz greift, so dürfte 
dem Japankampfer (zu welchem jetzt ja auch das 
Produkt von Formosa zu rechnen ist), der jetzt den 
Weltmarkt beherrscht, eine ftlhlbare, für die Auf¬ 
rechterhaltung loyaler Preise aber recht wOnschens- 
werte Konku rrenz entstehen. 

aus den H&nden der Chinesen in die der Japaner flbergegangen 
ist; wissenschaRKch dadurch, dass die immer noch nicht gelöste 
Frage nach der Zusammensetzung (Konstitution) des KIknpfers 
immer mehr in den Brennpunkt der chemischen Forschung ge¬ 
rockt ist, wie u. A. die Diskussion auf der letzten Naturforscher* 
Versammlung beweist, (vgl, ,Umschau* No. 4a, S. 755]. Beide 
greifen in einander, denn durch die wissenschaniiche Forschung 
werden meist billige Methoden zur kflnstlichen Herstellung von 
Naturprodukten gefunden, die auf den Handel und Handelswert 
eines Produkts den grössten Einfluss haben kOnnen. Wir erin* 
nem nur daran, dass die Zucht des Krapp vollkommen lahm gelegt 
wurde, als man den daraus hergestellten roten Farbstoff, das 
Alizarin, kQnstlich hcrstellen lernte, — Wie die Ausfahrungen 
Zfigeu, ist man auf dem besten Weg, dem natflrlichcn Kampfer 
auf kflnstlichcm Wege Konkurrenz zu machen. — (Red.-tktion). 

I) Pharm. Ztg., 1896 No. 70. 

*) PharmaceuCical-Joum. i8a7, 1393. ' 


Der Export von Kampfer aus Japan betrug nach 
englischen Konsularberichten im Jahre 1894 33io8 
Zentner im Werte von 1802,980 M, Im Kriegsjahre 

1895 war der Export zwar auf 23,696 Zentner zu¬ 
rückgegangen, repräsentierte aber infolge erhöhter 
Preise doch einen Wert von 19,78100 M. Im Jahre 

1896 betrug er 52,800, M. 

Nach authentischen Nachrichfen im „Chemist and 
Druggist" verfährt man auf Formosa im allgemeinen 
folgendermassen: Die Chinesen bauen sich einen 
Feuerplatz, dessen Herd durch einen ganz flachen, 
eisernen Kessel gebildet wird. Über diesem wird 
ein Drahtgitter angebracht und der iTjnde, aus Back¬ 
steinen oder Lehm aufgeführte Ofen dann mit einer 
irdenen Schale bedeckt. Die Stämme des Kampfer¬ 
baumes werden mit Äxten quer durchgehauen, die 
einzelnen Abschnitte gespalten und diese so gewon¬ 
nenen kleineren Stücke so lange geklopft, bis sie 
faserig locker geworden sind. Dies hat den Zweck, 
den Kampfer möglichst frei zu legen, um die Sub¬ 
limation desselben zu erleichtern, ln den flachen 
Kessel wird dann Wasser gegeben, auf das Sieb 
die Holzsplitter geschichtet, das thöneme Gefäss 
darauf gedeckt und dann erhitzt. Die entwickelten 
Wasserdämpfe reissen den verdampfenden Kampfer 
mit in die Höhe, sodass derselbe sich im Innern der 
aufgedeckten Schüssel in Form eines brotförmigen 
Klumpens verdichtet. 

In Japan bedient man sich an Stelle des soeben 
beschriebenen primitiven Ofens meist übereinander 
aufgestellter, durch Bambusrohre verbundener eiser¬ 
ner Kessel, In dem untersten derselben erhitzt 
man beständig zufiiessendes Wass«* zum Sieden, 
und leitet die Däihpfe in den zweiten Kessel, in 
welchem sich die Kampferholzspähne befinden. 
Dort veranlassen dieselben die Verflüchtigung des 
Kampfers, der dann von den Dämpfen mitgerissen 
in den dritten Kessel geleitet und dort durch Küh¬ 
lung des Kessels von Aussen kondensiert wird. 
Auf diese Weise gewinnt man neben dem Kampfer 
noch eine Menge mit Wasser gemischten Kampfer¬ 
öls, welches einen wertvollen Handelsartikel bildet. 

In wiefern es möglich ist, die Destillation von 
Kampfer aus der im ganzen tropischen Asien ver¬ 
breiteten Komposite Blumea balsamifera auszu¬ 
dehnen, und ob der Kampfer dieser strauchartigen 
Pflanze auch dieselben Eigenschaften besitzt, wie 
der Laurinenkampfer, muss die Zeit erst lehren. 
Der Blumeakamp/er w'wd nach Grasmanns Angaben 
bis jetzt nur in Hainan gewonnen und in Canton 
raffiniert. Die jährliche Ausbeute beträgt etwa nui' 
10000 Pfund, Ebenso wenig ist bisher der sogen. 
Bomeokampfer, welcher in chemischer Beziehung 
dem Blumeakampfer sehr nahe steht und von Dryo- 
balanops Camphora, einer Dipterocarpee, ab- 
stammt, wegen seines hohen Preises för den Ex¬ 
port nach Europa in Betracht zu ziehen. Er findet 
zumeist in China zu Räucherzwecken Anwendung. 

Von grossem Interesse sind übrigens auch die 
Versuche, welche D. Hooper zur Gewinnung von 
Kampfer aus den Blättern von Cinnamomum 
Camphora in Ostindien angestellt hat. *) In Indien 
gedeiht der Kampferbaum sehr gut und die Ver¬ 
suche Hoopers haben dargethan, dass man aus den 


j) Pharmaceulical-Joumal, ii, Januar 1896. 


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026 


Schmidt, Die neueren ch£mischen Untersuchungen über Kampfer. 


Blättern desselben durch Destillation ein Öl ge¬ 
winnen kann, aus dem sich bei geeigneter Behand¬ 
lung sehr grosse Mengen festen Kampfers abscheiden 
lassen. Es wäre diese Darstellungsweise, wenn sie 
sich verallgemeinern Hesse, recht geeignet dazu, die 
Verheerungen in den Kampferwäldern, welche durch 
das schonungslose Fällen der Bäume verursacht 
werden, erheblich zu beschränken. ~ Dass die alles 
umfassende und die dichtesten Schleier, welche 
Mutter Natur ihren Gaben so gerne überdeckt, 
durchdringende chemische Wissenschaft auch eifrig 
an der Arbeit ist, künstlichen Kampfer darzustellen, 
und zwar aus Terpentinöl, wird noch in dem fol¬ 
genden Aufsatz dargelegt. 

Die Raffinierung des rohen Kampfers geschah 
früher ausschliesslich in Hong-Kong, England, Frank¬ 
reich, Holland und Deutschland. In letzter Zeit aber 
haben sich nach dem „Chemist und Druggist" in 
Kobe japanische Gesellschaften gebildet, die diese 
lohnende Industrie für Japanischen Kampfer an sich 
gerissen haben. Man sieht auch aus diesem neben¬ 
sächlichen Umstand die Konkurrenz Japans gegen¬ 
über Europa. Die Raffinierung geschieht meist da¬ 
durch, dass man den durch Pressen von anhängen- 
dera öl und Wasser befreiten Kampfer mit Ätzkalk 
mischt und vorsichtig soweit erhitzt, dass er sub¬ 
limiert. Er verdachtet sich dann an der gekühlten 
Decke des Sublimationsgefässes in Form flacher, 
etwas konkaver Kuchen und kommt so, sorgfältig 
in Papier und Kisten verpackt, als durchscheinende 
weisse, leicht flüchtige Masse in den Handel, wie sie 
uns Allen bekannt ist. 

• 

* • 

II. Die neueren chemischen Unter¬ 
suchungen über Kampfer. 

Von Dr. Schmidt. 

Als Kampfer bezeichnet man in der Wissen¬ 
schaft sauerstoffhaltige, eigentümlich riechende 
Körper, welche in naher Beziehung zu einer weit 
verbreiteten Klasse von Kohlenwasserstoffen, den 
Terpenen,’) stehen und auch künstlich durch Oxy¬ 
dation derselben gebildet werden können. Die wich¬ 
tigsten in der Natur vorkommenden Kampfer sind: 
Der gewöhnliche oder Japankampfer, der Borneo- 
kampier oder Bomeol, der Menthakampfer oder 
Menthol. 

Die Herkunft des gewöhnlichen Kampfers 
(CioHiaü) ist oben beschrieben. 

Der Borneokampfer oder Borneol (CioHuO = 
CioHit-OH) kommt in einem auf Borneo und 
Sumatra wachsendem Baume (Dryobalanops Cam¬ 
phora) vor; künsüich entsteht er aus Japankampier 
durch Natrium und Alkohol. Er steht zum Japan¬ 
kampfer im Verhältnis eines Alkohols zum Keton, 
ist demselben sehr ähnlich, riecht aber pfeflcrartig. 

Der Menthakampfer oder Menthol 
bildet den Hauptbestandteil des Pfeffermünzöles, 
aus dem er sich bei starkem Abkühlen krystalli- 
nisch ausscheidet. 

Die Frage nach dem Bau des KampfermolekOls 
(Konstitution des Kampfers) beschäftigt seit etwa 

l) Nach ihrem llauptvertreter, dem Terpentinöl, ao genannt. 


38 Jahren viele Gelehrte, *) und die zur Erklärung 
des Verhaltens und der vielfachen Umwandlungen 
des Kampfers vorgeschlagenen Konstitutionsformeln 
sind daher sehr zahlreich. Es ist hier nicht der 
Platz, dieselben sämtlich anzuführen; die meisten 
sind auch nicht zu allgemeinerer Anerkennung ge¬ 
langt, weil sie eben nicht im Stande waren, alle 
Reaktionen und Umwandlungen des Kampfers ein¬ 
fach und einleuchtend zu erklären. Wir wollen 
vielmehr sehen, in welcher Weise man die Frage 
nach dem Bau des Kampfermoleküls zu lösen ver¬ 
sucht, und dabei die wichtigsten, neuerdings aufge¬ 
stellten Formeln besprechen. 

Um den Aufbau des gewöhnlichen Kampfer¬ 
moleküls zu erforschen hat man neuerdings jenen 
Weg eingeschlagen, welcher allgemein anwendbar 
ist, um die Konstitution organischer Verbindungen, 
welche uns die Natur als Produkte ihrer Lebens- 
thätigkeit liefert, kennen zu lernen. Er besteht 
darin, diese Verbindungen, die meist kohlenstoff¬ 
reich sind, so zu zerlegen, dass mehrere Moleküle 
von geringerem Kohlenstoffgehalt entstehen. Ge¬ 
lingt es dabei, den Abbau so zu leiten, dass man 
schliesslich zu bekannten Körpern gelangt, so geben 
die Spaltungsprodukte zuweilen so deutlichen Auf¬ 
schluss über den Bauplan des Ganzen, dass auf¬ 
umgekehrtem Wege durch schrittweisen Aufbau 
die künstliche Darstellung, die „Synthese", unter¬ 
nommen werden kann. Diese Methode des Abbaues 
ist meist recht fruchtbringend, denn wer, mit dem 
Dache beginnend, ein Haus .allmählich abträgt, hat 
die beste Gelegenheit, sich mit allen baulichen Ein¬ 
richtungen desselben vertraut zu machen. Allgemein 
gebräuchliche Mittel, um die Zerlegung organischer 
Verbindungen herbeizuführen, bestehen zum Bei¬ 
spiel in der Oxydation, hydrolytischen Spaltung 
(unter Eintritt eines Moleküls Wasser) und Zersetz¬ 
ung bei höherer Temperatur. 

Die Oxydation hat beim Kampfer vorzügliche 
Dienste geleistet. Vor allem die Untersuchung der 
Oxydationsprodukte war es, welche zur Aufstellung 
jener Formeln des Kampfers führte, die in den 
letzten Jahren von den Chemikern besonders in 
Betracht gezogen worden sind, und Ober welche 
gerade in der letzten Zeit die lebhafteste Besprech¬ 
ung stattgefunden hat. Es sind dies die Formeln *) 
von Bredt, Tiemann und Wagner. 

Bredt hat von neuem die Oxydationsprodukte 
des Kaitipfers eingehend untersucht *) und aus 
dieser Untersuchung seine Kampferformel abge¬ 
leitet. Bei der Oxydation des Kampfers ent¬ 
stehen als Hauptprodukte nebeneiander drei Säuren: 
(i. Kampfersäure CioHieOi); (2. Kampfansäure 
CioHieO»); (3. Kampforonsäure C 9 Hi 40 e). Diese 
drei Säuren entstehen aber nicht nur neben¬ 
einander, sondern sind auch untereinander nahe 
verwandt. Sie stellen nämlich eine Stufen¬ 
folge der Oxydationsprodukte des Kampfers dar, 
deren höchstes (die Kampforonsäure) sich durch 
langes andauerndes Behandeln mit starken Oxy¬ 
dationsmitteln aus jeder der niederen Stufen (Kampfer, 
Kampfersäure, Kamphansäure) erzeugen lässt. Die 


<) Im Jahre 1859 wurde voQ Btrthtlot die erste Ansicht in 
Betreir der Konstitution des Kampfers geSusseit. 

*) Berichte d. d. ehern. Gcsellschaü 26,3047; 27,2090; 28,316; 
Liebiga Annalen 292,53. 


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Schmidt, Die neueren chemischen Untersuchungen Ober kAMPFER. 


Ö27 


Frage nach der Konstitution des Kampfers hängt 
somit mit derjenigen nach der Zusammensetzung 
der drei genannten Säuren auf das Engste zusam¬ 
men. Insbesondere gewann die Frage nach der 
Kampforonsäure ein erhöhtes Interesse. Denn es 
war anzunehmen, dass die Erkenntnis der Kon¬ 
stitution dieses Endproduktes der Oxydation auch 
gestatte, RöckschlOsse auf die Struktur seines Aus¬ 
gangskörpers, des Kampfers und auf die der 
Zwischenprodukte, Kampfersäure und Kampfan¬ 
säure zu ziehen. So sind denn auch im Laufe der 
Zeit von einer nicht geringen Anzahl Chemiker 
verschiedene Ansichten über die Konstitution der 
Kampforonsäure und ihre Beziehungen zum Kampfer 
geäussert worden. Jetzt zählen die Kampforonsäure 
und ihre Derivate, Dank zumal den sorgfältigen 
Untersuchungen von Bredt und seinen Schülern 
zu den gut charakterisierten organischen Verbind¬ 
ungen. Zwei von Bredt festgestellte Thatsachen 
sind fbr die Erforschung der Kampforonsäurestruk- 
tur von besonderer Bedeutung gewesen: erstens 
die Erkenntnis der dreibasischen Natur dieser Säure 
(sie enthält drei durch je ein Atom eines einwert¬ 
igen Metalles ersetzbare Wasserstoffatome) und 
zweitens die Beobachtung, dass Kampforonsäure 
bei der trockenen Destillation in drei Säuren (Tri- 
methylbemsteinsäure, Isobuttersäure und Kohlen¬ 
säure) gespalten wird. Bredt hat daraus den Schluss 
gezogen, dass die Atomgruppierung der Trimethyl- 
bemsteinsäure *) auch in der Kampforonsäure und 
den übrigen vom Kampher direkt abzuleitenden 
Derivaten und im Kampfer selbst enthalten sein 
müsse. Dies führte zu der Annahme der oben an¬ 
geführten Konstitutionsformel. Bredt hat gezeigt, 
dass dieselbe genügt, um die bekannten Eigen¬ 
schaften und die Bildung einer grösseren Anzahl 
von Kampferderivaten zu erklären. Sie ist jedoch 
von verschiedenen Seiten insbesondere von Tiemann 
und Wagner angefochten worden. 

Tiemann hat seit einer Reihe von Jahren den 
Kampfer in den Kreis seiner Untersuchungen ge¬ 
zogen, um ein Urteil zu gewinnen über etwaige 
Beziehungen desselben zu den von ihm bereiteten 
Riechstoffen (Vanille, Heliotrop, Veilchen). Er hat 
einen Abbau des Kampfers in anderer Weise wie 
Bredt durchgeführt. Derselbe kann hier nicht näher 

♦) c 

I 

c—c—c 

I 

c—c 

I 

c 


erörtert werden.*) Nach Tiemanns Meinung trägt 
die Bredt'sche Formel gerade-der Umwandlung des 
Kampfers in Verbindungen der sogen. Kampfolen- 
reihe, sowie den nahen Beziehungen des Kampfers 
zu einem bekannten Kohlenwasserstoff, dem Pinen, 
nicht genügend Rechnung. Tiemann hat deshalb 
die Bredtsche Formel abgeändert und kommt dann 
auch zu anderen Anschauungen Ober die Konsti¬ 
tution der Kampfersäure, Kampfansäure und 
Kampforonsäure. Doch sind auch gegen die Tie- 
mannsche Kampforonsäureformel und damit auch 
gegen die Kampferformel verschiedene Bedenken 
zu Erheben. Wie dem auch sei, die Untersuchungen 
Tiemanns in der Kampfoienreihe haben eine grosse 
Anzahl von neuen Verbindttngen ergeben, die für 
die Chemie des Kampfers sehr wichtig sind. 

Wagner gelangt für die Kampforonsäure zu 
derselben Formel, wie sie von Bredt gegeben wor¬ 
den ist, er geht aber dabei von einer anderen 
Konstitutionsformel für Kampfer und Kampfersäure 
aus. Auch diese Kampferformel ist nicht allgemein 
anerkannt, besonders da sie die Bildung zweier 
Verbindungen (des Cymols und Carvacrols) nicht 
in einfacher Welse erklärt. 

Die Struktur des Kampfers ist also trotz der 
sorgfältigen analytischen Untersuchungen noch nicht 
mit Sicherheit festgestellt. Doch muss die Entscheid¬ 
ung darüber, welche von den drei Formeln den 
Vorzug verdient, bald fallen. Es ist notwendig, die 
Ergebnisse des Abbaues durch den Wiederaufbau 
zu kontrollieren. Dieser ist allerdings in der Kampfer¬ 
reihe besonders schwierig, weil dazu bei der eigen¬ 
artigen Atomgruppierung, welche die in Betracht 
kommenden Verbindungen zeigen, neue Methoden 
erst noch auszuarbeiten sind. 

Eine künstliche Bildungsweise des Kampfers ist 
diejenige aus Pinen, einem Kohlenwasserstoff, der 
den Hauptbestandteil der verschiedenen Terpentin¬ 
öle bildet. Pinen lässt sich, wie aus zahlreichen, 
zumal von französischen Chemikern ausgeführten 
Untersuchungen hervorgeht, in B,pmeol und dieses 
in Kampfer überführen. Ferner hat Bredt eine par¬ 
tielle Synthese des Kampfers ‘) ausgeführt. Er 
ging aus von einer Homokampfersäure genannten 
Verbindung und erhielt durch Destillation des Kalk¬ 
salzes derselben Kampfer. Doch ist keine dieser 
künstlichen Entstehungsweisen des Kampfers ein 
Aufbau seines Moleküls. 


*) Ich verweise auf Tiemaons Abhudlungeu: Berichte d. 
d. ehern. Gesellchaä 98, lOBS, 9141, 9166; gg, 119, 943, 391, 3006; 

30, 404- 

Liebigs AooaleD 989, 1. 


•) Kampfer: 


H»C 


H,C 



Co 


CHi 


H 

H.P r r«. Öjp f 

H 

•» r** 


1 


1 


H,C-C-CH. 


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1 

H,P-t* 


r\ ti.r' J 

1 

H« I 

1 H 


-CHi 


CO 


Bredt 

{Berichte d. d chem. Gesellschaft 
97,9094) 


W agner 

(Bulletin soc. chim. de 
Paris T 16, Ser. 3a, 1839). 


Tiemann 

(Berichte d. d. chem. Gesellschaft 
98,1067.) 


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Betrachtungen und kleine Mitteilungen. 


Ö2d 


Von den neueren Untersuchungen über Menthol 
und Bomeol wären vor allem die von Ernst 
Beckmann, die sich auch auf den Kampfer er¬ 
strecken, anzuführen.’^) Dieselben können hier nicht 
näher besprochen werden, und ich will nur er- 
wälinen, dass sie zu interessanten Ergebnissen ins¬ 
besondere bezüglich der in der Kampferreihe be¬ 
stehenden Isomerieverhältnisse gefCilirt haben. 


Betrachtungen und kleine Mitteilungen. 

Der durch seine umfassenden Forschungen aui 
dem Gebiete slavischer Volkskunde und Mytho¬ 
logie bekannte Ethnograph in Wien, Dr.Fr. Krauss, 
beginnt in seiner Zeitschrift „Urquell“ {Verlag von 
G. Kramer in Hamburg), der hiermit beiläufig allen 
Interessenten empfohlen werden mag, eine Reihe 
von GuslareMlifdem zu veröffentlichen, welche für 
die Kenntnis primitiver Sitten und Anschauungen 
slavischer Völker eine reiche Fundgrube versprechen. 
Obschon dieselben ihrer Entstehung nach ziemlich 
jungen historischen Ursprungs sind (sie stammen 
meist aus dem 33. und 14. Jahrhundert), so dürfen 
sie doch eben um deswillen, weil sie mancherlei 
uralte Vorstellungen und Bräuche vorhistorischer 
Zeit uns aufbewahrt haben, einen sehr hohen Wert 
beanspruchen, in erster Linie natürlich bei den 
Folkloristen. Auch für rechtsvergleichende Studien 
bietet sich hier ein reiches Material. Diese Lieder 
behandeln, wie der Herausgeber bemerkt, grössten¬ 
teils geschichtliche Ereignisse, kriegerische Ver¬ 
wicklungen, entsprechende Sagenstotte, zum kleine¬ 
ren Teil Legenden, Märchen und sonst unblutige 
Begebenheiten aus dem Leben und Streben hervor¬ 
ragender Gestalten der Überlieferung. Verwand¬ 
lungen (Metamorphosen), scherzhafte und witzige 
Erzählungen sind dieser gehobenen epischen Gatt¬ 
ung abartig. Der Guslar (das Wort kommt von 
Guslen, der Fidel) ist ein umherziehender Sänger und 
Rezitator, dessen musikalische und dichterische Be¬ 
gabung vielfach ziemlich minderwertig ist, aber sie 
schöpfen aus vollem Born und können deshalb über¬ 
all auf Verständnis beim Volk rechnen. Die meisten 
Dichter derGuslarenlieder älterer Zeit, sagt Krauss, 
sind in der Gefolgschaft der abenteuernden Rotten- 
häuptlinge und Burgherren zu suchen, in den Kreisen 
ritterlicher Herrschaften und der Vertreter der 
Volksmiliz; in einer also nicht unbestimmbaren Schicht 
des Volkes ist die Heimat des Guslarenüedes. 
Leute von kriegerischen und dichterischen Neigun¬ 
gen lernen am liebsten diese Art alter Überliefer¬ 
ungen und verbreiten sie wieder. Bei geselligen 
Zusammenkünften hört Einem zuweilen ein Dutzend 
Männlein und Weiblein, armes Bauemvolk, mit den 
halbwüchsigen Kindern, nicht ungern zu, um sich 
zu zerstreuen, doch bei alledem ist der Guslar in 
gemischter Gesellschaft so gut wie nie die Haupt- 

S erson. Sozial nimmt der Guslar vermöge seiner 
iunst der Rezitation keinerlei ausgezeichnete Stell¬ 
ung ein; er galt doch nur in der kriegerischen 
Rolle etwas, die sich mit ihrem Häuptling im An¬ 
denken nachfolgender Geschlechter verewigt wissen 
mochte. Um solchen Anspruch auf Nachruhm zu 
erlangen, begingen die Helden mancherlei Schauer- 
thaten; das erklären mit dürren Worten nicht 
Wenige Kämpen selber in Guslarenlieder. (Urquell 
1897 S. 43.) Es bedarf wohl kaum ausdrücklicher 


’’) Liel.igs Ann.nleii 350. 31»; sös, r 28s, 36a; Rerichte d. d. 
chrm. G<-s. ag, 418; Liebi^s Ann.ilen 393, 1; Journ. f. prakt. 
Chem. 55, 14 


Versicherung, dass hierbei der etwaige ästhetische 
Genuss hinter dem ethnologisch-folkloristischen Mo¬ 
ment zurückzustehen hat, und schon deshalb ist es 
vielfach blosser Selbstbetrug, wenn frühere Samm¬ 
ler solcher Gesänge sich und Anderen eine weihe¬ 
volle Stimmunjg emreden wollten. Unser Gewährs¬ 
mann hat im Lauf der Zeit ein ungeheures Material 
zusammengestellt, vielfach auch ungedrucktes, das 
sich in runder Zahl auf 500 Tausend Zeilen beläuft, 
— in der That ein seltener Schatz, der für die 
Volks- und Völkerkunde noch mancherlei weit¬ 
reichende Aufschlüsse in Aussicht stellt. Jedenfalls 
wissen wir ihn bei diesem Forscher, der gleich weit 
von phantastischer Speculation wie von totem 
Schematismus und Buchstabenglauben entfernt ist, 
in den besten Händen. Dass auch die vergleichende 
empirische Psychologie, welche erst in neuester 
Zeit angefangen hat, die Niederschläge des Volks¬ 
geistes mit in ihre Bahnen hineinzuziehen, hier die 
mannigfachste Anregung findet, leuchtet wohl jedem 
Sachkundigen ohne weitere EleweisfOhrung ein. 

Dr. Achf.lis. 

• • 

^ Über die Behandlung der afrikanischen Ein¬ 
geborenen äussert sich Prof. Dr. G. Volke ns in 
seinem kürzlich erschienenen Werk »Der Kili¬ 
mandscharo“ in bemerkenswerter Weise. Prof. 
Volkens hat 1893 mit dem Geologen Dr. L e n t die 
deutsche wissenschaftliche Station am Kilimandscharo 
(Marangu) gegründet und im Aufträge der preuss- 
ischen Akademie der Wissenschaften 15 Mon^e 
lang im Kilimapdscharogebiet botanische Studfeö 
betrieben und hat dabei mit den Eingeborenen nicht 
nur auf Reisen, sondern auch in der viel engeren 
Berührung, die ein gemeinsamer Aufenthalt auf der¬ 
selben Station mit sich bringt, ununterbrochen zu- 
sammengclebt. Er wie Dr. Lent sind zu der An¬ 
sicht gekommen, dass'ein solch himmelweiter Unter¬ 
schied, wie er oftmals als zwischen Schwarz und 
Weiss gepredigt wird, durchaus nicht vorhanden 
ist. Mit der Beurteilung der guten und schlechten 
Charaktereigenschaften der Neger geht es genau 
so wie bei der Beurteilung der Dienstboten bei uns 
zu Hause. Eine Herrschaft, die ihren Dienstboten 
ihr Recht werden lässt, die Menschen in ihnen sieht, 
an deren Freuden und Leiden teilzunehmen keine 
Herabwürdigung, sondern eine Pflicht ist, die wird 
auch keinen Grund haben, in das Klagelied über 
schlechte Dienstboten einzustimmen. Was sind es 
denn für Leute, die man in den KOstenstädten im¬ 
mer mit dem Stock in der Hand, immer mit einem 
Fluch auf den Lippen hinter ihrem Diener her¬ 
laufen sieht: Gernegrosse, die daheim ihre Stiefel 
selber geputzt haben, und die es jetzt kitzelt, ein 
Bana, ein Herr zu sein, und zu ihnen gesellen sich 
die von Haus aus Brutalen, die Dummköpfe und 
Narren, die in dem Neger ein Tier sehen, weil sie 
zu geistesträge und zu aufgeblasen sind, um sich 
in seinen Gedankengang und selbst in seine Sprache 
hineinzuleben. Auch wir hatten unsere Nilpferd¬ 
peitsche: in Anwendung gekommen aber ist sie 
nur zweimal, das erste Mal bei einem Diebstahl, 
der noch dazu nicht an unserem Eigentum verilbt 
war, das andere Mal bei direkter Auflehnung eines 
Berauschten gegen seinen Vorgesetzten. Die Wasua- 
heli (alle unsere Leute waren xVasuaheli) sind nicht 
besser und nicht schlechter wie wir; sie sind anders 
als wir; und darum halten wir sie solange für 
minderwertig, als bis uns das Abweichende ihres 
Charakters in seinen ursächlichen Momenten klar 
geworden ist und wir uns entschliessen, dem ge- 
reclit zu werden. Selbst ihre Intelligenz schätze icli 
nicht geringer als die des Durchschnitts-Europäers; 
ja, wenn ich die Wahl hätte, eine ohne Ansehen 


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Betrachtungen und kleine Mitteilungen. 


829 


herausgegriffene Schaar zehn* oder zwölfjährige 
Wasuaheli und ebenso viel gleichaltrige pommersche, 
posensche oder oslpreussische Bauernjungen unter¬ 
richten zu müssen, ich wäre nicht im Zweifel, dass 
ich mit den ersteren weiter kommen würde. 

' . 

Studien zur Kritik und Geschichte von Hyp- 
polite Taine. Unter diesem Titel erscheint bei 
Albert Langen (Paris, Leipzig, München) eine Aus¬ 
wahl von Essays des berühmten Geschichtsschreibers 
der französischen Revolution, die es wohl verdie¬ 
nen, dass wir die Leser der Umschau auf sie auf¬ 
merksam machen. In seinen jüngst erschienenen 
„historischen Bildern und Skizzen“ hat der Münchener 
Geschichtsprofessor K. Th. Heigel Taine als Ro¬ 
mantiker charakterisiert, und wenn Romantik und 
romantische Wissenschaft heutzutage auch im all¬ 
gemeinen verpönt oder wenigstens vergessen sind, 
den einen Vorzug kann man ihnen doch nicht 
streitig machen, dass innerhalb derselben eine ge¬ 
schlossene Weltanschauung möglich war, was heut¬ 
zutage nur ganz hervorragenden Geistern — wie 
z. B. Friedrich Nietzsche — gegeben ist. Und eine 
geschlossene Weltanschauung tritt uns auch in 
diesen Essays entgegen; Taine hat hier, wie er in 
seinem grossen Lebenswerke die Anfänge des mo¬ 
dernen Frankreich schilderte, sozusagen die An¬ 
fänge der modernen Menschheit überhaupt aufge¬ 
zeigt: aus einer Reihe einzelner Studien erbaut sich 
ein grosses Ganzes, eine gross angelegte historische 
Welterfassung, die in der Kunst der Griechen, in- 
der Weisheit des Orients, in der Mystik des Mittel¬ 
alters und im Stürmen und Drängen der grossen 
Revolution in der gleichen, ruhigen, sicheren Weise 
die geheimsten Ursachen und innersten Triebfedern 
zu eröffnen versucht. Karl Lory, 

• • 

* 

Künstliche Darstellung von Indigo. Der Bad' 
tschen Anilin- und Sodafabrik in Ludwigshafen ist 
es gelungen, Indigo künstlich so billig herzustellen, 
dass er mit dem natürlichen in Konkurrenz treten 
kann und ist dieser künstliche Indigo seit ganz 
kurzer Zeit auf dem Markt. Das Herstellungsver¬ 
fahren wird strengstens geheim gehalten. Nach 
mühsamen und wissenschaftlich hoch bedeutenden 
Arbeiten gelang es Baeyer in München im Jahre 
1880 den Indigo, den wertvollsten, dauerhaftesten 
blauen Farbstoff, der erst in letzter Zeit durch 
einige der Alizaringruppe angehörige blaue Farb¬ 
stoffe *) eine gewisse, allerdings beschränkte Kon¬ 
kurrenz erhielt, auf künsüichem Weg herzustellen. 
Das Verfahren war jedoch für eine industrielle 
Ausbeutung zu kostspielig, ebenso die von dem 
verstorbenen Prof. Heumann in Zürich ausge¬ 
arbeitete Methode, auf die man, als sie 18^ her¬ 
auskam, grosse, Hoffnungen gesetzt hatte. Die Bad¬ 
ische Anilin- und Sodafabrik hat bisher alle Patente, 
die sich auf künstliche Darstellung des Indigo oder 
Hilfsprodukte dazu bezogen, aufgekauft und un¬ 
geheure Summen für praktische Ausarbeitung der 
Methoden für den Fabrikbetrieb und für eigene 
Versuche ausgegeben. Wie man sieht nicht um¬ 
sonst 1 denn die Bedeutung dieser Erfindung ist von 
unübersehbarer Tragweite; falls sie sich bewährt, 
wird der Anbau und die Verarbeitung der Indigo¬ 
pflanze, eine Industrie, die in Indien viele Tausende 


I) Von den Müitarbehdrden sind di« d«r Alizariazruppe an- 
gehArig«n blauen Beizenfarbstoffe, ebenfalls vielfach Fabrikate der 
Bad. Anilin- und Sodafabrik, für die Färberei der Militsrtuche 
zugeiaasen worden; von der preussischen Eisenbahnverwaltung 
werden sie sogar wegen grosserer Reibechtheit verlangt Einer 
Fftrbung mit kflnstlichem Indigo wird voraussichtlich der gen 
Mangel nicht anhaffeti. Von Bedeutung ftir die Blauülrbung von 
Baumwolle sind einige Produkte der Fa. L. Casella & Co. in 
Mainkur bei Frankfurt. 


ernährt, eingehen, die Indigoproduktion von der 
englischen Kolonie nach Deutschland gezogen und 
für den deutschen Arbeiter und den deutschen 
Handel nutzbringend. Statt dass wir den Indigo aus 
Ostasien importieren, werden wir in der Lage 
sein, ihn dorthin zu exportieren. 

Bechkold* 

• # 

• 

Zur Erklärung der Überflutungen in Deutsch¬ 
land 1897.') Die heftigen Regenfälle, welche in 
dem vergangenen Frühjahr und Sommer Zentral¬ 
europa heimsuchten, stehen in naturgemässem Zu¬ 
sammenhang mit der vorherrschenden Luftdruck¬ 
verteilung. Es durchstrich nämlich fast stets eine 
Linie niedrigsten Luftdruckes den kontinentaleren 
Teil Europas, welcher dann also dem Gebiet in¬ 
tensiveren Regens, das jene Linie umgibt, ange¬ 
hörte. Zuweilen war diese Linie allerdings we¬ 
niger hervortretend, namentlich dann, wenn die 
Gebiete hohen und niedrigen Luftdruckes, wie es 
häufig geschah, eine von Nord nach Süd langge¬ 
streckte Gestalt annahmen, d. ,i. wenn jene Druck- 
verteilnng sich einstellte, bei welcher erfahrungs- 
mässig die heftigsten Regenfälle, schwere Hagel¬ 
schläge und zerstörende lokalere Sturmerscheinun¬ 
gen auftreten. Indessen auch in diesen Fällen lassen 
sich vielfach Reihen kleinerer Depressionenfeststellen, 
die von West nach Ost über das kontinentale 
Europa hinziehen und somit das Bestehen jener 
Linie niedrigsten Luftdruckes andeuten. Die un¬ 
günstige Summation einer oder mehrerer solcher 
kleinerer Depressionen mit einem grösseren nur 
langsamer sich verändernden von Nord nach Süd 
langgestreckten Gebiet niedrigen Luftdruckes fllhrte 
dann jene extremen Erscheinungen herbei. Derartig 
waren die Vorgänge, welche am Schluss des Juni 
in Württemberg und gegen Ende des Juli in 
Schlesien, Sachsen und Nordböhmen die Verheer¬ 
ungen im Gefolge, hatten. In dem letzteren Falle 
lag eine von Nord nach Süd langgestreckte De- 

g ression über dem östlichen Zentraleuropa; kleinere 
'epressionen drangen über Mitteldeutschland ost¬ 
wärts vor und riefen in jenen betroffenen Gegen¬ 
den tiefere Barometerstände und ein lebhafteres 
Aufsteigen der Luft hervor. Dies Aufsteigen wurde 
noch besonders verstärkt durch die den Winden 
entgegenstehenden Gebirgsketten, heftige Regen¬ 
fälle waren die weitere Folge. Herrmann verlässt 
daher die bisherige Ansicht, dass in diesem Falle 
und auch in anderen Fällen, in denen Wolkenbrüche 
Ober Ostdeutschland stattfanden, das Fortschreiten 
eines Minimums von dem Adriatischen Meer nord¬ 
wärts nach der Ostsee anzuiiehmen sei. 

Globus V« 6. Nov. 1897. 

t * * 

• 

Ein neues Verfahren zur Konservierung und 
zum Transport der Milch von M. F. C a s s e dürfte 
die Aufmerksamkeit der Landwirtschaft verdienen. 
Hierbei wird von der zur Versendung bestimmten 
Milch gleich nach dem Melken ungefähr der vierte 
Teil zum Gefrieren gebracht und in Blocks von 
10—15 Kilo Gewicht mit in den Behälter gebracht, 
der 500 Liter fasst. Im übrigen erfährt die Milch 
keine andere Behandlung und der Transportbehälter 
braucht nicht hermetisch verschlossen zu sein. Die 
Milcheis-Blocks schwimmen auf der Oberfläche der 
Milch und bilden infolge ihrer Neigung zu zer¬ 
bröckeln bald eine körnige, aus grösseren und 
kleineren Stücken gemischte Masse. Auf der an¬ 
deren Seite genügt das beständige Auftauen der 
EisstOckchen in dem Behälter eine ständige Zirku- 

t)E HerrmROQ. Oberdie allg.-nüinerenatmosphlrischen Vor- 
äuge vor und wAhreod der diesjahrigeo Oberffutunzea in 
chlesien, Sachsea und Nordböhmen. S.-A. aus den Aoo. d. 
Bydr. u. marit. Meteor 1897. 


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830 


Betrachtungen und kleine Mitteilungen. 


letion zu unterhalten, welche das Absetzen der Sahne 
verhindert und welche es ermöglicht noch nach 
1^—20 T^en eine vollkommen homogene und melk* 
frische Milch zu liefern. Die Milch wird in dieser 
Behandlung in kühlen Räumen bis zur Versendung 
aufbewahrt. Für den Transport werden entweder 
Spezialwagen oder gewöhnliche Waggons, die für 
die warme Jahreszeit mit isolierenden Schichten 
aus Stroh oder dergl. ausgekleidet sind, versandt. 
Am Verbrauchsort angekommen wird die Milch 
eingelagert und kann wochenlang ohne Nachteile 
liegen und nach Bedarf abgenommen werden. Der 
Inhalt jedes Behälters wird dann in runde, verzinnte 
Stahlblech-Bottiche entleert, in denen eine verzinnte 
Kupferschlange liegt. Das Auftauen der Milch er¬ 
folg durch die Wirkung eines lauwarmen Wasser¬ 
stromes, der durch die Schlange geht. Für die Auf¬ 
bewahrung und den Transport der Sahne benutzt 
M. F. Casse doppelwandige Gefässe, bei denen der 
Zwischenraum mit Eis ausgefüllt ist, welches die 
Temperatur auf o Grad erhält. Wenn das Ver¬ 
fahren wirklich die geschilderten Vorzüge besitzt, 
so wird es den Produzenten gewiss eine höhere 
Verwertung der Milch sichern. Die Transportkosten 
werden bedeutend niedriger sein, da die Versend¬ 
ung als gewöhnliches Frachtgut möglich. Die 
Ddtailhändler könnten nach Massgabe ihres Bedarfs 
einen Vorrat auf Lager nehmen und brauchten zu 
keiner Jahreszeit in Verlegenheit zu kommen; bis¬ 
her angewandte, für die Gesundheit der Konsum¬ 
enten nachteilige Konservierungsmethoden würden 
wegfallen. Revue scieDtifique, 30. Okt 97« 

• « 

Über die Überwinterung unserer Sflsswasser- 
Schnecken und -Muscheln konnte Carl Norden¬ 
ski öld feststellen, dass sich die meisten der erste- 
ren im Eise einfrieren lassen. Sie verschliessen ihre 
Schale mit einem Deckel, den sich die Mehrzahl 
von ihnen zu diesem Zwecke, ähnlich wie die be¬ 
kannten Weinbergschnecken, erst bilden müssen, 
nehmen aber vorher etwas Luft mit in die Schale 
hinein, die genügt, um sie nach oben treiben zu 
lassen, wo sie dann einfrieren. Im Frühjahr, wenn 
das Eis allmählich wieder aufthaut, erwachen auch 
sie aus ihrem Winterschlafe. Die Muscheln dagegen 
überwintern ohne Schlaf im Schlamme, wo sie nur 
bei grosser Kälte einfrieren. 

Zcx'top. Zcnti a-. ®cpt. 1897. 

/ • ’ • 

Die Art, wie der Orang-Utan schläft, ist nach 
Beobachtungen, die A. Keith im Garten der Zoo¬ 
logischen Gesellschaft in Lonc'on anstellte, dieselbe, 
die ursprünglich dem Menschen eigen ’st. Er legt 
sich auf die Seite, zieht Arme und Beine an, legt 
die eine Hand unter, die andere auf den Kopf. 
Die Richt{ 4 ng i^eitter Körperhaare Lt dabti so, dass 
sie eine ununterbrochene Decke über ihn bilden. 
Beim Menschen sind die Haare genau ebenso ge¬ 
richtet, ohne dass man seither eine Erklärung hier¬ 
für wusste. Jetzt leuchtet derSchutz, den die Haare 
so gewähren, ohne Weiteres ein. Die Haare des 
Rockens, der Oberseite von Aim und Bein sind in 
der Schlafstellung alle gleichgerichtet, die (Hß 
Leibes und der ihm zugekehrten Unterschenkel- 
und Unterarm-Teile legen sich alle um den Nabel 
herum, bedecken also den Bauch. Dazu sind 
die Haare der Endteile am Arm und Bein quer 
erichtet, während sonst alle Haare am Körper in 
er Län^richtung desselben stehen. 

Proc* 200I. Soc, LoodoD» & 3 » 

• 

* ln einer altperuanischen Thonfigurj 
(be durch Verstümmelungen auftällt, wie sie sich bei 


vorgeschrittenem Aussatze zeigen, glaubte Virchow 
die Darstellung eines Leprakranken erkennen zu 
sollen. In der jüngsten Sitzung der Anthropolog. 
Gesellschaft trat Dr. H. Polakowsky dieser Er¬ 
klärung entgegen und vertrat die Ansicht, dass es 
sich hier um Darstellung eines nach damaliger Sitte 
bestraften Verbrechers handle, da die Figur die 
wohlerhaltenen zehn Finger besitzt, was bei der¬ 
artig vorgeschrittenem Aussatze kaum Vorkommen 
dürfte. Im alten Peru strafte man gewisse Hand¬ 
lung^ durch Abschneiden der Nase und der Ljppeiv 
im Wiederholungsfälle durch Abhauen der Füsse, 
und einen so zugerichteten Verbrecher solle wohl 
die Figur darsteUen. Überhaupt scheine die Lepra 
keine in Amerika einheimische Krankheit zu sein; 
man finde sie nie bei Indianern, die noch nicht in 
Berührung mit Weissen gekommen sind. In Britisch- 
Kolumbien, wo sie sehr häuhg ist, mag sie aus 
Asien eingeschleppt sein. Auch die Thatsache, dass 
Ximenes de Quesada (der 1530 Kolumbien eroberte 
und dort die Stadt Bogota grtndete) später in 
Spanien an Aussatz (und Syphilis) zu Grunde ge¬ 
gangen ist, beweise nichts für <ue Lepra als in 
Amerika einheimische Krankheit; denn aller Wahr¬ 
scheinlichkeit nach habe sie Ximenes sich nicht in 
Amerika zugezogen, sondern in der Heimat selbst, 
in die er während seiner amerikanischen Eroberungs- 
zOge einmal zurückgekehrt ist. Er wird also eher 
umgekehrt den' Aussatz von Spanien nach Amerika 
gebracht haben)^ls von Amerika nach Spanien, 

. Anthropolog. Gesellsch., 16. Okt. 1897. 

Nach Vollendung der transsibirischen Bahn 
wird eine Reise um die Erde nach Berechnui^;en 
des russischen Eisenbahnministers Chilkow in 
dreiunddreissig Tagen möglich sein, wenn die 
schnellsten Züge und Dampfer dazu benutzt werden. 
Die Reise erfordert: 

von Bremen nach Sl Petersburg . .1*/* Tag, 

, St. Petersburg nach Wladiwostok 
(bei einer Zugsgeschwindigkeit 
von 48 km in der Stunde ... 10 Tage 
von Wladiwostok nach San Francisco lo „ 

„ San Francisco nach New-York . 4*/* > 

„ New-York nach Bremen ... 7 „ 

33 Tage. 

Z. d. Ver. d. Eisenb.-Verwtituogea. 


Sprechsaal. 

Herrn K. N. in S. Wir empfehlen Ihnen : 

1) Crtdner’s Geologie (W. Engelmann, Leipzig) 

Mk. 17.— 

Gündl, GrundzQge der Geologie (Fischer, Kassel) 

Mk. 28.-. 

(enthält Geologie und Petrographie . 

2) Ranke. Der Mensch (Bibliograph. Institut). 

3) Rosenbusch, Mikroskop. Physiographie der 

Mineralien und Gesteine. (Schweizerbart, Stutt¬ 
gart). Mk. 52. — . 


No. 47 der Umsehao wird cDthalten: 
i^Dbronn, Die Astronomie im verg. Jahr« U. Die Planeten. — 
Wegner, Epik und Lyrik im vergangenen Jahre, IlL Die jBngere 
Generation. ~ Moaeheck, Die staategrOndenden Ideen des XIX, 
Jahrb. — Lery, Die Militaratrafen su vcrachiedenen Zeiten. — 
Desaau, Tiefe Temperaturen. 


G. Honttpann’a DntckereL Frankfoit a. H. 


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DIE UMSCHAU 

ÜBERSICHT ÜBER DIE FORTSCHRITTE UND BEWEGUNGEN AUF 
DEM GESAMTGEBIET DER WISSENSCHAFT, TECHNIK, 
LITTERATUR UND KUNST 

hcrausge^cbeo von 

DR. J. H. BECHHOLD 


Wöchentlich eine Nummer. 

Zu beziehen durci'i 
alle Buchhandlungen und 
Postanstalten. 

Postzeitungspreisliste No. Taaia. 

Verlag von: 

H. Bechhold Verlag, Frankfurt a. M. 


Neue Krame t9,'ai. 


Preis vierteljährlich 
M. 3.50. 

Jahres-AboDoemeot 
Preis M. 10.—. 

Im Ausland nach Cours. 
Verantwortlicher Redakteur: 

Otto Adolf Wolters, Frankfurt a. M. 


47. 1 . Jahrg. ^‘*^*‘^* 1897* 20. November. 


Militärstrafen zu verschiedenen Zeiten. 

Von Karl Lory. 

Das Militär ist so alt wie der Krieg, der 
Krieg aber dürfte nach einer ziemlich glaub¬ 
würdigen Hypothese ungefähr ebenso alt sein 
als das Menschengeschlecht; es bleibt uns 
nur der fromme Wunsch, das Menschenge¬ 
schlecht möge älter werden als der Krieg. 
So gemeinsam nun aber das Militär an sich 
(d. h. das Vorhandensein einer bewaffneten 
Macht) allen Zeitaltern und Völkern sein 
dürfte, so verschieden war von jeher die Auf¬ 
fassung seiner Stellung im staatlichen Ge¬ 
samtwesen, sowie die dadurch bedingte recht¬ 
liche Behandlung desselben. Und wenn man 
in der Lage der Frau einen Gradmesser für 
die Kulturstufe eines Volkes hat erblicken 
wollen, so könnte man in ähnlicher Weise 
und mit dem gleichen Recht die Behauptung 
aufstellen, auch in der Behandlung der Soh 
daten charakterisiere sich Kultur und Bildung 
der Nationen und Zeiten. 

Im Folgenden gedenken wir nun einen 
kurzen Überblick über das Militärstrafwesen 
vom kulturgeschichtlichen Standpunkt aus zu 
geben. Derartige Übersichten haben ja immer 
ein doppeltes Interesse: man lernt dabei und 
kommt daneben auch manchmal zu der Ein¬ 
sicht, dass das zeitlich Letzte nicht immer 
auch zugleich das qualitativ Beste, der eigene 
Besitz nicht immer die Vollendung, wie das 
so hin und wieder bei mangelnden geschicht¬ 
lichen Kenntnissen infolge einer irrigen Aus¬ 
legung der Entwicklungstheorie, die in dem 
Vergangenen lediglich minderwertige Vorbe¬ 
reitungsstadien des Gegenwärtigen sehen zu 
dürfen glaubt, angenommen zu werden pflegt. 

Einen eigenen Reiz gewähren die Ver¬ 
hältnisse der deutschen Urzeit, namentlich 
dann, wenn man sie in Vergleich zieht mit 
der Epoche des Korporalstockes von Gottes 
Gnaden im vorigen Jahrhundert oder jener 

Umschau 1897. 


des allmächtigen „Herrn" Unteroffiziers von 
heute. Bekanntlich spielte das religiöse Mo¬ 
ment im öffentlichen Leben der Germanen 
eine hochbedeutsame Rolle; die grossen ger¬ 
manischen Völkerverbände z. B. waren sakraler 
Natur, es waren Amphiktyonien mit einem 
gemeinsamen Heiligtum als religiösem und 
erst später dann auch politischem Mittelpunkt. 
Vor allem trugen die Kriege und alles, was 
damit zusammenhing, ein gewisses religiöses 
Gepräge. Die Anführer wirkten, wie uns das 
Tacitus schildert, weniger durch Befehl und 
Machtbefugnis, als durch ihr Vorbild und Bei¬ 
spiel. Die Disziplin aber im Heere handhabte 
die Gottheit, deren Stimme ja auch aus dem 
dumpfen Brausen des Schildgesanges ertönte, 
sie war es, die Zucht und Ordnung aufrecht 
erhielt, und wer dagegen verstiess, der war 
ihr verfallen mit Leib und Leben. Der Staats¬ 
priester als der Vollstrecker des göttlichen 
Willens vollzog die Strafe an dem Schuldigen. 
Es war aber dies nicht die Strafe der Fried¬ 
loslegung^), wer sich feig und unkriegerisch 
benommen, Landesverrat geübt, fahnenflüchtig 
geworden oder ähnliche Neidingswerke ge- 
than, wurde entweder — so die Feigen und 
Flüchtlinge — in Sumpf und Unrat versenkt,' 
oder — z. B. die Hochverräter — am ast¬ 
losen, verfluchten Baume aufgehängt. 

Gewisse Rudimente, namentlich in der 
römischen Kulturgeschichte, lassen vermuten, 
dass ähnliche religiöse Vorstellungen auch 
einmal bei den stammverwandten klassischen 
Völkern bestanden hatten. Was die Verhält¬ 
nisse bei letzteren in der geschichtlich kon¬ 
trollierbaren Zeit betrifft, so lässt sich kaum 
ein schärferer Kontrast finden als zwischen 
der römischen und der athenischen Ordnung 
des Militärstrafwesens. Hier wie dort war 
man vom Volksheer ausgegangen; in Athen 

*) Der Arten der Strafen im germanischen Recht 
waren zwei: sakrale und weltliche; die Strafe der 
Friedloslegung war weltlicher Natur. 

47 


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832 


Lory, Militärstrafen zu verschiedenen Zeiten. 


aber, diesem Urbild einer Demokratie, be¬ 
wahrte sich das Volk bis zur Einführ¬ 
ung des Söldnerheeres (392 v. Chr.) auch 
die Oberhoheit über die Militärgerichtsbar¬ 
keit, d. h. der resp. die Feldherren hatten 
für gewöhnlich keine Strafgewalt über die 
Truppen, selbst während des Krieges nicht, 
sondern dieselben mussten, ev. nach Beendig¬ 
ung des Feldzuges, beim bürgerlichen Gericht 
ihre Klage (z. B. wegen unbefugten Ausblei¬ 
bens, wegen Fahnenflucht, Feigheit u, s. w.) 
anbringen. Und so lange Bürger im Heere 
dienten, nahmen sie dieses Vorrecht für sich 
in Anspruch, wie andererseits z. B. Xenoplion 
die Reiterobersten ermahnt, mehr durch Über¬ 
redung als durch Befehl auf ihre Untergebe¬ 
nen zu wirken. Heute, in der Zeit der mili¬ 
tärischen Scherbengerichtsbarkeit, mag man 
ja wohl fllr eine derartige Einrichtung hier 
und dort nur ein kühles Lächeln haben; der 
geschichtlich Gebildete aber weiss, dass er 
den kriegerischen Wert jener freien Hellenen 
nicht gering veranschlagen darf, dass sie viel¬ 
mehr stets am rechten Orte und zur rechten 
Stunde ihrer Pflicht im Dienste des Vater¬ 
landes genügt, die Hunderttausende des Königs 
der Könige stets von neuem überwunden und 
den Orient der Herrschaft ihres Geistes unter¬ 
worfen haben. 

Ganz anders in Rom ; es hatte keine geist¬ 
igen Eroberungen zu machen, und um den 
Erdkreis seiner materiellen Herrschaft zins¬ 
bar zu machen, bedurfte es eines schulmässig 
dressierten, von den gewöhnlichen Banden 
des Staatsbürgers losgelösten Heeres, das in 
der späteren Zeit, d. h. unter den Kaisern, 
ebenfalls aus Söldnern zusammengesetzt war. 
In Rom begegnen uns, wie schon angedeutet, 
so ziemlich die umgekehrten Verhältnisse wie 
in Athen; mit einem Schein von Wahrheit 
könnte man sagen, in Athen habe der Bürger 
auch im Felde befohlen, in Rom aber der 
Feldherr auch daheim in der Gemeinde. Na¬ 
türlich gab es bei einem Heere, wie es das 
römische war, auch ein ausgebildetes Militar- 
strafwesen; die Handhabung desselben stand 
bei den Tribunen resp. den praefecti sociorum. *) 
Todesstrafe stand auf Widersetzlichkeit, De¬ 
sertion u. dergl., durfte aber für gewöhnlich 
nur vom Höchstkommandierenden ausge¬ 
sprochen werden. Niedrigere Strafen waren: 
Abzüge an Sold und Dienstzeit, Degradation, 
Versetzung zu einem geringeren Truppenteil, 
öffentliche Beschimpfung (heute würden wir 
sagen: Abschneiden der Tressen), Ausstoss- 
ung aus dem Soldatenstand — „tout commc 
chez nous." Nur schade, dass das Römerreich 


’) ln der Kaiserzeit waren die Olliziere dem 
Kaiser unterstellt (wie in Preus-sen dem Ki'n'rl. 


trotz dieses gewiss musterhaften Militärstraf 
Wesens nicht von ewigem Bestände war! — 
Tn Deutschland blieb das Heer lange Zeit 
wenigstens im Prinzip aus der Gesamtheit 
der freien Volksgenossen gebildet. Aber sonst 
änderte sich auch hier gar manches: vor allem 
war nun der Kaiser der Stellvertreter des 
neuen Gottes, dem Kaiser stand denn auch 
natürlich — wenigstens in der Idee — die 
oberste Kriegsgewalt zu. Solange er den 
aufstrebenden Territorialfürsten die Spitze zu 
bieten vermochte, hatte er auch die Mittel, 
unbotmässige Heergenossen zur Verantwort¬ 
ung zu ziehen. Noch Otto von Freising, der 
Biograph Barbarossas, schildert uns die 
Musterung des Heeres auf der kaiserlichen 
Romfahrt, und wer dabei fehlte, verlor sein 
Lehen — man denke an Heinrich den Löwen 
—, während auf Flucht und Desertion sogar 
Todesstrafe stand. Die Macht des Kaisers 
aber wurde immer geringer, und seine ehe¬ 
maligen Beamten erstarkten so sehr, dass sic 



Das Recht der langen Spiesse. 

Aus Frundsbergers Kriegsbuch vom Jahre 1565. 

Holzschnitt von Jost Amman. 

„Darnach stellt der Profoss den armen man für 
sich / vnd gibt jm drey Streich auff die rechte Ach¬ 
sel / im Namen dess Vatters Sons ' vnd des heiligen 
Geists / vnd stellt jn gegen den Spiessen / vnd lässt 
Jn lauffen. 

Zum filnfftzehnden wenn der arm Mensch ver¬ 
scheiden ist / so kniet man nider / vnd thiit ein 
Gebett / darnach macht man ein ordnung | vnd 
ziehen drey mal vmb den Cörper / vn die Schützen 
schiessen drey mal ab / im Namen des heiligen 
Geists / Dreyfaltigkeit / vnd ziehen darnach wieder 
vmb / vnd machen ein beschluss Ring.“ 


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Lory, Militärstrafen zu verschiedenen Zeiten. 


833 


nun selbst ihrerseits sich ein Heer halten 
konnten, und zwar, da man mit dem Lehens¬ 
heer so schlimme Erfahrungen gemacht hatte, 
nach dem Vorbilde Italiens, wo sich diese 
Einrichtung schon frühzeitig findet, ge¬ 
wöhnlich ein Söldnerheer. Im allgemeinen 
blieb das Söldnerwesen aber doch als ein 
Produkt welschen Geistes den Deutschen 
fremd, und erst durch das Aufkommen des 
Ordens der „fnimben Landsknechte* gelang 
es, deutsche Art mit dem welschen Institut 
auszusöhnen. Bei den Landsknechten findet 
sich auch zugleich wieder ein ziemlich aus¬ 
gebildetes Strafwesen, so dass wir hier etwas 
länger verweilen müssen. 

Die bekannteste Strafe in den Landsknechts¬ 
heeren war das Spiessrutenlaufen. Es wurden 
dabei gewöhnlich zwei Fähnlein, je vier Mann 
hoch, einander gegenüber aufgestellt, so weit 
von einander entfernt, als drei Mann zur Auf¬ 
stellung bedürfen. Das war die „Gasse". 
Sie wurde am einen Ende geschlossen durch 
die zwei Fähnriche, am andern stiess der 
Profoss den Gefangenen, nachdem sich der¬ 
selbe von seinen Kameraden beurlaubt und um 
einen schnellen Tod gebeten hatte, zwischen 
die Spiesse hinein. Sobald der Gerichtete, 
dessen Schicksal natürlich ganz in der Hand 
seiner Kameraden lag, zur Erde gesunken 
war, deckten die herbeigeeilten Fähnriche ihre 
Fahnen über ihn. Eine Abbildung dieser 
grausamen Kriegsjustiz wurde auch in unseren 
Text aufgenommen. Die Schützen dagegen 
pflegten zum „Verschiessen" verurteilt zu wer¬ 
den : der Delinquent wurde an eine Säule 
gebunden,«und zwar so, dass er die Sonne 
im Rücken hatte — beim Spiessrutenlaufen 
musste der Verurteilte umgekehrt gewöhnlich 
*der Sonne entgegen laufen —, die zur Exe¬ 
kution bestimmten Kameraden traten auf eine 
Seite, „damit der Schuss frei ist“, und drückten 
zu .gleicher Zeit ab. Geringere Strafen waren 
die Verweisung von der Fahne oder die Ab¬ 
legung des Schwurs, „vor den Türken zu 
ziehen“. Daneben gab es aber auch Fälle, 
wo in summarischer Weise das Standrecht 
geübt wurde; der Schuldige wurde in diesem 
Falle ohne lange Verhandlung auf Befehl 
eines Vorgesetzten einfach an einem Baum 
aufgehängt, vorn auf die Brust wurde ihm 
ein Zettel, darauf die Ursache des Todes zu 
lesen stand, angeheftet. Meineidigen pflegte 
auch wohl die Zunge ausgerissen zu werden; 
eine andere Strafe für dieselben war das Ab¬ 
hauen der Schwurhand. 

Alle diese Strafen für „Malefizsachen“ 
(d. i. Kriminalfälle) — die „Schuldrechte" 
(d. i. Zivilfülle) lassen wir, weil von geringerer 
Bedeutung, aus dem Spiel — sind dem Lands¬ 
knechtsorden durchaus nicht eigentümlich, sic 


sind aber, vorab das. Recht „zu strafen mit 
dem langen Spiess", durch ihn bekannt und 
populär geworden. Und ihre Bedeutung er¬ 
langen sie durch die näheren Umstände, unter 
denen sie verhängt wurden. Oeffentlichkeit 
und Mündlichkeit des Verfahrens, die nun ein¬ 
mal die freie, unverdorbene Germanennatur 
verlangen, waren bei den frumben Lands¬ 
knechten im ausgedehntesten Masse in Schwang. 
Gerade die Malefizsachen wurden vor die 
„Gemein“ d. h. vor die versammelten Knechte 
eines Regiments gebracht, dieselben stimmten 
ab, ob man zum Gerichthalten geneigt sei, 
dann verlangten Profoss und Gefangener ihren 
Fürspruch, und erst nachdem Rede und Gegen¬ 
rede — und meistens blieb es nicht bei einer 
einzigen — angehört waren, werden dreimal 
vierzig Mann ohne Ansehen des Standes und 
Ranges als Urteilfinder ausgewählt Nicht 
leicht auch findet sich der Charakter des 
Ordens der Landsknechte als einer Art sol¬ 
datischer Demokratie sonst irgendwo so deut¬ 
lich ausgeprägt, als eben in ihrem Gerichts¬ 
wesen; diese Kriegsknechte wussten sich selbst 
sehr wohl zu respektieren, sie wussten Zucht 
und Ordnung in ihren Reihen aufrecht zu 
erhalten, und erst als aus den Landsknechten 
die Soldaten der Neuzeit, aus der freien, 
selbstherrlichen Kriegerzunft die willenlos einer 
selbstsüchtigen Kabinetspolitik gehorchende 
Soldateska des ly. Jahrhunderts geworden war, 
da verrohte und verkam das Handwerk und 
fiel der Missachtung und Geringschätzung 
anheim. Wie schon angedeutet, füllt diese 
folgenschwere Umbildung in den Ausgang des 
16. resp. den Anfang des 17. Jahrhunderts. 
Das Vorbild hierfür, wie für manches andere, 
das auch nicht viel taugte, gab Frankreich — 
Ludwig XIV. und sein Kriegsminister Louvois. 
Die Armeen wurden bedeutend verstärkt, die 
Feuerwaffen allgemein eingeführt, die Unifor¬ 
mierung und bald auch schon der Uniformen¬ 
luxus kamen in Aufnahme. Die Kriege und 
damit auch die Armeen waren Sache der 
Fürsten, nicht des Volkes; das Volk dürstete 
ja nach Frieden, um die tausend Wunden, an 
denen es blutete, zu heilen. Ein eigener mili¬ 
tärischer Ehrbegriff kam auf, wenigstens bei 
den Offizieren, die meistens den Reihen des 
verarmten Adels entstammten, der gemeine 
Soldat aber sank immer tiefer; er war so ge¬ 
halten, dass jenes stolze, sittlich starke Selbst¬ 
bewusstsein, das den deutschen Landsknecht 
auszeichnete, bei ihm nicht aufkommen konnte. 
Am allermeisten trug dazu die disziplinäre 
Behandlung bei, die der Armee zu teil wurde. 
Wir können es uns hier ersparen, auf die da¬ 
maligen Militärstrafen im einzelnen einzugehen; 
wer sich dafür interessiert, wird seine Wiss¬ 
begierde überdies an der beigegebenen Illus- 

47" 


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834 


Lory, Militarstrafen zu verschiedenen^Zeiten. 



Militärstraten im Anfänge des i8. Jahrhunderts. Aus: von Fleming, Der vollkommene deutsche Soldat 

Leipzig 1726. 


tration befriedigen können. Die grausame 
Strenge der damaligen „Martialgesetze" ist 
genügend bekannt, desgleichen, dass der 
Soldat unter der Fuchtel des Korporalstockes 
ein sklavenhaftes Dasein führte. Das Volk 
hatte natürlich nichts dareinzureden, wie man 
mit seinen Söhnen umsprang, es durfte sich 
ja nicht einmal dann rühren, wenn man die¬ 
selben ausserhalb des Landes verschacherte. 
Aber erbärmlich genug waren die Deutschen 
doch auch damals noch nicht, derartige Zu¬ 
stände in einer geradezu unbegreiflichen 
Selbstverblendung oder einem niedrigen By¬ 
zantinismus für notwendig und gut zu befinden ; 
sie murrten und rüttelten an ihren Ketten, 
und als jenseits des Rheines blutigrot die 
Sonne der Revolution aufging, da erscholl 
auch aus vielen deutschen Gauen ein halb 
erstickter Jubelschrei, und auch hier pflanzte 
man Freiheitsbäume und tanzte um die phry- 

gische Mütze. 

Während der Revolutionskriege ging ein 
Deutscher in Berlin spazieren und sah zu, 
wie man Rekruten prügelte. Er frug einen 
vorübergehenden Franzosen, was für Truppen 
es wären, und dieser antwortete gering¬ 
schätzig: Es sind Deutsche; „on les bat.“ 
Dann kamen die Befreiungskriege, in denen 
die deutsche Nation sich gewaltig erhob, die 


Fremden verjagte und manchen Thron, der 
bedenklich wankte, wieder gerad rückte. Und 
dann? Dann kam die Zeit der Reaktion, noch 
anno 48 wurde lustig geprügelt — mitten in 
jene Zeit fällt auch die königlich preussische 
Miltärstrafgerichtsordnung vom 3. April 1845. 

Dieselbe gilt heutzutage im grÖsserenTeile^ 
des Reiches, ausserdem stimmt die sächsische 
vom 4. November 1867 fast ganz mit der¬ 
selben Überein. Wir verdienen uns vielleicht 
den Dank des einen oder anderen unserer 
Leser, wenn wir in Kürze darauf eingehen. 
Man unterscheidet Kriegsgerichte und Stand¬ 
gerichte, erstere für höhere Strafen als Arrest 
und Gefängnis. Nach einer stattgehabten 
Voruntersuchung entscheidet der Gerichtsherr, 
ob die förmliche Untersuchung zu eröffnen 
sei. Eine Einstellung des Verfahrens ist 
I nicht mehr möglich, wenn sich derselbe in 
bejahendem Sinne ausgesprochen hat. Ein 
Verteidiger ist nur bei Kriegsgerichten zu¬ 
lässig; seine Verteidigung hat derselbe schrift¬ 
lich zu führen. Öffentlichkeit der Verhand¬ 
lung ist ausgeschlossen. Zur Erlangung der 
Rechtsgiltigkeit bedürfen Kriegs- wie Stand- 
' gerichte der Bestätigung des in Betracht 
kommenden Befehlshabers (bei Offizieren, wie 
schon erwähnt, des Königs). 

Ausserdem gelten in Deutschland noch 


D : C 



















Ambronn, Die Astronomie im vergangenen Jahre. 


835 


zwei andere militärische Gesetzbücher: in 
Württemberg, laut der Konvention mit diesem 
Staate vom 25. November 1870, die Militär¬ 
strafgerichtsordnung von 1818, und in Bayern, 
nach dem Bündnisvertrag vom 21. Nov. 1870, 
die Militärstrafgerichtsordnung von 1872 
(nebst Ergänzungsvertrag von 1879). 

Die bayerische Militärstrafgerichtsordnung 
besagt: 

„Das Militär richtet sich nach den für 
das bürgerliche Strafverfahren geltenden ge¬ 
setzlichen Bestimmungen, insoweit nicht im 
gegenwärtigen Gesetz anders verordnet ist." 
Ausserdem besteht ein ständiger Ankläger 
und ein Verteidiger; das Verfahren ist öffent¬ 
lich und mündlich. 


Die Astronomie im vergangenen Jahre. 

Von Dr. L. Anbkonn. 

II. Die Planeten des Sonnensystems. 

Nachdem die neueren Arbeiten, welche 
sich auf die Konstitution der Sonne beziehen, 
besprochen worden sind, mögen diejenigen 
hier Platz finden, welche die übrigen Glie¬ 
der unseres Sonnensystems und 2war zu¬ 
nächst Merkur und Venus betreffen, als die 
der Sonne nächsten Planeten. Das vergangene 
und auch die ersten Monate des laufenden 
Jahres haben uns eine ganze Reihe auffal¬ 
lender Mitteilungen über diese Planeten ge¬ 
bracht, welche aber gewiss mit einiger Vor¬ 
sicht aufzunehmen sein werden. Dieselben 
betreffen einerseits Wahrnehmungen, die auf 
dem unbeleuchteten Teil der Planetenscheiben 
gemacht wurden, andererseits beziehen sie 
sich auf Flecke ihrer Oberflächen und die Ro¬ 
tationsdauer, welche man aus Ortsveränder¬ 
ungen dieser Flecke glaubt ableiten zu dürfen. 

Am 18. Mai v. J. und an einigen folgen¬ 
den Tagen gelang es Leo Brenner, dem 
Astronomen einer Sternwarte, welche der 
Frau Manora in Lussinpiccolo (Istrien) ge¬ 
hört, die Nachtseite des Merkur wahrzu¬ 
nehmen. Er sah dieselbe von einer feinen 
Aureole umgeben. Ähnliche Beobachtungen 
hatte er bereits im Sommer und Herbst des 
Vorjahres an dem Planeten Venus gemacht.*) 
Abgesehen von dem geringen Durchmesser 
des Merkur (derselbe erscheint in der Ent¬ 
fernung I (d. h. der mittleren Entfernung 
der Erde von der Sonne) unter einem Winkel 
von nicht ganz 7 ^ 0 » sind diese Beobachtungen 
deshalb merkwürdig, weil Brenner den un¬ 
beleuchteten Teil der Planetenscheibe dunkler 


') Astr. Nachr. Nr. 3358. 
*) Astr. Nachr. Nr. 3332. 


als den Himmelshintergrund gesehen zu haben 
glaubt, während frühere Beobachter denselben 
stets heller wahrnahmen. 

Bei den grossen Schwierigkeiten, welche 
die physische Beobachtung der unteren Pla¬ 
neten an und für sich bieten, da sie fast nur 
in der Dämmerung oder am Tage angestellt 
werden können, muss man zunächst abwarten, 
ob sich die von Brenner gemachten Wahr¬ 
nehmungen nicht doch als subjektive heraus- 
stellen. Diese Beobachtungen können einst¬ 
weilen umsomehr mit Vorbehalt aufgenommen 
werden, als dieser Astronom aus den wahr¬ 
genommenen Flecken und den danach ange¬ 
fertigten Zeichnungen für Merkur und Venus 
Rotationszeiten ableitet, welche den Resul¬ 
taten Schiaparellis, wohl des besten 
Kenners der Oberfläche der inneren Planeten, 
durchaus widersprechen. Bekanntlich fand 
dieser Mailänder Astronom aus den mit 
grosser Sorgfalt und unter den günstigsten 
Verhältnissen angestellten Beobachtungen, 
dass der Merkur ebenso wie es bei unserem 
Mond bezüglich der Erde der Fall ist, in der 
gleichen Zeit eine Rotation vollende, in 
welcher er einen Umlauf um die Sonne 
ausfOhrt, nämlich in nahe 88 Tagen, sodass 
er also der Sonne stets die gleiche Seite 
zuwendet. 

Etwas später hat SchiaparelH sowohl 
aus eigenen Beobachtungen, als aus der Dis¬ 
kussion einer grossen Anzahl älterer Beob¬ 
achtungen die gleichen Verhältnisse für den 
Planeten Venus mit ziemlicher Sicherheit nach¬ 
gewiesen, d. h. Venus würde in etwa 225 
Tagen sich sowohl einmal um ihre Axe als 
auch um die Sonne bewegen. Brenner da¬ 
gegen glaubt aus seinen Beobachtungen für 
den Merkur eine Rotationszeit von etwa 34 
Stunden und für die Venus eine solche von 
24 Stunden gefunden zu haben, welche Zeiten 
allerdings mit den Annahmen übereinstimmen, 
wenigstens bezüglich der Venus, die vor 
den Untersuchungen Schiaparellis auf Grund 
der Beobachtungen Schröters (Lilienthal), 
Cassinis (Paris) und Anderer in Geltung 
standen. 

Zu gleichen Resultaten wie SchiaparelH 
sind in letzter Zeit auch Tacchini (Collegio 
Romano), *) L o w e 11 (Flagstaff- Observatory 
Arizona)^) und hinsichtlich der Venus allein 
auch Cerulli und Mascari in Catania ge¬ 
kommen.^) Nur Villiger ist nach seinen 
Beobachtungen am grossen Refraktor der 
Münchener Sternwarte der Meinung, dass 
allerdings innerhalb kurzer Zeit deutliche 
Veränderungen auf der Oberfläche der Venus 

®) Nature. Vol. pag. 306. 

*) Astr. Nachr. No. ,3406, 3407. 

*) Astr. Nachr. No. 3329. 


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836 


Ambronn, Die Astronomie im vergangenen Jahre. 



Fig. 1. Bahn der Bewegung des Nord-Endes der Drehungsaxe der Erde um ihre mittlere Lage. 

Nach Prof. Albrecht. 


wahrgenommen werden könnten, doch hält 
er selbst seine Beobachtungen für noch nicht 
ausreichend, um einen Wert für die Rotations¬ 
zeit daraus abzuleiten.’) Es ist wohl auch 
nicht ausgeschlossen, dass Veränderungen der 
Konfiguration etwa wahrgenommener Flecken 
auch thatsächlichen Änderungen, die durch 
die Bewölkungsverhältnisse hervorgebracht 
werden können, entsprechen, wobei aber be¬ 
sonders daraufhinzuweisen ist, dass die wahr¬ 
genommenen „Flecken“ überhaupt nur höchst 
schwierig erkennbare Unterschiede in der 
Färbung der Planetenscheibe von äusserst 
unsicherer Begrenzung darstellen. Danach 
scheint also eine genauere Erkenntnis der 
Rotations- und Oberflächenverhältnisse von 
Merkur und Venus noch nicht erzielt zu sein. 

Was nun die Erde selbst anbelangt, so 
interessiert den Astronomen als solchen nur 
zunächst deren Stellung in Bezug auf das 
Planetensystem, und da ist es in erster Linie 
ihre mittlere Entfernung von der Sonne. Es 
ist das eine Grösse, welche in der Astrono¬ 
mie eine überaus grosse Rolle spielt, da sie 
im Weltenraume ebenso zur Masseinheit dient, 
wie auf der Erde etwa das Meter. Man kann 
wohl sagen, dass das Ziel eines erheblichen 
Teiles der astronomischen Beobachtungen 
darin besteht, diese Entfernung mit immer 
grösserer Schärfe zu bestimmen. Aber eben¬ 
so wichtig wie dieses Problem, so schwierig 
ist auch seine Lösung. Da Erscheinungen wie 

') Astr. Nachr. Nr. 3332. 


die Vorübergänge des Merkur und vor allen 
Dingen der Venus vor der Sonnenscheibe 
verhältnismässig selten sind, so hat man ver¬ 
sucht, auch mit Hülfe von anderen Phänomenen 
die Entfernung der Erde von der Sonne zu 
bestimmen, zumal bei der Vervollkommnung 
unserer Messinstrumente jene Vorübergänge 
nicht mehr als die genauesten Werte liefernd, 
angesehen werden können.*) Jene anderen 
Phänomene sind namentlich die starken An¬ 
näherungen einiger kleinerer Planeten an 
unsere Erde. Wenn sie dieser auch nicht so 
nahe kommen können als z. B. Venus oder 
Mars, so bieten sie diesen Planeten gegen¬ 
über, von welchen der letztere ebenfalls 
sehr gute Resultate geliefert hat, doch den 
grossen Vorteil dar, dass sie völlig punkt¬ 
förmig erscheinen, wodurch ihre Entfernung 
von geeigneten Sternen sich viel sicherer 
messen lässt, als diejenige scheibenförmig er¬ 
scheinender Planeten. 

Es war Galle, welcher im Jahre 1873 
durch Messung der Abstände des kleinen 
Planeten Flora von denselben Sternen morgens 
und abends deren Parallaxe, also ihre Ent¬ 
fernung von der Erde bestimmte. Durch den 
guten Erfolg dieser Messungen veranlasst, hat 
man in den letzten Jahren die Verschiebun- 

•) Der Merkur wird im Allgemeinen alle 5 bis 
7 Jahre einmal vor der Sonne vorObergehen, bei 
der Venus jedoch finden in. Jahrhundert nur etwa 
zwei solcher Vorübergänge statt, nämlich immer 
nach je nach 8 und nach i2>i Jahren. Der 

nächste wird am 8. Juni des Jahres 2004 statt¬ 
finden. 


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Amukonn, Die Astronomie im vergangenen Jahre. 


837 


gen hellonietrisch gemessen, welche die klei¬ 
nen Planeten Sapbo, Viktoria und Iris gegen- j 
über ihnen nahestehenden Fixsternen erlitten, | 
je nachdem man sie auf Sternwarten der ' 
nördlichen und südlichen Halbkugel beob- i 
achtete. Es ist klar, dass man nach Ermittlung 
dieser parallaktischen Verschiebung die Kennt¬ 
nis der Dimensionen unserer Erde (also der 
linearen Entfernung der betreffenden Beob- 
achtungsorte) vorausgesetzt auch die Entfern¬ 
ung des betreffenden Planeten vom Erdmittel¬ 
punkte ohne Mühe berechnen kann. Kennt 
man aber diese, so liefert das sogenannte *3. 
Kepplersche Gesetz ohne weiteres die Ent- : 
fernung Erde — Sonne. | 

Durch Zusammenwirken einer Reihe von 
Sternwarten auf der nördlichen und südlichen 
Halbkugel (New-Haven, Güttingen, Bamberg, 
Leipzig, Kap der guten Hoffnung) sind solche 
Beobachtungen auf Veranlassung Dr. Gills 
ausgeführt und die Resultate daraus in Gemein¬ 
schaft mit Geheimrat Auwers von ihm abge- i 
leitet worden. Das Schlussresultat ergab für die 
Sonnenparallaxe den Wert 8". 8036 mit einem 
wahrscheinlichen Fehler^) von+ o."oo36; das 
entspricht einer mittleren Entfernung der Erde 
von der Sonne von nahe 149.54 Millionen Kilo¬ 
meter, wenn man die Besselschen Erddimen¬ 
sionen zu Grunde legt. 

Eine weitere interessante Frage betrifft 
die Lage der momentanen Drehaxe der Erde 
im Raume. Seit es Küstner gelungen ist, 
aus einer Reihe sehr genauer Beobachtungen 

I 

*) Bull. Astr. lg XIII S. 319. j 


am Berliner Durchgangsinstrument Mitte der 
achtziger Jahre kleine Veränderungen in der 
Richtung dieser Axe sicher nachzuweisen, hat 
man in den letzten Jahren diese Erscheinung 
mittelst besonderer Beobachtungsmethoden 
sehr eingehend verfolgt und studiert.*) 

Während des Zeitraumes 1890 — 95 waren 
die Sternwarten Kasan, Pulkowa, Prag, Berlin, 
Bamberg, Kiel, Karlsruhe, Strassburg, New- 
York und Bethlehem (Nordamerika), sowie 
das militär-geographische Institut in Wien, 
das geodätische Institut in Potsdam und die 
Coast and Geodetic Survey der Vereinigten 
Staaten an den Breitenbeobachtungen beteiligt. 
Aus dem zum Teil schon in definitiver, zum 
Teil noch in provisorischer Form vorliegen¬ 
den Resultaten dieser Beobachtungen hat Prof. 
Albrecht^) die Bewegung des Nordpols 
unserer Erde während jenes Zeitraumes be¬ 
stimmt. Die beistehende Figur i giebt eine 
Darstellung der vom Pol während dieses Zeit¬ 
raumes beschriebenen Kurve. Am Rande der 
Figur ist der Massstab angegeben, an der 
Kurve selbst stehen die zugehörigen Zeit¬ 
punkte. 

Hinsichtlich der Ursachen dieser Beweg¬ 
ung der Rotationsaxe ist zu bemerken, dass 
eine befriedigende Erklärung dafür bisher 
nicht hat gegeben werden können. Die uns 

*) Solche Schwankungen der Erdaxe hatte schon 
Bessel bei Gelegenheit der Bearbeitung seiner am 
Repsnldschen Meridiankreis angestellten Beobacht¬ 
ungen vermutet. Der damalige Stand der Beob- 
achtungskiinst gestattete aber nicht dieselben mit 
Sicherheit nachzuweisen. 

*) Astr. Nachr. Bd. 139, S. 321. 



Fig. 2. Nach Asti\)nom Jahrbuch. 


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838 


Ambro.nn, Die Astronomie im vergangenen Jahre. 


bekannten Massenverschiebungen würden eine 
solche Wirkung nicht zur Folge haben. Eben* 
so hat Hildebrandt gezeigt, dass Form- 
Veränderungen der Erde, wie sie bei der ihr 
noch innewohnenden Elastizität denkbar wären, 
nicht die Ursachen sein können.’) 

Es wird also nötig sein, das Studium 
dieser Erscheinung noch erheblich längere 
Zeit fortzusetzen, und die gewonnenen Re¬ 
sultate mit den von Chand 1 er aufgestellten 
empirischen Formeln für die Elemente dieser 
Bewegung zu vergleichen, um so die in diesen 
Formeln enthaltenen Konstanten immer siche¬ 
rer zu erhalten und möglicherweise die Ursache 
der erwähnten Schwankungen aufzufinden. Was 
die erwähnten Beobachtungsmethoden an¬ 
langt, so hat man neuerdings auch die Photo¬ 
graphie zu Hülfe genommen. Eine Abwägung 
zwischen den verschiedenen Methoden ist in 
den Berichten Prof. Albrechts, Schnauders, 
Heckers und Marcuses enthalten, welche zum 
Teil in den Generalberichten der internatio 
nalen Erdmessung, zum Teil in den letzten 
Bänden der Astronomischen Nachrichten ent¬ 
halten sind. 

In gewissem Zusammenhänge mit den 
Breitenbestimmungen stehen die Beobachtun¬ 
gen über Lothabweichungen und über die 
verschiedene Intensität der Schwerkraft an 
verschiedenen Erdorten. Namentlich die Be¬ 
stimmung der letzteren mit Hilfe der von 
V. Sterneck angegebenen Methode der Be¬ 
obachtung invariabeler Halbsekundenpendel 
liefert ganz ausserordentlich genaue Resultate. 

Mit Hilfe derselben lassen sich sehr 
interessante Schlüsse auf die Massenver¬ 
teilung unter der Erdoberfläche ziehen, 
indem ein unterirdischer Massendefekt die 
Schwingungen der Pendel schon erheblich 
verzögert, während umgekehrt 5 ine unter¬ 
irdische dichtere Masse sie beschleunigt. 
Messerschmidt*} hat in der Schweiz an 
einer grossen Anzahl von Stationen solche 
Beobachtungen mit gutem Erfolge angestellt. 
Von Seiten des kgl. geodätischen Instituts in 
Potsdam sind im Sommer 1894 auf dem 
Meridian der .Schneekoppe bis nach Kol- 
berg solche Schweremessungen gemacht wor¬ 
den, die zu den in der obenstehenden Figur 2 
dargestellten Resultaten geführt haben. Die 
Figur giebt ein Profil der Erdoberfläche 
längs eines Stückes des genannten Meridians. 
Unterhalb desselben sind die unterirdischen 

*) Sitzungsberichte der Wiener Akademie der 
Wissensch. 1896. S. 22. 

•) Vierteljahrschr. der naturf. Ges. in Zürich 41. 
Jubclbd. 2. 

*) Veröffentl. des k. pr. geod. Instituts. Bcstg. 
der Polhöhe und der Intensität der Schwerkraft auf 
22 Stationen von der Ostsee bei Kolberg bis zur 
Schiieekoppe. Berlin 1896. 


störenden Schichten in ihrer horizontalen 
wie vertikalen Ausdehnung dargestellt, 
welche die beobachteten Störungen in der 
Intensität der Schwerkraft hervorzurufen im 
Stande sind. Die Namen der Beobachtungs¬ 
orte sowie die vorhandenen Gesteinsarten 
sind ebenfalls in der Figur verzeichnet. Ausser¬ 
dem sind die gleichzeitig beobachteten Ab¬ 
lenkungen des Lotes infolge der Nähe des 
Gebirges als Ordinaten auf derselben Abscis- 
senaxe wie das Erdprofil eingezeichnet {die 
Endpunkte sind durch eine gestrichelte Linie 
mit einander verbunden). Ein positiver Or- 
dinatenwert der Lotabweichung bedeutet da¬ 
bei Anziehung von der rechten Hand, also 
von Süden her. Der grösste Betrag, um 
welchen das Bleilot aus der senkrechten ab¬ 
gelenkt erscheint — i8i" in der Meridian¬ 
richtung — fand sich in 917 m Höhe auf der 
Station Alter Bruch am Hange der Schnee¬ 
koppe. 

Auch die leuchtenden Nachtwolken sind 
seit den ersten Wahrnehmungen des Phäno¬ 
mens im Jahre 1885 in den Orten Berlin, 
Steglitz, Nauen und Rathenow weiter beob¬ 
achtet worden. O. Jesse in Berlin giebt in 
den A. N. Bd. 140 eine Zusammenstellung 
der beobachteten Höhen dieser Wolken wäh¬ 
rend der Jahre 1889 — 91, aus denen zu er¬ 
sehen ist, dass dieselben von 1885—91 sich 
stets in ein und derselben mittleren Höhe von 
etwa 82 km befunden haben. 

Auch die Beschaffenheit unseres 
hat im Verlaufe des vergangenen Jahres Ver¬ 
anlassung zu zwei interessanten Publikationen 
gegeben. Da es noch keineswegs absolut 
sicher ist, dass der Mond als vollkommen 
abgestorbener Weltkörper anzusehen ist, son¬ 
dern man im Gegenteil ab und zu kleine 
Veränderungen auf seiner Oberfläche glaubte 
wahrzunehmen, so sind Darstellungen der 
letzteren, wie sie jetzt namentlich mit Hilfe 
der Photographie hergestellt werden können, 
immer von grossem Interesse. Die Vergleich¬ 
ung unserer Abbildungen mit den älteren 
Darstellungen von Mädler, Lohrmann und 
vor allem der die Arbeit eines ganzen Lebens 
in sich fassenden grossen Mondkarte von 
Julius Schmidt, giebt dann die Mittel an 
die Hand, event. eingetretene Veränderungen 
zu konstatieren. Bei allen solchen Schlüssen 
ist jedoch eine gewisse Vorsicht unerlässlich, 
da selbst den geübtesten und gewissenhaftesten 
Selenographen bei der Reichhaltigkeit der 
Details der Mondoberfläche gewisse Einzel¬ 
heiten entgehen können, ja vielleicht durch 
die wandelbaren Beleuchtungsverhältnisse ent¬ 
gehen müssen, da zu den Zeiten der betref¬ 
fenden Beobachtungen jene gerade ungünstig 
sein konnten. Es sind deshalb die beiden 


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Ambronn, Die Astronomie im vergangenen Jahrf. 


839 


von der Pariser Sternwarte und dem Lick- 
Observatorium in der Herausgabe begriffe¬ 
nen photographischen Mondatlanten (Teile da¬ 
von sind im Vorjahre erschienen) von be¬ 
sonderem Interesse. Diese Kartensammlungen, 
von denen die erslere den Mond mit einem 
Durchmesser von etwa 2H m, und die letztere 
denselben mit einem Durchmesser von etwa 
I m darstellt, werden dann für die Zukunft 
die Grundlage der selenographischen Forsch¬ 
ung bilden. Die Theorie der Bewegung des 
Mondes bietet auch heute noch gewisse 
Schwierigkeiten dar, welche zum Teil ihren 
Grund in der Bestimmung der Mondorte ha¬ 
ben. Da man nicht in der Lage ist, dasMond- 
zentrum der direkten Beobachtung zu unter¬ 
werfen, so wurden bis vor wenigen Jahren 
alle Ortsbestimmungen für dasselbe durch Be¬ 
obachtung der l\on^-Ränder erhalten. Dieses 
Verfahren schliesst eine Reihe physiologischer 
und technischer Fehlerquellen in sich. Es ist 
daher ein erheblicher Fortschritt, dass es 
Prof. Franz gelungen ist, für einen nahezu 
sternförmig erscheinenden, der Mitte der 
Mondscheibe nahegelegenen kleinen Krater 
(Mösting A) die jeweilige scheinbare Lage 
zur Zentrallinie Erde—Mond durch genaue 
Rechnung festzustellen. Dazu waren aller¬ 
dings erst die Untersuchungen über die 
physische Libration (scheinbares Schwanken) 
des Mondes nötig, wie sie von Hartwig 
und später von Franz ausgeftihrt wurden. 
Durch die Einführung der Krater-Beobacht¬ 
ungen sind daher weit schärfere Ortsbestimm¬ 
ungen möglich geworden. Längere Reihen 
solcher Beobachtungen und die daraus ge¬ 
zogenen Resultate finden sich in den Bänden 
138 — 140 der Astr. Nachr. Besonders be¬ 
teiligt haben sich an denselben die Sternwarten 
von Göttingen, Karlsruhe und Prag. Es steht 
zu hoffen, dass die bisherigen Abweichungen 
der Theorie von den Beobachtungen durch 
die genaueren Werte der Mondorte verringert 
werden dürften. Übrigens hat Lehmann- 
Filh^s nachgewiesen,“) dass die Annahme 
einer sich nicht momentan fortpflanzenden 
Schwerkraft, die Bewegungen des Mondes 
verlangsamen muss, während die Beobacht¬ 
ungen eine Beschleunigung gegenüber der 
theoretisch verlangten Bewegung anzeigen. 

Nachdem Schiaparelli seine Epoche mach¬ 
enden Beobachtungen über die Marsoberfläche 
bekannt gemacht hat, hat man sich von ver- 
schie(jlenen Seiten mit dem Studium derselben 


‘) Die Schmidtsche Mondkarte wurde vor meh¬ 
reren Jahren mit Unterstützung des preussischen 
Ministeriums herausgegeben und stellt den Mond 
mit einem Durchmesser von nahe 2 m dar. 

*) Sitzungsberichte der math.-phys. Klasse der 
bayr. Akad. der Wissensch. XXV. 1895. 


eifrig beschäftigt, zumal bald darauf die 
eigentümliche Erscheinung auftrat, dass eine 
grosse Zahl der die hellen Kontinentalflecken 
des Mars nach allen Richtungen hin fast grad¬ 
linig durchziehenden dunkleren „Kanäle“ ver¬ 
doppelt wahrgenommen wurden. Es ist Mars 
gewiss derjenige Planet, welcher bezüglich 
seiner Oberflächenbeschaffenheit der Erde am 
nächsten steht. Aus diesem Grunde hat sich 
auch die metaphysische Spekulation über die 
Bewohnbarkeit desselben am intensivsten be¬ 
mächtigt; es muss jedoch alles, was darüber 
von phantasiereichen Himmelskundigen ge¬ 
schrieben worden ist, in das Reich der Fabel 
verwiessen werden. Selbst die kräftigsten 
Instrumente würden nicht im Stande sein, 
uns Thatsachen wahrnehmen zu lassen, welche 
durch organische Einwirkungen auf der Mars¬ 
oberfläche entstanden wären. — Wenn es auch 
mit Freuden begrOsst werden muss, dass 
neuerdings in den Vereinigten Staaten speziell 
zur Beobachtung des Mars Observatorien ge¬ 
gründet worden sind, so scheinen doch die 
Schlüsse, welche man auf Grund dort erhal¬ 
tener Beobachtungen gemacht und publiziert 
hat, ^) reichlich verfrüht zu sein. Dass er¬ 
hebliche Veränderungen in klimatologischer 
Beziehung vor sich gehen, beweisen die starken 
Veränderungen in Form und Ausdehnung der 
beiden die Marspole umgebenden Eiskalotten, 
welche nicht nur dem Turnus eines Mars¬ 
jahres zu folgen scheinen. Auch bezüglich 
seiner Gestalt scheint Mars der Erde nahe zu 
kommen, da bei ihm ebenso wie bei den 
unteren Planeten, eine merkbare Abplattung 
mit Sicherheit noch nicht nachgewiesen worden 
ist; denn der von Prof. Schur in den Nach¬ 
richten der Kgl. Gesellschaft der Wissen 
schäften zu Göttingen 1897 gegebene Wert 
der Abplattung von nahe V47 beruht nur auf 
den Resultaten von 4 Beobachtungsabenden, 
welche in sich allerdings eine sehr gute Über¬ 
einstimmung zeigen. Es würde danach der 
mittlere Marsdurchmesser gleich 6810 km und 
der Unterschied zwischen den Polaren und 
Äquatorealen zu etwa 150 km anzunehmen 
sein. (Die Abplattung der Erde beträgt be¬ 
kanntlich nur V^oo.) Messungen mittelst des 
grossen Lick-Refractors, welche später ausge¬ 
führt wurden, haben eine Abplattung von 
merkbarer Grösse nicht erkennen lassen. 

Kleine Planeten wurden im Berichtsjahre 
im Ganzen 23 neue und zwar zumeist auf 
photographischem Wege entdeckt. Davon 
13 von M. Wolf in Heidelberg, 9 von 
Charlois in Nizza und einer von G. Witt 
in Berlin. Die Gesamtzahl dieser kleinen 

*) Periwall Lowell: Mars 1895 und Camphell: 
On Mrs. Jeweils Obs. of the spectrum of Mars. 
Astrophys. Joun. 1896, June. 


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840 


Ambron: , Die Astronomie im vergangenen Jauue. 


I limmelskörper belief sich am Ende des Jahres 
1896 auf 42a. Mit der Zunahme derselben 
kann die Berechnung ihrer Bahnen nicht mehr 
Schritt halten, wie das zu Anfang namentlich 
von dem Recheninstitut für das Berliner Jahr¬ 
buch beabsichtigt war. Man beschränkt sich 
hinfort darauf, nur diejenigen Asteroiden näher 
zu bearbeiten, welche der Sonne, der Erde oder 
dem Jupiter verhältnismässig nahe kommen, 
deren Bahn erheblich gegen die Ekliptik ge¬ 
neigt ist, oder welche sonst besondere Eigen¬ 
tümlichkeiten der Bahnelemente zeigen. In 
einer kleinen Abhandlung sprach von der 
Groeben die Vermutung aus,*) dass der 
Planet (151) „ Abundantia“ wegen starker Ab¬ 
weichungen von der Theorie in nächster Nähe 
von einem bisher unsichtbaren kleinen Planeten 
begleitet werde, welcher diese Störung ver¬ 
anlasse. Versuche, diesen Begleiter aufzu- 
fiinden, welche z. B. in München angestellt 
wurden, haben aber noch zu keinem Resultat 
geführt. Olsson*) und Brendel*) unter¬ 
suchten den Fall, dass die Umlaufszeit eines 
kleinen Planeten nahe kommensurabel mit der 
des Jupiters sei, und Ludendorf4) gab 
Hilfsmittel zur Erleichterung der Berechnung 
der Bahnen der äusseren Asteroiden. Raven ö 
wurde zu der Annahme geführt, dass die 
Abweichung von 5 Sekunden, um welche im 
Laufe eines Jahrhunderts der beobachtete 
Ort des Marsperihels von dem aus der 

*) Astr. Nachr. No. 3372. 

1) Astr. Nachr. No. 3347. 

®) Astr. Nachr. No. 3346. 

*) Astr. Nachr. No. 3349. 


Theorie berechneten abweicht, dem störenden 
EinQuss der kleinen Planeten zuzuschreibea 
sei und er leitet ®) daraus die Gesamtmasse 
der Asteroiden zu etwa */3 derjenigen des 
Erdmondes ab, was aber doch wohl etwas zu 
niedrig gegriffen sein dürfte. Da der Jupiter 
der bei weitem grösste Planet des Sonnen¬ 
systems ist, hat die Bestimmung seiner Masse 
und Gestalt besondere Wichtigkeit für die 
Schätzung der in diesem System wirkenden 
Kräfte, zumal seine gegenwärtige Dichte auch 
die Veränderungen seiner Dimensionen nicht 
ausschliesst. Bezüglich der letzteren hat vor 
einiger Zeit W. Schur Messungen mit dem 
grossen Göttinger Heliometer angestellt und 
damit gezeigt, dass die Gestalt des Jupiter 
genau einer Elipse entspricht und die Ab¬ 
plattung des Planeten aus den Messungen 
von Bessel, J o hnson, Winn ecke, Main 
und Bellamy und aus seinen eigenen zu 
abgeleitet. Auch in Greenwich sind neuer¬ 
dings Messungen der Jupiterscheibe in ver¬ 
gleichender Weise mit Faden- und Doppel¬ 
bildmikrometer vorgenommen worden, welche 
zu nahe den gleichen Resultaten geführt 
haben. ’) 

Die Rotationszeit des Jupiter hat Belo- 
polsky in Pulkowa aus spektroskopischen 
Untersuchungen für den Äquator bestimmt 
und gefunden, dass sich ein Punkt desselben 
in einer Sekunde um 11,42 km bewegt, 

*) Astr. Nachr», No. 3356. 

Astr. Nachr. No. 3374. 

Monthly Not. Mai 1896. 

*) Astr. Nachr. No. 3326. 



Fig. 3. Die Oberfläche des Planeien Jupiter nach Prof. Mough. Astr. Nadir. Nr. 3354. 


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Ambronn, Die Astronomie im vergangenen Jahki:. 


841 



Fig. 4. Der Planet Saturn nach 

während die bisher als gültig angenommene 
kotationszeit von 9 Stunden 50 Minuten einer 
linearen Geschwindigkeit von 12.2 km ent¬ 
spricht. Er weist darauf hin, dass dieser 
kleine Unterschied von den Eigentümlichkeiten 
der Refraktion in der Jupiteratmosphäre, wel¬ 
che bei den gewöhnlichen Messungen am 
Mikrometer im Gegensatz zu seinen spektros¬ 
kopischen Untersuchungen eine Rolle spielte, 
herrOhren könne. 

Auch bei Saturn findet ein ähnlicher Unter¬ 
schied zwischen den auf visuellen und spek¬ 
troskopischen Wege gefundenen Rotations¬ 
zeiten im gleichen Sinne statt. 

Dass alle Oberflächenteile des Jupiter 
ähnlich, wie es bei der Sonne der Fall ist, 
nicht mit gleicher Geschwindigkeit rotieren, 
geht aus Beobachtungen von Flecken in höh¬ 
eren Breiten dieses Planeten hervor, welche 
von Williams in früheren Jahren angestellt 
worden sind. Er findet aus solchen Flecken, 
die sich zwischen 37 und 55 ® sOdl. jovi- 
centrischer Breite befanden, eine Umlaufszeit 
von sehr nahe 9 Stunden 55 Minuten, also 
um 5 Minuten mehr als für den Äquator. Bei 
der Sonne ist das Verhältnis im gleichen 
Sinne zwischen dem Äquator und der Zone 
von 30® Breite etwa wie 25 : 27. 

Ein besonders interessantes Objekt ist der 
neuentdeckte fünfte Mond des fupiter, welcher 
den Hauptplaneten in grosser Nähe umkreist. 
Eine genaue Untersuchung seiner Bahnver¬ 
hältnisse hat in neuester Zeit F. Cohn auf 
Grund der Beobachtungen am Lick-Obser- 
vatorium und H. Struvesam grossen Pulko- 
waer Refraktor geliefert. 

Auch die Oberflächenbeschaffenheit des 
Jupiter ist in letzter Zeit mehrfach Gegen¬ 
stand des Studiums gewesen. So haben 


„Washington Observations 1885“. 

Fauth in Landstuhl *) Houghs) in Evanston 
(Nord-Amerika) und Mysz®) in Pola solche 
Beobachtungen mit interessanten Zeichnungen 
bekannt gemacht. Das nebenstehende Bild 
(Fig. 3) ist einer Darstellung von Hough 
entnommen. 

Was gelegentlich der Beobachtung der 
Oberflächendetails der Venus und des Merkur 
hinsichtlich optischer Täuschungen gesagt ist, 
gilt auch speziell für Saturn. Auch hier haben 
wir die Beobachtungen Brenners, 4) welcher 
in allerneuster Zeit sogar Veränderungen auf 
den Ringen des Saturns beobachtet haben will, 
mit Vorsicht aufzunehmen, wenn auch einige 
Erscheinungen von mehreren Beobachtern 
unabhängig von einander gesehen worden 
sind. *) Jedenfalls liegen die Verhältnisse 
hinsichtlich der Details noch so unsicher, dass 
sensationelle Zeitungsartikel, wie wir neulich 
einen solchen von Herrn Brenner sahen, 
keineswegs am Platze erscheinen. Wir bringen 
hier eins der besten Bilder dieses so hoch¬ 
interessanten Planeten, wie ihn A. Hall.®) 
vor einigen Jahren am Washington Refr. 
zeichnete. (Fig. 4). 

Über den Uranus ist nur zu berichten, 
dass sich seine Durchmesser nach Messungen 
am 36 zölligen Refraktor der Licksternwarte 
aus dem Jahre 1894 zu 3^^93 für den polaren 
und 4".15 für den äquatorialen ergeben 


Astr. Nachr. No. 3347. 

1) Astr. Nachr. No. 3354. 

*) Astr. Nachr. No. 3360. 

♦) Astr. Nachr. No. 3359. 

'’) Vgl. Fauth’s Schilderungen des Anblicks des 
Saturn, während der Oposition 1896. Astr. Nachr. 
No. 3383, 

®) Wash. Obs. für 1895. 


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842 


V. Brandt, Die christlichen Missionen in China. 


haben, was einer Abplattung von nahe — ent¬ 
sprechen würde, ein Betrag, welcher demjenigen 
des Saturn (—) nahe kommen würde, von dem 
des Jupiter (y) aber noch übertroffen wird. 

(Schluss folgt). 


Die christlichen Missionen in China. 

Von W'irkl. Geh.-Rat v. Bkandt, Kaiserl. Ges. a. D. 

Die Ermordung von zwei deutschen katho¬ 
lischen Missionaren in Süd-Shantung hat aufs 
Neue in erhöhtem Masse die Aufmerksamkeit 
auf das Vorhandensein und die Thätigkeit 
katholischer Missionen im Reich der Mitte 
gelenkt. 

Johannes von Monte Corvino war bereits 
1307 von Clemens V. zum Erzbischof von 
Peking oder Khanbalik, wie es damals als 
Residenz der Tartaren- (richtiger Mongolen) 
Kaiser hiess, ernannt wurden. Von den fünf¬ 
zehn Jahren, die er vor dieser Zeit dort zu¬ 
gebracht hatte, war er neun allein gewesen 
und nur während der letzten sechs Jahre hatte 
er in einem Deutschen, Bruder Arnold von 
Köln, einen Geführten gefunden. Mit dem 
Sturze der Mongolen-Dynastie in der Mitte 
des 14. Jahrhunderts verschwanden auch die 
letzten Spuren seiner Thätigkeit wie die der 
Nestorianer, die bereits im 7. Jahrhundert von 
Persien aus China erreicht hatten, und es 
dauerte bis gegen das letzte Viertel des 16. 
Jahrhunderts, ehe es auf dem Seewege über 
Indien von Süden kommenden Jesuiten gelang, 
in China wieder festen Fuss zu fassen, aber 
erat über ein Jahrhundert später im Jahre 1696 
wurde auf den Wunsch der portugiesischen 
Regierung in Peking wieder ein (Titular) Bis¬ 
tum errichtet. 

Nach der im Jahre 1773 erfolgten Aufhebung 
des Jesuiten-Ordens traten die im Jahre 1663 
gegründeten Missions-£trang^res de Paris im 
Wesentlichen die Erbschaft derselben an. Es 
waren hauptsächlich politische Gründe ge¬ 
wesen, welche die Gründung dieser Gesell¬ 
schaft und die erste Entsendung französischer 
Bischöfe nach Ostasien veranlasst hatten. 
Die politische Machtstellung der Portugiesen 
in Indien und Macao war die Veranlassung 
gewesen, dass der päpstliche Stuhl der Krone 
Portugal gewisse Patronatsrechte über die 
katholischen Missionen in Indien und den 
Ländern östlich von demselben eingeräumt 
hatte; kein Bischof konnte ftir die bestehen¬ 
den Sitze ernannt, keine neuen bischöflichen 
Sitze ohne die Zustimmung des Königs von 
Portugal errichtet werden, kein Missionar 


durfte sich anders als auf portugiesischen 
Schiffen und mit Erlaubnis der portugiesischen 
Regierung nach Indien und von dort nach 
China oder Japan begeben und keine Bulle 
des heiligen Stuhles erhielt Gültigkeit in diesen 
Gebieten ohne durch die Hände des Königs 
von Portugal gegangen zu sein und dessen 
Zustimmung erlangt zu haben. Alle Missionen 
in diesen Ländern waren daher portugiesische 
und die Fremden, die vielfach in denselben 
Verwendung fanden, mussten die eigene Na¬ 
tionalität aufgeben, um ipso facto die portu¬ 
giesische anzunehmen. Ja, wenn man den 
Berichten Glauben schenken darf, hatte der 
heilige Stuhl sich Portugal gegenüber zu einer 
feierlichen Erklärung genötigt gesehen, durch 
die im Voraus alle zukünftigen, diesen Ab¬ 
machungen etwa widersprechenden Bullen für 
ungültig erklärt wurden. 

Schon in den ersten Jahren des 17. Jahr¬ 
hunderts hatte Spanien es verstanden, einige 
Abänderungen dieser Bestimmungen nament¬ 
lich in Betreff der Zulassung der Bettelorden 
in Japan und des nach dort zu wählenden 
Weges durchzusetzen, und 1655 versuchte 
der französische Pater de Rhodes in Rom 
auf die Ernennung französischer Bischöfe für 
Indo-China hinzuwirken. Der Widerstand 
des portugiesischen Gesandten beim heiligen 
Stuhl und der bald darauf erfolgte Tod des 
Papstes Hessen diese Bemühungen scheitern, 
die indessen bald darauf durch die Herzogin 
von Aiguillon bei Alexander VII., dem Nach¬ 
folger Innocenz X. wieder aufgenommen 
wurden und zu der Ernennung von drei fran¬ 
zösischen Bischöfen, Pallu, de la Mothe- 
Lambert und Cotolendi führten, von denen 
dem ersten mit dem Sitze in Tongking die 
chinesischen Provinzen Yünnan, Kweichau, 
Hupeh, Hunan, Szechuan und Kwangsi; dem 
zweiten mit dem Sitze in Cochinchina die 
chinesischen Provinzen Chekiang, Fukien, 
Kwangtung, Kiangsi und die Insel Hainan; 
dem dritten mit dem Sitz in Nanking die Pro¬ 
vinzen Chili mit Peking, Shansi und Shantung, 
sowie die Mandschurei (Tartarei) und Korea 
unterstellt wurden. Gegen Ende des Jahr¬ 
hunderts waren bereits in einer grösseren Zahl 
dieser Provinzen besondere Bischofssitze ein¬ 
gerichtet. Der französische Einfluss ist dann 
von Jahr zu Jahr gestiegen, wozu in neueren 
Zeiten die nach dem Abschluss des ersten 
französischen Vertrags mit China zu Whampoa 
1844 durch den Gesandten des Kaisers 
der Franzosen (wie Louis Philippe in dem¬ 
selben genannt wird) de Lagrönö erlangte 
Aufhebung der Strafbestimmungen gegen die 
eingeborenen Christen, und die spätere häufig 
sehr energische Vertretung der Rechte und 
Ansprüche der Missionare durch die franzö- 


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V. Brandt, Die christlichen Missionen in China. 


843 


sischen Regierungen und Gesandtschaften 
nicht wenig beigetragen haben. Auch die 
Regierung der jetzigen Republik hat hiervon 
trotz ihrer antiklerikalen Haltung im Innern 
keine Ausnahme gemacht und die Interessen 
der katholischen Missionare in China sind 
durch niemanden schärfer und rücksichtsloser 
wahrgenommen worden, als durch den letzten 
Gesandten derselben Mr. G^rard. Man kann 
daher mit Recht sagen, dass wenn Frankreich 
in China das Protektorat über die katholischen 
Missionen auch nicht de jure ausObt, es dies 
doch de facto thut. Wesentlich wird diese 
Politik dadurch unterstützt, dass von den 32 
in China bestehenden von Bischöfen in part. 
inf. verwalteten apostolischen Vikariaten, eine 
Einrichtung, die zuerst von Gregor XVI. 
getroffen wurde, 18 sich in den Händen 
französischeY Jesuiten, Lazaristen oder den 
Missions ^trangdres de Paris angehörigen 
Bischöfen befinden, 9 in denen italienischer 
f Franziskaner und Angehöriger der Missions 
Etrang^res von Mailand, zwei in spanischen, 
ebensoviele in belgischen und eine in deut¬ 
schen Händen. Seitens der italienischen 
Missionen ist, während der Zeit des fran¬ 
zösisch-chinesischen Conflikts 1883—85 wieder¬ 
holt die Hülfe der eigenen Regierung ange¬ 
rufen worden, die auch immer in der aus¬ 
kömmlichsten Weise gewährt wurde; der 
Vatican hat aber bis jetzt zu verhindern ge¬ 
wusst, dass die italienischen Missionen sich 
unter den nationalen Schutz haben stellen 
können. Dies Hineinspielen europäischer 
politischer Verhältnisse in die Missionarfrage 
in China ist höchst bedauerlich, wie der 
Vatican selbst erfahren hat, als vor wenigen 
Jahren die älteste Tochter der Kirche durch 
Drohungen schärfster Art den Papst zwang, 
von dem seinen wie den Wünschen der 
chinesischen Regierung entsprechenden Plan 
der Errichtung einer eigenen Vertretung in 
China Abstand zu nehmen. 

Nur eine katholische Mission in China, 
mit Ausnahme der französischen, steht unter 
nationalem Schutz; die deutsche des Steyler 
Hauses in Süd-Shantung, deren Bischof Anger 
sich 1887 unter den Schutz des Deutschen 
Reiches gestellt hat. Der Mission ist für 
ihren Wirkungskreis der Teil des chinesischen 
Reiches angewiesen worden, in dem Confucius 
und Mencius geboren wurden, gestorben und 
begraben sind und in denen die italienische 
Mission, welche dasselbe früher innehatte, 
gar keine Erfolge zu erzielen im Stande ge¬ 
wesen war. Dem Tact und der Ausdauer 
der deutschen Missionare war es gelungen, 
alle sich ihnen entgegenstellenden Schwierig¬ 
keiten zu überwinden und noch im Frühjahr 
dieses Jahres trafen die zufriedenstellendsten 


Berichte aus Yen-chau-fu, dem Schauplatz 
der jüngsten traurigen Ereignisse ein. Trotz 
der mit ihm verknüpften historischen Er¬ 
innerungen würde es irrtümlich sein diesem 
Orte eine besondere religiöse Heiligkeit in 
den Augen der Chinesen zuzuschreiben; in 
demselben sind buddhistische und taoistische 
Tempel vorhanden und einige achtzig Opium¬ 
höhlen beweisen, dass es den Litteraten, die 
als die Anstifter aller gegen Christen und 
Fremde gerichteten Unruhen angesehen werden 
müssen, mit den Fragen der Moral und des 
öffentlichen Wohls wenig Ernst ist. 

Die Zahl der in China thätigen katho¬ 
lischen fremden Missionare wird ungefähr 560 
betragen, die der eingeborenen Christen, von 
denen die Mehrzahl Nachkommen alter, seit 
dem 17. resp. 18. Jahrhundert bekehrter 
Familien sind, dürfte 550000 nicht erheblich 
übersteigen. 

Die Thätigkeit protestantischer Missionen 
in China selbst datirt, wenn man die der 
Holländer auf Formosa von 1624 — 1684, die 
keine Spuren hinterlassen hat, ausnimmt, erst 
seit dem Abschluss des Friedens von Nanking 
1842. Beinahe 1500 Personen beiderlei Ge¬ 
schlechts, unter denen die Frauen die Mehrzahl 
ausmachen und die einigen vierzig verschiede¬ 
nen englischen, amerikanischen und deutschen 
Gesellschaften angehören, sind an dem Missions¬ 
werke beteiligt; die Zahl der Communicanten 
wird auf ungefähr 40000 angegeben. Eine 
wichtige Rolle spielen bei den protestantischen 
Missionen die Aerzte die an ungefähr zwanzig 
Hospitälern thätig sind, während in den 
katholischen, meistens von barmherzigen 
Schwestern verwalteten Krankenhäusern, aus¬ 
schliesslich chinesische Aerzte nach chines¬ 
ischer Methode wirken. Ihrer Nationalität 
entsprechend stehen die protestantischen Mis¬ 
sionare unter dem Schutze der verschiedenen 
Gesandtschaften; wenn sie dadurch, und es 
muss dies als ein Vorteil bezeichnet werden, 
in China selbst an politischer Bedeutung ein- 
büssen, so lässt sich doch nicht in Abrede 
stellen, dass sie namentlich in England und 
in den Vereinigten Staaten eine nicht un¬ 
wichtige Rolle spielen und mehr als einmal 
auch mit Erfolg versucht haben, die Ent- 
schliessungen der Regierungen zu beeinflussen. 

Eine politische Rolle in China selbst zu 
spielen versucht in den letzten Jahren ein 
amerikanischer protestantischer Missionar, Mr. 
Gilbert Reid, der in Peking eine sogenannte 
Mission unter den oberen Klassen gegründet 
hat und augenblicklich Geld für die Zwecke 
derselben zusammenzubringen sucht. Dass 
derselbe bereit ist, der chinesischen Regier¬ 
ung und ihren Beamten Ratschläge Ober alle 
nur möglichen Gegenstände zu erteilen, wird 


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844 


Betrachtungen und kleine Mitteilungen. 


sein Gebahren hinreichend charakterisieren, 
wenn auch nicht in Abrede gestellt werden 
soll, dass in dem Gedanken auf die. oberen 
Zehntausend erzieherisch zu wirken, ein ge¬ 
sunder Kern enthalten ist, der sich aber vor¬ 
aussichtlich besser entwickeln dürfte, wenn 
seine Pflege Laien und nicht Missionaren an¬ 
vertraut würde. 

Die griechisch-katholische Kirche hat sich 
seit dem Ende des 17. Jahrhunderts darauf 
beschränkt, für die Seelsorge bei den Nach¬ 
kommen der bei der Einnahme von Albazin 
am Amur im Jahre 1689 gefangenen und nach 
Peking Übergeführten Russen, aus denen dort 
eine besondere russische Abteilung eines 
Banners gebildet wurde, zu sorgen. Dagegen 
haben sich viele der Mitglieder dieser geist¬ 
lichen Mission, mit welcher eine Dolmetscher- 
Schule und ein meteorologisches Observatorium 
verbunden waren, durch sehr tüchtige wissen¬ 
schaftliche Arbeiten ausgezeichnet. 

Versucht man die Thätigkeit der kathol¬ 
ischen und protestantischen Missionen nach 
ihrer erzieherischen Thätigkeit zu charakteri¬ 
sieren, so findet man, dass die ersteren mehr 
Wert auf praktische, die letzteren auf geistige 
Erfolge zu legen scheinen. Selbstverständlich 
besitzen beide besondere Schulen und Insti¬ 
tute für die Ausbildung der ftlr den Priester¬ 
stand bestimmten Chinesen, aber während in 
den Waisenhäusern und grossen Schulen der 
katholischen Missionen die Knaben mehr für 
die praktischen Zwecke des Lebens vorge¬ 
bildet und zu Handwerkern erzogen, und die 
Mädchen |in allen ftlr die künftige Haus¬ 
frau erforderlichen Gegenständen unterrichtet 
werden, da die Erfahrung gelehrt hat, dass 
eine christliche Frau selbst in einer heid¬ 
nischen Familie einen oft zur Bekehrung der¬ 
selben führenden Einfluss auszuüben im Stande 
ist, scheinen die protestantischen Missionen 
grösseren Wert auf eine wissenschaftliche 
Ausbildung zu legen. Man könnte das eine 
als das System des „Labora et ora“, das 
andere als das des „Ora et labora“ be¬ 
zeichnen. 

Beide stossen bei ihren Bemühungen auf 
den geschlossenen Widerstand der Litteraten, 
die in den weiteren Fortschritten des Christen¬ 
tums nicht nur den Untergang der die Grund¬ 
lage der Familie, des Staates und der ganzen 
Kultur in China bildendenden konfucianischen 
Morallehre, sondern auch den ihres eigenen 
Einflusses sehen. Manche Widersprüche würden 
sich bei gemässigterem Vorgehen der Mis¬ 
sionare vielleicht vermeiden oder ausgleichen 
lassen, aber wie der Zelotismus der Bettel¬ 
orden im 17. Jahrhundert das klug begonnene 
Werk der Jesuiten zerstörte, so tritt jetzt der 
Fanatismus protestantischer Eiferer einer An¬ 


näherung hindernd in den Weg; es kann 
nur gewünscht werden, dass das 20. Jahr¬ 
hundert nicht einen Rückschlag zeitigen 
möge, wie das 17. ihn gesehen. 


Betrachtungen und kleine Mitteilungen. 

Einschienenbahnen sind für kleinen Verkehr, 
besonders zum Gebrauch in der Landwirtschaft 
und Industrie, in letzterer Zeit mehrfach konstruiert 
worden. Durch grosse Einfachheit der Anlage und 
ökonomischem Betrieb zeichnet sich das System 
von Caillet aus. das sich in den französischen 
Kolonien und in Ägypten gut bewährt haben soll 
und von englischen Fachleuten sehr gelobt wird. 
Bei diesen zum Betrieb durch Menschen oder Zug¬ 
tiere bestimmten System ist eine grosse Variation 
in den Fahrzeugen, je nach den Zwecken, denen 
die Anlage dienen soll, zulässig. Die Räder, ge¬ 
wöhnlich 2 oder 4, sind mit homgekehlten Kränzen 
versehen und passen genau in die entsprechend 
.geschnittene Seniene, auf der sie in der vertikalen 
Ebene in der Längsachse des Fahrzeugs laufen. 
Es ist klar, dass es deshalb schwer ist, letzteres 
im Gleichgewicht zu halten und die einfache 
und praktische Lösung dieser Schwierig¬ 
keit ist in der That das besonders Geistreiche 
der Erfindung. Um die Neigung des Fahrzeugs, 
auf die eine oder andere Seite zu fallen, zu über¬ 
winden, ist das Gestell für das Zugtier (bei Betrieb 
durch Menschen eine, einfache Stange) nicht vom, 
sondern an der einen Seite angeordnet; letzteres 
wird dadurch nur unwesentlich mehr belastet, wenn 
die Ladung richtig verteilt ist, und braucht in der 
Hauptsache nur den Widerstand zu überwinden, 
welche die Schiene der Fahrbewegung entgegen¬ 
setzt. Die Schiene hat sehr kleinen Querschnitt 
und ein Gewicht von 4,5 bis 12 kg für den Meter, 
je nach der geringeren oder grösseren Belastung, 
welche die Aiüage zu tragen hat, ist von Stahl und 
ruht auf stählernen Längschwellen^ gegen Bie^ng 
durch Einfassungen gestärkt. Bei weichem Erd¬ 
boden werden die Längsschwellen mit Faschinen 
oder sonstigen widerstandsfähigen Materialien unter¬ 
baut Für provisorische Verlegung der Bahn ist 
ein tragbares Schienensystem geeignet, welches 
aus 5 m langen Sektionen besteht Für Kurven 



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Betrachtungen und kleine Mitteilungen. 


845 



sollte ein Minimum von 8 m in der Regel nicht 
überschritten werden, da die Reibung sonst zu stark 
wird; die Fabriken liefern die gewünschten Kur\-en- 
grossen gleich zum Verlegen fertig. Für den Be¬ 
trieb durch Menschenkraft (Fig. i) werden die 
Fahrzeuge in verschiedener Ausführung mit 300 Kilo 
Tragkraft hergestellt und haben Räder von 25 cm 
Durchmesser. Für den Transport durch Tiere sind 
die Wagen 3 m breit und können bis zu 2000 Kilo 
tragen; die Räder haben einen Durchmesser von 
50—75 cm und sind mit einer leichten Kiseneinfass- 
ung versehen. Die Wagen brauchen nicht gewen¬ 
det zu werden, da das Zugrier in beiden Richtun¬ 
gen angespannt werden kann; sollen zwei Pferde 
ziehen, so wird ein durch eine Querstange geteiltes 
grösseres Gestell verwandt. Fig. 2 zeigt ein Fahr¬ 
zeug ftlr Personentransport. Durch seine grosse 
Einfachheit empfiehlt sich das Einschienensystem 
von Caillet für die verschiedenartigsten Verhältnisse, 
namentlich aber für Gegenden, in denen die Her¬ 
stellung eines Unterbaues für doppclgeleisige An¬ 
lage erhebliche Schwierigkeiten bietet. Andere 
Lösungen des Einschienenbahn-Problems begnügen 
sich nicht mit dem Kleinbetriebe, sondern suchen 



dasselbe auf den Schnellverkehr anzuwenden. Hier 
ist besonders die Einschienenbahn von Bartigue 
zu nennen, welche eine Fahrgeschwindigkeit von 
250 km in der Stunde ermöglichen wollte und sich 


durch ihren sehr einfachen 
t)berbau auszeichnet, bei der 
von A'l^rniigen Lagerböcken 
die Geleisschiene getragen 
wird, auf der die Wagen ge- 
wissermassen reiten. Eine 
neuere ähnliche Konstruktion 
ist das Bahnsystem von F. 
B. Behr, das auf der Brüs¬ 
seler Weltausstellung in einer 
5 km langen Ringbahn von 
elliptischem Grundriss, die 
Kurven mit 500 m Radius, 
vertreten ist. Auch bei die¬ 
sem System mht die 1 — 1,5 
m über dem Erdboden be¬ 
findliche Schiene auf einer 
Reihe von /\-fbrmigen Lager¬ 
böcken. Auf ihr läuft der Wa¬ 
gen mittelst Räder nach Bicy- 
cleart, während seinUnterge- 
I stell von den Achsen dieser Räder an jeder Seite der 
I Lagerhöhe herabhängt, jeder Wagen wird durch 
einen besonderen Motor angetrieben, so dass die 
I Zugkraft auf die Kuppelung gering ist. Um event. 
scharfe Kurven leienter passieren zu können, be¬ 
sitzen die Wagen eine •beträchtliche Länge, und 
zwar ist jeder Wagen aus zwei oder mehreren 
Teilen zusammengesetzt, welche durch Zapfen oder 
Universalgelenk mit einander verbunden sind. Eine 
biegsame Einfriedung bedeckt eine zwischen zwei 
neben einander liegenden Abteilungen befindliche 
Plattform, wodurch das Betreten der einzelnen 
Wagenteile ohne Schwierigkeiten erfolgen kann. 

; Jede Hälfte ist mit zwei Treibrädern versehen, 

I welche auf der Tragschiene laufen und so dicht 
I hinter einander als nur möglich angebracht sind, 

! um eine möglichst geringe Entfernung der Wagen¬ 
achsen von einander zu erhalten. Um den Schwer¬ 
punkt des Wagens unter die durch die Tragschiene 
j gehende Horizontale zu bringen, werden die Mo- 
! toren für den Antrieb der einzelnen Wagen im 
untersten Teile des Wagenkastens angebracht und 
I so angeordnet, dass die Entfernung zwischen ihren 
Antriebswellen und den Wagenachsen, welche durch 
entsprechende Getriebe mit einander verbunden 
sind, stets konstant bleibt. Wenn auch der auf Fe¬ 
dern ruhende Wagenkasten vertikale Bewegungen 
macht, so wird derselbe doch so eingerichtet, dass 
er seitlichen Bewegungen nicht unterworfen sein 
soll, indem das die Räder tragende Gestell voll¬ 
kommen von dem Wagenkasten getrennt ist und 
die Triebräder mit Hilfe von Sicherheitsrädern, 
welche auf seitlich angebrachten Sicherheitsschienen 
! laufen, in vertikaler Lage festgehalten werden. Das 
Gestell des Wagenkastens, welches federnd auf 
; dem Rädergestell angeordnet ist, wird gegen seit¬ 
liche Bewegungen durch vertikale, an letzterem 
befestigte Schienen geschützt, denen gegenüber 
Rollen am Wagenkasten angebracht sind. Auf 
jeder Seite der Lagerböcke sind zwei übereinander- 
I liegende Sicherheitsschienen angeordnet, auf wel- 
' eben zwei entsprechende, auf jeder Seite des 
Wagcngestclles befestigte horizontale Fühningsräder 
laufen: diese sind auf vertikalen Armen montiert, 

I welche oben und unten an einer horizontalen, in 
I Trägern am Rädergestell gelagerten Welle sitzen. 
Die Erfahning muss es lehren, ob der Betrieb der 
Einschienenbahn sicher genug ist, um für den Fem- 
, Schnellverkehr Anwendung zu finden. Jedenfalls 
ist die Einftihriing derselben für bestimmte Ver- 
' hältnisse mit Sicherheit zu erwarten. 


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.846 


Betrachtungen und kleine Mitteilungen. 


Der Landweg zwischen Europa und Amerika. ! 

Von Theodor Poesche. 

Soeben ist in der Stille ein Werk vollendet 
worden, das mächtig in die Gestaltung des Verkehrs 
zwischen Europa und Amerika eingreifcn wird; die 
Eisenbahn entlang der SodkQste von Neufundland, 
von Port-auX'Bosques nach SL Johns. Diese Bahn 
hat als Lokalbahn keine Bedeutung, wohl aber eine 
sehr grosse als Glied eines neuen Weges von 
Europa nach Amerika. Unsere Zeit, die ja im 
Zeichen des Verkehrs steht, substituiert überall die 
kürzesten und schnellsten Routen für die alten 
längeren und langsameren. Da die Eisenbahn im 
Durchschnitt 3 mal so schnell fährt, als das Dampf¬ 
schiff, tritt sie an die Stelle des letzteren, wo es 
möglich ist Dieses Prinzip soll jetzt auch auf die 
wichtigste aller Routen, angewandt werden, auf die 
zwischen Europa und Nordamerika. 

Ununterrichtete wundem sich oft, dass die euro¬ 
päischen Dampfer so nahe der gefährlichen Küste 
von Neufundland vorbeifahren; sie wissen eben nicht, 
dass der kürzeste Weg zwischen Nordeuropa und 
Nordamerika in der Nähe der Südküste von Neu¬ 
fundland läuft. Seit Jahren hat man diesen Punkt 
in Canada fest ins Auge gefasst, und an der Ver¬ 
wirklichung des Planes gearbeitet, den ganzen Post- 
und Schnellverkehr zwischen Nordeuropa und Nord¬ 
amerika über Neufundland zu leiten. Die inter¬ 
nationale Bahngesellschaft hat ihre Bahn bis Cape 
North in Cape Breton gebaut. Dort nimmt ein 
Dampfer Post und Passagiere auf, bringt sie über 
die 60 Seemeilen breite Cabotstrasse nach Port- 
aux-Bosques, dem westlichen Ende der neuen Eisen¬ 
bahn, die, 526 engl. Meilen lang, nach SL Johns 
führt. Von da nach der Westküste Irlands sind 
1600 Seemeilen, welche • Strecke ein schneller 
Dampfer in 3 Tagen zurücklegen kann. Von Irland 
nach England fahren sehr schnelle Dampfer. 

Das ist der grossartige, wohldurchdachte Plan. 
Sehen wir nun, wie es mit seiner Verwirklichung 
steht. Diese kann nur das Werk von Jahren sein. 
Die Eisenbahnen nördlich von Massachusetts sind 
nicht für den Expressverkehr gebaut; sie müssen 
dalier umgebaut werden. Am 16. Oktober fuhr 
zum ersten Male der neugebaute Dampfer Bruce 
von North Cape nach Port-aux-Basques. Aber auch 
dieses Schiff besitzt nicht die Schnelligkeit, welche 
für eine moderne Weltroute nötig ist. 

Es verlautet noch nichts über die Bildung einer 
Gesellschaft zur Übernahme des Schnellverkehrs 
zwischen Neufundland und Irland, aber bald genug 
wird sich eine solche Gesellschaft konstituieren, 
da der zu erringende Preis gross ist. Zunächst 
handelt es sich um den ganzen Postverkehr zwischen 
Europa und Nordamerika, mit Einschluss von Mexiko 
und Westindien. Dieser ist heute schon enorm, 
nimmt aber noch täglich zu. Jetzt ist dieser Ver¬ 
kehr zersplittert, uud von wenig Bedeutung für die 
Dampfei^esellschaften. Konsolidiert hingegen be¬ 
deutet er eine reiche Einnahmequelle für die Ge¬ 
sellschaft, die ihn als Monopol besitzt. Alle nord¬ 
atlantischen Dampfergesellschaften werden einmütig 
gegen die Gründung eines solchen Monopoles ar¬ 
beiten; was hilft es jedoch, gegen eine so wohl 
begründete Einrichtung zu kämpfen, wie die Land¬ 
route Ober Neufundland sein wird. 


Dieser Route eröffnet sich aber noch eine an¬ 
dere Einnahmequelle, die für sie von gleicher Be¬ 
deutung sein wird, wie der Postverkehr: Passagier¬ 
beförderung. Es ist nicht zu bezweifeln, dass sehr 
viele diese neueste und schnellste Route allen 
andern vorziehen werden; trotzdem werden diese 
noch genug zu thun finden, schon wegen des be¬ 
deutenden Preisunterschiedes, der notwendigerweise 
herrschen muss. 

Es war ein kleiner Anfang, als am 16. Oktober 
der Dampfer Bruce über die Cabotstrasse fuhr, 
aber es war der Anfang einer neuen Weltroute, 
welche die zwei wichtigsten Teile der Erde auf 
das Schnellste und Beste zu verbinden bestimmt ist 
durch täglichen Verkehr. 


Der Robbenfang im Berings-Meer. 

Washington. (Reuter). Der Premierminister 
Laurier und der Marineminister Davies von Canada 
treffen hier ein, um an den Verhandlungen über die 
Beringsnteerfrage auf viel umfassenderer Grundlage, 
als von den britischen Behörden bisher zugestanden 
wurde teilzunehmen. Der Premierminister ist auch 
für ein sehr entgegenkommendes Handelsabkommen 
mit den Vereinigten Staaten und das amerikanische 
Staatsdepartement seinerseits hat vor Kurzem zu 
erkennen gegeben, dass es der Eröffnung von Re- 
ciprocitätsA^erhandlungen günstig gegenüber stehen 
werde. 


Wieder einmal ist im hohem Norden der Kampf 
entbrannt zwischen Engländern und Nordamerikanem 
um das Recht des Robbenschlages. An den Ufern 
des Berings-Meeres und seiner Inseln, besonders aber 
auf den Pribylow-Inseln, finden sich alljährlich in 
der Zeit von April bis Anfang August ungezählte 
Scharen von Kobben in mehreren Arten ein, 
deren kostbarste der Seebär, Otaria ursina, ist. Zu¬ 
erst kommen die alten Männchen, um sich Plätze, 
oft nach erbitterstem Kampfe, möglichst nahe dem 
Meere zu sichern. Nach einem Monate etwa er¬ 
scheinen ungeheure Mengen von Weibchen und 
jungen Männchen. Erstere werden von den dem 
Strande nächsten alten Älännchen sehr freundlich 
empfangen, vom Wasser abgeschnitten und dann 
von dem gestrengen Herrn auf seinen Lagerplatz 
getrieben, wo er sich einen ganzen Harem anlegt. 
Aber während er damit besenäftigt ist, stehlen ihm 
die landwärts nächsten Männchen wieder einen Teil 
der Weibchen, diesen wieder die nächsten u. s. w., 
bis alle Weibchen gelandet und alle Harems versoi^ 
sind. Dann gebären die Weibchen und bald danach 
findet die Begattung für die nächstjährige Nieder¬ 
kunft statt. Die alten Männchen stürzen sich nun 
wieder ins Meer und die Weibchen widmen sich 
der Erziehung ihrer zuerst recht unbeholfenen und 
wasserscheuen Jungen. Jetzt wagen sich auch die 
jüngeren, noch nicht 6 Jahre alten Männchen, die 
sich seither im Meer und auf abgelegenen Plätzen 
aufgehalten haben, ans Land und tummeln sich da 
nach Herzenslust. Auf sie hat der Mensch nur ge- 
gewartet, denn sic strahlen noch in vollstem Glanze 
ihres durch keine Kämpfe beschädigten Pelzes. 
Durch Treiberketten werden sie vom Wasser ab¬ 
geschnitten und die ausserordentlich gutmütigen, 
lenksamen Tiere nach dem Innern getrieben, wobei 
das beste Miuel, einen etwa aufsässig werdenden 
Gesellen wieaer fügsam zu machen, ein rasch auf¬ 
gespannter Regenschirm ist. Während des lang¬ 
samen Marsches (1 km in i Stunde) werden alle 
minder tauglichen Tiere zwischen den Treibern 


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Betrachtungen und kleine Mitteilungen. 


847 


entschlüpfen lassen. Auf dem Schlachtplatze lässt 
nian sie sich erst ausruhen und beruhigen, dann 
werden nach und nach kleine Trupps abgelüst und 
die besseren unter den Tieren mittelst eines Kolben¬ 
schlages auf die Nase getötet; die schlechteren lässt 
man entschlüpten. Die Felle werden mehrere Male 
gesalzen, dann nach England geschickt, wo durch 
Einlegen in Gruben, Behandlung mit Kalk u. s. w. 
die steifen Grannhaare gelöst und durch Maschinen 
entfernt werden. Es bleibt eine ungemein weiche, 
seiden- und sammtartige Grundwolle zurück, die 
kastanienbraun gefärbt, unter dem Namen Sealskin 
in den Handel kommt. — Das Fleisch der erlegten 
Tiere wird von den Eingeborenen getrocknet und 
muss die Nahrung für das ganze kommende Jahr 
liefern; aus dem Fette wird Thran gewonnen. 

Welch’ ungeheure Massen von diesen Tieren 
in den arktischen Meeren leben und welch’ unge¬ 
heure Reichtümer ihr Fang liefert, ze^en folgende 
Zahlen. Auf den beiden Inseln St. Paul und St. 
Georg lagern jährlich etwa 4,700,000 Seebären, von 
denen etwa 1,500,000 Junggesellen sind. Von letzteren 
dürfen nach einem 1892 in Paris vereinbarten Über¬ 
einkommen 100000 getötet werden, zu denen noch 
ebensoviel von anderen Küsten des Berings-Meeres 
kommen. Die Hälfte von diesen allen liefert die 
Alaska-Kompagnie. Da das Fel! Je nach der Güte 
in rohem Zustande 40—80 M. wert ist, ergiebt sich 
ein Gewinn von etwa 10—12 Millionen Mark: eine 
wohl des Streites werte Summe. Zubereitet haben 
die Felle natürlich noch viel höheren Wert; ein 
Mantel aus Sealskin kostet 12—1500, ja selbst 
mehrere Tausend Mark. 

Ausser dem Seebär wird auch noch der See¬ 
löwe, Oiaria stellen, im Beringsmeere getötet, der 
jedoch weder in so riesigen Massen vorkommt, 
noch ein so kostbares Pelzwerk liefert. Doch dürfte 
sich aus seinem Fang auch annähernd 1 Million 
Mark Gewinn ergeben. Räh. 


Die Produktion der Industrie in den wich¬ 
tigsten Ländern erscheint in recht interessanten 
Ziffern in einer Statistik, welche das Arbeitsmi¬ 
nisterium der Vereinigten Staaten jüngst herausge¬ 
geben hat. Darnach stellt sich der Wert der Jahres¬ 
produktion der Industrie in den verschiedenen 
Ländern wie folgt: Dollars 

Vereinigte Staaten.7000000000 

Grossbntannien.4 100 000 000 

Deutschland.2915000000 

Frankreich.2245000000 

Russland.1815000000 

Österreich-Ungarn.i 625 000 000 

Italien. 605 000 000 

Belgien. 510000000 

Spanien. 425000000 

Schweiz. 160000000 

Der der Statistik beigegebene Bericht sucht die 
Überragend hohe Ziffer für die Vereinigten Staaten 
durch die bedeutende Leistungsfähigkeit der ameri¬ 
kanischen Arbeit auf Grund rationeller Arbeits¬ 
methoden und vollendeter Maschinen zu erklären. 
Eine weitere Ursache dürfte in dem niedrigen Preise 
der Rohmaterialien und dessen anregenden Einfluss 
auf die Produktion liegen. Der mittlere Wert der 
Leistung eines amerikanischen Arbeiters wird auf 
1888 Dollars geschätzt, demgegenüber stehen für 
England 990 Dollars, ftlr Deutschland, Frankreich 
und Belgien 590, für die Schweiz 433, für Russland 
381 und für Italien 265 Dollars. Daraus erhellt, dass 
die hohen Löhne, welche in den Vereinigten Staaten 
gezahlt werden, den Wettbewerb der amerikan¬ 
ischen Industrie auf dem Weltmarkt durchaus nicht 
nachteilig beeinflussen. Nachstehende Tabelle giebt 


einen interessanten Vergleich der mittleren Löhne, 
die ein Industriearbeiter in den verschiedenen Län¬ 
dern verdient: Dollars 

Vereinigte Staaten.348 

Grossbritannien.204 

Frankreich.175 

Belgien.165 

Deutschland.155 

Schweiz.150 

Österreich-Ungarn.150 

Spanien.' 120 

Russland.120 

Die Stärke des amerikanischen Wettbewerbes hat 
aber noch einen andern Grund ab die grössere 
Lebtungsfähigkeit der Arbeiter und das ist die 
grössere Menge motorischer Kraft, welche für die 
Arbeitsmaschinen zur Verfügung steht. Folgende 
Zahlen zeigen das Verhältnis der vorhandenen Be¬ 
triebskraft in den verschiedenen Ländern in Pferde¬ 
kräften : Pferdekräfte 

Vereinigte Staaten.18000000 

Grossbritannien.12000000 

Deutschland ..9000000 

Frankreich.5000000 

Österreich-Ungarn.2500000 

Russland.2500000 

Belgien.1000 000 

Wenn die aufgeführten Ziffern alle auch nur an¬ 
nähernd richtig sein können, so verdienen sie doch 
aufmerksame Betrachtung, denn sie werfen ein 
klärendes Licht auf Verhältnisse, die auf die zu¬ 
künftige Gestaltung des Welthandeb von Einfluss 

sein dürften. Revue «cientifique, 6. Nov. 1897. 


/ In der Hochdruck-Wasserleitung der Burg 
Pergamon ist ein Ingenieurwerk des Altertums auf¬ 
gedeckt worden, wie es in so vortrefflicher Aus¬ 
führung bis jetzt noch nicht bekannt war. Nach 
dem Bericht des Ingeniers O. Giebeler, der annähernd 
den ganzen Lauf dieser vor mehr als 2000 Jahren 
angelegten Wasserleitung bestimmt hat, kam die 
zumeist unterirdisch geführte Leitung von einem 
den Burgberg von Pergamon stark überhöhenden 
Punkte im nahen Gebirge und überstieg mehrere 
niedrigere Bergrücken, deren Terraingestaltung sich 
anpassend. Abweichend von der schiefen Ebene 
von gleichbleibender Neigung, auf der die Römer, 
unbekannt mit dem Gesetz der kommunizierenden 
Röhren, meilenweit Wasser vom Gebirge nach der 
Ebene führten, liegt der Wasserleitung von Perga¬ 
mon der Gedanke zu Grunde, dass das von einem 
erhabenen Punkte herabströmende Wasser durch 
seine Schwere bis zu einem anderen hochgelegenen 
Punkte heraufdrücken müsse, vorausgesetzt, dass 
er den Ausgangspunkt nicht Oberhöhe. Das war 
praktisch die Anwendung des Gesetzes der kom¬ 
munizierenden Röhren, merkwürdig nur, dass die 
alten Baumeister nicht die weiteren Schlüsse zogen 
und dies fernen Jahrhunderten Oberlassen haben. 
Die Röhren der Leitung waren jedenfalls aus Bronze 
gegossen und dafür ^richt der Umstand, dass 
nirgends ein Rest der Röhren vorgefunden wurde. 
Wahrscheinlich haben dieselben bis zum letzten 
Stücke Liebhaber gefunden. Dass die Technik der 
Alten im Bronzeguss schon soweit entwickelt war, 
um solche Röhren zu giessen, dafür ist das wahr¬ 
scheinlich viel ältere, 5!^ m lange Bruchstück der 
bekannnten bronzenen Säule ein Beleg, welche 
die Bürger von Platää nach dem grossen Siege über 
die Perser (479 v. Chr.) als Weihgeschenk für 
Apollon stifteten. Das 5 m lange und fast % m 
starke Stück stellt drei in einander sich windende 
Schlangen vor und bekundet seine Bedeutung durch 
eine Inschrift. Wenn schon zu so früher Zeit so 


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848 


Betrachtungen und kleine Mitteilungen. 


kunstvolle BronzegOsse hergestellt werden konnten, 
so besteht kein Bedenken, anzunehmen, dass drei¬ 
hundert Jahre später einfache Wasserrohre von 
etwa I Vi ni Länge und ca. 27 cm lichter Weite aus 
Bronze fftr die Druckleitung von Pergamon ver¬ 
wendet waren. Von ähnlichen Bronze^ssstQcken 
ist übrigens bei Philo (150 v. Chr.) deutlich die Rede. 
» • 

• 

Dem Gasglühlicbt, das der elektrischen Beleuch¬ 
tung eine fithlbare Konkurrenz bereitet hat, wird 
von der Technik beständige Aufmerksamkeit ge¬ 
schenkt. Eine neue Verbessern^ desselben erschemt 
soeben in der Wolff'schen üasbime, (hergestellt 
von der Firma Wolff & Co., Berlin), die es ge 
stattet, dem Beleuchtungskörper eine neue, leichte 
und elegante Form zu geben und den wenig schönen 
Zylinder, sowie die Glocke in Wegfall bringt. Wie 



WoiiTsche Gas^Iflhlicht-Birac. 


aus beistehender Figur ersichtlich, ist die Birne den 
filr elektrisches Glühlicht verwandten nacligebildet; 
dieselbe wird in Krystall- oder geätztem Glas, oder 
auch farbig hergestellt und dämpft das Licht an¬ 
genehm, das aber, da ein Gasglühlichtstrumpf mehr 
als 50 Kerzen Lichtstärke giebt, dem elektrischen 
Licht an Helligkeit bei weitem überlegen bleibt. 
Die an sich einfache Erfindung hat die grösste 
Schwierigkeit insofern, als es notwendig war, ein 
durchaus haltbares Glas zu finden; es ist dies so¬ 
weit geglückt, dass man sogar die Birne, wenn das 
Licht brennt, mit kaltem Wasser bespritzen kann, 
ohne dass diese zerplatzt. 

• • 

• 

Wärme der Glühlampen. Nach Messungen des 
österr. Hauptmanns Exler besitzt eine Glühlampe 
von 16 Normalkerzen eine Wärme von 94 0 C., eine 
solche von 25 Kerzen loi» C. Zwei dieser Lam¬ 
pen in einem hölzernen Hohlraum ergeben eine 
Temperatur von 212» C., bei welcher sich Schiess¬ 
pulver, Ekrazit und Pyraxylin zersetzen, ohne sich 
zu entzünden. Ei«ktrizitat v. 6. Nov. 1897. 

• • 

• 

Die Bezeichnung „Funkentelegraphie" schlägt 
Professor Slaby an Stelle der weniger korrekten 
„ Telegraphie ohne Draht'' vor. Thatsächlich gelang 
es Marconi gerade durch die Anwendung vertikal 
geführter Drähte, die in geeigneter Weise mit den 
Apparaten verbunden werden, diese Art von Tele¬ 
graphie, die man bis auf 50 Meter bereits kannte, 
auf ineilenweite Entfernungen auszudehnen. Je 


länger man diese Drähte ausspannt, desto weiter 
geht die Übertragung; die Drähte sind also die 
Hauptsache. Allerdings verbinden sie nicht die Ap¬ 
parate direkt, sondern die Übertragung der Zeichen 
erfolgt thatsächlich durch den Raum mittels des 
rtthers, sodass auch die Bezeichnung „Funkentele¬ 
graphie“ zutreflfender ist als die Tele^aphie ohne 
Draht. Professor Slaby glaubt, dass es gelingen 
wird, von Dover nach Calais, 40 km, mit 80 m lan¬ 
gen Vertikaldrähten auszukommen. 

« • 

Das Contagium der Rinderpest ist nach den 
Untersuchungen der drei russischen Forscher Nencki, 
Sieber und Wyznikiewicz nicht in der Klasse der 
Bakterien zu suchen, sondern scheint eher amö¬ 
boider Natur zu sein. Nachdem die im Aufträge 
der russischen Regierung nach Südafrika entsandten 
Forscher mit wohl htmdert verschiedenen Medien 
experimentiert hatten, um den spezifischen Erreger 
der Rinderpest auszuscheiden, wurden ihre Anstreng¬ 
ungen belohnt durch die Entdeckung „durchsichtiger 
leuchtender Körper in der Grösse von 1—3 
meistens rund, zum geringen Teil oval, bimenförmig 
oder in einer Spitze endigend. Auf den grösseren 
waren Schwellungen zu erkennen und in einigen 
wenigen ein Kern im Zentrum. Die grösseren und 
stumpferen Exemplare zeigen amöboide Entwicklung, 
einige haben ausserdem einen, selten zwei Wimper- 
Fortsätze“. Mit frischen Kulturen dieser Organismen 
kann die Rinderpest hervorgerufen werden. Nach 
Versicherung der Forscher enthalten alle Organe 
und flüssige Substanzen der verendeten Tiere den 
nachgewiesenen Mikroorganismus. 

Nature v. 4. November 1897. 


Die modernen Maler noch mehr aber die Ra¬ 
dierer beschäftigen sich jetzt mit Vorliebe mit Aus¬ 
arbeitung neuer Verfahren zur Reproduktion ihrer 
Werke. — Erst kürzlich hat ja Mannfeld seinem 
Abscheu vor den Kunstverlegern {in der Frankf. 
Zeitung) Ausdruck gegeben. Wenn es nach ihm 
ginge, wäre jeder Künstler sein eigener Drucker 
(die zum Druck erforderliche Platte wäre natürlich 
nach einem ihm patentierten Verfahren hergestellt) 
und auch sein eigner Verleger. Ob, wenn es jeder 
so machte, es dann mehr Kwnsiverleger oder ver¬ 
legende KiinsUer gäbe, wagen wir nicht zu ent¬ 
scheiden. Das angedeutete Prinzip liegt wohl 
auch dem von dem bekannten Hubert Hercomer 
in Verbindung mit Fr. T. Cox genommene Patent 
(D. R. P. 92808) zu Grunde: Verfahren zur Her¬ 
stellung von Druckflächen für Kunstdruck heisst 
es in der vorsichtig generalisierenden patentamt¬ 
lichen Sprache. Danach wird eine Zeicnnung auf 
einer „Fläche" mit einer lange klebrig bleibenden 
Farbe hergestellt, diese mit einem Pulver bestäubt, 
das aus einem Gemisch elektrisch leitender und 
nicht leitender Substanzen verschiedener Körnung 
besteht. Je nach der Stärke des Farbenauftrags 
wird eine der Tiefe des Farbentones entsprechende 
Körnung auf der nunmehr auf galvanischem Weg 
herzustellenden Druckplatte herbeigeführt. Die Re¬ 
sultate lassen vorderhand noch zu wünschen übrig. 

B. 


No. 48 der Umscban wird enthalten: 

Bruioier, Die Zukunft des Deutschtums. — Werner, Epik und 
Lyrik im vergangenen Jahre. III. Die jaugere Generation. 
- Ambronu, Di« Astronomie ün verfangenen Jahre. Kometeo. 
und Meteoriten. - Lory, Theodor Mommsen. - Kahle, Die 
deutsche Sfldpolarforschunf. 


G. Horstmann’s Druckerei. Fracküirt a. M. 


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DIE UMSCHAU 


ÜBERSICHT ÜBER DIE FORTSCHRITTE UND BEWEGUNGEN AUF 
DEM GESAMTGEBIET DER WISSENSCHAFT, TECHNIK, 
LITTERATUR UND KUNST 

Preis vierteljährlich 

hcr.ausgegeben von 

DR. J. H. BECHHOLD. 


Wöchentlich eine Nummer. 

Zu beziehen durch 
alle Buchhandlungen und 
Postanstalten. 

Fostzoitungspreisiiste No. 7991 a. 

Verlag von: 

H. Bechhold Verlag» Frankfurt a. M. 


Neue Krame 19 ai. 


M 2.5a 

Jahres'Aboonement 
Preis M. la— 

Im Ausland nach Cours. 
Verantwortlicher Redakteur: 

Otto Adolf Wolters, Frankfurt a. M. 


>6 48. I. Jahrg. 1897. 27. November. 


Das neue Beleuchtungssystem von 
Mc. Farlan Moore. 

In den letzten Jahren ist den elektrischen 
Glühlampen in dem Gasglühlicht eine grosse 
Konkurrenz entstanden und es fehlt daher 
nicht an Bestrebungen, welche auf eine Ver¬ 
besserung und Verbilligung der elektrischen 
Bfcleuchtung hinzielen. Die Verringerung der 
Betriebskosten spielt hierbei wohl die erste 
Rolle. Legen wir den Berliner Strompreis 
von 60 Pf. pro Kilowattstunde und den Ber¬ 
liner Gaspreis von i6 Pf. pro Kubikmeter zu 
Grunde, so kostet die Kerzenstunde einer 
Glühlampe rund o,i8 Pf., und die Kerzen¬ 
stunde eines Auerbrenners o,oi8 Pf., das 
heisst also: wenn ein Auerbrenner fünfmal 
so hell ist als eine Glühlampe, so verursacht 
er doch erst halb so viel Kosten. 

Dem verheissungsvollen Problem der Ver¬ 
billigung und Vereinfachung des elektrischen 
Glühlichtes widmeten seit einer Reihe von 
Jahren namhafte Forscher, wie z. B.: Nikola 
Tesla, ihre ganze Zeit und Kraft; Tesla suchte 
eine elektrische Beleuchtungsart zu schaffen, 
bei welcher weniger Wärme und eine grössere 
Lichtmenge erzeugt wird, als bei den bisher 
bekannten Lichtquellen. Um sehr kleine Glüh¬ 
körper auf eine enorme Temperatur zu brin¬ 
gen und hierdurch die Lichtausstrahlung zu 
verstärken, verwandte Tesla Wechselströme 
von sehr hoher Wechselzahl und Spannung. 

Zu diesem Zwecke baute er eine Wechsel¬ 
strommaschine mit sehr vielen Polen und 
einer sehr bedeutenden Rotation, wodurch er 
in der Sekunde bis zu 15,000 Perioden er¬ 
zielte. Um die Frequenz weiter zu steigern, 
verwendete er die Schwingungen, welche bei 
der Funkenentladung eines Kondensators ent¬ 
stehen. Wenn nämlich zwei einander gegen¬ 
überstehende Kugeln oder ein Kondensator 
mit einer Elektrizitätsmenge geladen ist, 
welcher der Kapazität des Systemes entspricht, 

Umschau 1897. 


und wenn man die Entladung einleitet, so 
besteht diese aus einer Aufeinanderfolge von 
Partialentladungen; die Elektrizität bewegt 
sich in der Funkenstrecke oszillierend. Diese 
elektrischen Schwingungen werden dadurch 
veranlasst, dass infolge der Selbstinduktion 
der Entladungsdrähte nach der ersten Ent¬ 
ladung ein gleichgerichteter Strom induziert 
wird. Durch denselben wird eine neuerliche 
Ladung der Kugeln oder der Kondensator¬ 
belegungen vorgenommen, welche, wie leicht 
erkannt wird — im entgegengesetzten Sinn 
der ursprünglichen Ladung erfolgt. Es tritt 
nun abermals eine Entladung dieser neuen 
Elektrizitätsmengen ein, wobei wieder ein 
Strom induziert wird u. s. w. Dieser Vorgang 
würde unendlich oft sich fortsetzen, wenn die 
Drähte, welche zur Entladung dienen, der¬ 
selben nicht einen V^iderstand entgegensetzen 
würden. Infolge des auftretenden Widerstan¬ 
des wird aber die Transformation der elek¬ 
trischen in Wärmeenergie vollzogen und die 
Entladungen kommen bald nicht mehr zu 
Stande. Wenn der Widerstand sehr bedeu¬ 
tend ist, kommt es überhaupt zu keiner os- 
zillatorischen Entladung der Elektrizität und 
es wird schon bei der ersten Entladung die 
gesamte elektrische Energie in Wärme trans¬ 
formiert. 

Man vermag durch die Teslasche Anord¬ 
nung Ströme von bedeutender Spannung und 
mehreren hunderttausend Perioden zu er¬ 
reichen. 

Wenn man die Enden des Entladers ein¬ 
ander bis auf einige Zentimeter nähert, dann 
springen zwischen denselben kräftige Funken 
mit starkem Krachen über. . Wenn man die 
Enden von einander entfernt, so findet eine 
Stromentladung durch prächtige Feuerbüschel 
statt. Wenn man in die Nähe der Leitungs¬ 
drähte Geisslersche Röhren bringt, so tritt 
ein Aufleuchten derselben ein, was auch dann 
stattfindet, wenn man elektrodenlose mit ver- 

48 


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850 


Das neue Beleuchtungssystem von Mc. Farlan Moore. 


dünnter Luft geftlllte Glasröhren anwendet. 
Dies erreicht man nach Tesla am besten, 
wenn man diese Röhren zwischen zwei Me¬ 
tallschirme bringt, die mit den Klemmen des 
Teslaschen Öltransformators verbunden sind. 
Den ganzen Versuchsraum kann man mit 
elektrischen Schwingungen erfüllen, wenn 
man einen etwa durch Stanniol leitend ge¬ 
machten Schirm isoliert an der Zimnferdecke 
aufhängt und das eine Ende des Öltrans¬ 
formators mit diesem Schirm, das andere 
Ende mit der Erde verbindet. Eine elektroden¬ 
lose Röhre in diesen Raum gebracht leuchtet 
sofort auf. Tesla machte auch Versuche mit 
Glühlampen, die nur mit einem Leitungs¬ 
drahte verbunden sind und auch nur einen 
in die Birne der Glühlampe reichenden Platin¬ 
draht haben; solche Glühlampen werden ein¬ 
polige genannt. Die Wirkung wird eine noch 
bedeutendere, wenn man an die Aussenseite 
des Glaskörpers der Lampe gegenüber dem 
Drahte ein Stück Stanniol anklebt. Dieses 
Licht soll ökonomischer sein als jedes andere; 
Schwierigkeiten treten nur insofern ein, als 
bei der Fortleitung solcher Ströme die elek¬ 
trischen Schwingungen sich in die Luft zer¬ 
streuen. 

In den Geisslerschen Röhren ist uns also 
eine Lichtquelle gegeben, welche bei Strom¬ 
durchgang ein Licht von geringer Temperatur 
und billigen Betriebskosten aussendet. Auf 
diesem Prinzip fusst Moores Vakuumröhren¬ 
beleuchtung. 

Es ist durch Messungen festgestellt, dass 
diese Röhren sehr vollkommene Lichtquellen 
sind, da sie, um eine bestimmte Lichtmenge 
hervorzubringen, kaum den 30. Teil der En¬ 
ergie verzehren, welche eine gleich helle 
Glühlampe brauchen würde. Man muss sich 
also wundern, dass nicht schon längst die 
Geisslerschen Röhren in allgemeiner Anwend¬ 
ung sind — denn die geringe Helligkeit einer 
solchen Lampe hätte sich doch offenbar be¬ 
quem durch Verwendung einer grösseren An¬ 
zahl wettmachen lassen. Es ist aber von vorn¬ 
herein nicht daran zu denken, derartige Röh¬ 
ren mit hochgespanntem Gleichstrom zu ver¬ 
sorgen, denn es ist bei dieser Stromart kaum 
möglich, die erforderliche Spannung herzu¬ 
stellen. Demnach sind wir auf die Trans¬ 
formation von Wechselströmen oder unter¬ 
brochenen Gleich¬ 
strömen angewiesen 
und kennen in dem 
Ruhmkorffschen 
Funkeninduktor 
einen altbewährten, 
zu solchen Zwecken 
sehr häufig benutzten 
Apparat. So nützlich 


derselbe sich auch im Laboratorium seit Jahr¬ 
zehnten erwiesen hatte, konnte er doch trotz 
aller Bemühungen niemals technische Ver¬ 
wendung finden, weil — abgesehen vom hohen 
Preis — sein. Wirkungsgrad so überaus ge¬ 
ring ist, dass auch bei der idealsten Voll¬ 
kommenheit der Lampen, die man durch ihn 
speisen könnte, das Licht noch unerschwing¬ 
lich teuer wäre. Und dieser Umstand, die 
bisherige Unmöglichkeit, in ökonomischer 
Weise Ströme hervorzubringen, welche sich 
zur Speisung Geisslerscher Röhren eignen, 
ist der Hauptgrund dafür, dass die Verwend¬ 
ung dieser theoretisch so vollkommenen Lam¬ 
pen bisher unterbleiben musste. 

Zur Vermeidung von Lichtbogen bei der 
Stromuiiterbrechung muss sich ein Strom 
von niedriger Spannung, etwa der einer 
Batterie von wenigen Zellen, zusammen mit 
einer Induktionsspule verwenden lassen. Die 
Stromunterbrechung muss so plötzlich als 
möglich vor sich gehen; denn je schärfer 
die Unterbrechung, desto heller das Licht. 

Die schnellste Unterbrechung erzielt man 
dadurch, dass man in einen Stromkreis das 
vollkommenste Dielektrikum in der kürzesten 
Zeit einschaltet. 

Das beste bis jetzt bekannte Dielektrikum 
ist der luftleere Raum oder das Vakuum. 
Die Unterbrechung im Vakuum erfolgt rascher 
und vollkommener als bei den aus neuerer 
Zeit stammenden Kunstgriffen, den Funken 
mittelst eines Luftstromes oder eines Magneten 
auszublasen. 

Moores Verdienst ist nun die Erfindung 
eines Vakuumselbstunterbrechers oder Vakuum¬ 
vibrators, Fig. I, bei dessen Konstruktion er 
einen ganz neuen Weg einschlug. 

Er brachte die Unterbrechungsstellen in 
einem nahezu absolut luftleeren Raum an. 
Der leere Raum ist ein vollkommener Nicht¬ 
leiter, in ihm bildet sich kein die Unterbrech¬ 
ung verzögernder Lichtbogen an der Kontakt¬ 
stelle u, also ist der Strom schon völlig 
unterbrochen, sobald sich die beiden Platin¬ 
stücke des Unterbrechers von einander zu 
entfernen beginnen. Ausserdem giebt es für 
den vibrierenden Teil des Unterbrechers im 
luftleeren Raum natürlich keine Reibungs¬ 
widerstände, welche recht erheblich sind bei 
Unterbrechern, die in Luft oder unter Petro¬ 
leum arbeiten. Der 
hierdurch erzielte 
Vorteil ist ein dop¬ 
pelter, denn er 
bewirkt erstens, dass 
der Unterbrecher fast 
keine Energie zur 
Unterhaltung seiner 
Oszillationen bean- 



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Das neue Beleuchtungssystem von Mc. Farlan Moore. 


851 



Fig. 2. Fig. 3. 


sprucht, und zweitens erlaubt er eine wesent¬ 
lich höhere Anzahl der sekundlichen Unter¬ 
brechungen. ln der That verwendet Moore 
6000 pro Sekunde, während bei den Ruhm- 
korffschen Apparaten kaum 100 zu erreichen 
sind, wenn der Unterbrecher in Luft geht, 
und kaum 20, wenn er in Öl getaucht ist. 

Die Sekundärspule des Ruhmkorffschen 
Induktors fällt bei diesem Apparat ganz weg. 
Mit dem neuen Vibrator können Ströme von 
fast jedweder Spannung rasch und scharf 
unterbrochen werden; man kann daher den 
Strom der gewöhnlichen Verteilungsnetze zur 
Erregung der Vakuumröhren benutzen. 

Der durch die Schwingungen der Arma¬ 
tur unterbrochene Hauptstrom erzeugt einen 
Hochspannungsstrom, welcher ein glänzendes 
Aufleuchten einer anderen Röhre von ge¬ 
wöhnlich viel grösseren Dimensionen und 
geringerem Grade der Luftverdünnung als die 
in der Vibratorröhre hervorruft. Man braucht 
also zwei verschiedene Vakua, ein sehr hohes 
und ein sehr niedriges. Vibrator- und Leucht¬ 
röhre lassen sich auch vereinigen, wenn man 
eine umfangreichere Röhre mit massiger Luft¬ 
verdünnung wählt; allerdings leidet dabei die 
Schärfe der Unterbrechung. 

Bei Verwen¬ 
dung dieses Va¬ 
kuumröhrenvi¬ 
brators kann die 
zweite oder Se¬ 
kundärspule über¬ 
haupt wegfallen. 

Der Apparat be¬ 
steht nur aus 
einer einzigen 
dtinndrähtigen, 
mit Eisenkern ver¬ 
sehenen Spule, 
die nicht grösser 
ist als ein Was¬ 
serglas. Über 
einem Pol des 
Eisenkerns be¬ 
findet sich der 
Unterbrecher, 
eingeschlossen in 
eine luftleere 
Glasröhre von 



Fingerlänge. Der Strom geht erst durch die 
Spule, dann durch den Vibrator. 

Nach dem System der Geissler’schen 
Röhren hat Moore verschiedene interessante 
Lampen konstruiert. Dieselben werden an 
die Enden der Spule angeschlossen uiid wer¬ 
den so von dem sehr hochgespannten Strom 
durchflossen, der sich infolge der 6000 plötz¬ 
lichen Unterbrechungen pro Sekunde in der¬ 
selben Strombahn bildet. 

Bei der in Fig. 2 abgebildeten Lampe sind 
die leuchtenden Elektroden zwei gleich grosse 
Platinblechstreifen, die im rechten Winkel zu 
einander stehen. Das positive Blech bildet 
hier einen Reflektor für das Licht der nega¬ 
tiven Elektrode. Die Bleche müssen sorgfältig 
gereinigt werden, wenn man regelmässiges 
Lieh haben will. Bei dieser Lampe können 
die Elektroden beliebig vertauscht werden; 
der Primärstrom kann auch ein Wechselstrom 
sein, wodurch beide Bleche zum Leuchten 
kommen. Es wurden auch Lampen mit einem 
zu einer Spirale gekrümmten Kohlenfaden 
versucht. Um die Wärmewirkung des Lichtes 
zu erproben, wurden innerhalb der Spirale 
verschiedene Substanzen angebracht, aber 
keine derselben erfuhr eine merkliche Ver¬ 
änderung, Fig. 3. 

Im April vorigen Jahres machte Moore 
den ersten Versuch mit seinem neuen System, 

indem er die Le¬ 
sehalle des „Ame¬ 
rican Institute of 
Electrical Engi¬ 
neers“ in New- 
York beleuchtete. 
Hier dienten 27 
mit verdünnter 
Luft gefüllte Glas¬ 
röhren von je 
2,3 m Länge und 
45 mm Weite als 
Lampen. Im 
Innern jeder 
Röhre waren 
durch die ganze 
Länge hindurch 
zwei haarfeine 
; ^Aluminium- 
drähte, einander 
parallel, als Elek¬ 
troden ausge¬ 
spannt. Die Lam- 

48* 



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852 


Das neue Beleuchtungssystem von Mc. Farlan Moore. 


pen hingen wag¬ 
recht unter der 
Saaldecke und 
füllten den Raum 
mit wunderbar 
gleichförmigem, 
mildem, den 
Augen wohlthu- 
endem Licht, so 
dass man meinen 
konnte, man be¬ 
finde sich im 
Freien unter 
leicht bedecktem 
Himmel. 

Die Lampen 
können sowohl 
mit der Magnet¬ 
spule verbunden 
werden, wie dies 
in Fig. 4 dargestellt ist, als auch an die Elek¬ 
troden angeschlossen sein, wie es die punk¬ 
tierte Linie zeigt. Die Lampen leuchten auch 
gleich gut, ob sie neben- oder hintereinander 
geschaltet sind, vorausgesetzt, dass ihre nega¬ 
tiven Elektroden gleich gross sind. Ist dieses 
nicht der Fall, so leuchtet die Lampe mit der 
grösseren negativen Elektrode heller als die 
anderen. Schaltet man eine einzelne kleinere 
Lampe in einen Stromkreis von beträchtlicher 
Induktion, so ist eine bestimmte Entladung 
im Stande, die Lampe zu zerstören. Eine 
Reihe namhafter Elektriker wie Dr. Nichols, 
Angström, Anthony, Perry u. a. befassten sich 
eifrigst mit Untersuchungen über das neue 
System. Sie fanden, dass die Moore’schen 
Lampen erstens den Grundvorteil des elek¬ 
trischen Lichtes haben: sie verderben die Luft 
nicht, sind völlig feuersicher und schmiegen 
sich allen architektonischen Formen an, da 
man sie in beliebigsr Gestalt herstellen kann, 
und zweitens besitzen sie neue Vorzüge, 
weiche ihnen von allen künstlichen Licht¬ 
quellen allein zukommen: sie erzeugen keine 
Wärme und markieren sich nicht im Raum 
als hellglohende, blendende Punkte, sondern 
erstrahlen in einem sanften, über die Fläche 
des Beleuchtungskörpers gleichmässig ver¬ 
teilten, ruhigen Lichte. 

In Europa wurden diese bedeutungsvollen 
Versuche kaum den Fachmännern näher be¬ 
kannt. Desto grösseres Aufsehen erregten 
sie in den amerikanischen Fachkreisen, und 
Tesla sowohl als Edison hielten das Er¬ 
reichte für so wichtig, dass sie beide ihre 
fünf Jahre lang liegen gebliebenen Experimente 
auf diesem Gebiet voll Eifer wieder aufnahmen, 
um den Ruhm, vielleicht das „Licht der Zu¬ 
kunft" zu finden, nicht anderen überlassen zu 
müssen. Das Edison-Laboratorium trat wirk¬ 


lich bald darauf 
mit einer neuen 
Phosphorescenz- 
lampe hervor. 
Dieselbe besteht 
aus einer stark 
ausgepumpten 
Glasbirne, deren 
Wandungen 
innen mit wol¬ 
framsaurem Cal¬ 
cium überzogen 
sind und unter 
dem Einflüsse 
der Röntgen¬ 
strahlen, welche 
von einer zentra¬ 
len Antikathode 
ausgehen, in 
grünlichemLichte 
i erglänzen. Derartige Lampen haben zwar 
eine Zeit lang im Edison-Laboratorium ge¬ 
brannt, sind aber nirgends sonst verwendet 
worden. Man musste sie ja mit einem In- 
duktorium speisen, und dies ist, wie wir ge¬ 
sehen haben, ein durchaus unwirtschaftlicher 
Apparat. 

In neuerer Zeit hat Moore statt des hin- 
und hergehenden Vakuumvibrators einen ro¬ 
tierenden konstruiert, der ihm erlaubte, die 
Anzahl der Stromstösse von 6000 auf 50,000 
zu steigern. Dieser rotierende Unterbrecher 
ist mit dem Anker eines kleinen Elektromo¬ 
tors verbunden, der gleich ihm in ein luft¬ 
leeres Gefäss eingeschlossen ist, während sich 
die Feldmagnete aussen befinden. 

Ferner versuchte Moore sein Beleuchtungs¬ 
system nicht nur in geschlossenen Räumen, 
sondern auch im Freien zu verwenden. Bei 
solchen Versuchen fand er, dass man den 
Sekundenzeiger einer Taschenuhr in einer 
Entfernung von 18 — 20 m von der Lampe 
deutlich verfolgen kann. In diesem Falle war 
die obere Hälfte des Zylinders weiss gemalt, 
um als Reflektor zu dienen. Das Licht wurde 
nach unten geworfen und gleichmässig verteilt. 

Moore glaubt, dass für Strassen mit elek¬ 
trischer Oberleitung für Bahnen mit geringen 
Kosten und grosser Leichtigkeit elektrische 
Beleuchtung geschaffen werden kann, wenn 
man die Lichtröhren zwischen den Masten 
der Oberleitung anbringt, wie dies Fig. 5 
zeigt. Obgleich uns diese Abbildung nur ein 
bis jetzt unausgeführtes Projekt darstellt, liegt 
der Möglichkeit der praktischen Ausführung 
nichts im Wege, da weitere Versuche im 
Freien ergeben haben, dass Regen und andere 
Witterungseinflüsse die Funktion der Licht¬ 
röhren in keiner Weise stören. In gleicher 
Weise will Moore auch das Innere derStrassen- 



Fig. 6. 


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Wer.ner, Epik und Lyrik im vergangenen Jahre. 


853 


bahnwagen nach seinem System beleuchten, 
Figur 6. 

Wiewohl das System „Moore“ bis jetzt 
noch nirgends praktisch angewandt ist und 
erst wenig Resultate über dasselbe vorliegen, 
dürften wir doch mit grossem Interesse den 
weiteren Versuchsergebnissen entgegensehen, 
da es eine Reform unserer verbesserungs¬ 
bedürftigen Glühlampenbeleuchtung bedeutet. 

Elektrizit&t, Leipzig. 


Epik und Lyrik im vergangenen Jahre. 

Von Profc»8or Dr. RictiARU Maria Werner. 

III. Die jüngere Generation. 

Wenn man die Lyrik der letzten Jahre 
mit Aufmerksamkeit verfolgt, so wird viel¬ 
leicht eine Kleinigkeit als Unterschied von 
der früheren ins Auge fallen; während man 
ehemals keinen Gedichtband in die Hände 
nehmen konnte, in dem nicht wieder und wie¬ 
der vom Herzen die Rede war, begegnet 
uns jetzt immer ausschliesslicher — die Seele. 
Das erscheint mir nicht als Zufall; es ist ein 
unbewusstes Anlehnen der Poesie an die 
neuere Philosophie, in deren Mittelpunkt un¬ 
zweifelhaft die psychologische Forschung steht. 
Neben der Seele spielen, natürlich bei einer 
Gruppe der fortgeschrittensten Lyriker, die 
Nerven die grösste Rolle und bringen jene 
Gebilde hervor, in die sich bisher das grosse 
Publikum am allerschwersten hineinfand und 
wohl auch nicht so bald hineinfinden wird. 

Konnten die Lyriker, deren Geburtsjahr 
in die erste Hälfte dieses zu Ende gehenden 
Säkulums fällt, nach ihrer zeitlichen Aufein¬ 
anderfolge vorgeführt werden, weil ein ge¬ 
wisser Zusammenhang zwischen Alter und 
Wesen nicht zu verkennen war, so Hesse den 
jüngeren Poeten gegenüber eine solche Me¬ 
thode zum Teil im Stich. Zwar besitzen wir 
an Kürschners vortreftlich geleitetem „Lit- 
teraturkalender“ *) ein praktisches Hilfsmittel 
für die Lebenden und an Brümmers Neu¬ 
bearbeitung seines Lexikons *) eine sehr will¬ 
kommene Ergänzung, aber vielfach können 
wir uns auch mit diesen Werken nicht .Rat 
schaffen und vor allem bei den neuesten Er¬ 
scheinungen reichen die bisherigen Angaben 
noch nicht aus. Es erübrigt nur, die Dichter 

*) Deutscher Litteratur-Kalender für das Jahr 
1807, herausgegeben von Joseph Kürschner. Neun¬ 
zehnter Jahrgang. Mit 2 Porträts. Leipzig. G. J. 
Göschensche Verlagshandlung. 

•) Lexikon der deutschen Dichter und Prosaisten 
des 19. Jahrhunderts. Bearbeitet von Franz Brümmer. 
Vierte, völlig neu bearbeitete und stark vermehrte 
Ausgabe. Zwei Bände. Leipzig, Phil. Reclam jun. 
(Universal-Bibliothek Nr. 1901 —90. 3531—40.) 4 M. 
geb. 5 M. 


nach dem Grad ihrer Fortgeschrittenheit zur 
modernsten Art zu betrachten. 

Ein Vertreter der älteren Weise, bei dem 
auch das Herz noch begegnet, ist August 
Sturm, der seinem Vater Julius®) zum 80. 
Geburtstag einen Band „Neue Lieder'* *) wid¬ 
men wollte; nun kamen sie mit einem pietät¬ 
vollen Vorwort als eine Art Totenfeier für 
den Dahingeschiedenen. Dem Andenken an 
den Vater wird ein Anhang „In memoriam“ 
geweiht, wenn der Sohn auch andere Wege 
in seiner Dichtung wandelt als der Vater. 
August Sturm ist nicht so geistlich gesinnt 
als Julius, Manches bei ihm erscheint mo¬ 
derner, aber man wird ihn doch zu den 
Geiblianern zählen müssen. Man empfängt 
den Eindruck einer durchaus anständigen, 
aber keiner bedeutenden Persönlichkeit. Be¬ 
sonders gemütvoll ist Sturm in der Familien¬ 
lyrik, durchaus sympathisch, nur etwas trocken. 
Leidenschaft scheint zu mangeln und den 
Strom, den man nach den Worten hätte er¬ 
warten können, wird man vergebens suchen. 
August Sturm knüpft gern an bekannte Lie¬ 
der, Volks- wie Kunstlieder, an, hat etwas 
vom alten Bruder Studio, der mit Vorliebe 
in den Gesängen der Jugend schwelgt; voll¬ 
tönend spricht er das Wort „deutsch“ aus 
und kann so recht ein ehrlicher guter Kerl 
heissen. Manches gelingt ihm vortreftlich, 
volkstümlich, besonders im Stile des Volks¬ 
lieds, so z. B. „Verlassen. (Im Volkston)*, 
aber auch Lieder wie das „Liebeslied“ (S. 79), 
„Mein Loos“ (S. 627). Eine witzige Satire 
bietet die Teufelsszene „Gesegnete Mahlzeit“ 
(S. 54). Die Natur in der melancholischen 
Stimmung wird geschickt verwertet (S. 29 
„Herbst“). Hervorheben aber möchte ich ein 
Gedicht „Das neue Metrum“ (S. 30), weil es 
geistreich und geschmackvoll ein Motiv aus 
dem gewöhnlichen Leben schöpft, um es zu 
symbolischer Bedeutung zu erheben: 

Ich schwärme und dichte, und vor dem Haus, 
Klopft Einer ein neues Metrum heraus, 

Ein Steinklopfer mit seinen Gesellen, 

Ei wie die Schläge aufs Pflaster hinschnellen, 
Schaut finster, als ging es zum jüngsten Gerichte, 
Sinnst du für die nahe Zukunft Gedichte? 

Ist dir mit dem Hammer, den schwer du ge¬ 
schwungen, 

Vielleicht schon die erste der Strophen gelungen? 

Der Ausdruck bei Sturm ist schlicht, kurz, 
vermeidet Künstlichkeiten, schliesst sich aber 
an die Tradition an. 

Ihm etwas verwandt erscheint Eugen 


*) Vgl. den Bericht in Nr. 43 der .Umschau“. 
S. 770. Anm. 5. 

*) Neue Lieder von August Sturm. Der neueren 
Dichtungen zehnter Band. Hamburg, Verlagsanstalt 
und Druckerei Aktien - Gesellschaft (vormals J. F, 
Richter.) 4 M;! 


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854 


Werner, Epik und Lyrik im vergangenen Jahre. 


Reichel, dessen „Gedichte“*) in dritter 
Auflage herauskamen. Beiden gemeinsam ist 
der Zug nach dem Volkstümlichen und Lied- 
mässigen, die Kürze und Einfachheit der 
Sprache, der Sinn für die kleinen Freuden 
einer stillen Existenz. Aber ein Unterschied 
fällt doch auf, wenn man beide Dichter direkt 
vergleicht, und das kann man, denn bei Bei* 
den findet sich ein Preis Jenas. Sturm (S. 84 ff.) 
spricht das aus, was ihn erfüllt, Erinnerung, 
Gefühl, Freude, Glück, Melancholie, also das 
Echo, das in seinem Inneren Jena wachruft; 
Reichel dagegen (S. 15) spricht aus, was ihm 
das Gefühl erregt, was er schaut und erlebt, 
daran schliesst er die Vorgänge seines Inneren. 
Das erscheint als ein moderner Zug, und 
Reichel selbst hat darin seine „Tendenz“ er¬ 
kannt, wie aus folgendem Distichon (S. 121) 
hervorgeht: , 

Welche Tendenz mich leitet? Nur eine; Ge¬ 
schautes mit Anteil 

So zu gestalten, dass mir wenig zu wünschen 
verbleibt. 

Ist so bei Reichel ein Charakteristikum 
der neueren Zeit zu bemerken, wie denn bei 
ihm neben dem Herzen auch schon die Seele 
begegnet, lehnt er sich doch gleich Sturm 
wiederholt an frühere Muster (so Eichendorff) 
an, vor allem an Goethe, dessen Weise nicht 
nur in den „Distichen aus Triest“ (S. 140 ff. 
nach den „ Venetianischen Epigrammen“) durch¬ 
schimmert, auch in der Ballade „Frau Berchta“ 
(bes. S. 85 Nr. 3) und in einzelnen Liedern. 
Er liebt antike Masse, vor allem den elegischen 
Ton, versteht es aber auch, schalkhaft und 
naiv die einfachsten Formen zu beherrschen. 
Für die idyllische Existenz, für das Leben in 
bescheidener Zurückgezogenheit findet er lieb¬ 
liche Worte (S. 113 ff.), zeigt sich aber männ¬ 
lich stolz gerade in seiner Bescheidenheit. 
Besonders hervorzuheben sind seine drei 
„Mädchenlieder“ (S. 22 f.), von denen mir das 
letzte als das beste erscheint. Als Probe mag 
aber eines jener Liedchen ausgewählt werden, 
die Reichels „Frohnatur“ zeigen, „Im Lenz 
der Liebe“ (S. 19). 

Gucken auf Nachbars Haus 
Vöglein zum Nest heraus, 

Treiben es gar verliebt, 

Grad wie sichs giebt. 

Unten am Fensterlein 
Schaut sie versonnen drein — 
Schätzchen, du siehst mich nicht, 
Rosengesicht. 

Käm’ ich zu Mitternacht, 

Würde mir aufgemacht? 

Würde geherzt, geküsst? — 

Wenn ich es wüsst! 


Gedichte von Eugen Reichel. Dritte verbes¬ 
serte und reich vermehrte Auflage. Leipzig, G. J. 
Göschensche Verlagshandlung. 3 M. 


Man sieht, das ist altvertraute Weise, das 
ist gewohnter lyrischer Ausdruck. Sie ent¬ 
sprechen wohl nicht ganz der modernen Art, 
haben aber alle Aussicht, wieder modern zu 
werden. Wir finden jenes AnknOpfen an die 
Tradition, von der bereits im ersten Aufsatze 
die Rede war *), den Versuch, aus dem Auf¬ 
schwung der Lyrik zu Anfang des Jahrhun¬ 
derts noch einmal Gewinn zu ziehen. Bei 
Reichel erscheint dies als innere Nötigung, 
als Folge geistiger Verwandtschaft, also un¬ 
bewusst, während sich Wi 1 heim Sehriefer^) 
ganz unselbständig an die Tradition anlehnt, 
und zum Nachahmer wird. Das Unternehmen, 
die ganze Geschichte Österreichs in „Ro¬ 
manzen“ zu begleiten, kann nur einer zwar 
durchaus patriotischen, aber keineswegs aus¬ 
schliesslich poetischen Idee seine Entstehung 
danken. Wir fühlen uns in jene Zeiten ver¬ 
setzt, da besonders Österreich zahllose Bal¬ 
laden- und Romanzendichter hervorbrachte. 
Manchmal trifft Schriefer den Romanzenton 
sehr glücklich, häufig aber weckt er nur stoff¬ 
liches Interesse und lässt Sorgfalt in der 
Form vermissen. Den Reim zumal behandelt 
er mit allzugrossem Leichtsinn und ergeht 
sich in einer nicht erfreulichen bequemen 
Breite. Der vorliegende Romanzenband ist 
ein Beweis vortrefllicher Gesinnung, ehren¬ 
werter Begeisterung, aber poetisch vermag er 
einen tieferen Eindruck nicht hervorizubringen. 

Dass man von der Vergangenheit lernen 
kann, ohne sich deshalb an seine Vorgänger 
zu verlieren, zeigt einer unserer jüngeren 
Lyriker, der trotz seiner Jugend die Aufmerk¬ 
samkeit ganz besonders auf sich gezogen hat, 
Carl Busse. Er errang mit der ersten Samm¬ 
lung seiner „Gedichte“ einen nicht gewöhn¬ 
lichen Erfolg, so dass man seiner Entwickel¬ 
ung gespannt entgegensah. Im vergangenen 
Jahre Hess er „Neue Gedichte“ *) erscheinen, 
die nicht nur nicht enttäuscht haben, sondern 
seine Lyrik in weiterer Entfaltung darstellen. 
Er beherrscht das Lied mit voller Gewalt, 
er singt, er strebt nach harmonischer Voll¬ 
endung. Ganz einfache Themen behandelt er, 
Liebe, Natur, Leben, ohne seine Stirn in 
krause Falten zu legen und seinem Wesen 
einen gesuchten Tiefsinn anzukränkeln. Sein 
heiteres Naturell bricht gerne durch, er freut 
sich dieser Welt, auf der man trotz alledem 
und alledem glücklich werden kann. Er ist 
jung und will nicht alterscheinen; er macht 
kein Hehl daraus, dass er gern küsst und 


•) Vgl. „Umschau“ Nr. 38 S. 678. 

Oesterreichische Romanzen. Von Wilhelm 
Schriefer. Wien, Verlag von Carl Konegen. 2 M. 

*) Neue Gedichte von Carl Busse. Stuttgart, 
Verlag der J. G. Cottaschen Buchandlung Nachfolger. 
3 Mark. 


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Werner, Epik und Lyrik im vergangenen Jahre. 


855 


den Mädeln nachschaut, aber er nimmt nicht 
die Miene des Don Juans an und ist zu ge¬ 
sund, um iQstern zu thun. Die Mittel seiner 
Poesie ergeben sich ihm ungesucht, weil es 
die natürlichsten sind; darum könnte Busse 
vielleicht als ein Nachahmer erscheinen, denn 
seinen Mitteln begegnen wir auch bei seinen 
besten Meistern. Was ihn aber auszeichnet, 
und was sich nicht erlernen lässt, das ist 
das feste Stehen auf dem Boden der Wirk¬ 
lichkeit. Damit ist vollste Anschaulichkeit, 
Klarheit verbunden, damit stellt sich innere 
Notwendigkeit .und stramme Abrundung ein. 
Nicht umsonst hat Busse in der Einleitung 
zu seiner Anthologie *) der Lyrik Theodor 
Storms so grosse Bedeutung beigemessen. 
Die „Neuen Gedichte“ enthalten auch ver¬ 
schiedenes Epische, darunter das idyllische 
Lebensbild „Weihnachtsträume“ (S. 93 bis 
102), verwerten überhaupt zu lyrischen Zwecken 
epische Elemente, was bei Busses Art selbst¬ 
verständlich ist. 

Nicht so stark, wie in der ersten Samm¬ 
lung, klingt das polnische Moment wieder, 
obwohl die Landschaft von Busses posenischer 
Heimat den Hintergrund mancher Lieder bil¬ 
det. Aus dem vielen Charakteristischen sei 
wenigstens „Ich und du . . .“ (S. ii) als ein 
Kabinetstückchen von Busses Art herausge- 
griffen: 

Rebhahnruf und Glockenlaut, , 

Ich und du im Haidekraut. 

Wandernde Marienseide 

Macht den Kuppler für uns beide. 

Weisse Fäden uns umschlingen, 

Glocken läuten, Glocken klingen, 

Immer leiser, immer linder, 

Ich und du — zwei Sonntagskinder. 

Dass bei Busse das Herz spricht, und die 
Seele nur dort erscheint, wo sie notwendig 
ist, mag noch erwähnt sein. 

An Busse ftlhlt man sich durch die Ge¬ 
dichte von Karl Klings gemahnt. Er 
hat Humor, ist schalkhaft und stellt unge¬ 
suchte Motive oft mit überraschender Kürze 
scharf und klar hin, nur ab und zu breiter 
ausgedehnt. Auch er kleidet manches Lyrische 
episch ein, erscheint gesund und lebensfrisch, 
ohne grossartige Weltauffassung. Keine Ge¬ 
dankenlyrik, kein Pessimismus, dafür mitunter 
eine köstliche Landschaftsschilderung (so 
S. 12 ff „Stelldichein“) oder ein allerliebstes 
Familienbild (S. 35 f „Willkommen“). Klings 
drückt sich selbständig aus und lässt weiter 


®) Neuere deutsche Lyrik. Ausgewählt und her¬ 
ausgegeben mit einer litterar-historischen Einleitung 
von Carl Busse. Halle a. d. S., Otto Hendel. 

10) Bunte Reihe. Gedichte von Karl Klings. 
Dresden und Leipzig. E. Pierson’s Verlag. M. 1,50. 


Vortreffliches erhoffen, besonders wenn er 
noch strenger Kritik an sich übt. Man wird 
den Dichter im Auge behalten müssen. 

Auch Ludwig Jaco'bowski muss in 
diesem Zusammenhänge genannt werden, ob¬ 
wohl er nicht ganz hierher gehört.' Aus dem 
Gedichtbande, der im vergangenen Jahre den 
beiden früheren Sammlungen folgte, “) geht 
hervor, dass der Dichter auf doppeltem Wege 
seinem Ziele zustrebt, als reiner Lyriker und 
als Gedankendichter, dass er aber in beiden 
Richtungen denselben Charakter behält. Ihn 
zeichnet klare Anschauung aus, auch dort, 
wo er phantastisch-allegorische Einkleidungen 
seiner Welt- und Menschenerkenntnis giebt 
wie in der „Geburt der Sphinx“ und der 
„Sphinx-Phantasie" (S. 174—184). Er steht 
gleich den übrigen besprochenen Lyrikern auf 
dem Boden der Wirklichkeit, nur hat er ein 
schwereres Naturell, ist melancholischer und 
spricht von härteren Kämpfen, die er durch¬ 
machen musste. Auch er dichtet sangliche 
Lieder, auch ihn bewegt die Liebe und die 
Natur, auch er weiss vom gestorbenen Lieb 
zu erzählen. Aber er hat den Schmerz nicht 
überwinden können, er zittert immer wieder 
in ihm nach und führt ihn auf das Rätsel des 
Menschenlebens und auf das Thema vom Tod. 
Jacobowski ist älter als Busse, dem er seine 
neue Sammlung gewidmet hat, vielleicht aber 
weniger leichtlebig als dieser, mit einem Zwie¬ 
spalt im Innern ~ bei ihm ist Herr eben so 
selten wie Seele — mit einer heimlichen Wunde, 
die sich wohl aus Liedern wie „Der Ketzer“ 
(S. 12) entnehmen lässt. Unter den Menschen, 
denen sich des Lebens Freude aufthut, wan¬ 
delt der Tod („Im Kurgarten* S. 87), er sitzt 
auf der Mondsichel und lässt Seifenblasen aus 
seiner knöchernen Pfeife auf die Erde herab¬ 
wallen, das Leben der Menschen (S. 183). 
Ein Blatt im Walde ist der Mensch (S. 47), 
vergänglich Alles an ihm (S. 141): 

Ich weiss, wenn all mein Thun 
Zu Ende geht, 

Dass meines Namens Spur 
Wie Rauch verweht. 

Dass meiner Lieder Duft 
Wie Hauch vergeht, 

Und kamen doch von Herzen 
Wie ein Gebet. . . . 

Jacobowski bevorzugt in dem neuen Bande 
das Traurige, obwohl ihm auch manches Glück 
widerfuhr, von dem er singen kann, ja in 
einzelnen idyllischen Szenen entfaltet er den 
ganzen Reichtum seiner Lyrik, besonders in 
der Abteilung „Silhounetten“. Da begegnen 
uns liebliche anmutige Szenen, holde Bilder, 
mit einem tiefen Goldton der Farbengebung. 


*•) Aus Tag und Traum. Neue Gedichte von 
Ludwig Jacobowski. Berlin S., Calvary & Co, 


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856 


Werner, Epik und Lyrik im vergangenen Jahre. 


Auch er vermag auf engem Raum, mit wenigen 
Strichen ein kleines Ganze vor uns hinzu- 
stellen z. B. „Schicksal" (S. 132): 

Wir wandelten still durch die sonnige Haide 

In tiefem Sinnen zum Städtchen zurück. 

Altweibersommer wehte wie Seide 

Der blitzende Fäden ins blonde Genick. 

Ein Kätzlein huschte grad zwischen uns beide .. 

Wem isfs zu Leide? 

Wem bringt es Glück? — 

Am bedeutsamsten zeigt sich diese Kunst 
des Dichters in dem kleinen Cyklus „A la 
Pompadour“ (S. 164 flF), wo in drei kurzen 
Gedichtchen ein welthistorisches Ereignis 
lyrisch, symbolisch mit überraschender Ein¬ 
fachheit bewältigt ist. Jacobowski bewies 
durch die neue Sammlung, dass er unermüd¬ 
lich fortschreite. 

Wie Jacobowski sinnt auch Gustav 
Renner dem Rätsel des Daseins nach; die 
grosse mächtige Welt, die unbarmherzig 
schreitende Zeit gegenüber dem kleinen Men¬ 
schenleben drückt ihn nieder. Aber sein 
Pessimismus ist aktiv, ein Resultat harter 
Lebenskämpfe. Renner ist durch die Schule 
der Not gegangen, er konnte sich seine Bil¬ 
dung nur unter den grössten Schwierigkeiten 
erwerben, „in karger, nächt’ger Stunden Zahl“ 
(S. 45). Dabei ist er ein Mann geworden und 
steht fest in seinen Schuhen. Mit berech¬ 
tigtem Stolze bittet er in einer kurzen ker¬ 
nigen Vorrede, man möge seine „Gedichte" **) 
nur am künstlerischen Massstabe messen, und 
das vertragen sie vollauf. Der einfache Arbeiter 
ist ein echter Dichter, der etwas zu sagen hat 
und es in der wirksamsten Form zu sagen 
versteht. Man fühlt sich mitunter an Robert 
Burns gemahnt z. B. in den Liedern „Vorüber" 
und „Stelldichein" (S. 87), man hört auch 
Goethische Töne heraus (so S. 86 „Kein 
Grab"), und Renner schildert (S 27) ergreifend, 
wie Goethes „Faust" auf ihn wirkte; ich wurde 
durch dieses Gedicht an Hebbels Geständ¬ 
nisse über seine erste Lektüre des Faust 
erinnert. Mitunter kam es mir vor, als zeige 
Renner Verwandtschaft mit Heinrich Leut¬ 
hold, jedesfalls eher als mit Theodor Storm, 
wie gelegentlich behauptet wurde. Renner 
bildet Sonette, Stanzen, er entfaltet zumal in 
den Gedichten „Aus Zeit und Streit" eine 
mächtig packende Rhetorik und vollen pathe¬ 
tischen Ton; manche Bilder fallen durch ihre 
Kühnheit auf, sind aber durchaus geschaut. 
Dabei auch ganz Einfaches gleich dem schlich¬ 
ten Liebesgedichtchen „ErfülKing" (S. 7): 

Wie selig nun die Tage fliehn, 

Wie still die Nacht, wie still die Nacht, 


**) Gustav Renner. Gedichte. Leipzig und Zürich. 
Verlag von Th. Schröter. 2 M. Rasch| aufeinan¬ 
der sind drei Auflagen erschienen. 


Und übers Herz die Träume zieh’n 
In lichter Märchenpracht. 

Ich weiss nichts mehr von Welt und Zeit, 

Nur dass ich dein, nur das ich dein, 

Doch Tag und Nacht und Ewigkeit 
Schiesst dieses Wörtchen ein. 

Sanglich ist gleichfalls vieles, dabei echt 
volkstümlich; man hört in dem Liede „Vor¬ 
bei" (S 24) die innere Musik: 

Über die Stoppeln her weht der Wind — 
Mädchen, was säumst du nur, 

Mädchen, was träumst du nur, 

Träumst du nur, liebliches Kind? 

Längst schon der Frühling von dannen ging — 
Mädchen, was spinnst du nur, 

Mädchen, was sinnst du nur — 

Des der dich liebend umfing? 

Weisse Fäden an Stauch und an Baum — 
Mädchen, was meinst du nur, 

Mädchen, was weinst du nur, 

War es ein flüchtiger Traum? 

Einem Motiv, wie dem Kindesmord ge¬ 
wann Renner in der „Ballade“ (S 12 f) neue 
Wirkung ab, und was zu den grössten Selten¬ 
heiten in Deutschland gehört, dem Dichter 
gelangen Hymnen, wie z. B. (S. 84 f) „Phan¬ 
tasie" darthut. Aus dem Leben schöpft Renner 
jene trotzigen Absagen nach oben und nach 
unten, die ihm eine bedeutsame Stellung ver¬ 
leihen ; er verachtet den Lumpen im Frack 
wie in zerrissener Jacke (S. 71) und wahrt 
sich seine Freiheit. Der Dichter ist noch 
keine ausgeglichene Natur, manches missglückt 
ihm noch; die Bruchstücke eines Dramas 
(S. 47 — 59) sind lyrische Monologe, aber 
ganz undramatisch; er ringt noch, aber er 
wird sich zur Klarheit durchringen und aus 
dem Erfolge seiner ersten Sammlung hoffent¬ 
lich Mut zu weiterer Entfaltung gewinnen. 

Die Gedichte eines anderen Arbeiters, 
L. Palm es‘®), blieben mir unbekannt eben¬ 
so die Sammlung von Martin Stein. “) 
Alle Dichter, die wir bisher betrachteten, 
halten die Stimmung fest, indem sie die reale 
Grundlage ihres inneren Erlebens gestalten. 
Sie sprechen von den Dingen, aber so, dass 
darin mitklingt, was in ihnen mitklang. Sie 
geben scheinbar nur das Nächstliegende, trotz¬ 
dem geht davon ein Zauber aus, in dem eben 
die Kunst des Lyrikers besteht. Nur Sturm 
und Reichel haben bereits die Vierzig über¬ 
schritten, jener ist 1852, dieser 1853 geboren, 
die andern, Schriefer (1865), Renner (1866), 
Klings (1867), Jacobowski (1868), Busse 
(1872) sind viel jünger. 

Wenn ich ihnen hier den Nestor unserer 


**) Erlebtes und Erträumtes. Stuttgart, Deutsche 
Verlagsanstalt. 

'*) Im Frühlingssturm. Soziale Zeitgedichte. Leip¬ 
zig, Reinh. Wertlier. 3 M. 


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Ambronn, Die Astronomie im vergangenen Jahre, 


.857 


Dichter, den im Jahre (1819) geborenen 
Adolph Pichler anreihe, so muss das nicht 
auffallen, denn wie er selbst scherzt: 

.Dichterherzen und die Engel 
Werden niemals alt- 

Auch er zählt zu jenen Poeten, die in 
ihrer Lyrik nicht die Stimmung an sich, son¬ 
dern das stimmungsvoll Geschaute geben, aber 
nur Stumpfsinn wird die Stimmung verkennen. 
Pichler hat sich seinen Jahren zum Trotz ein 
heisses Herz bewahrt; er kann lieben und 
hassen mit einer Glut, die einem Jungen Ehre 
machte. Das beweisen seine „Spätfrüchte*, 
die zwar schon 1895 erschienen, aber nach 
Buchhändlergepflogenheit das Jahr 1896 auf 
dem Titel trägen. Pichler hat viel erlebt und 
reiches Wissen erworben, er hat sich weit 
umgethan und unermüdlich an sich gearbeitet; 
gleich geblieben ist nur seine kräftige Natur, 
die aus allem einen Schatz an Weisheit holt. 
Dafür zeugen nicht blos die köstlichen Sprüche 
des Bandes, auch viele der kleinen Gedlcht- 
chen, die im „Vorwinter“ vereinigt sind, vor 
allem aber die „Arabesken", unter welcher 
Überschrift sich eine Fülle trefflicher Fabeln 
in Versen birgt. Pichler hat einen kernigen, 
mitunter herben Humor, der aber unter rauher 
Schale ein weiches Herz versteckt, wie dies 
aus den „Totentänzen" und aus der Idylle 
„Der Jörgei von Lahnsteig" zu entnehmen 
ist. „Ahasver" (S. 46 fF) ist wohl das Be¬ 
deutendste in dem vorliegenden Bändchen. 
Pichlers Art geht aus jedem Verse hervor, 
als Probe möchte am besten „Der Dorn" 
(S. 75) dienen: 

Mich zu necken, bargst du dich 
Hinterm Rosenstocke, 

Doch zur Rache schnell bereit, 

Fasst er deine Locke. 

Nicht verargen kannst du’s ihm, 

Dass er dich gefangen, 

Denn er sah am Zweig, noch nie 
Solch ein Röslein prangen. 


Die Astronomie im vergangenen Jahre. 

Vou Dr. L. Ahbronn. 

III. Kometen, M eteo rite n und F ix*sterne. 

Kometen wurden im vergangenen Jahre 
im Ganzen 6 neue entdeckt. Ausserdem 
wurde der Brook'sche Komet von 1889 wieder 
aufgefunden. Die neuen Kometen waren meist 
recht lichtschwach, also nur mit grösseren 
Fernrohren gut zu beobachten und durch 

'*) SpätfrOchte. Gedichte verschiedener Art von 
Adolf Pichler. Leipzig, Verlag von Georg Heinrich 
Meyer. M. 3.— 


ihre meist sehr südliche Stellung den Astro¬ 
nomen der Sternwarten auf der nördlichen 
Halbkugel nur unter ungünstigen Verhält¬ 
nissen sichtbar. 

1) Der erste Komet wurde am 14. Febr. 
auf der Licksternwarte von Perrinne in¬ 
folge einer verstümmelten Depesche aus Kiel 
entdeckt, welche den Ort des dort bereits 
wiederbeobachteten Perrinne’schen Kometen 
von 1885 falsch meldete. Am folgenden 
Morgen wurde der neue Komet völlig unab¬ 
hängig von Lamp in Kiel entdeckt. Am 
16. Februar standen der neue und der alte 
Komet nur 2 Grad auseinander. 

Josef und Jean Fric in Prag photo¬ 
graphierten den neuen Kometen, der auf der 
besten Aufnahme einen Schweif von 2^ Grad 
mit einer dunkeln, auf den Kern zugerichteten 
Linie zeigt. 

2) Am 13. April wurde ein sehr schwacher 
und wegen seiner ungünstigen Position schwer 
zu beobachtender Komet von Swift (Echo 
Mountain) entdeckt, desssen Bahn durch eine 
Parabel wohl dargestellt wird. 

3) Am 20. Juni fand Javelle in Nizza den 
Brookschen Kometen von 1889 wieder auf, die 
Übereinstimmung zwischen der von Bau¬ 
sch inger gerechneten und der wirklich be¬ 
schriebenen Bahn war eine ausgezeichnete, da 
der Komet nur Vß Tag später durch sein Perihel 
ging als vorausberechnet war. Diese gute Über¬ 
einstimmung spricht sehr gegen die Vermutung 
einer Identität zwischen dem Brookschen 
Kometen und dem von Lexell, da der Komet 
seit 1889 unter Annahme dieser Identität sehr 
nahe am Saturn vorbeigegangen sein und also 
eine starke Ablenkung aus seiner Bahn er¬ 
litten haben müsste. Es zeigt sich jetzt viel¬ 
mehr, dass der Brooksche Komet 1791 sehr 
nahe an Jupiter vorübergegangen ist, ein Um¬ 
stand, der deutlich gegen jene Identität spricht. 
Übrigens wird die Frage noch komplizierter 
dadurch, dass der Brooksche Komet von 1889 
von mehreren nebelartigen Begleitern umgeben 
war, welche jetzt trotz eifrigen Suchens nicht 
aufgefunden sind; jedoch kann dies seinen 
Grund in der Lichtschwäche der vorjährigen 
Kometenerscheinung haben. 

4) Am 31. Aug. wurde von Sperra in Ohio, 
und infolge mannigfacher zufälliger Verzöger¬ 
ungen in der Mitteilung von Brooks in Geneva 
zum zweiten Male ein Komet entdeckt. Der¬ 
selbe ist ausgezeichnet durch seine zur 
Ekliptik fast senkrecht stehende parabolische 
Bahn. 

5) Noch während der ersten Mitteilungen 
über den vorigen Kometen, entdeckte Giacobini 
in Nizza am 4. Sept. einen bald recht schwach 
werdenden und sich stark südlich bewegen¬ 
den Kometen, der durch seine elliptische Bahn 


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858 


Ambronn, Die Astronomie im vergangenen Jahre. 


mit einer Umlaufszeit von nur 7 Jahren interes¬ 
sant ist 

6) Am 2. Nov. wurde abermals von Per¬ 
rinne ein leidlich heller Komet entdeckt, der 
aber erst im Februar 1897 in die Sonnen¬ 
nähe kam. 

7) Komet vom 8. Dez. Entdecker Perrinne. 
Elliptische Bahn, deren Elemente Ähnlichkeit 
haben mit dem durch seine Teilung berühmt 
gewordenen Bielaschen Kometen. 

Von den im Vorjahre publizierten defini¬ 
tiven Bahnbestimmungen älterer Kometen sei 
die von Kohlschotter berechnete Bahn des 
Kometen Holmes 1892 III herausgegriffen, ‘) 
welche eine Umlaufszeit von 2520 Tagen er¬ 
geben hat. 

Obwohl wir durch die Spektralanalyse 
wissen, dass die chemischen Bestandteile der 
Kometen im wesentlichen Kohlenstoffe sind, 
und obwohl wir die Dichtigkeit der Masse dieser 
merkwürdigen Besucher unseres Planeten¬ 
systems als sehr gering erkannt haben, ist 
für ihre seltsame Gestalt bisher eine durchaus 
befriedigende Erklärung nicht gefunden wor¬ 
den. Zöllner und Andere sprachen die Mei¬ 
nung aus, dass man es hier mit einer elek¬ 
trischen Fernwirkung der Sonne zu thun habe, 
und diese Ansicht liegt nahe, weil der Schweif 
der Kometen in den weitaus meisten Fällen 
von der Sonne fortgerichtet ist. Fessenden*) 
hat im vorigen Jahre diese elektrische Er¬ 
klärungsweise in etwas veränderter Form 
wieder aufgenommen. Er stützt sich auf die 
Beobachtung von J. J. Thomson, dass Koh¬ 
lenstoff und Wasserstoff je nach ihrer elek¬ 
trischen — positiven oder negativen — Ladung 
ein verschiedenartiges Spektrum geben. Ferner 
beruft er sich auf die Beobachtungen Hall¬ 
wachs u. A., zufolge deren auf einem nicht 
polarisiert geladenen Körper, wenn er ultravio¬ 
lettem Licht ausgesetzt wird, eine Trennung der 
positiven und negativen Elektrizität eintritt. 
Fessenden folgert aus Thomsons Beobach¬ 
tung, dass die Chromosphäre der Sonne negativ 
geladen sei, und erklärt, da die Sonnenstrahlen 
den Kometen ja ultraviolettes Licht zuführen, 
die abgestossenen Schweifteiiehen ebenfalls 
für negativ, den Kern aber als positiv geladen. 
Unter diesen Voraussetzungen kommt er zu 
dem Schluss, dass die Form des Schweifes 
in der Weise zu erklären sei, dass man sich 
jedes Partikelchen als unter der Wirkung von 
4 Kräften stehend denken müsse, nämlich: 
i) der Anziehungskraft der Sonne, 2) der ab- 
stossenden Kraft der negativen Ladung der 
Chromosphäre, 3) der anziehenden Kraft 
der positiv geladenen Teilchen des Kernes, 

‘) Astr. Nachr. No. 3375. 

») Astroph. Joum. 1896, III. 


4) der abstossenden Kraft der gleich gela¬ 
denen Schweifpartikelchen gegeneinander. Da¬ 
zu wären auch die Resultate Goidschmid’s 
bezüglich der Wirkung der Kathodenstrahlen 
auf die kosmischen Vorgänge des Näheren zu 
vergleichen. Der von Fessenden berechnete 
Wert für das elektrische Potential der Sonne, 
welches den Beobachtungen an Kometen¬ 
schweifen entsprechen würde, hält sich dabei 
in möglichen Grenzen — 15000 Volt. Wie¬ 
wohl diese Erklärung auf den ersten Blick 
ganz plausibel klingt, so bieten doch noch 
manche wirklich gemachte Beobachtungen er¬ 
hebliche Schwierigkeiten für diese Theorie, 
worauf hier jedoch nicht wohl näher einge¬ 
gangen werden kann. 

Rein theoretisch hat Callandrean ®) auf 
Tisserand’s Ansichten weiter bauend im 
vorigen Jahre gezeigt, dass die Teilung von 
Kometen sowohl von der Dichtigkeit ihrer 
Masse, als auch von der Gestalt ihrer Bahn¬ 
kurve abhängt. Nach ihm wird eine Teilung 
bei einer elliptischen Bahn leichter eintreten 
können, als bei einer kreisförmigen. 

Über die Meteoriten des vorigen Jahres 
ist nicht sonderlich viel zu sagen. Diejanuar- 
und April-Meteore waren wegen Mondscheins 
und Ungunst der Witterung schlecht zu be¬ 
obachten, besser schon die Perseiden des 
August und die Leoniden des November. 
Von letzteren ist zu bemerken, dass man im 
Vorjahre einen besonders reichen Niederfall 
erwartet hatte; diese Erwartung wurde je¬ 
doch durchaus getäuscht. Die Dezember¬ 
meteore traten am ii. Dezember in grösserer 
Anzahl auf. — Vom 10. Februar 18^6 wurde 
aus Madrid das Niederfallen eines grossen 
Feuerballes bei hellem Sonnenschein und 
blauem Himmel gemeldet, dem 10 Sekunden 
später eine starke zwei Minuten dauernde 
Detonation folgte. Einige Stückchen dieses 
Meteors fielen in der Vorstadt Madrids nie¬ 
der, welche Mirat^) einer chemischen Ana¬ 
lyse unterworfen hat. Das Phänomen war auf 
einem beträchtlichen Teil der Halbinsel 
sichtbar. 

Fixsterne. 

Im grossen Weltall nimmt aber unser 
gesamtes Sonnensystem nur einen sehr klei¬ 
nen Raum ein, sodass wir nicht einmal wissen, 
in welchen Wechselbeziehungen dasselbe zu 
dem grossen Heer der Gestirne steht. Eine 
wichtige Frage ist in dieser Hinsicht die¬ 
jenige nach der Bewegung unserer Sonne 
im Weltenraum nach Grösse und Richtung. 

Die einzige Methode, diese Bewegung zu 

*) Bull. astr. 185^ p. 465. 

*) Santiago Bouilla. 1896 pag. 1352. Bull. Astr. 
1896 pag. 406. 


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Ambronn, Die Astronomie im vergangenen Jahre. 


859 


ermitteln, ist bis in die jüngste Zeit die gewesen, 
dass man untersuchte, ob die Fixsterne gewisse 
scheinbare Ortsveränderungen erleiden; denn 
die Sterne, auf welche sich unser Sonnen¬ 
system zubewegt, müssen scheinbar ausein¬ 
andergehen, wahrend die Sterne, welche wir 
hinter uns lassen, immer näher aneinander 
zu rücken scheinen. Da nun bei den unge¬ 
heuren Entfernungen zwischen uns und den 
Fixsternen diese parallaktischen Verschiebun¬ 
gen sehr klein sind, so gehören grosse Zeiträume 
dazu, um dftselben unserer Wahrnehmung zu¬ 
gänglich zu machen. Andererseits erhellt hier¬ 
aus, dass eine möglichst grosse Verfeinerung in 
det; Ortsbestimmung der Fixsterne die wesent¬ 
lichste Grundlage für die Erkennung unserer 
Bewegung im Weltall ist, und dass man nur 
aus einer sehr grossen Zahl von Fixsternen, 
die dazu noch möglichst gleichmassig um 
uns verteilt sein müssen, dergleichen Resultate 
herleiten kann. Die Verfeinerung unserer In¬ 
strumente und damit die Steigerung der Be¬ 
obachtungsgenauigkeit ist aber erst eine Er¬ 
rungenschaft der letzten 100 Jahre, sodass 
der Zeitraum, welcher bisher zur Bestimmung 
des Punktes, auf den wir uns zubewegen, 
des „Sonnenapex* in Frage kam, noch ver¬ 
hältnismassig sehr klein ist. Die bisherigen 
Bestimmungen für die Lage des Sonnenapex 
am Himmel gehen daher noch recht aus- 
einander^ da die getroffene Auswahl der be¬ 
nutzten Fixsterne sowie die Methoden der 
Ableitung noch einen zu grossen Einfluss auf 
das Resultat haben. 

So kommt es, dass die im vergangenen 
Jahre publizierten Arbeiten von Anding,^) 
Kobold*) und Stumpe*) noch zu ziemlich 
unter sich abweichenden Resultaten führen. 
Um die nötigen Grundlagen für diese Forsch¬ 
ungen zu gewinnen, hat sich in der Mitte der 
sechziger Jahre die „Astronomische Gesell¬ 
schaft* gebildet, und als eine ihrer Hauptauf¬ 
gaben sich die Schaffung eines Sternverzeich¬ 
nisses gestellt, welches die genauen Orte 
aller Sterne bis mindestens ^r neunten Grösse 
zwischen dem 80.® nördl. und dem 23.® südl. 
Deklination enthalten soll. Dieses ist ein 
Unternehmen, an dem fast 20 Sternwarten 
seit 30 Jahren arbeiten, und welches jetzt seiner 
Vollendung entgegengeht, da das Verzeichnis 
für die nördliche Hemisphäre fast fertig vor¬ 
liegt. Aber seit einem Jahrzehnt ist man noch 
weiter gegangen. Nachdem in den Boer Jah¬ 
ren die grosse Genauigkeit photographischer 
Himmelsaufnahraen in ihrem ganzen Umfang 


*) Beziehungen zwischen den Methoden von 
Bessel und Argelander zur Bestimmung des Sonnen¬ 
apex, München; vgl. auch Astr. Nachr. No. 3337. 

*} Nova acta 41. Halle oder auch Astr. Nachr. 
No. 3375. *) Astr. Nachr. No. 3348. 


erkannt worden war,*) hat man auch die Him- 
melsphotographic in den Dienst dieser grossen 
Aufgabe gestellt. Achtzehn Sternwarten 
haben die Arbeit unter einander geteilt, den 
gesamten Himmel zu photographieren, zu¬ 
nächst bis zu Sternen ii. Grösse, zum Teil 
gleichseitig, zum Teil später bis zur 15. 
Grössenklasse.*) ln Deutschland ist nur das 
astrophysikalische Observatorium in Potsdam 
an diesem Unternehmen beteiligt, das aber den 
übrigen Sternwarten durch die Inangriffnahme 
des Drucks des ersten Bandes mit 20,000 
Sternenpositionen jetzt vorangeht. Die Früchte 
dieser grossen Arbeiten werden freilich erst ein 
späteresGeschlechternten,welches nach hundert 
oder mehr Jahren diese Arbeiten wiederholt. 
In neuerer Zeit hat man auf einem ganz an¬ 
dern Wege der Lösung der Frage nach der 
Richtung und Geschwindigkeit unseresSonnen- 
systems im Weltraum näher treten können, 
nämlich durch die spektroskopische Untersuch¬ 
ung der Bewegung der Sterne in der Richtung 
auf uns zu und von uns fort. Es ist hier nicht 
der Ort, diese zu überraschenden Resultaten füh¬ 
rende Methode des Weiteren auseinanderzu¬ 
setzen. Es sei nur hervorgehoben, dass das 
Potsdamer Observatorium gerade zur Er¬ 
weiterung seiner ersten grossen Resultate auf 
diesem Gebiete einen neuen grossen Refraktor 
von 80 cm Öffnung erhält. Vergl. dazu die 
Notiz in No. 37 der „Umschau". 

Nach den kurzen Mitteilungen über die 
beiden grossen Unternehmen, welche einen 
erheblichen Teil astronomischer Thätigkeit 
in den letzten Jahren beansprucht haben, mag 
zum Schlüsse noch angegeben werden, dass 
der Ort des Sonnenapex auf Grund der 
angeführten Arbeiten bei etwa 2670 Rectas- 
cension und 310 Deklination zu suchen 
ist, einem Punkte, welcher im Sternbilde des 
Herkules liegt. Um eben so kleine Grössen, 
wie bei Bestimmung der Sonnenbewegung 
aus den scheinbaren „Eigenbewegungen“ der 
Gestirne, handelt es sich auch bei der Auf¬ 
suchung der Sternparallaxen, d.h. der linearen 
Entfernungen der Gestirne von uns. Diese 
sind bekanntlich so gross, dass selbst der 
Durchmesser der Erdbahn dagegen verschwin- 

*) Die grossen Fortschritte, welche man mittelst 
der Photographie in der Astronomie erlangt hat 
nehmen ihren Ausgangspunkt, namentlich erst von 
der Einführung der emphndlichen Trockenplatten in 
die photographische Technik. Die früheren versuche, 
welche man bei Präzisionsaufnahmen z. B. bei Gelegen¬ 
heit der VenusvorQbergänge mit nassen Platten ge¬ 
macht hat, haben keine mustergiltigen Resultate 
erzielt. Dabei ist allerdings zu bemerken, dass vor 
Allem von dem Mond schon in viel früherer Zeit 
durch Warren de la Rue und Anderen präch¬ 
tige Bilder aufgenommen worden sind. 

*) Bulletin de comite international de la photogr, 
du ciel Paris Bd. 1—3. 


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86 o 


Ambronn, Die Astronomie im vuuGANctNEN Jahre. 


dend klein ist. Die scheinbaren Verschiebun¬ 
gen, welche die Gestirne bei dem Umlauf der 
Erde um die Sonne erleiden, machen also nur 
äusserst kleine Winkelgrössen aus. Aber 
nur durch die Ermittlung der letzteren ist 
eine Bestimmung der Entfernung möglich.^) 

Im vorigen Jahre sind zwei solcher Paral¬ 
laxenbestimmungen bekannt geworden. Für 
Cassiopejea fand Davis o."47, was einer 
Entfernung von 7 „Lichtjahren“ gleichkommt; *) 
während J. Roberts für ß Centauri eine 
Parallaxe von 0^.25 entsprechend etwa 13 
Lichtjahren fand. Der letztere Wert ist aller¬ 
dings noch mit der Unsicherheit behaftet, 
welche die Parallaxe von « Centauri in sich 
schliesst, da er aus Vergleichung mit diesem 
Gestirne abgeleitet wurde. 

Vor längerer Zeit sind von H. C. Vogel 
auf Grund spektroskopischer Bestimmungen 
drei verschiedene Hauptklassen von Siern- 
Spektren aufgestellt worden, durch welche ge¬ 
mäss der Eigenschaften dieser Spektren der 
Entwickelungszustand der verschiedenen Ge¬ 
stirne zum Ausdruck kommt. In die erste 
Klasse gehören die Spektren von Gestirnen, 
welche noch eine sehr hohe Temperatur be¬ 
sitzen, infolge deren eine Absorption noch 
nicht oder nur in sehr geringem Masse auf- 
tritt. Die Spektren mit deutlichen Absorptions¬ 
linien, wie' sie z. B. unsere Son^le aufweist, 
bilden die zweite Klasse, während in die 
dritte diejenigen Spektren zusammengefasst 
werden, in welchen vermöge der niedrigen 
Temperatur der äusseren Schichten der ihnen 
zugehörigen Gestirne schon breite Absorptions¬ 
banden, also die Auslöschung ganzer Kom¬ 
plexe von Lichtstrahlen wahrgenommen wird. 
Für die erste Klasse dieser Gestirne ist nun 
die Entdeckung des Heliums in dem seltenen 
Minerale Cleveit, welche Anfang 1895 von 
Ramsay gemacht wurde, sowie die ausge¬ 
zeichnete spektroskopische Untersuchung des 
Cleveitgases .von Runge und Paaschen 
von hoher Bedeutung geworden, da Vogel 
bei Durchsicht der zahlreichen in Potsdam 
genachten photographischen Aufnahmen von 
Sternen dieser Klasse, die Cleveitgaslinien 
bei sehr vielen derselben aufgefunden hat.®) 
Namentlich sind es die bekannten Sterne im 
Orion, für welche die Cleveitgaslinien typisch 
sind. Diese Untersuchungen haben Vogel in 
den Stand gesetzt, die Unterabteilungen der 

‘) Selbst für den uns nächsten Fixstern « Cen¬ 
tauri beträgt die jährliche Parallaxe nur etwa 
was einer Entfernung entspricht, zu welcher das 
Licht etwa 4 Jahre gebrauchen würde, um sie zu 
durchlaufen. 

*) Contrib. from the observatory, of Columbia 
College 6 und 7. 

*) Sitzungsberichte der kgl. preuss. Akad. der 
Wissensch. 1805, 70. 


I. Klasse näher festzusetzen, wodurch seine 
Spektraleinteilung noch erheblich gewonnen 
hat; an dieser Stelle muss leider des Raumes 
halber nur auf die verschiedene interessante 
Daten enthaltende Abhandlung verwiesen 
werden. 

Neue veränderliche Sterne sind in grosser 
Zahl, hauptsächlich auf dem Haward College 
gefunden *) und von Pickering bekannt ge¬ 
geben worden, darunter einige, welche sich 
im Sternhaufen Messier 5 befinden, deren 
Veränderlichkeit aus photographischen Auf¬ 
nahmen gefunden wurde. Ebendaselbst wurde 
am la. Dez. 1895 von Mrs. Fleming*) ein 
neuer Stern im Centaurus auf einer Photo¬ 
graphie entdeckt, der vierzehnte in der Ge¬ 
samtliste aller neuen Sterne. Die von Pickering 
gegebene Zusammenstellung dieser Objekte 
ist deshalb interessant, weil man aus ihr er¬ 
sieht, wie die Entdeckung der neuen Sterne 
gleich der der veränderlichen erst in der 
jüngsten Zeit zugenommen hat. Der erste 
historisch verbürgte wurde bekanntlich 1572 
von Tycho Brahe in der Cassiopeja, der 
zweite von J a n s o n 1600 im Cygnus, der dritte 
von Brunowski 1604 im Ophinchus, der 
vierte von Anthelm 1670 in der Vulpecula 
entdeckt. Dann kommt eine Pause von 178 
Jahren, bis Hind 1848 im Ophinchus wieder 
einen neuen Stern fand. Aufdie 6oer Jahre fallen 
sodann zwei, auf die 70er eine, auf die 8oer 
eine Entdeckung,®) während in diesem Jahrzehnt 
nun schon 4, die letzten drei von Mrs. Flem¬ 
ing aufgefunden wurden. Es sei bei dieser 
Gelegenheit darauf hingewiesen, dass es sich 
bei den sämtlichen neuen Sternen nur um 
eine spezielle Art von Veränderlichen handelt, 
bei welcher entweder die Periode des Licht¬ 
wechsels sehr lang ist, oder dieselben eben¬ 
so wie bei vielen bekannten Veränderlichen 
in unregelmässiger Weise vor sich geht. Im 
letzteren Falle hält man an der von 
Zöllner ausgesprochenen und durch das 
Spektroskop später bestätigten Ansicht fest, 
dass die Abkühlung dieser Sterne bis zur 
Bildung einer nicht mehr glühenden Schlacken¬ 
decke vorgeschritten sei, aus welcher infolge 
innerer physikalischer Vorgänge ähnlich wie 
bei der Sonne zeitweilig sehr heisse Glut¬ 
massen hervorbrechen, die Schlackendecke 
selbst dabei wieder in glühenden Zustand 
versetzend. 

In engem Zusammenhang mit den Ver¬ 
änderlichen vom Algoltypus, wie man jene 
Art derselben nennt, deren Erscheinungen sich 
durch die Existenz einer oder mehrerer Be- 


*) A. N. 3326, 3338, 3347, 3354, 3362, 3379 - 
*) A. N. 3328. 

“) Der von Hartwig am Andromedanebel auf¬ 
gefundene Stern. 


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Mommsen als Historiker und Epigraphiker. 


86 i 


gleiter erklären lassen, stehen die Doppel¬ 
sterne, die sich von jenen unter der Voraus¬ 
setzung des Selbstleuchtens der einzelnen Kom¬ 
ponenten nur dadurch unterscheiden, dass 
diese so weit auseinander stehen, dass sie 
in unsern Teleskopen wirklich noch als 
zwei getrennte Körper unterschieden werden 
können. Auch auf diesem Gebiete wird in 
jedem Jahre seit Struves berühmten Doppel¬ 
sternmessungen Neues geleistet, sowohl an 
neuen Messungen von Distanz und Positions¬ 
winkel zwischen den Komponenten, als auch 
hinsichtlich der Berechnung ihrer Bahnen. 
Die Astr. Nachr. vom vorigen Jahre ent¬ 
halten eine erhebliche Anzahl solcher Bahn¬ 
bestimmungen, die hier unmöglich alle nam¬ 
haft gemacht werden können. Eine grosse Anzahl 
dieser Bahn-Rechnungen hat der amerikanische 
Astronom T. J. See ausgefohrt und etwa 20 
derselben in dem Astr. Journ. Bd. XVI be¬ 
kannt gemacht. Zwiers hat im vorigen Jahre 
eine neue Methode der Bahnbestimmung für 
Doppelsterne angegeben, welche manche Vor¬ 
züge besitzt.*) Interessant ist auch ein Ver¬ 
zeichnis von 55 Doppelsternbahnen, welches 
Miss Everett*) behufs Untersuchung der 
Lage und Verteilung . derselben gegenüber 
der Milch^trasse gegeben hat. 


Mommsen als Historiker und Epigraphiker. 

Zu seinem 80. Geburtstag. 

Von Karl Lory. 

Es wird nun bald ein halbes Jahrhundert sich 
erfüllt haben, seit eine Anzahl der Besten des deut¬ 
schen Volkes vor den Stürmen der Gegenrevolution 
in die freie Schweiz sich flüchtete; manche von 
ihnen sind geblieben und in fremder Erde gestorben, 
viele aber sind wieder zurückgekehrt, jubelnd auf¬ 
genommen von ihrem Vaterlande — auch der, den 
wir heute feiern, befindet sich unter ihnen; nur auf 
kurze Zeit hatten die Stürme der Revolution seine 
glänzende Laufbahn unterbrochen, *) 1854 wurde 
er bereits nach Breslau, 1858 nach Berlin zurück- 
berufen, und seitdem hat er die höchsten Triumphe 
gefeiert und die grössten Ehren genossen, die einem 
Gelehrten zu Teil zu werden pflegen. *). 

Alle Welt kennt ihn als den Verfasser der 
römischen Geschichte. Aber dass er der Geschichte 
des römischen Volkes, dass er der Geschichts¬ 
forschung überhaupt ein völlig neues Gepräge auf¬ 
gedrückt hat, wissen nur die wenigsten; und nur 
die Wenigsten auch haben eine Ahnung von der 

‘) Astr. Nachr. No. 3336. 

*) Monthly Notices of the R. Astr. Soc. 56. 

*) Am 30. November 1817 als Predigersohn zu Garding in 
Schleswig geboren, war Theod. Mommsen, nachdem er in Kiel 
studiert <1836—1843) und sich auf Reisen in Italien und Frank, 
reich weitergebildet hatte (1844-1847), 1848 ausserordentlicher 
Professor der Rechte in Leipzig geworden. 

*) Seit 1874 ist Uoromsen z. B. ständiger Sekretlr der Aka¬ 
demie der Wissenschaften. 


riesigen Arbeit, die allein ihm diesen bleibenden 
Erfolg ermöglichte. Mommsen steht in einer Reihe 
mit jenen Heroen der Forschung, die da das Ma- 
teriad, mit dessen Hilfe sie scheinbar Bekanntes in 
völlig neuem Lichte zeigen konnten, selber schürften, 
mitSybel, Treitschke und wie sie sonst noch heissen 
mögen. Wie diese Stösse von Akten und Archi¬ 
valien durcharbeiteten, um die unanfechtbarsten 
Zeugen einer nahen und doch auch schon wieder 
fernen Vergangenheit ihrer Darstellung zu Grunde 
legen, so hat Mommsen die steinernen Zeugen der 
Geschichte des Römervolkes, die dieses sich selbst 
gesetzt, mit nimmer rastendendem Fleisse zuerst 
gesammelt und dann zum Bau seines grossen Lebens¬ 
werkes verarbeitet; mit einer seltenen Ausdauer hat 
er sein Leben lang enträtselt, gesichtet, ergänzt und 
geprüft — als ein Zeichen seiner unermüdlichen Arbeit 
und seiner Begabung in dieser Hinsicht gilt mit 
Recht der von ihm besorgte Teil des „Corpus in- 
scriptionum latinarum“, mit dessen Ausführung er 
von der Berliner Akademie beauftragt worden war. 
Mit ebenso seltenem Fleisse aber hat er an der 
Zusammenfassung seiner zahllosen Studien — seit 
1843 verging ja nur selten ein Jahr, das nicht 
wenigstens etwas Neues von Mommsen brachte — 
in der „römischen Geschichte" gearbeitet; selbst 
wenn er angesichts des ungeheuren Stoffes fühlte, 
wie Goethe es beschreibt: 

.Wie er sich sieht so um und um, 

Kehrt es ihm fast dea Kopf herum. 

Wie er wollt’ Worte zu allem finden ? 

Wie er mOcht’ so viel Schwall verbinden? 

Wie er mOcht’ immer mutig bleiben, 

So fort und weiter fort zu schrcitten?" — 
abhalten hat er sich doch bis auf den heutigen 
Tag nicht lassen, und die ganze gebildet Welt weiss 
ihm Dank dafür: fast nirdends ln der Geschichte 
waren ja so viele Vorurteile, Irrtümer und Lügen 
zu beseitigen als in der römischen, nirgens bieten 
die geschriebenen Quellen so ungeheure Schwierig¬ 
keiten und Unzulänglichkeiten vde hier. Mommsen 
aber hat überall nur an die unmittelbare Über¬ 
lieferung angeknüpft, und wo diese aufhörte, hat 
er durch Rückschlüsse und feinfühlige Kombinatioa 
das Dunkel aufzuhellen gesucht; und seine hohe 
kritische Begabung (welch glänzenden Stil schreibt 
er doch bei aller Kritik!) hat ihn hier wohl im¬ 
mer richtig geleitet. Hoffentlich — es ist dies 
vielleicht der geeignetste Glückwunsch, den wir 
dem Gefeierten bringen können — erlaubt es ihm 
seine alterprobte Arbeitskraft und ein gütiges Ge¬ 
schick, audi noch den vierten Band der römischen 
Geschichte zum Abschluss zu bringen, nachdem der 
fünfte bereits vorliegt; denn welch’ anderer Wunsch 
wäre wohl sonst noch des greisen Veteranen der 
Geschichtsforschung würdig, seiner, von dem mehr 
als von Tausend anderen die Worte gelten: „Saxa 
loquuntur“. 


Die deutsche Südpolaxforachuug, 

In einer gemeinsamen Sitzung der Abteilungen 
für Geographie, Geodäsie und Ethnographie auf der 
Naturforscherversammlung zu Braunschweig gab 

») Diese Worte hat Mommsen dem ffliiRen Buch als Motto 
vorgesetzt. . 


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862 


Die deutsche Südpolarforschung. 


der Direktor der Seewarte, Geh. Admiralitätsrat 
Neumayer, der unermüdliche Verfechter des 
Gedankens, dass die Erforschung des Südpols deut* 
schem Streben Vorbehalten bleiben müsse, einen 
eingehenden Überblick über den gegenwärtigen 
Stand dieser, für die deutsche Forschung so wich¬ 
tigen Frage. Die Zeit, welcher wir die erste Er¬ 
weiterung unseres Wissens Ober das SOdpolargebiet 
verdanken, als Ross, Wilkes und Dumons d’Urville, 
durch die erdmagnetischen Forschungen von Gause 
und Humboldt angeregt, den über die eisigen Ge¬ 
biete der Antarktis gebreiteten Schleier zu lüften 
versuchten, liegt nun über 50 Jahre zurück, und 
seitdem ist nennenswertes zur Erweiterung unseres 
Wissens nicht zu verzeichnen. Es ist schwer zu 
begreifen, wie dies so geschehen konnte. In 
neuester Zeit sind einige Vorstösse nach dem 
hohen Süden versucht worden, so unter andern im 
Anfang der siebziger Jahre von KepLtän Dallmen 
südlich von Kap Horn und Christensen mit der 
„Antarctic“ in der Nähe des Viktoria-Landes. Wenn 
auch das durch diese Expedition Errungene eben¬ 


sowenig, wie die Untersuchungen Larsens im Schiffe 
„Jason“ (18931 südlich von Grahams-Land, eine 
grosse Bedeutung hat, so gewann man doch aufs 
Neue die Überzeugung, dass* das Vordringen nach 
den antarktischen Gegenden mit unübersteiglichen 
Hindernissen nicht umgeben ist. Welch grosser 
Gegensatz besteht doch zur Zeit in unserer Kennt¬ 
nis der geographischen Verhältnisse der beiden 
Polargebiete. Die Kenntnis der Antarktis ist in 
jeder Weise ungenügend; polwärts vom 55® süd¬ 
licher Breite ist von zuverlässigen Beobachtungen 
über die Elemente des Erdmagnetismus, über den 
Wert der Gravitationskonsianten nichts bekannt und 
innerhalb des Polargebietes besitzen wir heute noch 
keine einzige Wintertemperatur. Dass man bei 
solcher Sachlage von einer Kenntnis der geograph¬ 
ischen Faktoren unserer Erde nicht sprechen kann, 
liegt auf der Hand. Ein Blick auf den Globus zeigt, 
wie gross das unbekannte Gebiet um den Südpol 
ist, sodass auch die geographische Gestaltung des¬ 
selben als völlig unbekannt bezeichnet werden muss. 

. Von besonderer praktischer Bedeutung würden 
namentlich Untersuchungen über die Elemente des 
Erdmagnetismus im Hinblick auf die erschwerte 
Navigierung der eisernen Schiffe in höheren Breiten, 
sobald man von Westen kommend den 116“ der 
östlichen Länge von Greenwich überschritten hat. 
Man nähert sich alsdann dem Meridian des mag¬ 
netischen Südpoles und dem Sammelpunkt der erd¬ 
magnetischen Kraft der Süd-Hemisphäre. Eine 
weitere Frage von grösster Bedeutung betrifft die 
spezielle Verteilung der Schwerkraft der Erde, 
welche die neuesten Untersuchungen in eine nahe 
Beziehung zu den Erscheinungen des Erdmagnetis¬ 
mus bringen. Untersuchungen dieser Art sind aber 
auch von der weittragendsten Bedeutung für die 
Welterkenntnis Oberhaupt, wenn dieselbe nicht eitel 
Stückwerk bleiben soll, wenn wir auch im hohen 
Norden unsere Forschungen schon bis 86” — also 
bis nahe an den Pol heran ~ ausgedehnt haben. 
Ein weiteres Ziel der Forschung bilden die klimat¬ 
ischen Verhältnisse des südpolaren Gebietes. Wir 
sind so schnell bereit, derartige Verhältnisse in 
Kurven darzustellen, allein auf wie wenig sichere 


Ergebnisse muss sich hierbei die Zeichnung stützen, 
welche Kombinationen werden erforderlich und oft 
mit nur wenig Erfolg in Anwendung gebracht 1 Bi.s 
jetzt war südlich von 60 • der Breite noch kaum 
eine überwinternde Station thätig. Über die Gründe 
der bemerkenswerten Anomalie in der Luftdruck¬ 
verteilung in der Antarktis weiss man so gut wie 
nichts. 

Der Vortragende hat für gut gehalten, keine 
Naturforscher- und Geographenversammlung vor- 
Obergehen zu lassen, ohne auf die Missverhältnisse 
hinzuweisen. Das Jahrhundert darf nicht zu Ende 
gehen, ohne dass hier ein Wandel eintritt! Das ist 
die Ansicht 'des Geographentages in Bremen 1895 
und des VI. Internationalen Geographenkongresses 
im gleichen Jahre gewesen. 

Bis jetzt Stotzen sich unsere Kenntnisse in den 
hohen Breiten der südlichen Hemisphäre in erster 
Linie auf lückenhafte Beobachtungen von einigen 
Walfängern und auf die einzelnen Expeditionen, 
die wir eingangs namhaft gemacht haben. 1895 
setzte endlich der deutsche Geographentag in 
Bremen diese Angelegenheit auf seine Tagesord¬ 
nung und beschloss eine deutsche Kommission für 
sie zu bilden. Den Antrieb hierzu gab vor Allem, 
dass der erste Punkt des damalig nächsten Inter¬ 
nationalen Geographenkongresses (London 1896) 
die antarktische Forschung betraf, wobei eine Auf¬ 
klärung der geographischen Verhältnisse noch vor 
Ablauf des Jahrhunderts beschlossen, das Näh^e 
über die Art und Weise der Ausführung jedoch den 
einzelnen Nationen überlassen wurde. Die Englische 
geographische Gesellschaft hat denn auch,^ wie aus 
dem Berichte zu entnehmen, den Entschluss ge¬ 
fasst, im nächsten Jahre eine Expedition nach der 
Gegend südlich von Neu-Seeland gegen Viktoria¬ 
land hin zu entsenden, um zu untersuchen, ob hier 
ein Kontinent oder eine Reihe von Inseln, die durch 
Eismassen verbunden sind, zu konstatieren sein 
würde. Sir John Murray, der verdienstvolle Chal¬ 
lenger-Gelehrte, schloss aus TrOmmergesteinen, dass 
es sich im Wesentlichen im hohen Süden um Fest¬ 
land handele. Weiterhin kommt die Frage der Be¬ 
stimmung des magnetischen Südpols und die Lage 
der Endpunkte der magnetischen Erdachse (nach 
der Definition von Gauss) in Betracht. 

Unterdessen ist eine belgische Expedition unter 
Kapitän de Gerlache, auf zwei Jahre ausgerüstet, 
abgegangen, um südlich von Feuerland die Ver¬ 
hältnisse der Antarktika (Im Wedell-Meer) und 
späterhin auch weiter nach Osten hin zu erforschen. 
Die gründliche Vorbildung der einzelnen Mitglieder 
dieser Expedition bürgt in jeder Beziehung für die 
wissenschaftliche Durchführung eines festen Planes; 
allein die Entsendung eines einzelnen Schiffes in 
jene Gegenden bildet, wenn es sich um Über¬ 
winterung handelt — nach eigenen Erfahrungen des 
Vortragenden — ein Wag^nis. 

Der deutsche Plan geht nun dahin, Jn der Ge¬ 
gend des 80. Meridians östlich von Greenwich oder 
etwa südlich der Kerguelen, woselbst noch niemals 
ein entschiedener Versuch gemacht worden ist, 
also für das deutsche- Unternehmen ein vollständig 
freies, jedenfalls erfolgversprechendes Forschungs¬ 
gebiet vorliegt, vorzudringen. Es gilt zwischen 80 
und 100 ® ö. V. Gr. auf Enderby oder Kemps Land 




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Rückenmarkschwindsucht. — Wilhelm Heinrich von Riehl f. 


863 


zu landen, um Stationen zu errichten und während 
zweier Winter in beobachtender Thätigkeit zu er¬ 
halten. Sodann ist von dort aus die Konfiguration 
des vermuteten Kontinents festzu?tellen und event. 
bis zum magnetischen Südpol vorzudringen. Eine 
letzte reifliche Erwägung hat die Angelegenheit in 
der Kommissionssitzung auf dem Geographentag 
in Jena gefunden. Hier trat die Personenfrage in 
den Vordergrund. Inzwischen ist eine für die Durch¬ 
führung des Planes in wissenschaftlicher, wie in 
seemännisch-praktischer Hinsicht geeignete Persön¬ 
lichkeit ins Auge gefasst worden, deren Gewinnung 
zu erhofien steht. 

Noch ist das Eis zu brechen, welches über der 
Angelegenheit in unserm Vaterlande ruht, während 
sich die andern Nationen rüsten, die Lorbeeren, die 
dort zu erobern sind, einznheimsen: es sind die 
Mittel zu beschaffen. Die Instrumente und persön¬ 
liche Ausrüstung werden eine besondere Sorgfalt 
erheischen; diese Seite der Frage ist aber heute 
aus dem Rahmen des Experiments herausgehoben 
und kann nach festen Erfahrungsgrundsätzen be¬ 
handelt werden. 

Eis ist zweifellos, dass wir am Vorabend grosser 
Ereignisse in der Antarktis stehen. Die Sache hat 
für uns noch eine nationale Bedeutung. Wenn man 
eine Kraftentfaitung zur See beabsichtigt, wird man 
wohl daran thun, als Vorbedingung hierzu auch die 
Verfolgung wissenschaftlicher Interessen, die Er- 
w’eiterung der geographischen und hydrograph¬ 
ischen Beobachtungen zu betrachten, wie ja gerade 
diese bei anderen Nationen von jeher die Vorläuferin 
nachheriger Bedeutung zur See gewesen ist. Man 
denke an die koloniale Entwickelung von Portugal, 
Spanien, Holland und Vor allem an England in den 
vorangegangenen Jahrhunderten. 

Haben wir erst der Mittel soviel beisammen, 
dass das Unternehmen als gesichert zu betrachten 
ist, so .wird gewiss auch die Marine die Hand bie¬ 
ten und cs wäre besonders erwünscht, bei der 
Forschung auch Offiziere der kaiserlichen Marine 
beteiligt zu sehen. Wünschenswert wäre es, wenn 
auch die nach dem südlichen Indischen Ozean ge¬ 
plante Expedition zur Erforschung des Plankton in 
irgend einer Form mit der Sod-Polarexpedition ver¬ 
einigt würde; dadurch könnte eine gewisse Zer¬ 
splitterung verhindert werden. Kahle. 


Betrachtungen tmd kleine Mitteilungen. 

Rückenmarkschwindsucht. 

In No. 44 der deutsch, med. Wochenschrift be¬ 
richtet Prof. A. Eulenburg-Berlin „ober den 
gegenwärtigen Stand der Behandlung der Tabes 
Ä)rsa/is(Rückenmarkschwindsucht)“. Diese schwere 
Erkrankung galt bis vor einigen Jahrzehnten als 
unheilbar, ja sogar als nicht besserbar, und Rom¬ 
berg, einer der ersten und besten Kenner der Tabes 
sprach noch von der absoluten Unmöglichkeit einer 
erfolgreichen Behandlung. Heutzutage muss man 
vor allen Dingen die Möglichkeit einer Heilung in 
dem Sinne zugeben, dass die infolge der Erkrankung 
ausgefallenen Funktionen wieder einsetzen können, 
wenn auch dieerkranktenzentralenRückenmarksteile 
nicht geheilt sind. Da aber praktisch eine Erkrankung 


ohne Symptome kaum sich von der Norm unter¬ 
scheidet, so ist ein Unterschied zwischen relativen 
Heilungen, weitgehenden und andauernden Besser¬ 
ungen und wirklichen Heilungen mehr von wissen¬ 
schaftlichem als von praktischem Interesse. Aber 
ganz abgesehen von diesen seltenen, wenn auch 
sicher bestehenden günstigen Fällen muss man zu¬ 
geben, dass auch die Tabes der Therapie zugäng¬ 
lich ist und die Behandlung dieser Erkrankui^ Er¬ 
folge aufzuweisen hat, die zu Roinbergs ^iten 
noch undenkbar waren. — Bekanntlich ist als Un 
Sache der Tabes von Fournier und Erb eine vor¬ 
ausgegangene syphilitische Infektion angeschuldigt 
worden, und wenn auch diese Meinung keineswegs 
allgemein anerkannt ist, so muss doch zugegeben 
werden, dass die Statistik für die Richtigkeit dieser 
Annahme spricht, soweit Oberhaupt die .Statistik 
als Beweisgrund angesehen werden kann. Man hat 
daher die Tabes, als syphilitische Erkrankung, mit 
Quecksilber und Jod behandelt, allein die Erfolge 
waren nicht ermutigend, wenngleich manche ekla¬ 
tante Besserungen hiernach beobachtet sind. 

Eulenburgs Meinung, die sicherlich allgemeine 
Anerkennung findet, geht dahin, dass Tabesfälle 
mit unzweifelhaft syphilitischen Antecedentien 
unter Umständen sowohl mit wie ohne spe¬ 
zifische Quecksilber- oder Jodkuren gebessert, 
ja hier und da in obigem Sinne geheilt wer¬ 
den können, während in der Mehrzahl der 
Fälle die spezifische Behandlung {mit Quecksilber 
oder Jod) nur ziemlich geringe Erfolge aufweist, 
dass aber ferner durch diese Behandlung, nament¬ 
lich durch die ausgu'bige und intensive Anwendung 
von Quecksilber doch auch unter Umständen nicht 
unbeträchtlicher Schadei: angerichtet werden kann. 
Nun muss aber doch daraul hingewiesen 'werden, 
dass sicherlich eine Reihe von Tabesfällen existieren, 
die nicht syphilitisch waren, w’o also eine antisyphi- 
.lit'sche. Kur keinen .Sinn hat. .Auch diese Patienten 
können erfolgreich behandelt werden, wenhgleich 
alle die oft empfohlenen Mittel, wie Höllenstein, 
Antifebrin, Salipyrin etc. genau s») wenig Effekt 
erzielten, wie die modernen Organpräparate. — 
Unentbehrlich bleiben die Narcotica, wie Morphium 
ctc. gegen die oft äusserst heftigen Schmerzen. 
Neuerdings aber hat eine Behandlungsmethode 
ausserordentliche Erfolge erzielt, eine Methode, die 
in folgendem besteht. Die Tabeskranken verlieren 
d.is MiiskelgelÜhl, d. h. sie können nur mit Hülfe 
des Gesichts das Gleichgewicht einhalten, Stehen 
und Bewegungen, wie z. B. Gehen ausftthren. 
Dieser J-\inktionsvcrlust wird durch „kompensator¬ 
ische Übungstherapie“ ausgeglichen, die als ihre 
Aufgabe gewissermassen die. Einstudierung und 
Wiedererlernung der Bewegungen betrachtet. Die 
Erfolge dieser Methode, auf deren Details hier nicht 
eingegangen werden kann, sind als durchaus güns¬ 
tige zu bezeichnen. — Eine grosse Reihe von an¬ 
deren Methoden, die dasselbe Ziel anstreben, wie 
Dehnung des Rückenmarks durch geeignete Lager¬ 
ung, Suspension des ganzen Körpers etc. seien nur 
beiläufig erwähnt. — Aus alledem erhellt aber doch 
das. dass die moderne Medizin auch den anschein¬ 
end unheilbaren Erkrankungen gegenüber nicht 
machtlos ist und das Loos der Patienten selbst 
unter den erschwerendsten Umständen erträglicher 
zu gestalten vermag. 

• 

Wilhelm Heinrich von Riehl t- 

W. H. von Riehl, der Poet der deutschen 
Geschichte, ist gestorben: am 16. November, vor¬ 
mittags II Uhr schlummerte er, schon einige Zeit 
leidend, endlich hinüber, nachdem er noch für das 




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864 


Betrachtungen und kleine Mitteilungen. 


laufende Semester, unermüdet und pflichtgetreu 
bis zum Ende, seine hochberühmten kulturgeschicht¬ 
lichen Vorlesungen angekündigt hatte. ‘) 

Wir können es uns hier jedenfalls ersparen, die 
Schriften des Verstorbenen im Einzelnen anzufbhren; 
wohl jeder gebildete Deutsche hat sich ja schon an 
seinen sinnigen, humorvollen Erzähhoigen und A'b- 
vellen, dem Gebiete der Kulturgeschichte unseres 
Volkes entnommen, erfreut, und der Ruf seiner 
„Naturgeschichie des deutschen Votkes" ist weit über 
die Grenzen unseres Vaterlandes hinausgedrungen. 
Gelehrter im strengen, im unangenehmen Sinne 
des Wortes war Riehl allerdings nicht: aber der 
Duft einer gemütstiefen, dichterischen Gestaltungs¬ 
kraft liegt auch über den scheinbar gelehrtesten 
Abhandlungen aus seiner Feder, ein goldenes Ge¬ 
müt voll ausgleichender Liebe und versöhnender 
Harmonie spricht aus seinen Werken und sprach 
auch aus seinen akademischen Vorträgen. Der alte, 
aber noch immer rüstige Mann (mit dem mächtigen 
Haupte und, trotz aller Liebenswürdigkeit, die darin 
sich spiegelte, geistreichen Gesichtsausdruck) auf 
dem Katheder bot ein ergreifendes Bild; man fühlte, 
dass hier ein ganzer Mensch, ein starker, deutscher 
Mann weniger lehrte, als vielmehr aus dem reichen 
Schatz eines vielbewegten, arbeitsfrohen Lebens zu 
Nutz und Frommen einer jüngeren Generation das 
Beste hevorholte, was er zu geben hatte; eine ab¬ 
geklärte Ruhe lag Ober dem Vortragenden und 
teilte sich auch seinen Zuhören mit; mancher mag 
über Riehls Worte die Konflikte und Stürme der 
Gegenwart vergessen, mag Bande zwischen sich 
und seiner Vergangenheit, die er in jugendlichem 
Radikalismus längst zerrissen wähnte, aufs neue und 
dauernd geknüpft haben. Denn gerade in erzieher¬ 
ischer Hinsicht waren Riehls Vorlesungen von un¬ 
schätzbarer Bedeutung, wie er denn überhaupt nie 
zur Fahne jener verknöcherten Büchermumien 
schwor, denen ihre Arbeit und Forschung Selbst¬ 
genüge ist, sondern stets das Bedürfnis in sich 
fühlte, von seinen Schätzen abzugeben, zu lehren 
und zu schreiben — als Wanderredner z. B. hat er 
sich um die Bildung weiterer Kreise seines Volkes 
unschätzbare Verdienste erworben. 

Viele haben von Riehl eine Zusammenfassung 
seiner Studien zu einer Kulturgeschichte unseres 
Volkes erhofft; sie sind enttäuscht worden. Viel¬ 
leicht hat der Verstorbene angesichts der Gegen¬ 
sätze, die heutzutage die historische Forschung be¬ 
herrschen, die Ausführung eines derartigen Werkes 
verschmäht. Und doch Könnten gerade in diesem 
Punkte die Jungen von ihm lernen; er hat keine 
Systeme mit philosophischer Dialektik ausgearbeitet, 
er hat auch - unseres Wissens nie jemand ange¬ 
griffen und nie jemand lächerlich gemacht; aber er 
hat frisch und freudig gearbeitet ein Leben lang, 
und was man heutzutage als das Neueste vom 
Neuen ausznposaunen beliebt, in schlichter Natür¬ 
lichkeit und mit nicht gewöhnlicher Gestaltungskraft 
hat der Dahingegangene es im Keime wenigstens, 

i) Dem aussereo Lebeosganae des Verblichenen entnehmen 
U'ir Fotjtcndes: K^boren am 6. Mai 1833 zu Biebrich am Rhein, 
studierte er nach einander in MarburK, Tübingen, Bonn und 
Giesaen, widmete sich dann der schrifistcllcriachen Laufbahn 
lind redi^-ierte zuerst die ,Karlsruher Zeitung*, hierauf deu von 
ihm bcKründeten .Badischen Landesboten“, wurde 1848 Mitglied 
der Nationalversammlung, daneben redigierte er die konservative 
.Nassauischc allgemeine Zeitung'^ und leitete die musikalischen 
Aufführunfren des Wiesbadener Hoftheaiers, 1851 — 1853 war er 
in der Redaktiou der (damals noch in Augsburg erscheinenden) 

, Allgemeinen Zeitung* beschäftigt, endlich 1854 wurde er als 
Professor nach München berufen und der volkswiKschaftlichen 
Fakultät einvcrieibt; Natioiialükonom war Riehl allerdings keiner, 
man hoflte aber durch seine Acquisition der noch jungen und 
etw'as mageren Fakultät grösseren Glanz und erhöhtes Ansehen 
zu verleihen. 1885 wurde Riehl ausserdem Direktor des bayer. 
Natiunalmuseums, eine Stellung, die er bis vor einem Jahre 
beibchielt. 


von seinem feinen Gefühle geleitet, zur That ge¬ 
macht — nämlich eine Lebensgeschichte des Volkes 
zu geben. 

Möge dem Verstorbenen, in dem wir dankbar 
unseren Lehrer verehren, die Erde leicht sein! 

Karl Lory. 


Das mit Frankreich getroffene Abkommen 
über Togo, das in einem Teil der politischen Presse 
Gegenstand leidenschaftlicher Angriffe war, wird 
von Brix Förster im G/obus vom 20. Novbr. als 
günstig für Deutschland beurteilt. Danach ist unser 
koloniales Arbeitsfeld in Togo durch das neue Ab¬ 
kommen Erfolg versprechend erweitert und mit 
Rücksicht auf die vorhandenen Mittel intensiv ent¬ 
wicklungsfähig gemacht worden. Den Sudan durch 
Verbindung mit dem östlichen und nördlichen 
Niger in den Machtbereich von Togo zu ziehen, 
musste ein unerfüllbarer frommer Wunsch bleiben. 
Vor dreizehn Jahren haben wir uns harmlos zwischen 
zwei mächtigen Konkurrenten auf einem Streifchen 
Küste eingenistet und heute behaupten wir eine 
Stellung, die mit Recht den Neid der Nachbar- 
natiqnen hervomift und die wir uns geschaffen durch 
die Überzeu^ng, dass es bei Handefekolonieen nicht 
auf den Besitz von möglichst vielen Quadratmeilen 
Landes ankommt, sondern auf die Möglichkeit der 
Steigerung des jährlichen Warenumsatzes. 

• « 

Zur „casse“ des Weins. Nach P. Cazeneuve 
rührt die mit dem Namen „casse" bezeichnete Wein¬ 
krankheit, die in einer Enterbung des roten Farb¬ 
stoffes unter Oxydation besteht, von einem löslichen 
.Oxydationsferment her. Gegen diese Weinkrank¬ 
heit ist schweflige Säure em wirksames Mittel. 
Es wurde festgestellt, dass dies von einer spezif¬ 
ischen Wirkung der schwefligen Säure auf das 
Ferment herrOnrt und nicht etwa von ihren redu¬ 
zierenden Eigenschaften. Andere reduzierende Ver¬ 
bindungen wie Formaldehyd, brachten die zerstör¬ 
ende Wirkung auf das Ferment nicht hervor. 

CompC rend. 194» 106 u, 781. 

• • 

• Durch archäologische Fun^e, die 
jüngst in der Pfalz gemacht wurden, wird, wie Dr. 
C. Mehlis im neuesten Heft des „Zentralbl. für 
Anthropol., Ethnol. u. Urgesch.“ berichtet, bestätigt, 
dass der Weberstithl einfacher Art in der Hallstatt-, 
Bronze- und Steinzeit in der Pfalz nicht unbekannt 
gewesen sein muss. Das eine Fundstück ist eine 
durchbohrte Sandsteinkugel, an deren Aussenseite 
zahlreiche i—a cm lange künstliche Einschnitte 
sichtbar sind, die nur vom ständigen Darttberlaufen 
einer Schnur oder eines Fadens herrüliren können. 
Das zweite besteht in einem plattgeschliffenen Stein- 
w’erkzeug von der Form eines flachen, kleinen 
Kahnes, dessen Ecken sorgfältig entkämet sind und 
das nach seinem Aussehen nur ein sogenanntes 
„Weberschiffchen“ gewesen sein kann. 

Um elekIrische Glühlampen zu einer 
bestimmten Stunde zum Leuchten zu 
bringen, werden in Amerika Schaltbrcttcr mit 
Uhren angewandt, welche das Ein- und Ausschallen 
automatisch besorgen. 


Die nächsten Nummern der Umschau werden u. a. enthalten: 

Bruinier, Die Zukunft des Deutaebtums. — Müsebcck, Die 
staatsgründenden Ideen des 19. J.thrhunderta. — G. Zieler, Der 
deutsche Roman im Jahre 1897. ~ Russner, Neue Operngläser 
und Fernrohre. 


G. Horstmann'i Druckerei. Frankfurt a. M. 


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DIE UMSCHAU 

ÜBERSICHT ÜBER DIE FORTSCHRITTE UND BEWEGUNGEN AUF 
DEM GESAMTGEBIET DER WISSENSCHAFT, TECHNIK, 


Wöcheotlieh eine Nommer. 

Zu beziehen durch 
alle BuchhAndluDgea und 
Postanstalten. 

FoBtieituDgspreisliste No. ^aai a. 

Verlag von: 

H. Bechhold Verlag, Frankfurt a. M. 


LITTERATUR UND KUNST 

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DR. J. H. BECHHOLD. 


Preis vierteljährlich 
M a.50, 

Jahres* Abonnement 
Preis M. 10.— 

Im Ausland nach Coura. 
Verantwortlicher Redakteur: 

Otto Adolf Wolters, Frankfurt a. M. 


N>uc Krame 1931. 


49. I. Jahrg. 1897. 4. Dezember. 


Das Korsett als Krankheitsursache. 

Von Geh. Med.-Rat Prof. Dr. A. EuLENntiRC (Berlin). 

Am 8. August (dieses Jahres ist in Frank¬ 
furt a. M. das Standbild des genialen Arztes, 
Anatomen und Physiker Samuel Thomas 
von Soemmering feierlich enthüllt worden, 
das am Eschenheimer Thor unweit des welt¬ 
berühmten Senckenbergischen Instituts auf¬ 
gestellt ist. Denken wir auch bei dem Namen 
Soemmering unwillkürlich zunächst an den 
gefeierten Erfinder des ersten elektrischen 7 V- 
legraphen — so haben wir doch alle Veran¬ 
lassung, uns einef ganz anderen, auf dem 
ärztlich-anatomischen Gebiete gereiften Frucht 
seiner Thütigkeit dankbar zu erinnern. Hun¬ 
dertzehn Jahre sind Verflossen, seitSoemmering, 
damals als Lehrer an die kurfürstliche Hoch¬ 
schule in Mainz berufen, seine berühmte 
Preisschrift „über die Wirkungen der Schnür- 
brüste** (Leipzig 1787) veröffentlichte, die in 
dem fast zweihundertjährigen Kampfe der 
ärztlichen Welt gegen diese Modemissgeburt 
einen entscheidenden Wendepunkt bezeichnet. 
Gewiss hatten schon lange auch Ärzte ge¬ 
nug dagegen geeifert und geschrieben — 
Soemmering zählt nicht weniger als 91 Vor¬ 
gänger auf! — aber noch Keiner hatte die 
Sache mit solcher Gründlichkeit und Tiefe, 
mit so eindringendem Verständnis, in so klarer 
und fesselnder Schilderung darzustellen ge¬ 
wusst; noch Keiner hatte Vernunft und guten 
Geschmack in so beredter Weise zu Richtern 
gerufen. Von Soemmering rührt der glück¬ 
liche, seitdem so unzählige Male aufgewärmte 
Gedanke her, auf einer beigegebenen Kupfer¬ 
tafel eine genaue Umrissfigur der mediceischen 
Venus mit dem von geübter anatomischer 
Hand eingezeichneten Rumpfskelett zu ent¬ 
werfen und dieser als schauerliches Pendant 
die durch eine modische Schnürbrust bewirkte 
Verunstaltung derselben Figur mit den zu¬ 
sammengepressten und verkrüppelten Skelett- 

UmBchau 1897. 


teilen gegenüber zu stellen. Der unmittelbare 
Eindruck jener Schrift muss sehr bedeutend 
gewesen sein, denn in der Einleitung zu der 
sechs Jahre später (1793) erschienenen zwei¬ 
ten Auflage durfte Soemmering sagen: „Wenn 
sonst in unserer Residenzstadt ungeschnürte 
Frauenzimmer an öffentlichen Orten sich Be¬ 
merkungen aussetzten, so ist es jetzt schon 
fast umgekehrt. Man lächelt über eine feste 
Zusammenschnürung als eine sonderliche 
Mode des vorigen Jahrhunderts. Man sieht 
kaum noch ein Paar zu Drahtpuppen geschnürte 
Mädchen, welche Jedweder bedauert, dass 
sie von altmodischen Tanten zur Schau ge¬ 
führt werden.“ — Allerdings darf man dabei 
nicht übersehen, dass diesem jähen Mode- 
Wechsel der eben damals aus dem republikan¬ 
ischen Frankreich nach dem nahen Mainz 
herüberwehende Wind entschieden zu statten 
kam. Der Rückschlag blieb später nicht aus; 
aber an die Stelle jenes grässlichen Mode¬ 
ungeheuers, der nach unten kegelförmig zu¬ 
gespitzten Schnürbrust des vorigen Jahr¬ 
hunderts, trat doch allmälig unser heutiges 
Korsett — immerhin ein relativer Fortschritt, 
geradeso wie ihn jetzt nach weiteren hundert 
Jahren die allgemeinere Durchsetzung de» 
vorgeschlagenen „Reformkorsetts'* an Stelle 
des bisherigen für unsere Frauenkleidung be¬ 
deuten würde. WennderunsterblicheForscher 
und Arzt von der Höhe seines Postaments 
auf die zu seinen Füssen wandelnden Mode¬ 
puppen der heutigen Generation — wie sie 
die Photographie seines Denkmals mitver¬ 
ewigen zu wollen scheint — herabblickt, so 
wird er zwar noch keine ungetrübte Befrie¬ 
digung empfinden können. Aber freudig müsste 
ihn doch der Gedanke stimmen, den Kampf, 
dem er damals seine Kraft widmete, jetzt 
aus der Mitte der Frauenwelt selbst auf¬ 
genommen und von einem Heere wohlorgani- 


*) Die kurfürstliche Residenz Mainz. 

49 


# 


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666 


Eulenburg, Das Korsett als Krankheitsursache. 


sierter Streiterinnen bis zu hoffentlich sieg¬ 
reichem Ende durchgefochten zu wissen. 

Und wahrlich genug sind der Schädig¬ 
ungen und krankhaften Zustände, wie sie 
durch das gewohnheitsraässige, meist in früher 
Jugend beginnende Tragen unserer heutigen 
Korsetts, im Verein natürlich mit ander¬ 
weitigen schädlichen Einflüssen der Frauen¬ 
tracht, diejaaufdemselbenPrinzipeberuhen, er¬ 
zeugt und gefördert werden. Man kann zwei 
Hauptgruppen solcher krankhaften Zustände 
unterscheiden: einmal die (besonders von der 
Verengerung des Brustraumes herrührenden) 
allgemeinen Störungen der Atmung und Zirku' 
lation, der Blutbildung und Ernährung; so¬ 
dann die von speziell örtlichen Druckwirkun¬ 
gen abhängigen Störungen in Form, Lage 
und Funktion einzelner lebenswichtiger Organe. 

Die Störungen der ersteren Art lassen 
sich zusammenfassen unter den gemeinver¬ 
ständlichen, uns allen geläufigen Schlagworten 
der Muskel’ und Herzschwäche, der Blutarmut 
und Bleichsucht, Ohne mich auf genauere, an 
dieser Stelle zu weit führende Einzelnheiten 
der Definition und Schilderung dieser Zu¬ 
stände einzulassen, will ich hier nur die Wege 
andeuten, auf denen das von interessierter 
Seite immer noch als so unschuldig hingestellte, 
von Laien und sogar von Ärzten hier und 
da in wohlmeinender Absicht verteidigte heu¬ 
tige Korsett diese Gesundheitsschädigungen 
hervorbringt. Diese Wege berühren in erster 
Reihe den Mechanismus und Chemismus der 
Atmung — jener vitalsten Funktion, die ihrer¬ 
seits so wesentlich abhängig ist von der Ent¬ 
wickelung und ungehemmten Bethätigung der 
den Brustkorb umschliessenden, seine rhyth¬ 
mische Erweiterung und Wiederverengerung 
vermittelnden Muskeln. 

Bekanntlich pflegt man vielfach dem männ¬ 
lichen und dem weiblichen Geschlechte einen 
spezifisch verschiedenen {„männlichen** und 
„weiblichen**) Atmungstypus zu vindizieren. 
Man bezeichnet die Atmung des Mannes als 
vorwiegend abdominal — die des Weibes als 
vorwiegend costal) d.h. jene geschieht unter 
hervorragender Beteiligung des Zwerchfells mit 
kräftiger Ausdehnung der unteren Brustab¬ 
schnitte und mit starker inspiratorischer Hervor¬ 
wölbung der Oberbauchgegend — diese dagegen 
unter mehr oder weniger ausschliesslicher 
Beteiligung der die Rippen (namentlich die 
oberen R'ppenpaare) hebenden Muskeln. Ge¬ 
rade der wichtigste und grösste Inspirations¬ 
muskel wäre demnach bei der weiblichen At¬ 
mung zu relativer Unthätigkeit verurteilt und 
die inspiratorische Erweiterung der unteren 
Brustabschnitte könnte nur höchst unvollkom¬ 
men stattfinden! Es ist nun im Grunde von 
vornherein klar, dass es sich dabei nicht, 


wie man gemeint hat, um spezifische, auf dem 
Wege der Anpassung erworbene und durch 
Vererbung befestigte Geschlechtsdifferenzen, 
um einen sogenannten „sekundären Geschlechts- 
unterschied** handeln kann; denn die ursprüng¬ 
liche Anlage des Muskelapparates ist.auch 
jetzt noch bei beiden Geschlechtern durch¬ 
aus gleichartig und der sog. „weibliche'' At¬ 
mungstypus wäre überdies gerade für die 
spezifisch weiblichen Funktionen so unge¬ 
eignet und unzweckmässig, wie nur irgend 
möglich. Die ins Auge fallenden Unterschiede 
des weibliehen „Atmungstypus“ sind vielmehr 
lediglich Kunstprodukte, oder richtiger aus- 
gedrückt, Produkte einer verkünstelten Zivili¬ 
sation) sie sind die Früchte der bei allen 
Kulturvölkern üblich gewordenen, die „Taille“ 
einengenden Art der weiblichen Kleidung, 
und speziell des Korsetttragens. Diese Be¬ 
hauptung wird durch Erfahrungen und Beob¬ 
achtungen der verschiedensten Art unwider¬ 
leglich erwiesen. Wenn man die Atmungs¬ 
weise bei Kindern ungefähr bis zum zehnten 
Lebensjahre oder auch darüber hinaus, bei 
Knaben und bei noch korsettfreien Mädchen, 
mit einander vergleicht, so findet man noch 
keine irgendwie bemerkbare und auffällige 
Differenzen. Mädchen wie Knaben atmen viel¬ 
mehr gleichmässig „abdominal“, d. h. unter 
Mitbenutzung des Zwerchfells, unter inspira¬ 
torischer Erweiterung der unteren Brustab¬ 
schnitte und Hervorwölbung der Oberbauch¬ 
gegend. Betrachten Sie nun dagegen die At¬ 
mung einer in ein Korsett eingezwängten 
Modedame, vor und nach Ablegung des Kor¬ 
setts, wozu wir Arzte ja nur allzuhäufig un¬ 
erfreuliche Gelegenheit haben. O. Rosen- 
bach schildert in seinem vortrefflich ge¬ 
schriebenen kleinen Buche „Korsett und 
Bleichsucht** *) sehr zutreffend, wie bei der 
Einatmung im Korsett sicht nicht der vordere 
Tei 1 der Brust wölbt, sondern „derBrustkorb ver¬ 
längert sich ; die Brust wird unter Emporhebung 
des Schlüsselbeins und Schulter gewissermassen 
mühsam aus dem Korsett herausgezogen.** Die 
unteren Partien des Brustkastens stehen da¬ 
bei vollständig still; und damit überhaupt eine 
stärkere Einatmung zu Stande kommen kann, 
müssen die Halsmuskeln, die Hebemuskeln 
der Schultern und der oberen Rippen unver¬ 
hältnismässig mitarbeiten, wodurch ihre Con- 
turen vorspringend, die Gruben ober- und 
unterhalb des Schlüsselbeins aber tief ein¬ 
gesunken erscheinen. Die Exkussionen der 
unteren Brustwandungen sowie die hörbaren 
Atemgeräusche über den unteren Lungen¬ 
abschnitten bleiben auch nach Abnahme des 


') Separatabdruck aus der ,Deutschen Revue“. 
Deutsche Verlagsanstalt, 1895. 




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Eulenburg, Das Korsett als Krankheitsursache. 


867 


Korsetts aulVallend schwach; eia dcutliche's 
Zeichen, dass die Atmungsleistung im Ganzen 
vermindert und für den Bedarf bei jeder 
stärkeren Bewegung und Körperanstrengung 
unzureichend sein muss. 

Wenn nun noch irgend ein Zweifel dar¬ 
über bestände, dass es sich bei dem ,,weib¬ 
lichen“ (costalen) Atniungstypus nicht um eine 
in der natürlichen Anlage begründete • Ge¬ 
schlechtsdifferenz, sondern um eine Folgen¬ 
wirkung der fehlerhaften Bekleidung, speziell 
des Korsetts, handelt — so würde der Be¬ 
weis durch eine grosse Anzahl vergleichen¬ 
der ethnologischer Untersuchungen erbracht 
werden, wie sie zu diesem Zwecke besonders von 
Seiten englischer und amerikanischer Autoren 
neuerdings angestellt wurden. Derartige Unter¬ 
suchungen sind u. A. bei den Frauen ost- 
und westindischer Völkerschaften, bei Chi¬ 
nesinnen, Javanerinnen, bei Halb- und Voll¬ 
blutindianerinnen, namentlich bei Frauen des 
indianischen Yuma-Stammes (dufch Kellog) 
in einwandfreier Weise veranstaltet worden. 

Die Methode, deren man sich hierzu be¬ 
dient, ist die Stethographie, d. h. die an be¬ 
stimmten Punkten der Rumpfoberfläche mit 
geeigneten Registrier-Instrumenten vorgenom¬ 
mene selbstthätige Aufzeichnung der Atem¬ 
bewegung (die Aufnahme sogenannter „At- 
mungskurven*'). Man. kann solche Kurven in 
dem ^ausgezeichneten Buche ypj? Havelock 
Ellis „Mann und Weib“ *) (pag. 215) in leider 
etwas kleinem Formate reproduziert sehen. 
Man erkennt da, wie die normale Atmung 
des „gesunden** Weibes sich von der des 
Weibes trn Korsett unterscheidet, und dass 
die Atmung von Frauen, die nie ein Korsett 
getragen haben, z. B. von Chippawa-Indian- 
erinnen, oder auch von zufällig ohne Korsett 
aufgewachsenen Europäerinnen durchaus mit 
der männlichen Atmung übereinstimmt. Um¬ 
gekehrt kann man aber auch beim Manne 
und — wie die betreffenden Atemkurven 
lehren — selbst bei Tieren (Hunden) den 
„weiblichen“ Atmungstypus durch Eimwdngen 
in ein Korsett künstlich produzieren. Mit allem 
Rechte gelangt Havelock Ellis sonach zu 
dem Schlüsse: „Das vorhandene Material 
deutet darauf hin, dass die Geschlechtsunter¬ 
schiede der Atentbewegungen bei zivilisierten 
Rassen nur das Resultat einer künstlichen Ein¬ 
schnürung durch die gewöhnliche Frauenkleid¬ 
ung sind** — und er verbindet damit die 
tröstliche Hoffnung, der wir gewiss gern bei¬ 
stimmen : „Wahrscheinlich wird die künstlich 
bedingte sexuelle Differenz der Atmung durch 
Abschaffung des Korsetts allmälig verschwin- 


*) Deutsch von Dr. Hans Kurella. Leipzig, Georg 
H. Wigand, 1894. 


den, nachdem man die Vorteile einer freien 
Zwerchfellatmung allmälig eingesehen hat.“ — 
Diese Vorteile liegen allerdings, zumal in 
unserer sportliebenden Zeit, zu sehr auf der 
Hand, um auf die Dauer ignoriert und ver¬ 
nachlässigt zu werden. Nach vergleichenden 
Untersuchungen, wie sie in England und 
Amerika mehrfach angestellt wurden, haben 
korsetttragende Frauen eine durchschnittlich 
erheblich geringere Lungenkapazität, gerin¬ 
gere Muskelkraft und Ausdauer, und 
die Zahl ihrer Herzschläge steigt schon bei 
leichter Anstrengung bedeutend höher als bei 
Korsettlosen. Instruktiv sind u. A. die bei 
Havelock Ellis erwähnten Ergebnisse der Unter¬ 
suchungen, die von Sargent an Studentinnen 
des Harward College über diesen Gegenstand 
angestellt wurden. 

Man könnte auch einwenden, dass es sich 
hier zwar um eine verminderte Leistungs¬ 
fähigkeit, aber doch eigentlich noch nicht um 
krankhafte Zustände handle, wobei das Korsett 
beschuldigt werden könne, dort als Krank¬ 
heitsursache zu wirken. Dies ist richtig; allein 
insofern das Korsett wie die unzweckmässige 
Bekleidung überhaupt auf mechanischem Wege 
die freie Entwicklung und Bethätigung der 
Rumpfmuskulatur hemmt, auf die Funktionen der 
Atmung und Herzthätigkeit nachteilig einwirkt, 
setzt es eine mindestens sehr erhöhte Krank- 
heitsdisposition, wodurch bei anderweitig be¬ 
günstigenden Umständen der Entstehung von 
Blutarmut und Bleichsucht in hohem Grade 
Vorschub geleistet wird. Es konnte überdies, 
worauf hier nur hingedeutet werden kann, 
neben der mechanischen Behinderung auch die 
Beeinflussung der chemischen Faktoren der 
Atmung und Blutmischung wesentlich in Be¬ 
tracht. Infolge der unvollständigen und 
schwachen Atmungsthätigkeit wird nämlich 
nicht nur die Sauerstoffaufnahme, von der 
der Verbrennungsprozess im Körper, der 
„Lebensprozess“ abhängt, absolut herabge¬ 
setzt, sondern es wird durch die Bindung 
des aufgenommenen Sauerstoffs an die als 
Träger der Sauerstoffmenge wirkende rote 
Blutzellen — es wird die Funktion des in 
diesen Zellen aufgespeicherten spezifischen 
Eiweisskörpers, des Hämoglobins, erschwert 
und beeinträchtigt. Die nachweisbare Ab¬ 
nahme des Hämoglobingehalts, die oft zu 
ausserordentlich hohen Graden fortschreitet 
(wie Messungen mit eigens dafür bestimmten 
Instrumenten ergeben) bedingt vor Allem jenes 
krankhaft blasse, bald ins gelbgrünliche spie¬ 
lende, bald fast wachsbleiche Aussehen, das 
der als Bleichsucht, Chlorose bekannnten 
weiblichen Jugendkrankheiten ihre deutsche 
und griechiche Benennung verschafft hat. — 

Wenden wir uns nun zu einer zweiten 

49’ 


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868 


Eulenburg, Das Korsett als Krankheitsursache. 


Gruppe vorwiegend örtlicher Störungen, wo¬ 
bei das Korsett durch den anhaltend in be¬ 
stimmter Richtung geübten Druck auf die 
betroffenen Teile unmittelbar verändernd und 
schädigend einwirkt. Ich möchte zunächst 
einer in dieser Hinsicht noch wenig gewür¬ 
digten, schmerzhaften und peinigenden Affek¬ 
tion gedenken, zu deren Beobachtung ich als 
Nervenarzt in überaus zahlreichen Fällen 
Gelegenheit hatte. Es betrifft dies die gerade 
im Bereiche der unteren Rippennerven bei 
Frauen ganz besonders häufigen nervösen 
Schmerzzustände, die sogenannten Intercostal- 
neuralgien, die durch ihre qualvolle Heftig¬ 
keit und ihre oft jeder Behandlung spottende 
Harnäckigkeit nicht selten Kranke und Arzt 
zur Verzweiflung bringen. Ich halte es für 
zweifellos, dass der die unteren Rippen be¬ 
sonders stark einschnürende und zusammen¬ 
pressende Druck enger und unpassender 
Korsetts vermöge anhaltender auf die in den 
Rippenfurchen verlaufenden Nervenstämme 
eine wichtige Ursache dieser Neuralgie ab- 
giebt; und ich habe in der That in Fällen, 
wo es mir gelang, die Trägerin zu einer ver¬ 
nünftigen, den Anforderungen der Hygiene 
besser entsprechenden Kleidung zu bestimmen, 
ein rasches Schwinden der Neuralgie be¬ 
obachten können. — Der einschnürende Druck, 
selbst angeblich (nach der Behauptung ihrer 
Trägerinnen) „weiter“ Korsetts bekundet sich 
ja ganz gewöhnlich schon an den Haut¬ 
decken der unteren Brust- und oberen Bauch¬ 
gegend durch die Furchen und roten Striemen, 
wie wir sie bei den Opfern der engen Taille 
nach dem Ablegen des Korsetts fast regel¬ 
mässig erblicken. Dieser Druck reicht aber viel 
tiefer und äussert seinen Einfluss zumal an 
den weichen, nachgiebigen Organen der Brust- 
und Bauchhöhle, die teils gleichmässig kom¬ 
primiert und in ihrer Funktion schwer beein¬ 
trächtigt, teils stellenweise in Form tiefer 
Furchen („Schnürfurchen“) eingeschnitten, 
teils endlich in Folge der gesetzten Raum¬ 
verengung aus ihrer natürlicher Lage mehr 
oder weniger erheblich verdrängt werden. Die 
namentlich an den grösseren Eingeweiden im 
oberen Teile der Bauchhöhle, an Leber und 
Magen, als „Schnürleber“ und „Schnürmagen“ 
gekennzeichneten lokalen Einschnürungen 
wirken auch ihrerseits in manchen besonders 
hochgradigen Fällen ein. 

Noch wichtiger aber als diese örtlichen 
Einschnürungen ist die besonders an der 
Leber infolge der allseitigen Einpressung, der 
Lage- und Gestaltsveränderung in vielen 
Fällen zur Ausbildung kommende schwere 
Beeinträchtigung der Drüsenfunktion, die Stör- 
vmg der Gallenbereituug und Gallenabscheidung. 
Auf diese Momente haben wir offenbar ganz 


besonders die so ungemein gesteigerte Neig¬ 
ung zu Gallensteinerkrankungen beim weib¬ 
lichen Geschlecht zurückzuführen, wie dies 
auch von fachärztlicher und chirurgischer 
Seite gegenwärtig mehr und mehr nachdrück¬ 
lich betont wird. Die unzweckmässige und 
fehlerhafte Kleidung wird in diesem Falle 
unverkennbar direkt zur Quelle ebenso 
schmerzhafter, wie hartnäckiger und gefähr¬ 
licher Leiden, die häufig genug zu den 
schwersten, auch ihrerseits das Leben bedroh¬ 
enden operativen Eingriffen Veranlassung 
geben. Kaum minder schwerwiegend in 
ihren pathologischen Folgezuständen erscheint 
eine andere Gruppe mechanisch bedingter Er¬ 
krankungen der Unterleibsorgane, auf deren 
ungemein grosse Häufigkeit beim, weiblichen 
Geschlechte erst neuerdings in wachsendem 
Masse die Aufmerksamkeit gelenkt wurde; die 
Lageveränderungen und Verschiebungen, die 
namentlich den Magen und einzelne Darm- 
abschnitte in erster Reihe, weiterhin die in 
der Aushöhlung des Zwerchfells liegenden 
Nieren, oft auch Leber und Milz in mehr 
oder minder hohem Grade betreffen. Am 
gewöhnlichsten sind die, früher gar nicht in 
ihrer Bedeutung gewürdigten Verschiebungen 
des Magens und des sogenannten Querdarms, die 
man als Gastroptose und Enteroptose [Koloptose) 
bezeichnet. Diese in der Regel zusammen¬ 
wirkenden Lagenveränderungen rufen nicht 
nur an sich eine Reihe schwerer und wich¬ 
tiger Ernährungs- und Verdauungsanomalien 
hervor, sondern sie tragen durch die ent¬ 
zogene Stütze, die verminderte Befestigung, 
in Verbindung mit den überhaupt schlaffen 
Bauchdecken, auch wesentlich bei zur Ent¬ 
stehung jener vielbesprochenen, fast ausschliess¬ 
lich dem weiblichen Geschlechte eigenen 
Affektion, der abnormen Beweglichkeit und 
Lageveränderung der Nieren, die man in ihren 
höheren Graden als „Wanderniere“ bezeich¬ 
net. Um von der Häufigkeit dieses Übels 
beim weiblichen Geschlecht einen Begriff zu 
geben, will ich nur anführen, dass nach 
Lindner jede fünfte oder sechste Frau eine 
bewegliche Niere hat. — Andere gehen in 
der Annahme ihrer Häufigkeit noch viel 
weiter — und dass nach Kuttner unter 
loo Fällen von Wanderniere 94 bei Frauen, 
und 6 bei Männern angetroffen wurden. Auch 
die Wanderniere ruft ihrerseits wieder eine 
stattliche Reihe von Beschwerden hervor, ist 
schwer heilbar und ist es oft nur mit Hilfe 
von Operationen, die teilweise zu den nicht 
ungefährlichen gezählt werden müssen. Auf 
die seltener zu höheren Gnaden fortschreiten¬ 
den Lageveränderungen anderer Bauchorgane, 
der „Wanderleber“, ,,lVandermilz“ u. s. w. 
will ich nicht weiter eingehen; nur das Eine 


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Russner, Neue Art von Ferngläsern. 


869 


müsste ich noch in diesem Zusammenhänge 
betonen, dass alle diese Zustände der Vor¬ 
lagerung, des Vorfalls und der abnormen 
Beweglichkeit der Eingeweide von der un¬ 
mittelbaren örtlichen Folgerung abgesehen, 
auch wiederum den Ausgangspunkt der Fern' 
Wirkungen, von schweren Folgeerscheinungen 
im Nervensystem abgeben, die Gesundheit 
und Lebensglück der davon Betroffenen 
ernstlich und nachhaltig erschüttern und 
untergraben. 

Die angeftlhrten sind nur die wichtigsten 
Störungen, aber das Sündenkonto des Korsetts 
ist auch ohnedies schon lang und schwer 
genug ausgefallen. Die Folgerung, der sich 
im ärztlichen Sinne aus diesen Betrachtungen 
ergeben, liegen wohl auf der Hand. Für 
die Verhütung, wie für Besserung und Hei¬ 
lung einer ganzen Reihe dem weiblichen Ge- 
schlechte zukommender krankhafter Störungen 
ist die Abschaffung oder doch Unschädlich¬ 
machung des Korsetts und überhaupt eine den 
hygienischen Verhältnissen Rechnung tragende 
Reform der Frauenkleidung eine wesentliche, 
unerlässliche- Bedingung. Eines Punktes sei 
noch zu gedenken. Man hört auch im Kreise 
der Reform-Anhänger nicht ganz selten die 
gefährliche Meinung äussern, mit der jetzigen 
erwachsenen Frauen-.Generation sei, soweit es 
sich um das Korsett handelt, nichts Rechtes 
mehr anzufangen; sie sei so zu sagen mit 
Haut und Haar dem Korsettenteufel verfallen 
— man müsse sie daher ihrem Schicksal 
rettungslos überlassen und nur die heran- 
wachsende Jugend vernünftiger, d. h. korsett- 
los aufziehen. Ich kann dieser Meinung doch 
nur eine sehr beschränkte Gültigkeit zuerken¬ 
nen. Natürlich müssen wir die weibliche 
Jugend vor den schädigenden Einflüssen des 
Korsetts zu bewahren suchen; und wir werden 
es vom ärztlich-hygienischen Standpunkte aus 
geradezu für verbrecherisch erklären, noch 
kindlichen oder kaum in die Pubertätsentwick¬ 
lung eintretenden Mädchen das Korsett auf¬ 
zudrängen, wie es thörichte und gedankenlose / 
Mütter leider noch nicht früh genug thun 
können. Aber wenn man sich zu der Be¬ 
hauptung versteigt, erwachsene Frauen seien 
durch das anhaltende Korsetttragen des natür¬ 
lichen Gebrauches ihrer Rumpfmuskeln, be¬ 
sonders der Rückenmuskeln, in dem Grade 
beraubt und entwöhnt, dass sie sich ohne die 
Korsettstütze überhaupt nicht mehr oder doch 
nicht ohne die allerpeinlichste Anstrengung 
selbständig zu halten und fortzubewegen im 
Stande seien — so steckt in dieser Behaupt¬ 
ung doch glücklicherweise ein gutes Stück 
Übertreibung. Man geht dabei nämlich von 
der in solchem Umfange unhaltbaren Voraus¬ 
setzung aus, die Rumpfmuskeln und die eine 


so grosse Hauptmasse derselben bildenden 
Rückenmuskeln seien teils durch den stetigen 
Druck, teils durch den jahrelangen Nicht¬ 
gebrauch in einer die Möglichkeit jeder fer¬ 
neren Bethätigung ausschliessenden Weise 
verkümmert und geschwunden. Das ist, wie 
gesagt, unrichtig, oder doch mindestens stark 
übertrieben. Die Natur hat zum Glücke da¬ 
für gesorgt, dass die Muskeln unseres Körpers 
auch bei noch so mangelhafter oder gänzlich 
fehlender Bethätigung im Laufe vieler Jahre 
keineswegs völlig zu Grunde gehen, sondern 
nur eine mehr oder minder erhebliche Volums¬ 
abnahme erleiden und die Fähigkeit zu er¬ 
neuertem Wachstum, zu plastischem Wieder¬ 
ersatz bei entsprechender Ernährung und 
Uebung nicht so leicht einbüssen. Herstellung 
besserer hygienischer Bedingungen überhaupt, 
und vor Allem ein durch geeignete Muskel¬ 
übung zu beschaffender Wiederersatz der un¬ 
zulänglich gewordenen Muskelkräfte — das 
muss also das Ziel sein, das wir anzustreben 
und mit allen verfügbaren Hilfsmitteln nach¬ 
drücklich zu fordern haben. Und solcher Hilfs¬ 
mittel giebt es in unserer Zeit, die erfreu¬ 
licherweise der Gymnastik und Sportpflege 
einen so breiten Raum gewährt und so hohen 
pädagogischen und hygienischen Wert bei¬ 
misst, viele und mannigfaltige; unsere oft 
nicht leichte ärztliche Aufgabe ist es, darunter 
die dem Einzelfalle, dem Alter, den Verhält¬ 
nissen und Lebensgewohnheiten am besten 
sich anpassenden auszuwählen und ihre Ge¬ 
brauchsweise zweckentsprechend zu regulieren. 
Auf diesem Wege werden wir noch so manche 
durch das Korsett gesetzte schwere Gesund¬ 
heitsschädigung allmälig auszugleichen und, 
wo Ausdauer und Verständnis uns unterstützen, 
oft wahrhaft verjüngend und lebensverlängernd 
einzuwirken vermögen. 


Eine neue Art von Ferngläsern für den 
Handgebrauch. 

VOD Or. JoHAHNES RuSSNER. 

Im Inseratenteil der illustrierten Blätter 
findet man seit einiger Zeit Operngläser und 
Fernrohre von etwas ungewöhnlicher Form 
empfohlen, die zunächst durch ihren hohen 
Preis den Widerspruchsgeist rege machen: 
Man sagt sich, mein Opernglas thut mir 
im Theater noch gute Dienste, wozu soll ich 
mir ein neues anschaffen, das neue wird 
auch nicht viel mehr können und noch im¬ 
mer sieht man den mit Botanisierbüchse und 
zwei Fuss langem Fernrohr bewaffneten Na¬ 
turforscher im Gebirge umhersteigen und sein 
Glas auf irgend eine nebelgraue Spitze in der 


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870 


Russner, Neue Art von FernrglXsern. 


Feme richten, glücklich, wenn er sich sagen 
kann, ich habe den X-Y-Berg von da und 
da aus sehen können. — Bei Privaten haben 
die neuen Gläser noch nicht viel Eingang 
gefunden. — Wer aber die letzten Manöver 
mitgemacht hat, dem wird nicht entgangen sein, 
dass die höheren Offiziere vielfach schon mit 
ihnen bewafl&iet waren. Bei dem Grafen Häseler 
konnte man den neuen Feldstecher bemer¬ 
ken, und Se. Majestät waren lebhaft damit 
beschäftigt, Bewegungen des Feindes im Ge¬ 
lände mit dem merkwürdig geformten neuen 
Fernrohr zu beobachten. — Worin nun unter¬ 
scheiden sich die neuen von den alten Gläsern. 

Das alte Opernglas oder Feldstecher 
hat im Vergleich zu anderen den Vorzug der 
Kürze, den ausserordentlich einfachen Bau 
und lässt sich deshalb sehr leicht und zu so 
niedrigen Preisen hersteilen, wie es bei kei¬ 
nem andern Fernrohr auch nur annähernd 
zu erreichen ist. Der grösste Vorzug aber 
ist seine Lichtstärke, teils eine Folge des 
einfachen Baues; denn vermöge dieses er¬ 
fahren die Lichtstrahlen auf ihrem Wege 
durch das Instrument eine kaum wahrnehm¬ 
bare Schwächung. 

Diesen grossen Vorzügen steht im We¬ 
sentlichen nur ein Nachteil im Vergleich mit 
anderen Fernrohren gegenüber, das Gesichts¬ 
feld ist ein verhältnismässig beschränktes. Bei 
vier- bis fünffacher Vergrösserung ist es etwa 
2 >4 mal kleiner bei stärkerer Vergrösserung 
dreimal und mehr im Durchmesser, in der 
Fläche also den sechsten bis zehnten Teil 
so gross. 

Die astronomischen Fernrohre sind in 
ihrem Bau auch einfach, geben aber von den 
zu betrachtenden Gegenständen umgekehrte 
Bilder. Betrachtet man jedoch diese umge¬ 
kehrten Bilder mit Linsen, welche eine voll¬ 
ständige Umkehrung derselben geben, so er¬ 
hält man nunmehr wieder ein aufrechtes Bild. 
Dies ist der seinem Wesen nach in allen 
„terrestrischen*' Fernrohren gebräuchliche Kon¬ 
struktionsplan. Die Länge dieses Fernrohres 
ist eine, namentlich im Vergleich zum Feld¬ 
stecher, sehr beträchtliche. Ein zwölffach ver- 
grösserndes Fernrohr kann man überhaupt 
kaum noch als für den „Handgebrauch** ge¬ 
eignet bezeichnen. Es werden alle Schwank¬ 
ungen der das Instrument haltenden Hände 
bemerklich und machen den Gebrauch des¬ 
selben, noch ehe eigentliche Ermüdung der 
Arme eingetreten ist, wenig angenehm. 

Die grosse Länge ist der hauptsächlichste 
Misstand bei den terrestrischen Fernrohren 
und auf Verkürzung desselben sind daher 
seit seiner Erfindung vor 250 Jahren die Be¬ 
mühungen der Gelehrten und praktischen 
Optiker stets ganz wesentlich mit gerichtet 


gewesen. So hat Fraunhofer wohl die 
höchste Stufe dessen erreicht, was ein Okular 
leisten kann, bei dessen Konstruktion nicht 
mehr als vier Linsen aus gleichem, leicht zu 
beschaffenden Spiegelglas angewandt Sind. 
Der Bau dieses Fernrohrs ist unleugbar kom¬ 
pliziert; besteht der Feldstecher aus nur zwei 
getrennten Linsen, so sind bei dem ter¬ 
restrischen Fernrohre im Ganzen mindestens 
fünf vorhanden, deren Herstellung und Ver¬ 
bindung entsprechend mehr Mühe und Kosten 
verursacht. 

Bisher waren die Bemühungen, ein kurzes 
Fernrohr mit grösserem Gesichtsfeld zu kon¬ 
struieren, ohne genügenden Erfolg. Die rühm- 
lichst bekannte optische Firma Zeiss in 
Jena hat nun einen neuen Weg eingeschla¬ 
gen. Er besteht darin, die Aufrichtung des 
von der Objektiv-Linse entworfenen umge¬ 
kehrten Bildes der äusseren Gegenstände 
weder in der beim Feldstecher, noch wie 
beim terrestrischen Fernrohr zu vollziehen, 
sondern dieselbe statt durch Brechungen des 
Lichtes in Linsen, mittels Reflexionen an 
Spiegeln erfolgen zu lassen. Es sind zu die¬ 
sem Zwecke zwei Paar Spiegel erforderlich, 
von denen jedes Paar einen rechten Winkel 
bildet und das zweite Paar gegen das erste 
um 90® gedreht ist. 

Die Objektivlinse eines Fernrohres ent¬ 
wirft z. B. von einem p nicht nur ein um¬ 
gekehrtes Bild, sondern es sind im Bilde auch 
rechts und links vertauscht (d). Ein recht¬ 
winkliges Spiegelpaar ist nun erforderlich, 
dieses Bild aufzurichten (q), und ein zweites 
zur Wendung von links nach rechts (p), so- 
dass schliesslich das verkleinerte Bild dem 
Gegenstände ähnlich ist. 

Statt der Spiegel verwendet man in der 
Optik sogenannte „total" reflektierende Pris¬ 
men, welche genau wie Spiegel wirken. Die 
Spiegelprismen sind rechtwinklig-gleichschenk¬ 
lige, die Hypothenuse Spiegelfläche und die 
Katheten Ein- und Austrittsflächen der Licht¬ 



strahlen. Wird nun eine Zusammenstellung 
von vier Spiegelprismen (Fig. i) mit dem 
Linsensystem eines Fernrohres verbunden, 
so muss das Fernrohr jetzt aufrechte Bilder 




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Russner, Neue Art von FERNGi.ÄSEhK. 


871 


liefern, wenn es 
ohne die Prismen 
umgekehrte gab. 

Ein astronomi¬ 
sches Fernrohr von 
vier bis achtfacher 
Vergrösserung ist 
an sich schon ein In¬ 
strument von ^sehr 
massigen und durch¬ 
aus handlichen Di¬ 
mensionen. Durch 
die Verbindung’mit 
der besprochenen, 

Prismenziisammen- 
stellung wird dasselbe in ein „terrestrisches" 
(d. h. mit aufrechten Bildern) Fernrohr von 
einer in jedem Falle viel geringeren Lange 
verwandelt. Man kommt auf diese Weise auf 
Dimensionen, die selbst die eines gleich stark 
vergrössernden Feldstechers noch erheblich 
hinter sich lassen, die Hälfte, ja den dritten 
Teil so gross sind. In Bezug auf Handlich¬ 
keit ist damit gewiss Alles erreicht, was irgend 
gewünscht werden kann. Das Sehfeld solcher 
Instrumente ist an Grösse und Beleuchtung 
durchaus dem der gewöhnlichen terrestrischen 
Fernrohre gleich, ihm sogar eher noch über¬ 
legen. 

Bei der beschriebenen Prismenzusammen¬ 
stellung ist der' austretende Strähl dem ein¬ 
tretenden parallel, aber seitlich gegen den¬ 
selben verschoben (Fig. i), und das Sehen 
nach entfernten Gegenständen bleibt somit 
unverändert. Diese parallele Verschiebung 
der Lichtstrahlen kann durch Versetzung von 
einem Prisma vor die Objektivlinse beliebig 
gesteigert werden (Fig. 2). Der Zweck nun, 
dem eine derartige Einrichtung von Fern¬ 
rohren dienen kann, ist ein doppelter. Erstens 
gestatten sie bei genügend grossem Betrage 
der genannten Verschiebung ein „um die 
Ecke sehen'*, d. h. ein Beobachten unter völ¬ 
liger Deckung des Beobachters. Nur das den 



Eintritt der Strahlen 
vermittelnde Prisma 
braucht dem anvi¬ 
sierten Gegenstand 
gegenüber frei zu 
liegen. Der Kopf 
und der übrige Kör¬ 
per des Beobach¬ 
ters kann dann 
hinter einer nach 
der Seite oder nach 
oben hin sich er¬ 
streckenden Schutz¬ 
vorrichtung voll¬ 
ständig versteckt 
sein, ohne dass die Beobachtung selbst irgend¬ 
wie beschränkt wird. Diese Eigenschaft macht 
diese Art Fernrohre namentlich für militär¬ 
ische Zwecke geeignet; doch giebt es auch 
manche andere Fälle, wo sie nützlich sein 
kann. Figur 2 stellt ein einfaches Fernrohr 
dieser Einrichtung vor. 

Noch wichtiger ist die Eigenschaft, welche 
derartige Fernrohre gewinnen, wenn man sie 
in geeigneter Weise paarweise verbindet. 
Für eine solche Vereinigung spricht gerade 
bei den mit solchen bildumkehrenden Pris¬ 
men versehenen Instrumenten schon von 
vornherein das äussere Aussehen. Das ein¬ 
zelne Fernrohr ist wegen der Verschiebung 
der Objektiv- und Okularachse in seinem 
Äusseren unsymetrisch. Versuche, diese Un- 
symetrie durch ein ohne Rücksicht auf das 
Innere möglichst symetrisches Gehäuse zu 
verdecken, haben eher noch zu weniger an¬ 
genehmen Formen des Ganzen geführt, als 
ein sich dem Inhalt ganz eng anschmiegen¬ 
des Gehäuse. Verbindet man jedoch zwei 
solche Fernrohre, so wird sogleich die Un- 
symetrie des Einzelnen in eine Symetrie des 
Ganzen verwandelt. 

Die Einfallsöffnungen für das Licht (Ob¬ 
jektiv) von zwei so kombinierten Fernrohren 
kann grösser als die Augenweite und auf ein 
beliebiges Vielfache der letzteren gebracht 
werden. Der Erfolg dieser Einrichtung ist 
nun, dass das betreffende Doppelfernrohr die 
Eigenschaft einer erhöhten Raumanschauung 
oder Tiefenunterscheidung, also eine gesteigerte 
Plastik der Bilder erhält, und zwar ist die 
auf diese Weise herbeigeführte Steigerung 
der Plastik gegenüber einem gleich stark ver¬ 
grössernden Fernrohr gewöhnlicher Art ganz 
auffällig, und man nennt deshalb solche Fern¬ 
rohre Relieffernrohre. Man hat die Erfahrung 
gemacht, dass der Benützer beim ersten Male 
oder selbst in der ersten Zeit der Benutzung 
sich dieser Eigentümlichkeit weniger bewusst 
wird, den Reiz kaum empfindet. Mit zuneh¬ 
mendem Gebrauch des Instrumentes tritt dann 



Fig- 3 - 


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872 


Russner, . Neue Art von Ferngläsern. 


gewöhnlich schnell eine wachsende Empfäng¬ 
lichkeit für diese Art von Eindrücken ein, 
die den Genuss zu einem immer grösseren 
macht, und Hand in Hand damit scheint sich 
die Fähigkeit des. plastischen Sehens auch 
mit unbewaffneten Augen zu steigern oder 
kommt wenigstens mehr zum Bewusstsein. 
Gelände, die im einfachen Fernrohr und selbst 
im gewöhnlichen Doppelfernrohr eine sich 
gleichmässig dahin erstreckende Fläche zu 
bilden scheinen, zeigen in einem „Relieffern- 
rohre** betrachtet oft auf den ersten Blick die 
mannigfachste Gliederung, es werden Wellen, 
Abhänge und Schluchten in ihnen bemerk¬ 
bar, man sieht auf einmal gleichsam die Luft, 
welche die hintereinander befindlichen und 
im einfachen Fernrohr ohne weiteres auf ein¬ 
ander projizierten Bodengebilde vor\ einander 
trennt. 

Um diese Vorzüge bequem und voll zur 
Geltung kommen zu lassen, ist einerseits eine 
sehr genaue Justierung der beiden mit ein¬ 
ander verbundenen Fernrohre nötig; die Bil¬ 
der müssen nicht nur genau gleich gross, 
sondern auch parallel gerichtet sein. Da der 
Grad der Plastik des Bildes in hohem Masse 
davon abhängt, dass beide Einzelnbilder scharf 
gesehen werden, die beiden Augen eines 
Menschen aber sehr oft Verschiedenheiten 
besitzen, so muss jedes einzelne Fernrohr für 
sich zum Einstellen eingerichtet sein, und es 
ist deshalb bei den von der Zeissschen 
Werkstätte hergestellten Instrumenten dieser 
Forderung Genüge geleistet. 



In den Figuren 3 und 4 sind zwei ver¬ 
schiedene Ausführungsformen für „Relieffern¬ 
rohre*' dargestellt. Bei der ersten ist der 
Objektivabstand nicht sehr vergrössert, weil 
dabei eine möglichst compendiöse Konstruk¬ 
tion erreicht und gleichzeitig eine sehr wahr¬ 
nehmbare Steigerung der Plastik im Bild her¬ 
beigeführt wird. Bei der zweiten AusfOhrungs- 
form ist auf Kompendiosität verzichtet und 
auf möglichst weite Trennung der Objektiv- 
öfihungen gesehen. Die beiden Fernrohre 
lassen sich durch ein angebrachtes Charnier 
zusammenklappen und dann leicht in einem 
Etui unterbringen. Bei gestreckter Lage der 
Fernrohre kann der z. B. hinter einem Baum 
stehende Beobachter zu beiden Seiten um 
denselben herumsehen. Mit zusammengelegten 
Rohren kann derselbe über ein sich nach 
oben erstreckendes Hindernis (Mauer) hinweg¬ 
sehen, wenn er die Rohre nach oben hält. 
Die Zusammenlegbarkeit der Rohre und ihre 
Benutzbarkeit in beiden Stellungen bietet 
übrigens die beste Gelegenheit, um sich prak¬ 
tisch von dem Nutzen und der grösseren 
Schönheit, kurz der Eigentümlichkeit der Bil¬ 
der zu überzeugen, welche dieselben beiden 
Fernrohre gewähren, wenn ihre Objektive 
sich das eine Mal in normalen, das andere 
Mal in erheblich vergrössertera Abstand von 
einander befinden. Die innere Einrichtung ist 
aus den Figuren 3a und 4a leicht ersichtlich. 

Als die Firma Zeiss sich das Verfahren 
der Umkehrung des vom Objektiv entworfe¬ 
nen Bildes durch Spiegel oder Prismen pa¬ 
tentieren lassen wollte, machte das Kaiserl. 
Patentamt aufmerksam, dass diese Methode 
bereits beschrieben und von dem französischen 
Ingenieur und Optiker Porro schon im Jahre 
1849 erfunden worden sei. Weitere Nach¬ 
forschungen haben nun ergeben, dass sich 
die Erfindung Porros auf die Verkürzung des 
Fernrohres in Verbindung mit der Bildauf¬ 
richtung durch Prismen beschränkte. Weder 
der Gedanke einer Verbindung dieser Fern¬ 
rohre zu Doppelfernrohren, noch die Ein¬ 
richtung „um die Ecke sehen** und zum „ste¬ 
reoskopischen** Sehen ist bei Porro oder 
irgend einem seiner Nachfolger aufgetaucht. 

Es ist nun die Frage zu beantw'orten, wie 
es denn gekommen ist, dass jene früheren 
Erfindungen und namentlich diejenigen Porros 
als die ältesten und nach und nach ganz in 
Vergessenheit geraten sind, und dass schon 
seit zwanzig Jahren kein Optiker dieselben 
mehr ausführt. Beim Versuch der praktischen 
Ausführung zeigt sich, dass die Verwirklich¬ 
ung der beschriebenen, auf dem Papier so 
einfachen Konstruktionen, wenn sie praktisch 
befriedigend sein sollen, gar nicht unerheb¬ 
liche technische Schwierigkeiten darbietet und 


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Russner, Neue Art von Ferngläsern. 


873 


Fig. 4. 



die gleichzeitige Erfüllung einern ganzen 
Anzahl von Bedingungen erfordert, die zum 
Teil damals überhaupt nicht erfüllbar waren. 
Erstens versagen bei diesen Konstruktionen 
die gewohnten Verfahren zur Zentrierung der 
verschiedenen Bestandteile; es sind andere, 
unvergleichlich schwerer anwendbare Ver¬ 
fahren zur richtigen Einhaltung der Zentrier¬ 
ung erforderlich, damit die Qualität des Ge¬ 
samtbildes nicht verdorben wird. Die Er¬ 
reichung eines befriedigenden Bildes stellt 


zweitens sehr hohe Ansprüche an die Aus¬ 
führung der im Fernrohr wirksamen Prismen. 
Namentlich müssen die als Spiegelflächen 
wirkenden Hypothenusenflächen der Prismen 
die vorausgesetzte Ebenheit in ausserordent¬ 
licher Vollkommenheit besitzen. Als Material 
für die Prismen muss man ferner Glas von 
einer so vollkommenen Durchsichtigkeit wäh¬ 
len, dass beim Durchgänge des Lichtes durch 
die grossen Glasschichten eine wahrnehmbare 
Schwächung des Lichtes durch Absorption 
nicht eintritt. Dies war für Porro und auch 
für seine Nachfolger nicht möglich, weil es 
zu jener Zeit ein Glas, das solchen An¬ 
sprüchen genügte, überhaupt nicht gab. Gläser 
von solcher Reinheit hat der Optik erst die 
von Professor Abbe und Schott in Jena 
errichtete Glasschmelzerei für optische und 
andere wissenschaftliche Zwecke zur Verfüg¬ 
ung gestellt. Erst seit wenigen Jahren ist 
daher dieser Teil der Aufgabe überhaupt lös¬ 
bar, jeder frühere Versuch musste notwendig 
aus diesem Grunde fehlschlagen. 

Die Leser werden es nach dem kurz Ge¬ 
sagten verständlich finden, dass es auch der 
vorzüglich eingerichteten optischen Werkstätte 
von Zeiss in Jena nicht gleich beim ersten 
Anlaufe gelungen ist, ein ganz befriedigen¬ 
des Resultat zu erzielen, dass es vielmehr 
längerer theoretischer wie technischer Vor¬ 
arbeiten und Studien bedurft hat, ehe der 
Erfolg den Erwartungen entsprach und elie 
Einrichtungen geschaffen waren, die ein 
dauernd gutes Funktionieren jedes die Werk¬ 
statt verlassenden Instrumentes gewährleisten. 



Fig. 4a. 


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874 


Zieler, Der DEurscHe Roman im Jahre 1897. 


Der deutsche Roman im Jahre 1897. 

Von Gustav Zieler. 

Fast wie ein Haufe Schnee, den die 
Sonnenstrahlen schnell in Wasser aiiflösen, 
kommt Einem der turmhohe Haufe bedruckten 
Papiers vor, den geschäftige Federn auch 
im Jahre. 1897 wieder mit schncllferiigcn 
Romanen und Novellen bedeckt haben, wenn 
man sich ihm mit dem scharfen Lichte der 
Kritik naht. Der Vergleich mit einem sanft 
rieselnden Bächlein liegt nahe genug. Aber 
zum Glück stimmt dieser Vergleich nicht voll¬ 
ständig. Nicht Alles bringt die Sonne zum 
Schmelzen. 

Zum Mindesten muss man anerkennen, 
dass der deutsche Roman in besserer Lage 
ist, als das deutsche Drama : in engerem Zu¬ 
sammenhang mit dem Leben der Gegenwart 
stehend, origineller und selbständiger in der 
Modellierung seiner Charaktere, tiefer gehend 
in der Behandlung seiner Probleme, reicher 
und anziehender auch an Individualitäten 
unter seinen Dichtern. Freilich sind wir noch 
weit davon entfernt, dass der zeitgenössische 
Roman wirklich ein Bild der sämtlichen un¬ 
sere Zeit bewegenden Gedanken, ein volles 
Zeitbild darstellte. Aber das ist auch nicht 
verwunderlich, wenn man den Bedingungen 
nachgeht, die ein solcher Niederschlag des 
gesamten Geisteslebens einer Zeit voraussetzt. 
Der Fluch unserer Zeit ist die Unklarheit, 
der Mangel an positiven Zielen. Nur in der 
Negation des Bestehenden treffen sich die 
verworrenen Stimmen, im üebrigen herrscht 
in den, Köpfen das Chaos. In diesem Zu¬ 
stande der allgemeinen Gährung ist das natur- 
gemässe Korrelat in der Litteratur eine Fülle 
von spgen. vielversprechenden Talenten, deren 
Versprechungen man aber meist nicht allzuweit 
trauen darf, Talenten, denen Abrundung fehlt, 
mit einem Wort Talenten, aber keinen Char¬ 
akteren. So zeigt denn ein Blick auf die 
zahllose Menge Derer, die in deutschen Landen 
die Feder schwingen, eine Reihie geistreicher 
Köpfe, aber im Ganzen verhältnismässig nur 
wenige wirklich ausgeprägte Physiognomien, 
und als das Ergebnis ihres Schaffens eine 
Anzahl gut beobachteter Lebensausschnitte, 
aber keinen Versuch, das gesamte Leben der 
Zeit (in der Weise des „Wilhelm Meister“) 
zusammenzufassen. 

Die geistige Bewegung, die von all den 
mannigfaltigen Strömungen der Gegenwart 
bereits am meisten zur Klarheit gekommen 
ist und die am tiefsten und am weitesten über 
die Oberfläche der Zeit ihre Wellen geworfen 
hat, ist die Frauenfrage. Kein Wunder also, 
dass die Litteratur immer und immer wieder 
dieses Thema anschlägt und nach den ver¬ 


schiedensten Richtungen variiert, kein Wunder 
auch, dass, wie von anderer Seite bei Be¬ 
sprechung des Romanes 1896 an dieser Stelle 
betont worden ist, die Frau selbst nicht nur 
als Romanheldin, passiv, sondern aktiv als 
Romandichterin so lautes und gewichtiges 
Zeugnis von ihrer geistigen Befreiung ablegt. 
Und die Frau unserer modernen Litteratur 
ist nicht etwa an der Pforte stehen geblieben 
und hat sich begnügt, ftlr ihre wirtschaftliche 
Gleichstellung im Daseinsringen einzutreten, 
sondern sie hat immer stärker auch die 
ethische Seite des Kampfes betont, hat den 
Noragedanken weiter ausgesponn^n, der vom 
Manne ein verständnisvolles Eingehen auf die 
spezifische Natur der Frau verlangt, und um’ 
das Zugeständnis ringt, dass die Frau eine 
selbständige, eigenartig konstruierte Indivi¬ 
dualität ist, zu deren Verständnis durchzu¬ 
dringen vor Allem in der Ehe die Aufgabe 
des Mannes sein muss. Diese Erkenntnis 
hat Abgründe im Leben geöffnet und in der 
Litteratur eine zahlreiche Reihe von Werken 
gezeitigt, die mit dieser neugewonnen Fackel 
teils bang, teils kühn in die Durchschnitts¬ 
ehe unserer Tage leuchten. 

Nieman hat das mit so unerbittlicher Ruhe 
und Klarheit gethan, wie die so schnell auch 
bei uns in Deutschland berühmt gewordene 
Österreicherin Emilie Mataja, bekannt 
unter dem Pseudonym Emil Marriot, in 
in ihrem neuesten Roman „Junge Ehe“. ‘) 
Wir rechnen ihn zu den bedeutendsten Werken, 
welche die neuere deutsche Romanlitteratur 
kennt. Er zeigt eine Klarheit und Schärfe, 
der Beobachtung, eine Reife des Urteils, eine 
Unbefangenheit in der Charakteristik und in¬ 
folgedessen eine Plastik der Modellierung zu¬ 
gleich mit einer strengen Folgerichtigkeit in 
der Durchführung des Themas, wie sie unter 
den Schriftstellern unserer Tage siöh selten 
finden. Ich wüsste keinen Mann, der die Seele 
der Frau so bis in ihre innersten Regungen 
kännte, wie Marriot die Seele des Mannes. Sie 
verurteilt nicht, sie entstellt nicht, sie schildert 
nur die Wirklichkeit. Und darum wirken 
ihre Bücher so eindringlich: was in ihnen 
vorgeht, erscheint nicht als Konstruktion, son¬ 
dern als wirklich, zugleich aber durch die 
Kunst der Dichterin auch als notwendig. Diese 
junge Ehe der schüchternen, zarl veranlagten, 
weltfremden Bürgerstochter Fanny und. des 
weltgewandten, vielbegehrten, robusten Gesell¬ 
schaftsmenschen, Dr. Alexander kann nicht 
harmonisch zusammenklingen. Von ihm zu 
ihr führt keine Brücke des Verständnisses, 
wohl aber von ihr zu ihm, wenngleich es ihr 
harte Mühe kostet, sich diese Brücke zu 


') Berlin, Freund & Jeckel. 


k 


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Zieler, Der deutsche Roman im Jahrf 1897. 


875 


bauen. Dann aber erkennt sie den Gatten 
auch bis in die Tiefen seines Wesens. Mit 
dem Seherblick der Frau weiss sie genau, bis 
wohin sein, des „Starken, Harten, Selbst* 
bewussten“ Verständnis für ihre Natur gehen 
wird, dass seine Seele durch das Leiden wohl 
erschüttert, nicht aber von Grund aus ver¬ 
ändert werden konnte, und dass das Beste, 
was sie aus dem SchifFbruch ihres Lebens 
retten konnte, die Resignation ist. Mit be¬ 
wundernswerter Seelenkenntnis hat Marriot 
die Entwicklung dieser beiden Charaktere vor 
uns vollzogen, beide bleiben sie stets in den 
Grenzen ihrer Natur, an beider Entwicklung 
glauben wir darum. Und wir sind der Ver¬ 
fasserin dankbar, dass sie nicht versucht, 
schönfärberisch und nur, um einen Schluss 
zu erzielen, schliesslich eine Harmonie vor¬ 
zutäuschen. 

In schroffen Gegensatz zu den landläufigen 
Emanzipationsbestrebungen stellen sich zwei 
Schriftstellerinnen, die zwar weit entfernt sind, 
etwa reaktionär gegen die geistige Befreiung 
der Frau aufzutreten, die aber scharfblickend 
genug sind, um zu erkennen, wohin die sog. 
offizielle Frauenbewegung führt, woher sie 
entsteht und welche wesentlichen Seiten der 
Frauennatur sie ausser acht lässt. Für Laura 
Marholm, die zur Zeit wohl die bestge¬ 
hasste, aber .zugleich zweifellos ejne der klar¬ 
blickendsten und klügsten Schriftstellerinnen 
der Gegenwart ist, erhält das Leben der Frau 
erst seinen Wert, wird die Frau erst Voll¬ 
mensch durch und neben dem Mann. Neben 
dem Ziele der Mutterschaft und Gattin des 
Gatten kommt alles andere nicht in Betracht. 
Das Leben der Frau, die diese Ziele, — beide 
Ziele: Gattin und Mutter — nicht erreicht, 
ist „totes Leben“, mag die rein menschliche 
Bildung der Frau auch noch so hoch sein — 
zum Vollmenschentum bedarf sie des Mannes. 
Das ist das Thema von Laura Marholms 
„Frau Lily als Jungfrau, Gattin und Mutter'*, *) 
es ist das Lied von der Auferstehung der Frau 
in der Ehe zu neuem eigenen Leben. Dieser 
Gedanke wird u. A. scharf, wenn auch sehr 
extrem ausgedrückt, indem Lilys Gatte am 
Schlüsse sagt, erst habe er sie „aufgefressen“ 
und „dann wieder aus seiner Rippe geschaffen“. 
„Darum hast du auch deine eigene Jugend, 
und was hinter meinem Erscheinen lag, ver¬ 
gessen“. Es ist das, wie gesagt, sehr extrem, 
sehr schroff ausgedrückt, so schroff, wie man 
eben spricht, wenn man seine grundsätzliche 
Gegnerschaft bekennt und lieber etwas zu 
viel, als zu wenig sagt. Ich bin mir nicht 
klar darüber, ob Frau Marholm die Konse¬ 
quenzen ihrer Auffassung auch nach der Seite 


') Berlin, Karl Duncker. 


des Masculinum zieht. Soll nur die Frau im 
Manne ihre Ergänzung zum Vollmenschentum 
finden, oder ergänzt umgekehrt auch die 
Frau den Mann in einer Seite seines Wesens? 
Will Frau Marholm, mit anderen Worten, 
ihre Lehre nur auf die Frau als Geschlechts¬ 
wesen beziehen, oder hält sie die gleiche 
Lehre auch ftlr den Mann als Geschlechts¬ 
wesen in petto und kennt gleichzeitig für beide 
auch noch bestimmte, rein menschliche Lebens¬ 
aufgaben? Ich weiss nicht, ob sie diesem 
Parallelismus irgendwo in ihren Schriften 
durchgeführt hat. Die Konsequenz ihres Aus¬ 
gangspunktes stellt er ohne Zweifel dar. Und 
eine Konsequenz, zu der sich jeder ruhig und 
nüchtern Denkende bekennen wird. . . . 

Aus ganz anderem Holze wie Laura Mar¬ 
holm ist die zweite der Emanzipierten-Feinde, 
Frau Marie Janitschek, geschnitzt. Der 
Roman, in dem sie ihre Gegnerschaft rück¬ 
haltlos bekennt, ist „Die Amazonenschlacht“ J) 
Marie Janitschek kann ihre Herkunft von der 
subjektivsten aller Künste, der Lyrik, nirgend 
verleugnen. Ruhige objektive Betrachtung der 
Wirklichkeit und die Kunst, die Welt auch mit 
den Augen ander* zu sehen, diese Kunst, durch 
welche allein lebendige Plastik der Figuren er¬ 
reicht wird, ist ihr nicht gegeben. Ihr leiden¬ 
schaftliches Temperament beherrscht völlig 
den Verstand. Ihr Schaffen ist ganz lyrisch, 
— einseitige Vertiefung subjektiver Eindrücke 
und Wiedergabe dieser Eindrücke mit rück¬ 
sichtslos individueller Färbung. Ein indivi¬ 
duelles, einmaliges Erlebnis erscheint ihr ohne 
Säumen als der^ Läuf der Welt. Mit einer 
fast kindlichen Schnelligkeit heisst ihr gleich 
„Alles böse oder gut. Aus ihrem eigenen 
Kopfe nimmt sie keck der Dinge Mass, die 
nur sich selber messen.“ Trat diese Eigen¬ 
heit ihres Schaffens schon bei dem im vorigen 
Jahresbericht gestreiften Skizzenbande „Vom 
Weibe" hervor — schon der Titel ist für die 
verallgemeinernde Wesensrichtung der Ver¬ 
fasserin bezeichnend —, so macht sie sich 
noch stärker in „Die Amazonenschlacht“ und 
in „Ninive* geltend. In dem erstgenannten 
Buche wird die offizielle Frauenbewegung mit 
scharfer Lauge begossen. Ein Blick hinter die 
Coulissen hat der Verfasserin gezeigt, dass viel 
kleinlicher Ehrgeiz, Brotneid, Altjungferntum, 
Eitelkeit in den Reihen der Vorkämpferinnen 
wirkt. Sofort ist sie mit der Folgerung bei 
der Hand: Alles ist Phrase. „Aus rein ide¬ 
alen Gründen, ohne Seitenblick auf die För¬ 
derung des eigenen Interesses, stand wohl 
keine der Frauen in der Bewegung." Das 
ist das Resultat des kurzen Aufenthalts ihrer 
Heldin in Berlin, die alsbald reuig zum Gat- 

*) Leipzig, Verlag Kreisende Ringe, 


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ZiKLER, Der deutsche Roman im Jahre 1897. 


ten zurückkehrt, völlig geheilt von ihren As¬ 
pirationen nach Freiheit und Selbständigkeit. 
Dieselbe Naivetät auch in „Ninive^',^) dem 
Anathema des modernen Grossstadttreibens, 
oder sagen wir gleich Berlins. Viele scharfe 
Einzelbeobachtung, ein sicherer Blick für 
Schein und Heuchelei, die sich so gern unter 
der Maske von Nächstenliebe und Sittlichkeit 
bergen, viel Sinn für den Humor der Dinge 
und manches wohlgelungene Profilbild, wie 
sich deren auch unter den Typen der Frauen¬ 
rechtlerinnen in der „Amazonenschlacht“ fin¬ 
den, — aber das Ganze eine ungeheuerliche 
Hyperbel, eine Einseitigkeit so horrend, dass 
man das Buch gar nicht ernst nehmen kann, 
wenn man auch die gesunde Entrüstung und 
den feurigen Wahrheitsdrang im Einzelnen 
anerkennen muss. Auch der neueste Roman 
der fruchtbaren Schriftstellerin „Ins Leben 
verirrt^,^) zeigt wieder die souveräne Nicht¬ 
achtung der Wirklichkeit. Die Frau der Ver¬ 
gangenheit, die unselbständige, verträumte, 
weltfremde Frau und ihr Extrem, der nüch¬ 
terne Mann der Gegenwart, der in der Zu¬ 
kunft lebt und dessen ganzes Streben auf 
Wirken geht, treffen einen Augenblick zu¬ 
sammen, und das Resultat ist, dass das Leben 
der Frau rücksichtslos zermalmt wird. Die 
Zeit des Träumens, des Lebens allein in und 
für die Schönheit gehört für die Frau end¬ 
lich der Vergangenheit an — das ist die 
Konsequenz. Andererseits enthält das Buch 
aber auch eine leidenschaftliche Absage an 
den nüchternen Utilitarismus der materialist¬ 
ischen Zukunft, der der moderne Mann rück¬ 
sichtslos nachstrebt, und efti heisses Sehnen 
nach einer Versöhnung von Schönheit und 
Nützlichkeit. 

Einem ganz anderen Felde entspringt das 
vierte der Bücher, das die Dichterin uns in 
diesem Jahre bescheerte, „Raoul und Irene**.^) 
Ich stehe dieser Erzählung ratlos gegenüber; 
bis zur vorletzten Seite glaubte ich an eine 
Persiflage des modernen dekadenten Jüngling- 
Greises. Aber die Verfasserin meint es wohl 
mit der Heldenschaft ihres Raoul ernst. Und 
damit hört mein Verständnis auf. 

Ein Talent, dessen bisherige Gaben, so 
ungleich an Wert sie sind, doch schon be¬ 
stimmt die Richtung erkennen lassen, in der 
seine Entwicklung fortschreiten muss, wenn 
es die in ihm liegenden Schätze heben will, 
ist Clara Viebig. Von ihren beiden Bänden 
ist der Novellenband „Kinder der Eifel*' 
zweifellos der bedeutendere. Der Roman 


Leipzig, Verlag Kreisende Ringe. 
Berlin, S. Fischer. 

*) Berlin. S. Fischer. 

*) Berlin, F. Fontane & Co. 


„Rheinlandstöchier**f) der Zeit seines Buch¬ 
erscheinens nach der spätere, ist bezüglich 
seiner Entstehung vermutlich der frühere. 
Die Verfasserin ringt in ihm noch fühlbar 
mit dem Stoff, sowohl was seinen Umfang 
als was seine gedankliche Bewältigung an-‘ 
langt. Aber in der Modellierung einiger der 
zahlreichen Gestalten des Buches offenbart 
sich bereits eine ungewöhnliche Kraft und 
Sicherheit. Vor allem in dem Teil, der in 
der heimischen Eifel spielt. Hier, merkt man, 
ist der Dichterin jeder Baum, jeder Luft¬ 
hauch, jeder Mensch bis in die letzte Faser 
bekannt, hier bricht starke Eigenart durch, 
während in den übrigen Teilen noch die kon¬ 
ventionelle Stoft'behandlung einen breiten 
Raum einnimmt. Der Inhalt ist die Geschichte 
einer Frau, deren Namen der Roman mit 
besserem Rechte tragen sollte: Neida Dallmer 
wird in der Schule des Lebens aus einem 
widerspenstigen Mädchen zu einer abgeklärten, 
selbständigen und in diesem Sinne modernen 
Frau. Die ungleiche Kräfteverteilung, die sie 
in der Jugend so unliebenswürdig und schwer 
zu behandeln erscheinen lässt, lenken schwere 
innere Erfahrungen in die richtigen Bahnen 
und führen so ein schönes Gleichgewicht der 
Seele herbei. Die Heldin, ihr Vater, ihre 
Mutter und ihr Oheim, der EifelbOrgermeister, 
sind prachtvolle, mit plastischer Schärfe ge¬ 
zeichnete Gestalten. Ihre eigentliche Kraft 
und eine instinktive Sicherheit der Darstell¬ 
ung aber zeigt Clara Viebig in den Eijeb 
noveilen. Es ist in erster Linie die ausge¬ 
prägt landschaftliche Färbung, was diesen 
Erzählungen Wert verleiht. Mehr und mehr 
werden sich die deutschen Stämme zum Heile 
der Kunst ihrer Sonderart bewusst, und aus 
zahlreichen Landschaften tauchen Sonder¬ 
talente hervor. Niederrheinische, Eifelwesens¬ 
art schildert uns Clara Viebig, und sie thut 
es mit der Anschaulichkeit und eindringlichen 
Wahrheit, wie sie nur aus innerster Vertraut¬ 
heit mit Land und Leuten entstehen können. 
Ihre Personen und ihre Geschichten wurzeln 
fest im Eifelboden, sind in anderer Umgeb¬ 
ung nicht möglich. Schwerfällig und eng¬ 
geistig, aber voll rücksichtsloser Willenskraft, 
das Kind eines armen Bodens, der nur un¬ 
willig Ertrag giebt, so tritt uns der Eifeier 
entgegen, im Alltagszustand ein stumpfer 
Arbeiter und Passgänger, gereizt aber ele¬ 
mentarer, wildester Leidenschaften fähig, wie 
sie nur der Mensch kennt, dessen Geist nie 
zu eigenem Leben erweckt ist. 

Ein anderer Autor, der es unternommen 
hat, eine deutsche Landschaft dichterisch zu 
entdecken, ist der Egerer Nikolaus Krauss, 


*■) Berlin, F. Fontane & Co. 


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Zieler, Der deutsche Roman tm Jahre 1897. 


877 


dessen Roman „Lene'* bereits durch die 
schlichte Poesie und den herben Ernst die 
Aufmerksamkeit auf sich zog. ln seiner 
Skizzensammlung „Im Waldtvinkel“ *) schil¬ 
dert er in kräftigen und zarten Farben, in 
liebevoller Treue, Egerer Land und Landes¬ 
sitten und Menschen, — schlicht und an¬ 
spruchslos, aber zu Herzen gehend und mit 
zartem Verständnis für die Poesie des 
Waldes. 

Richard Bredenbrücker, der Dichter 
des Grödner Gebietes, dessen derber kräf¬ 
tiger Humor und Treue in der Kleinmalerei 
seiner Menschen Bauernporträts geschaffen 
hat, die in ihrer Sauberkeit in Detail und 
Charakteristik an Dürersche Köpfe erinnern, 
wirkt in dem neuen Band, der nach der 
ersten Novelle „Der ledige Stiefel"^) heisst, 
bei allen Vorzügen doch durch die eingehende 
Breite auch im Nebensächlichsten ennüdend 
und ein wenig pedantisch. Das Buch ist 
förmlich eine Dialektstudie. In diesem Zu¬ 
sammenhänge ist auch der Rheinländer Wil¬ 
helm Schäfer zu erwähnen., der in seiner 
Sammlung „Die Zehn Gebote"*) bei aller 
gesuchten Knorrigkeit des Stils doch eine 
starke Eigenart beweist, der nur strenge 
Selbstzucht und die Erinnerung an den Satz 
„naturam si sequemur ducem“ not thut. 

Wenn man von den Schilderern land¬ 
schaftlicher Sonderart spricht, so dürfen Ilse 
Frapan und Charlotte Niese nicht ver¬ 
gessen werden, jene die liebenswürdige Malerin 
Hamburgischen Wesens, diese in Genreszenen 
aus dem Schleswiger Kleinleben, "beide in und 
wegen ihrer Beschränkung gross. Von Ilse 
Frapan liegt ein Band Novellen undSkizzen 
„In der Stille"^) vor, von Charlotte Niese 
ist der fällige Jahresband Grenzboten-Novellen 
erschienen unter dem Titel „Die braune Ma- 
renz und andere Geschichten".^) Während 
diese keine neuen Züge zu dem bekannten 
Bilde der Meisterin im Charakter-Kleingemälde 
hinzufügen, berührt Ilse Frapan zum ersten 
Male die moderne Ehefrage und schlägt in 
den beiden ersten Novellen ihres Buches 
Töne voll tragischen, bitteren Ernstes an. Auch 
Adalbert Meinhardt und Anselm Heine, 
beide als Novellistinnen schnell beliebt 
geworden, sind mit neuen Arbeiten {„Das 
Leben ist golden""*) und „Unterwegs" ^) auf 
dem Plan erschienen, die jedoch beide keine 
neuen Seiten anschlagen und kaum Über den 
guten Durchschnitt hinausragen. 

Ganz und gar nicht trifft dieses Urteil 


*) Berlin, F. Fontane & Co. *) Ebenda. 
*) Berlin, F. Fontane & Go. 

*) Berlin, Schuster u. LöfTler. 

Berlin, Gebr. Paetel. 

*) Leipzig, Fr. W. Grunow. 


auf Marie von Ebner-Eschenbach zu, 
die sich mit einem neuen Novellenbande 
„Alte Schule',''*) einstellt. Ich kann es ganz 
gut verstehen und auch mitfühlen, wenn der 
Verfasser der vorjährigen Revue von sich 
gesteht, kein rechtes Verhältnis zu dieser 
Dichterin gewinnen zu können und ihren 
Personen fremd gegenüber zu stehen. Es scheint 
mir immer, als wären die Personen bei ihr ver¬ 
hältnismässig Nebensache, und auch die Hand¬ 
lung habe nur geringen Eigenwert, als liege der 
Nachdruck und der Hauptreiz — dieser nun 
ganz sicher — in den feinen Gedanken über 
Welt und Menschen, — kurz: im Subjektiven. 
So auch in „Alte Schule^', wo wieder Vieles 
direkt als Selbstbekenntnis anmutet. In dem 
bedeutendsten Stück der Sammlung, der 
Künstlernovelle „Verschollen" fragt man we¬ 
nig, ob dieser alte „verschollene" Maler und 
sein junger Kollege und einstiger Schüler 
Menschen der Wirklichkeit oder ob die Spur 
von Handlung wahrscheinlich ist: man liest 
aber mit tiefer Anteilnahme und freudigem 
Entzücken die wundervollen Ausftihrungen 
über Kunst und Künstler und fühlt sich eine 
Stunde wohl im geistigen Umgang mit diesem 
bedeutenden, klaren, tiefen, milden und doch 
so feurigen Geist. 

Das gerade Gegenbild der ruhigen Weis¬ 
heit, als deren Typus mir Frau von Ebner- 
Eschenbach immer erscheint, ist das nervöse 
Funkensprühen des Geistes und die krank¬ 
hafte Sensibilität in dem Buche Hedwig 
Dohms „Sibilla Dalmar",*'^) entschieden 
einem der bedeutendsten Werke der modernen 
Litteratur. Leider ist der hohe psychologische 
Wert dieses Romans über dem zornigen Ge¬ 
schrei verloren gegangen, das sich ob seinerVer- 
öffentlichung in der Münchener Gesellschaft er¬ 
hob ; man zeigte mit Fingern auf die Modelle 
einzelner Gestalten, und die ungeschminkte 
Offenheit, mit der in wenig schmeichelhafter 
Weise der Schleier von dem sittenlosen Treiben 
erster Gesellschaftsschichten gezogen war, er¬ 
regte natürlich heftige Wut. Aber sei dem, 
wie ihm sei: mag hier eine bedauerliche In¬ 
diskretion vorliegen oder nicht, der ästhetische 
Wert des bewundernswürdig feinen psycho¬ 
logischen Gemäldes, dessen Verfasserin bis 
in die letzten Tiefen einer Frauenseele hinab¬ 
taucht, wird dadurch nicht berührt. Diese 
Treibhauspflanze, deren Wachstum in dem 
Warmhaus der modernen Gesellschaftserzieh¬ 
ung unnatürlich potenziert wurde, ist eine 
tragische Erscheinung. Glänzend begabt nach 
der Richtung des Intellektuellen und auch 
mit reichen Herzensgaben ausgestattet, ver- 


') Berlin, Gebr. Paetel. *) Ebenda. Ebenda. 
Berlin, S. Fischer. 


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878 


Betrachtungen und kleine Mitteilungen. 


pufft sie ihre Kräfte in dem faulen, über¬ 
hitzten Treiben des modernen Gesellschafts¬ 
lebens aus Mangel an Gelegenheit zu nutz¬ 
bringender Verwendung. Ein freier Atem¬ 
zug, naturgemässe harmonische Ausbildung 
und Verwertung ihrer Anlagen, ist, was ihr 
Not gethan hätte, um aus ihr ein wertvolles 
Mitglied der Gesellschaft und ein glückliches 
Menschenkind zu machen. 

Eine Meisterin der Seelenkenntnis, eine 
Frau von intuitivem Feingefühl, deren Bücher 
stets den Reiz des Aparten haben, ist Lou 
Andreas-Salom6. Ruth, ’) ihr diesjähriges 
Buch, ist wieder ein solches psychologisches 
Kabinetbild, dessen feine und tiefe Reize 
jedoch nicht einmal andeutungsweise in einem 
kurzen Referat skizziert werden können. 

Endlich möchte ich noch auf eine der 
sympathischsten und selbständigsten jüngeren 
Schriftstellerinnen hinzuweisen, auf Elsbeth 
Meyer-Förster, deren erste Erzählung 
„Das Drama eines Kindes" sofort die Augen 
der Kenner auf sich gezogen hatte. Ihr neuer 
Novellenband, heisst: Meine Geschichten. “) 
Unter der scheinbar leidenschaftslosen Ruhe 
ihrer Sprache zittert ein reiches Gemüt, das 
für das Leid des Menschen ein tiefes Gefühl 
hat; ein unbestechlicher Scharfblick enthüllt 
ihr die Heuchelei und Dummheit des mo¬ 
dernen Lebens, und mit ihrer knappen Dar¬ 
stellungsweise dringt sie den Erscheinungen 
und den Menschenseelen auf den Grund. Ihre 
künstlerische Persönlichkeit vereinigt die 
Gegensätze des Zarten und Herben, des 
Glatten und Bewegten. Auch der Humor, 
ein feiner vornehmer Humor gehört zu ihrem 
Bilde. Am bedeutendsten sind die beiden 
ersten Erzählungen des Bandes: „Die Tochter 
des Hauses“ und „Die Getrennten“. 

(Schluss folgt). 


Betrachtungen und kleine Mitteilungen. 

Im Anschluss an den „Fall Dreyfuss“ macht 
Amtsgerichtsrat C. Milferstaedtin der Deutschen 
Juristemeiiung das Recht der Exterritorialität der 
Gesandtschaft zum Gegenstand einer kritischen Be¬ 
trachtung. Das Recht der sog. Exterritorialität be¬ 
wirkt, dass der Gesandte, seine Familie, seine Be¬ 
amten und seine Dienerschaft ausgenommen sind 
von der Polizeihoheit, der Jurisdiktion und der Fi¬ 
nanzhoheit des Aufenthaltsstaats. In finanzieller Be¬ 
ziehung sind die Exterritorialen befreit von den 
direkten Staats- und Kommunalsteuern, in recht¬ 
licher Beziehung äußert sich das Recht darin, dass 
die Gesandten und ihr Personal weder polizeüichcn 
Massnahmen noch den bürgerlichen ooer Strafge- 

') Stuttgart, J. G. Cotta. 

») Berlin S. Fischer. 


setzen ihres Aufenthalts unterworfen und auch von 
dem Zwang befreit sind, in bürgerlichen oder Straf¬ 
prozessen sich als Zeugen vernehmen zu lassen. 
Correlat dieser Rechte ist, dass sie den Gerichten 
des Absendestaats unterworfen sind und dass dem 
Aufenthaltsstaat gegen schädliche Zettelungen der 
Gesandten Akte der Notwehr gestattet sind, die 
freilich vor den „unverletzlichen“ Personen Halt 
machen müssen. Der »Fall Dreyfuss“ zeigt nun in 
greller Beleuchtung, wie sich unter dem Schutze 
der Exterritorialität ein gegenseitiges „Spionage¬ 
recht“ ausgebildet bat. Um die Helastungsstücke zu 
erlangen, mussten eine Anzahl nach gemeinem 
Recht strafbarer Thaten begangen werden, wie Be- 
aintenbestechung, Diebstahl, Verletzung des Brief¬ 
geheimnisses, und alles dieses unter der Ägide 
dei' Exterritorialität nicht nicht nur straflos, sondern 
als völkerrechtlich ganz selbstverständlich betrach¬ 
tet. Mag das nun aber auch sein und durch die Gewalt 
der Thatsachen, die notwendig Kenntnis der gegen¬ 
seitigen Heereseinrichtungen verlangen, erzwungen 
werden, so ist die Einwirkung auf Privatrechte eine 
ganz unheilvolle und nicht zu billigen. War der 
Angeklagte wirklich nicht schuldig, so war cs 
eigentlich sein gutes Recht, sich auf das Zeugnis 
der Gesarxlten und ihres Personals darüber zu be¬ 
rufen, dass er nie einen Zettel, wie den ihm zuge¬ 
schriebenen an irgend ein Mitglied der deutschen 
Botschaft gesandt habe, dass er weder direkt noch 
indirekt mit einem Mitgliede der deutschen oder 
italienischen Botschaft in Verbindung gestanden habe 
u. s. w. mehr. Alle diese seine Schuld oder Un¬ 
schuld sicher beweisenden Beweismittel sind eben 
durch die Gewohnheitea des Völkerrechts abge- 
schnitten. Die deutsche Botschaft konnte nicht etwa 
durch eine amtliche Erklärung oder ihr Zeugnis 
die Feststellung der Wahrheit herbeilühren;, da das 
Verfahren streng geheim war, erfuhr dieselbe amt¬ 
lich nichts ynd deshalb nach, den für den 

diplomatischen Verkehr feststehenden Grundsätzen 
der Exterritorialität einfach Augen und Ohren ver- 
schliessen vor dem, was sich ausserhalb ihres, als 
Deutschland angesehenen Hauses, nur einige hun¬ 
dert Meter entfernt abspielte. Wenn die Fiktion 
der Exterritorialität solche Vorgänge nicht bloss 
möglich m^cht, sondern sogar als Recht konstatiert, 
so erscheint es völlig gerechtfertigr, dass dem 
Völkerrecht Oberhaupt der Charakter eines Rechts 
bestritten w'ird, und es ist kein Geringerer als 
Puchta, der dies in seinem Gewohnheitsrecht Teill, 
Seite 142 eingehend und schlagend begründet. Aber 
auch speziell gegen die hier behandelte Einrichtung 
der Exterritorialität wendet sich schon im Jahre 
1851 der französische Rechtslehrer Ortolan, der in 
einer Schrift: Les moyens d’aequ^rir le domaine 
international schreibt: La fiction de rexterritoriaUte 
se trouve en peip^tuelle contradiction avec les 
faits; on croit avoir donne une formule de solution, 
on n’a donnö cju’une Image fausse, occasion de con- 
troverses multiples, sous laauelle s’efface et dis- 
paralt la v^rite de decider. il serait temps de re- 
jeter de la pratique comme de ia theorie ces figures 
mensongeres, dont le droit romain et l’anciennc 
jurisprudence avaient beaucoup trop rdpandu Ic 
gout. Wie viel mehr gerechtferbgter ist der Wunsch, 
mit dieser Fiktion in Theorie und Praxis zu brechen, 
jetzt nach 46 Jahren, wo die moderne Rechtsan¬ 
schauung immer mehr verlangt, dass alle ohne 
Ausnahme vor dem Gesetz deich seien, dass 
Rechte des einzelnen in keinemFalle verletzt wer¬ 
den dürfen und dass die Paragraphen der Gesetze 
zugleich Ausdruck des ethisch Guten hach den An¬ 
schauungen der Zeit seien. 

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Betrachtungen und kleine Mitteilungen. 


879 



Der grösste bekannte Meteorstein. 


Von dem Riesen^Metoriten, den der unermüd¬ 
liche Nordpolarforscher Leutnant Peary von seiner 
diesjährigen GrOnlandfahrt nach Philadelphia heim¬ 
gebracht hat, geben wir obenstehend eine Abbild¬ 
ung. Der bläulich ■ schwarze Stein ist ungefähr 
12 Kuss lang, 8 Fuss breit und 6 Fuss hoch und 
wiegt circa 70 Tonnen. Er besteht der Hauptmasse 
nach aus ca. 92 Prozent Eisen und 8 Prozent 
Nickel, neben anderen in geringer Menge einge- 
sprengen Teilen. Der Stein wurde schon im Jahre 
1818 von John Ross am Kap York (Melvillebai) 
entdeckt, der auch Messer, welche sich die dortigen 
Eskimos aus dem Eisen gemacht, mit zurOckbrachte. 
Von neueren Forschem gelang es erst Peary wieder 
den Stein zu erreichen. Nachdem die Bergung 
desselben im vergangenen Jahre an der Unzuläng¬ 
lichkeit der mitgenommenen Hebewerkzeuge ge¬ 
scheitert, gelang es nunmehr mittelst hydraulischer 
Hebezeuge die sieben Fuss im Boden lagernde 
Metallmasse emporzuheben und derartig im Kiel¬ 
raume des Expeditionsschiffes unterzubringen, dass 
die Heimreise glücklich von Statten ging und die 
Ausschiffung am 2. Oktober in der Rhede von 
Brooklyn erfolgen konnte. Wie Leutnant Peary 
berichtet, betrachteten die Eskimos den seltsamen 
Stein mit Ehrfuixht und vermuteten darin etwas 
Übernatürliches. 


Warum sind die Tiere oben dtmkel und unten 
hell gef&rbt? Die Ansicht, dass die Rückenfarbe 
der Tiere, soweit sie mit der gewöhnlichen Um¬ 
gebung harmoniert, ihrer besseren Verber^ng 
dient, wie sie für Raub- und Beutetiere gleich 
nbtzHch erscheint, ist heute allgemein angenommen 
und wird sogar gestützt durch die scheinbaren Aus¬ 
nahmen der weissrOckigen Tiere, d. h. solcher, 
die in Polargegenden leben, wie der Eisbär, oder 
solcher, die nur im Winter, so lange Schnee in ihrer 
Heimat liegt, einen weissen Rücken bekommen, wie 
Schneehase und Schneehuhn, im Sommer aber auf 
dem Rücken Bodenfürbung tragen. Weniger ver¬ 
ständlich bleiben aber für viele Landtiere die hellen 
Farben und das Weiss der Unterseite, ^e dem 


Prinzig der „Schutzfai'be“ scheinbar widersprechen 
Dass darin aber auch ein Vorteil für das Tier liegt, 
gelang einem amerikanischen Maler Herrn Abbott 
H. Thayer jüngst zu erkennen. Er machte seine 
Beobachtungen an dem Schneehuhn,.dessen Gefieder 
die Abschattierung der Färbung ■;vom Braun des 
Rückens bis zum Silberweiss des Bauches in der 
einfachsten Fonii zeigt. Das Oberlicht macht es 
seiner Umgebung so ähnlich, dass es nahezu, wenn 
nicht völlig, verschwindet. Die Ursache seines Ver¬ 
schwindens wird auch hier auf die Thatsache ge¬ 
schoben, dass seine Färbung derjenigen seiner Um¬ 
gebung ähnlich isL Herr Thayer zeigt nun aber 
m geistreicher Weise, dass das Huhn, wenn er es 
seiner Umgebung auch am Bauche gleich färbte, 
nicht allein völlig sichtbar blieb, sondern er er¬ 
örtert auch gleichzeitig, worin die wahre Ursache 
seiner Unsichtbarkeit beruht. Er bemalte zu diesem 
Zwecke den Körper eines toten Huhns an seinen 
unteren Körperteilen so braun, dass sie den oberen 
Teilen gleich aussahen, und stufte eben so die 
Seiten ab, bis der Vogel überall gleichmässig ge¬ 
färbt war, wobei der Rücken seine natürliche Fär¬ 
bung behalten hatte. Dann setzte er den Vogel in 
lebensähnlicher Stellung auf den Boden. Die 
Wirkung war magisch. Was vorher in kurzer Ent¬ 
fernung unsichtbar war, wurde nun deutlich sichtbar, 
zum klaren Beweise, dass es einzig die Abschat¬ 
tierung der Färbung ist, welche den Namen der 
Schutzfärbung verdient, und dass es erst durch die 
Mitwirkung des Tageslichtes bewirkte zusammen¬ 
gesetzte Abschattierung ist, welche das Tier ver¬ 
birgt. Gleichmässig dunkel gefärbte Gegenstände 
erscheinen in Folge der Wirkung des Eigenschattens 
eben dunkler, als dieselben wimich sind und fallen 
deshalb ungewöhnlich auf, während die lichte Färbung 
der unteren Teile die Wirkung des Ligenschattens 
aufhebt, was bei den Erdvögeln und Säugetieren 
besonders günstig durch die allmähliche Abschat¬ 
tierung beeinflusst wird. Interessant ist, dass die 
Entdeckung dieses allgemeinen Gesetzes, die als 
eine wertvolle Bereicherung unseres Naturverständ¬ 
nisses zu bezeichnen ist, einem Maler gelingen 
musste, dessen schärfere Beobachtungsgabe für die 


Di -2 i:7ed by -J 



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I 


880 Betrachtungen und kleine Mitteilungen. 


Farbenwirkung, wie man sieht, den Naturforscher 
lehren kann. Protnetheus No. 433, 1897. 

• « 

• 

Zur Erkennung von Coupons- und Urkunden- 
fklschungen. Hicr/u bedient sich Blarez mit Erfolg 
zweier Flüssigkeiten, mit denen er die verdächtigen 
Stellen anfeuchtet. Die erste Flüssigkeit (eine Mischung 
von iT. Rizinusöl mit 6T. Alkohol) lässt ältere Ziffern 
dadurch erkennen, dass dieselben weit widerstands¬ 
fähiger gegen ihre auflösende Wirkung sind, als 
später hinzugedruckte Die zweite Flüssigkeit be¬ 
steht aus 2proc. wässeriger Natronlauge. Ihre 
Wirkung beruht in folgendem: Im Allgemeinen 
verfahren die Fälscher in der Weise, dass sie eine 
einzelne Ziffer einer Zahl ausradieren, alsdann die 
horizontalen Linien wieder nachziehen, und nun, 
um die Lücke, welche durch das Radieren in die 
Oberfläche des Papiers geschabt wurde, zu ver¬ 
decken, eine Schicht Sandarak-Fimiss auftragen und, 
wenn das Papier stark angegriffen worden ist, auch 
noch die Unterseite mit einem mattweisen Überzug 
versehen. Sobald die Fimissschicht trocken gewor¬ 
den ist, wird die neue Ziffer aufgedruckt. Dieselbe 
ist also nicht in unmittelbarer Berührung mit dem 
Papier, sondern wird durch eine dünne Firniss¬ 
schicht von demselben getrennt. Darauf beruht die 
Möglichkeit, die Fälschung zu entdecken. Befeuchtet 
man eine solche Stelle mit der Natronlauge, so 
wird die aufgedruckte Zahl leicht entfernt. Oft 
kann man sogar darunter noch die Ziffer erken¬ 
nen, die früher dort gestanden hatte, besonders 
wenn man das Papier, so lange es noch feucht ist, 
gegen das Licht hält. (joum. de pharm. et de Chim. 1897, 
V. 593 Pharmaceut. Zentralhalie XXXVIII, 709.) 


Die Konstitution des Morphins. Das Mor¬ 
phin ist das erste aus dem Pflanzenreich gewonnene 
Alkaloid; seine Entdeckung, die wir dem Apotheker 
Sertürner verdanken, stammt aus dem Jahre 1806. 
Es findet sich im Opium, dem eingedickten Milch¬ 
saft der von verschiedenen Mohnarten gelieferten 
Samenkapseln, vornehmlich des Schlafmohns (Pa- 
paver somniferum). Opium wird in Kleinasien, 
Persien, Ägypten und Ostindien gewonnen. Die 
beste Sorte kommt von Smyrna. Auch in China, 
Bulgarien, Griechenland, Südfrankreich, Italien, 
(Deutschland und England) bemüht man sich um 
seine Gewinnung. In naher Beziehung zu ihm 
steht ein Alkaloid, das ebenfalls im Opium vor¬ 
kommt, das Codeln. Es ist der Methylester des 
Morphins. Beide scheinen nach den neuesten Unter¬ 
suchungen von Martin Freund enge verknüpft 
zu sein mit dem Thebain (vgl. Umschau No. 28 
S. 506), das er ebenfalls im Opium in erheblicher 
Menge enthalten ist und darin von Thiboumery 
1835 aufgefunden wurde. Allerdings ist es bisher 
nicht gelungen, Thebain in ein Derivat des Mor¬ 
phins resp. Codelns überzuführen. Wir wollen von 
den neueren Untersuchungen über Morphin nur 
die wichtigsten anführen, diejenigen, welche zum 
Zwecke hatten, das komplizierte Morphinmolekül 
in einfachere Teile zu zerlegen, es zu spalten. Eine 
etwas brutale Reaktion, die Destillation des Mor¬ 
phins über Zinkstaub ist von grosser Bedeutung für 
die Erforschung der Morphinkonstitution gew’ordeii, 
da sie einen bekannten Kohlenwasserstoff, das 
Plienantftren, lieferte, dessen Kern also imMorphin- 
inolekül enthalten sein muss. Die Spaltung des 
Morphins und seiner Derivate in kohlenstoffarme 
stickstoffhaltige Verbindungen und in kohlenstoff¬ 
reiche stickstofffreie Körjjer ist bis jetzt in zweier¬ 
lei Art gelungen; einmal durch Linwirkung von 
Salzsäure und Essigsäureanhydrid auf Morphinver¬ 


bindungen, ‘) zw’eitens durch Zerlegung von Morphin¬ 
verbindungen unter Anwendung von Hitze oder 
durch Alkalien.*) ln beiden Fällen sind die erhalte¬ 
nen Stickstoffverbindungen sehr einfach zusammen¬ 
gesetzte Körper (im ersteren Falle Oxäthylamine, 
im letzteren Trialkylamine). Die stickstofffreien 
Produkte der Spaltung sind in beiden Fällen 
Derivate des Phenanthrens, welche vor kurzem*) 
von E. Vongerichten genauer untersucht 
wurden. L. Knorr hat auf Grund seiner Unter¬ 
suchungen eine Konstitutionsformel für das Morphin 
aufgestellt, die in Übereinstimmung steht mit allen 
über daselbe bekannten Thatsachen. Nach ihr ist 
das Morphin der Abkömmling einer Morpholin ge¬ 
nannten Base. Das Morpholin und eine Reihe von 
Derivaten desselben sind auch von Knorr syn¬ 
thetisch dargestellt worden. Die Knorrsche Morphin¬ 
formel steht auch im besten Einklang mit den Re¬ 
sultaten, welche Freund bei den schon erwähnten 
Untersuchungen des Thebains erhalten hat. s. 


Über die Schwingungen der Eisenbahn-Wag¬ 
gons im Betrieb sind seitens der österreichisch- 
ungarischen Eisenbahnbehörde Untersuchungen an¬ 
gestellt worden. Abgesehen von den Schwingungen 
infolge von Fehlern in der Strecke oder in der 
Kuppelung können vertikale und transversale 
Schwingungen unterschieden werden. Die ersteren 
sind immer schnell und kurz und folgen sich un¬ 
gefähr 300 in der Minute, sie vermehren sich mit 
der Zugsgeschwindigkeit und sind von Kurven un¬ 
abhängig. Ihre Ursache ist in der Exzentrizität des 
Schwerkraft-Zentrums der Räder zu suchen und 
man begegnet ihnen durch Vertikalfedern mit ent¬ 
sprechenden Gegengewichten; es bleiben dann nur 

g anz sanfte Schwingungen in der Fahrtrichtung. 

ne Transversal-Schwingungen sind unregelmässig; 
sie machen sich in ungleichen Intervallen und wech¬ 
selnder Stärke bemerkbar oder erscheinen wie mehr 
oder weniger andauernde Schwingungen um die 
Vertikale der Mittelaxe. Sie entstehen besonders 
in dem geradlinigen Teile der Strecke und werden 
in den Kurven schwächer. Ihre Entstehungsursachen 
sind vielfacher Natur und noch zu wenig erkannt, 
um eine Abhilfe zu finden. 

Revue Bcientifique 6. Nov. 1897. 


Seidenleim als Nährboden. In der Rohseide 
findet sich ein besonderer Leim mit eiweissartigen 
Eigenschaften, welcher dem Seidenfaden die feste 
harte Beschaffenheit und die graue Farbe giebt; 
derselbe löst sich in kochendem Wasser und bildet 
bei dem Erkalten eine grauweisse Gallerte. Diese 
Gallerte ist nach Marpmanns Untersuchungen- 
ohne jeden weiteren Zusatz ein vorzüglicher Nähr-^ 
boden für verflüssigende Wasserbazillen und ver¬ 
möge seines Schwcfel^ehaltes fhr Schwefelbakterien; 
auch Luftbakterien, viele Schimmelpilze und peptoni- 
sierende Keime gedeihen auf ihm. (Zcntraibi. f. Bak¬ 
teriologie etc. 1897. Pharm. Zentralhalie XXXVIII, —S— 


t) O. Fischer und E. Vongerichten. Ber. d. d. ehern. Gesell¬ 
schaft 19, 794. Knorr ebendaselbst 33, 181, 1113; 97 ’ ^‘ 47 - 

aj H. SchröUer und E. Vongerichten, Ber. d. d. chetn. Ge- 
scllsch. IS. 1487. ») 3O1 3939- : ‘ 


Die nSebsten Nummern der Umschau werden u. a. enthalteD; 

Bruinier, Die Zukunft des Deutschtums. — Berg, Zu Heines 
loojahrigcm Geburtstag, - G. Zieler, Der deutsche Roman im 
Jahre 1897 (Schluss). 


G. Horstmann's Druckerei. Fraokfml a. M. 


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DIE UMSCHAU 

ÜBERSICHT ÜBER DIE FORTSCHRITTE UND BEWEGUNGEN AUF 
DEM GESAMTGEBIET DER WISSENSCHAFT, TECHNIK, 
LITTERATUR UND KUNST 

herausgegeben vod i 

DR. J. H. BECHHODB. 


Wöchentlich eine Nummer. 

Zu bexiehen durch 
alle BuchhandluogeD und 
Poxtanatalteo. 

PosUehungspreUliste No. 7231 a. 

Verlag von: 

H. Be<ddM>ld Verlag, Frankfurt a. BL 


Neue Krftme ip’si. 


Preis vierteljährlich 
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Im Ausland nach Cours. 
Verantwortlicher Redakteur: 

Otto Adolf Wolters, Frankfurt a. BL 


>650. LJahrg. 1897. ii. Dezember. 


Die Zukunft des Deutschtums. 

Von Dr. J. W. B r u i a i e r. 

„Enreimpomerende Rasse diese Deutschen; 
Louis sagt, das Volk der Zukunft“. (Kaiserin 
Eugenie). 

Über das künftige Geschick unseres Volkes 
wird in allernächster Zukunft in unserem 
Reichstage einerseits, in Österreich ander¬ 
seits entschieden werden. 

Das deutsche Volk unserer Tage hat zwei 
Todfeinde: Angelsachsen und Slaven. Denn 
das sind unsere wirtschaftlichen Gegner. Heut¬ 
zutage mehr als jemals früher bestimmt das 
wirtschaftliche Leben die Geschicke eines 
Volkes; immer und überall ist ja das tägliche 
Brod. das erste, worum sich der Mensch 
kümmern muss. Der Angelsachse will das¬ 
selbe Stück Brod haben wie wir, der Slave 
dasselbe Gemach. Von den Franzosen aber 
trennt uns nur die graue Theorie. Mögen die 
Franzosen auch behaupten, dass Elsass-Loth- 
ringen zum Baume ihres Lebens gehöre: die 
deutschenJjMenschen allerdings fehlen ihrem 
Heere, ihrer Verwaltung, ihren Schulen und 
Arbeitsstätten, denen aber steht ja der gerne 
eingeschlagene Weg Über den Wasgau offen; 
das Land aber — und das allein nahmen 
wir uns wieder — haben sie nicht zum Leben 
nötig, wie ihre beispiellos schnell erfolgte 
wirtschaftliche Gesundung nach dem Zusam¬ 
menbruch von 1871 gezeigt hat. 

Wenn wir tiefer in die Geschichte hinein¬ 
schauen, wissen wir auch, warum die Jahr¬ 
hunderte lang grimmig befehdeten welschen 
-Erbfeinde“ keine Gegner des neuen deutschen 
Volkes sind, wohl aber die Angelsachsen und 
die Slaven, mit denen wir im Ernste noch 
niemals die Waffen gekreuzt. Man gestatte 
mir, zum Vorteile der besseren Einsicht, einen 

*) „Emst“ war der Kabinettskrieg der Russen 
mit Friedrich II. nicht. Den Markgrafen des Mittel¬ 
alters stand kein slavischer „Staat“ gegenüber. 

Umschau 1897. 


kurzen Rückblick auf unsere Vergangenheit. 
Die Völker haben ihre Götter, die sie 
stützen, aber auch, werden sie unwürdig, ver- 
stossen. Ich denke dabei durchaus nicht an 
jenseitige Mächte; der Gott eines Volkes ist 
etwas durchaus Diesseitiges, nämlich das der 
Menschheit selbst winkende Entwickelungsziel. 
Dieses stellt sich dar als die Ausbildung des 
Menschengeschlechtes zu einem selbständigen 
„Reiche“ organischer Wesen, neben Pflanzen 
und Tieren, als seine endgiltige Befreiung 
von den Schlacken des tierischen Ursprunges. 
Der ursprüngliche Mensch, noch ein reines 
Tier, steht gänzlich unter dem Banne der 
dann noch übermächtigen feindlichen Natur, 
die ihn überall und allezeit zum Kampfe ums 
Dasein mit ihr herausfordert. Dieser Kampf ums 
Dasein, ums bare Leben, füllt ja das Trachten 
des Tiefes aus. Der Entwickelungsgang der 
Menschheit kennzeichnet sich für jeden Ein¬ 
sichtigen als ein langsames, oft gehemmtes 
und unterbrochenes, schliesslich aber doch 
sicheres Losringen von den Fesseln der feind¬ 
lichen Natur, die in dem Masse, wie sie die 
Herrschaft über den Menschen verliert, unter 
die Herrschaft des Menschen gerät. Der Kampf 
ums Dasein wird, für die Menschheit im Allge¬ 
meinen mit jedem Tage leichter, weil der Geg¬ 
ner mit jedem Tage weniger gefährlich wird, 
der ja nur durch seine ungeheure tote Masse, 
nicht aber durch eigenes denkendes Wider¬ 
streiten wirkt; er dauert so lange an, als der 
Sieg über die Natur nicht endgiltig errungen 
ist. Erst dann — noch sind wir diesem herr¬ 
lichen Ziele sehr ferne — wird der Mensch, 
der tierischen UrsprungszOge entkleidet, wirk¬ 
lich „Mensch", ein über dem Tierischen er¬ 
habenes Wesen sein, der Herr, nicht mehr 
der Sklave der.Natur; erst dann wird er die 
nunmehr zusammenklingenden Kräfte seines 
Geschlechtes der Ausgestaltung eines wirklich 
menschenwürdigen Lebens im Genüsse des 
Geistigen weihen können. 

50 


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88a 


Bruinier, Die Zukunft des Deutschtums. 


Diesem, der Menschheit selbst gesteckten 
Entwickelungsziele streben nicht alle Völker 
mit gleichem Drange entgegen. Es ist eine 
thränenselige Lüge, dass alle Völker den¬ 
selben Wert hätten. Immer ist es ein Volk, 
das das Banner der Gesittung führen darf. Und 
da die Krone der Gesittung, als das schlecht¬ 
hin Gute, nur von Guten angestrebt werden 
kann, muss der Bannerträger ein Edelvolk 
sein: stark an Seele und Leib, furchtlos und 
kühn, arbeitsam, freiheitsdürstend, gerecht, 
unbestechlich, wahr, treu, grossmütig, barm¬ 
undwarmherzig, freigebig, dankbar aber dank¬ 
verschmähend, ungekünstelt natürlich, fröhlich, 
selbstlos, vornehm bescheiden, aber des eige¬ 
nen Wertes doch bewusst, jung in der Jugend, 
stark in der Manneskraft, weise im Alter,ein Has¬ 
ser alles Niedrigen, gehasst von allen Niedrigen. 
Wer das Banner trägt, besitzt damit zugleich 
notwendigerweise auch die Anwarte auf das 
staatliche Übergewicht über die Kümmer-, 
Füll- und Barbarenvölker; denn solange es 
Einzelvölker giebt, wird der Wettbewerb um 
gegenseitige staatliche Beherrschung nicht auf¬ 
hören, und da gewinnt natürlich der am besten 
Gerüstete. Im Anfänge seiner Laufbahn 
treibt den Führer der dunkle Drang vorwärts, 
die natürliche Schwerkraft seines besseren 
Wesens: der Entwickelungsgang ist ja keines¬ 
wegs von vorne, herein klar, klar ist immer 
nur der jeweilig grösste Widerstand der feind¬ 
lichen Natur. Einmal aber kommt für den 
Führer der tote Punkt, wo scheinbar der 
Arbeit genug gethan ist. Dann nahen sich ihm 
sein Gott und sein Teufel, ebenfalls etwas 
durchaus Diesseitiges, die immerdar im Hinter¬ 
gründe lauernde tierische Natur des Menschen, 
die zu überwinden ja sein Entwickelungsziel 
ist. Sein Gott weist ihn auf die Inschrift 
hin, die das Banner der Gesittung schmückt, 
die er nunmehr deuten soll: das Zauberwort, 
das allein den weiteren Weg zum Ziele führt, 
das Wörtiein „Warum?“, nicht: „Warum 
thun wir so ?*, sondern: „Warum ist dem 
so?" Erst die faustische Sehnsucht: „zu er¬ 
kennen, was die Welt im Innersten zusammen¬ 
hält“ giebt dem Menschen die Anwartschaft 
darauf, den vorläufig errungenen Sieg über 
die Natur auch festhalten zu können. Sein 
Teufel aber raunt ihm ins Ohr: 

„Die Zeit kommt auch heran, 

Wo wir was Guts in Ruhe schmausen mögen“. 

Wer ruhend geniessen will, wenn der 
Arbeit genug gethan zu sein scheint, der ist 
verloren. Geniessen dürfen- wir, denn die 
Welt ist kein Kirchhof; überall lacht Lenzünd 
Liebe, blinkt Wein und Sonne; aber wir 
dürfen über dem Geniessen des ewigen Stre- 
bens nicht vergessen, des Sinnens über dem 
Warum? 


Sobald der tote Punkt nicht überwunden 
wird, stockt die Entwickelung. Die Welt 
könnte nicht weiter gehen, wenn der dem 
Teufel verfallene Bannerträger sie weiter 
führen wollte. Die Welt muss aber weiter 
gehen. Verliert der bisherige Führer die 
Zügel, so schwingt sich sofort ein anderer 
auf den Wagen und über den Gestürzten 
rollt das Rad der Zeit. Hier haben wir das, 
was man die weltgeschichtliche Fügung nennt. 
Keine jenseitige Macht schleudert den unwürdig 
Gewordenen zur Seite: weil er sich im teuf¬ 
lischen Schlaraffenleben der Mittel begeben hat, 
die ihn auf der ersten Stelle hielten, musste 
ihm sein Erbe, der diese Mittel mitbringt, über 
den Kopf wachsen. 

Eine grossartige Tragik liegt in dem Ge¬ 
schick des unwürdig gewordenen, von Gott und 
allen guten Geistern aufgegebenen einstigen 
Bannerträgers. Sein Sturz erfolgt nicht jäh; 
aber das sichere Bewusstsein, auf ewig ver¬ 
loren zu sein, durchzuckt ihn auf einmal hell 
wie ein nächtlicher Blitzstrahl. So ist es dem 
Römer gegangen. Um die Wende des ersten 
Jahrhunderts v. Chr. war für ihn der tote 
Punkt gekommen. Da er nicht zu lesen ver¬ 
stand, packte diesen Herkules der Völker¬ 
teufel. Und — als ob das Schicksal selbst 
eingreifen wollte in den Gang der Dinge: in 
diesern selben Augenblicke stürmte es gewitter¬ 
gleich von den Alpen hernieder; der Deutsche 
meldete sich an, der Erbe des Banners. Da 
senkte sich bleischwer auf die BruSt des 
Römers der seitdem ihn fortwährend ängsti¬ 
gende deutsche Alp. Der Römer im frischen 
Siegeskranze der Zamaer Schlacht wäre 
über den nackten Wilden zur Tagesordnung 
übergegangen, wie sein Ahne den Gallier 
beseitigt hatte: der Römer der Circusspiele 
und Weizenspenden, der sklavengemästeten 
Muränen, der Ehegesetze und Kinderan- 
nehmungen, der Ächtungen, Majestätsver¬ 
götterungen und -Beleidigungen, der Ohren¬ 
bläser, Angeber und Speichellecker, der 
Messalinen, Nerone und Sejane, der ßn-de- 
sfrr/e-Römer wusste was der Deutsche kraft 
höherer sittlicher Edelkraft von ihm wollte 
und immer ungestümer von ihm fordern würde: 
die erste Stelle in der Welt. 

Hier war ein Edelvolk zur Erbschaft be¬ 
rufen, wie es in ähnlicher Herrlichkeit die 
Welt nur noch in den Griechen geschaut 
hatte. Einen Spiegel seines Mannesideals hat 
es uns in Siegfrieds Gestalt hinterlassen, die, 
wie sie uns aus der Verkümmerung des 13. Jahr¬ 
hunderts noch so herrlich entgegenleuchtet, eine 
Schöpfung der altgermanischen Volksseele ist. 
So dachten sich unsere Ahnen den hehrsten Ver¬ 
treter ihres Volkes, sich selbst in ihm spiegelnd. 
Wo in der weiten Welt ist ein Mann, der 


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Bruinier, Die Zukünet des DEUtscHTUMs. 


8^ 


ihm gliche? Man halte mit ihm z. B. das 
irische Heldenideal des Cuchulinn zusammen, 
um den Unterschied zwischen Barbaren und 
Adlichen handgreiflich zu haben. Ja, ein Edel¬ 
volk ohne Gleichen, wert die Welt zu retten, 
die in Moder versank! wert, es ganz allein, 
die Welt zu führen, zu beherrschen! 

Aber erst sollte sich noch ein schwerer 
Fehler des alten deutschen Wesens grausam 
rächen. Ihm gebrach es an weltlicher Klug¬ 
heit; an dem klaren Blick fbr die wirklichen 
Lebensbedürfnisse, den Rom in so vollendetem 
Masse besessen hatte. 

Die Staatskunst (Politik) ist im letzten 
Grunde nichts anderes als die Kunst, das 
wirtschaftliche Leben des Volkes zu unter¬ 
stützen, das, wie ich vorhin sagte, immer und 
überall das erste ist, worum sich der-Mensch 
kümmern muss. Wenn dieses Widerstand 
findet, kommt die Staatskunst, um die Wider¬ 
stände zu entfernen — wenn es sein soll, zu 
zertrümmern. Der Gang eines Volkes nach 
dem täglichen Brote aber geht immer den im 
Vaterlande sich findenden Strassen nach, von 
denen es in Zeiten beginnender Bebauung 
nur eine Art giebt, nämlich die Thäler der 
Flüsse. Und fragen wir nun; wohin blickt 
denn das deutsche Land? Wohin fliessen denn 
die deutschen Ströme und auf ihnen deutscher 
•Fleiss und deutscher Wagemut? Einzig und 
allein nach Norden und Osten. Und im 
Norden da lockt die tiefaufdonnernde See 
den Mut des freien Friesen auf sich hinauf 
und hinüber in die unbegrenzte Weite! Und 
im Osten da ladet die kaum besiedelte, un- 
gemein ergiebige, unendlich sich dehnende 
sarraatische Ebene den deutschen Bauer ein 
zur Siedelung! Der erste Verbreiter arischer 
Gesittung, der Grieche, ward der Herr des 
ägäischen Meeres; denn die Natur des 
Landes wies ihn darauf hin; der zweite, der 
Römer, ward der Herr des Mittelmeeres, weil 
sein Land ihm befahl, das zy werden; der 
dritte, und letzte, der Deutsche, hätte der 
Herr der weiten Welt werden müssen, wo 
auch immer das Weltmeer an das Gestade 
brandet. Dass dem nicht so ward, das ist die 
unselige Folge der Kurzsichtigkeit unserer 
Ahnen, die ihre Staatskunst nicht in dieselbe 
Richtung zu leiten verstanden, die das wirt¬ 
schaftliche Leben der Natur des deutschen 
Landes nach einschlagen musste. Unsere 
Staatskunst war anderthalb Jahrtausende lang 
von dem vornehm gedachten Wahn befangen, 
der Deutsche hätte, als Roms Nachfolger, die 
Verpflichtung übernommen, die handgreifliche 
römische Erbschaft zusammenzuhalten, wo 
doch nur die sittliche Pflichtaufgabe zur Banner- 
fOhrung zu übernehmen war. Der Deutsche 
spielte den getreuen Nachlasspfleger zu Gun¬ 


sten eines Oberhaupt nicht vorhaadenen 
„Roms“, erhielt künstlich die lateinische 
Sprache für alle Äusserungen des staatlichen 
Lebens, desgleichen das dem deutschen Ge- 
müte ewig fremde und widerwärtige römische 
Recht'und bis zum Jahre 1806 den Namen 
und die staatlichen Ziele eines heiligen 
römischen Reiches und römischen Kaisers. 
Die verlorene römische Sache hätte er laufen 
lassen sollen, wie sie laufen wollte; wohin es 
dann gekommen wäre, lässt die römische 
Geschichte des beginnenden 10. Jahrhunderts 
deutlich genug ahnen. Dieses unselige un¬ 
natürliche Streben nach dem Römerreiche war 
bei den Deutschen der Völkerwanderungszeit 
begreiflich; die Sonne verlockte den Nibel¬ 
ungen. Aber als die Völkerwanderung längst 
die herrlichsten Deutschen ans Messer geliefert 
hatte, besann sich die deutsche Staatskunst 
immer noch nicht auf ihr natürliches Ziel. 
Von Karl „dem Grossen“ an haben wir trotz 
mehrfacher Warnungen des Schicksals tausend 
Jahre lang Römischreichels gespielt, oder besser 
spielen müssen, weil unsere vielgerühmte Treue 
uns überall mitschleppte auf Romfahrten und 
Kreuzzügen, nach Italien, Frankreich und 
Spanien, statt über See nach Britannien und 
Skandinavien, statt Über Weichsel und Donau 
zu Wenden und Hunnen. So gewannen wir 
in den Romanen Erbfeinde, von denen uns 
kein Schatten zu trennen brauchte, weil eben 
nirgends unsere wirtschaftlichen Wege die 
ihren kreuzen. Die natürlichen Bahnen 
des wirtschaftlichen Lebens mussten infolge¬ 
dessen versanden, weil kein Kaiser sich um 
die immer wieder sich aus dem Schosse des 
Volkes heraus neu gebärenden Äusserungen 
der natürlichen Staatskunst des deutschen 
Volkes kümmerte oder doch so kümmerte, 
wie es seines deutschen Königsamtes gewesen 
wäre. Ach, ihn dünkte es ja vornehmer, 
Kaiser von Rom als Herzog der Deutschen 
zu sein, ihm schmeichelte es mehr sich von 
den glattgeschliffenen Welschen mit Tauben¬ 
pasteten vergiften zu lassen, als mit den ehr¬ 
lichen rauhen deutschen Seebären Bohnen mit 
Speck zu essen. Hengist und Horsa, die nor¬ 
dischen Wikinger, die Hansa, die Holländer zeig¬ 
ten viermal, wie man es machen müsse: ver¬ 
gebens. Hätte die unerschöpfliche Volkskraft des 
gesamten deutschen Volkes hinter diesen ele¬ 
mentaren Äusserungen des deutschen wirt¬ 
schaftlichen Lebens gestanden, so wäre All- 
deutschiand niemals in die vier Teile zerfallen, 
von denen keiner vom andern und am aller¬ 
wenigsten von seiner Mutter mehr etwas wissen 
will; die Sprachen Skandinaviens, Englands, 
Nieder- und Hochdeutschlands waren ja um 
500 — 600 noch fast völlig gleich, jedesfalls 
von einander nicht entfernt so verschieden, wie 

so' 


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884 


Bruinier, Die Zukunft des Deutschtums. 


das Lateinische vom Umbrischen oder das Jo¬ 
nische vom Dorischen, die doch zu einer 
Schriftsprache zusammengeronneij sind 1 Wäre 
der deutsche König über die deutschen Meere 
gezogen, an Belt-und Kanal, hätte er in ge¬ 
rechtem Kampfe den unberechtigten Trotz der 
kleinen Seekönige an Themse und Sund und 
den norwegischen Föhrden gebrochen und 
ihrer Völker herrliche deutsche Urkraft in den 
Dienst des grossen Gesamtvolkes gezwungen, 
so würde heute eine einzige niederdeutsche 
Schriftsprache von Hammerfest bis Gottschee, 
vom goldenen Thore bis in die russische 
Steppe hinein erklingen. Welch ein Traum, 
der heute Wirklichkeit sein könnte, ja sein 
müsste! Etwas mehr kümmert sich der Kaiser 
um die ZurOckdrängung der slavischen Völker¬ 
welle, die als die Folge des unseligen Weg¬ 
zuges der Ostgermanen dem deutschen Volks¬ 
körper bis ans Herz brandete. Der slavische 
Keil im deutschen Leibe zerriss ja den ganzen 
Zusammenhang zwischen Skandinavien und 
Deutschland und konnte im Besitze der so 
wichtigen inneren Zeile jederzeit zürn Todes¬ 
streiche gegen Skandinavien oder Westdeutsch¬ 
land oder Süddeutschland ausholen. Aber 
auch hier war alle kaiserliche Hilfe nur halbe 
That; der Markgraf, der Ritter, der Bürger 
und Bauer, kurz das Volk erntet allen Ruhm 
für die yyirklich grossartigen erzielten Erfolge, 
die grösste deutsche That des Mittelalters. 

Naar Oostland willen wij rijden 
Naar Oostland willen wij m6e! 

Al over de groene beiden, 

Vrisch over de beiden 1 
Daar weet ik een betere stCe. 

Noch heutzutage bewahrt dieses flämische 
Volkslied die Erinnerung an das ewig denk¬ 
würdige Zurückstauen des Slavenstromes. 
Eine Riesenarbeit, die bei natürlichem Gang 
der Dinge unnötig gewesen wäre, wenn näm¬ 
lich die Gothen in Russland sitzen geblieben 
wären und dann, was sicher eingetreten wäre, 
die anfänglich so unbedeutenden, wenig zahl¬ 
reichen, von Anfang an den Stempel des 
Kümmervolkes an sich tragenden Slaven auf¬ 
gesogen hätten. Die Wiedergewinnung des 
alten deutschen Landes an Ostsee und Oder 
und Donau, später auch an Memel und 
Weichsel, stellt sich als eine gewaltige That 
dar: aber ein deutsches Russland: welch ein 
Traum, der heute Wirklichkeit sein könnte, 
ja sein müsste! 

Ich besass es doch einmal 
Was so köstlich ist! 

Dass man doch zu seiner Qual 
Nimmer es vergisst! 

Im 17. Jahrhundert vollzog sich das Ge¬ 
schick. Von innen heraus zerrieben durch den 
unlöslichen Widerstreit zwischen völkischem 


Müssen und staatlichem Wollen zerfiel das 
heilige Reich und das Volk versank in einen 
todesgleichen Schlaf. Der deutsche Name war 
ausgelöscht aus der Reihe der Lebendigen. 
Es gab wohl Deutsche, aber kein deutsches 
Volk. Von 1618 bis 1715 von Schweden und 
Franzosen, Spaniolen und Italienern, Kroaten 
und Panduren und der eigenen Hefe ge¬ 
knechtet und gefoltert, geplündert und zer- 
schunden, genotzüchtet und angespieeh, als 
Tiere, nicht als Menschen behandelt, verlor der 
elende Bodensatz des einst edelsten Volkes 
seinen ganzen persönlichen und volklichen 
Stolz. Ja das Gefühl starb ganz, dass man 
noch ein eigenes Volkstum besass,. mochte 
es auch noch so jämmerlich sein, und wer 
ins Elend fuhr, zu Wenden, Welschen und 
Hunnen, der sah es für selbstverständlich an, 
sich zum Wenden zu wenden, zum Welschen 
zu fälschen und zum Hunnen zu verhunzen. 
In dieser Zeit wurde die elende Gesinnung 
geboren, die aus der Redensart „das Schlechte 
ist nicht weit her" uns entgegengrinst; der 
hundertfünfzig Jahre später noch Goethe, ein 
Kenner der Seele seines Volkes, das Wort 
verleiht, wenn er seinen Wilhelm Meister auf 
die Frage nach seinem Volkstum antworten 
lässt, er sei leider nur ein Deutscher. Leider 
nur ein Angehöriger des Volkes, das mehr 
,aij der wirklich^ Befreiung .der- .Mens.chhe^ 
von Unkenntnis und Unverstand und Aber¬ 
witz gearbeitet hatte, als alle anderen neu¬ 
zeitlichen Völker zusammengenommen! Du 
edler Hoelderlin, wie muss es dir durch die 
Seele gezogen sein, als du den Jammer dei¬ 
nes Volkes schautest, von dem du sangst und 
singen durftest: 

O heilig Herz der Völker, o Vaterland, 

Allduldend, gleich der schweigenden Mutter Erd’, 

Und allverkannt, wenn schon aus deiner 

Tiefe die Fremden ihr Bestes haben. 

In dieser Zeit, in tausend und ein Ge¬ 
fängnis gesperrt, verlor das Volk zum grössten 
Teile sein Freiheitsstreben und erhielt die Ober¬ 
grosse Mehrzahl von ihm jene bedientenhaften 
Unterthanenzüge, die uns bei der Betrachtung 
der deutschen Sprache und Geschichte des aus¬ 
gehenden 17. und des ganzen 18. Jahrhun¬ 
derts so anwidern, die wir noch jetzt in so 
vielen Punkten als Kainszeichen mit uns her¬ 
umschleppen müssen. Wer verargt es unsern 
grossen Geistern der letzten Jahrhundertwende, 
dass sie, angeekelt von dem jämmerlichen 
deutschen Wesen ihrer Tage, lieber Welt¬ 
bürger als Deutsche sein wollten ? Wen nimmt 
es Wunder, dass in unserem Jahrhundert bis 
in unsere Tage hinein so viele gerade gebil¬ 
dete Deutsche die Behandlung völkischer 
Fragen als Äusserungen eines rohen, unge¬ 
bildeten, atavistischen Triebes vornehm gering- 


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Berg, Heinrich Heine. 


885 


schätzend von sich weisen? Dass noch jetzt 
den meisten der volkliche Stolz nicht nur, 
sondern sogar der volkliche Sinn abgeht, 
und daraus wieder unzählige andere Stoff 
zu schwarzsichtiger völkischer Hoffnungslosig¬ 
keit schöpfen? Dass bei uns ein Unterschied 
gemacht werden kann zwischen Volk und 
Nation und es wohl heisst „Alles fhr das 
Volk'* aber „Nichts fhr die Nation"? Dass 
endlich bei dem Fremden, der unseres 
Volkes Edelwert nicht kennen lernen konnte 
in dem liebedienerischen scheuen Deutschen, 
den er bei sich beherbergte, sich die Überzeug¬ 
ung festsetzen konnte, dem Deutschen gegen¬ 
über könne man sich Alles erlauben, nicht nur 
bei Franzosen und Engländern, sondern sogar 
bei Polen und Magyaren? Hätte das Kümmervolk 
der Magyaren sich sonst erfrechen können, die 
am 21. September 1897 leider vergessenen 
Worte fallen zu lassen, „das grösste Wunderder 
Tausendjahrsfeier würde ein Deutscher sein, 
der kein Hundsfott sei?“ oder „das Deutsche 
müsse im Lande der Stefanskrone die Sprache 
der Hausknechte werden?“ — wenn es nicht 
von seinen Deutschen *) auf alle geschlossen 
hätte, von seinen Deutschen, die zwar gut genug 
waren, ihm die Anfänge jeder Bildung bei¬ 
zubringen, ihm das Feld zu bestellen, ihm 
das Erz zu schürfen, ihm Städte zu bauen, 
ihn vom Türkenioch zu befreien — aber zum 
■l-ohne daftir’ emen Fusstrltt. erhielten und 
ruhig hinnahmen, die Goldwährung, in der 
die Lumpen ihre Schulden zu bezahlen 
pflegen? Ja, es war die elendeste, erbärm¬ 
lichste, jammervollste Nation, die es jemals 
gegeben hat, dieser Haufen in sich uneiniger, 
ärmlich lebender, kleinlich denkender, vor 
jedem grossmäuligen Fremden, der ihm nicht 
die Schuhriemen zu lösen wert war, sich 
duckender, sich überall verlegen an den Wän¬ 
den herumdrOckender Deutscher in den zwei 
Jahrhunderten von 1648 bis 1866. 

(Schluss folgt). 


Heinrich Heine 

(geb. 13. Dezbr. 1797, gest. 17. Februar 1856). 

Von Leo Berg. 

Das erste Säkularfest eines Dichters oder 
Künstlers wie jeden hervorragenden Mannes 
hat gewöhnlich den Wert, dass man nun ein¬ 
mal überschauen kann, was er geleistet, wie er 
gewirkt, dass man ihn gleichsam von einem 
höheren Zeitstandpunkte aus betrachten kann. 

*) Ich habe nur die nord- imd westui^erländ- 
ischen im Auge, nicht die ganz andersdenkenden 
Sachsen, Banater, Schwaben und die Deutschen in 
der Batschka und Baranya. 


Es ist die Zeit, seine historische Stellung zu 
bestimmen. Das Urteil wird in sofern objektiv, 
als die persönlichen und parteilichen Motive 
fortfallen, welche sein Bild zu seinen Leb¬ 
zeiten entstellt haben. Nach dem Tode, 
oder doch eine gewisse Zeit danach, pflegt, 
wenigstens bei sehr berühmt gewesenen 
Dichtern, eine Reaktion einzutreten. Man war 
erst zu überschwänglich, nun will man um so 
vernünftiger, kritischer sein. Neue Talente 
sind aufgetreten, zum Teil von ganz anderer 
Art, man hat andere Kriterien, andere Me¬ 
thoden, Theorien und Probleme. Ist dann 
auch diese Periode vorüber,* so ist der Streit 
beruhigt, das Urteil geklärt, und dann kommt 
oft gerade der hundertste Geburtstag zur 
rechten Zeit, zwischen beiden Extremen hin¬ 
durch sein Ziel zur Beurteilung und Be¬ 
wertung zu nehmen. 

Für HeinVich Heine, dessen hundert¬ 
ster Geburtstag in dieser Woche überall ge¬ 
feiert wird, scheint der Zeitpunkt objektiver 
Beurteilung noch lange nicht gekommen zu 
sein. Der Streit über ihn wird vermutlich 
währen, so lange der Kampf zwischen Antise¬ 
miten und Juden in der alten Weise fortge¬ 
führt wird, wenigstens so lange es in Deutsch¬ 
land für Gewissenspflicht gelten wird, alle 
Fragen des Geistes vom beschränkten Partei¬ 
standpunkte zu betrachten. Jedenfalls giebt 
es kaum einen andern, nicht einmal einen 
noch lebenden Dichter, um welchen mit 
dieser Zähigkeit gestritten wird,wie ihn; und 
zwar gestritten um jede Zeile, um jede Eigen¬ 
schaft des Dichters wie des Menschen, kurz 
um jedes Blatt seines Ruhmeskranzes. 

Fast in jedem Punkte gehen die Mein¬ 
ungen über ihn so weit auseinander, als dies 
möglich ist. Lässt ihn der Eine als Lyriker 
gelten, um ihn als Feuilletonisten und Humo¬ 
risten um so entschiedener zu verwerfen (Graf 
Schack), rühmt gerade H. v. Treitschke, 
der sonst mit so viel Herzenspathos auf ihn zu 
schimpfen versteht, Heines Witz, den er noch 
über den Byrons und Voltaires stellt. Die 
Originalität, die man sonst an ihm be¬ 
wundert, spricht ihm gerade ein Mann wie 
Viktor Hehn ab, der in ihm nichts als einen 
niedrigen Imitator sieht, so etwa in der Art, 
wie gewisse Leute Tierstimmen nachzuahmen 
verstehen; und Gödeke z. B., der stumpfeste 
aller deutschen Litteraturhistoriker, findet nicht 
einen einzigen selbständigen Gedanken in ihm 
und erschrickt vor seiner geistigen Öde. Selbst 
Antisemiten pflegen den Künstler gelten zu 
lassen, den wieder Wolfgang Kirchbach ab- 
zuthun sich verpflichtet fühlte. Und schlim¬ 
mer steht es noch mit dem Menschen Heine, 
den selbst seine grössten Bewunderer fallen 
lassen. Man hat ihn als Abtrünnigen ver- 


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886 


BtKG, Heinrich Heine. 


dämmt, als zweimal Abtrünnigen, sogar als 
den typischen Abtrünnigen. Aber es hat 
Leute gegeben, die in ihm den guten 
Juden ^), (Karpeles) andere, die in ihm 
den besseren Christen erkannten; wieder 
andere, die in ihm einen reinen Sozialdemo¬ 
kraten verehren (Wilh. Bölsche), andere, die 
ihn als heimlichenRoyalistenentlarvten(Börne). 
Dem Einen war er nur Tendenzdichter und 
Pamphletist, dem Anderen ein reiner Formalist, 
der um einer schönen Wortstellung willen 
alle Ideale der Menschheit verriet. Man hat 
ihn als liederlichen Gesellen hingestellt, und 
man hat ihm wieder auch vergeworfen, dass 
er gar nicht einmal alle'die Mädchen geküsst 
hätte, die geküsst zu haben er in seinen 
Liedern uns vorschwindelt. 

Diese Widersprüche sind leicht fortzusetzen. 
Kurz, was Heine auch that, und wie er es 
that, er wird gleich heftig angegriffen; aus 
allem wird ihm ein Strick gedreht. Das geht 
nun freilich auch anderen Dichtern zuweilen 
nicht besser, so wird z. B. Goethe, den die 
Einen -als die Quelle aller höheren Ethik an- 
sehen, gerade in moralischer Hinsicht noch 
bis auf den heutigen Tag getadelt. Aber 
nach hundert Jahren pflegt man doch schliess¬ 
lich irgend wie zu wissen, mit wem man es 
zu thun hat. Es giebt sicherlich keinen 
Dichter von der Bedeutung Heines, den man 
noch nach hundert Jahren einfach als Dilet¬ 
tanten und faulen Macher abthäte. 

Heines Tragödie in seinem Leben war 
sein Judentum und es ist es geblieben, auch 
nach seinem Tode. Darüber kommt man in 
Deutschland nicht hinweg, so wenig man in 
gewissen Kreisen Englands, und selbstverständ¬ 
lich auch Deutschlands, nicht darüber hinweg¬ 
kommt, dass ein ungebildeter Fleischerjunge, 
der „kein Latein verstund“, Shakespeares 
Dramen geschrieben haben sollte. 

Für Heinrich Heine hat man bisher weder 
in ästhetischen noch in moralischen und po¬ 
litischen Dingen einen Standpunkt gefunden. 
Über ihn sind Bibliotheken zusammenge¬ 
schrieben; aber die eigentliche Heine-Forsch¬ 
ung ist, von ein paar rühmlichen Ausnahmen *) 

*) Vgl. auch: Heinrich Heine ein Nationaljude. 
Eine kntische Synthese von Max Jungmann, Berlin 
1896. Verlag von Siegfried Cronbach. 

*) Unter den jüngeren Heine-Forschem ist Louis 
P. Betz zu nennen, der ein paar fleissige, feinsin¬ 
nige und gut geschriebene Arbeiten über Heine 
veröffentlicht hat: „H. Heine und Alfred de Müsset“, 
„H. Heine in Frankreich“ (beide Zürich, Albert 
Müllers Verlag) und „Die französische Litteratur 
im Urteile H. Heines“ (Berlin, Wilhelm Gronau). — 
Neuerdings ist es Mode geworden, auf den alten 
verdienten Strodtmann zu schelten, der uns die 
erste und tüchtigste Heine-Biographie geschenkt hat, 
und auf dem die Arbeit aller Nachfolgenden beruht. 
Es ist wahr: Strodtmann ist schwerfälligen Geistes, 


abgesehen, in ödem Parteigetratsch und un¬ 
würdigen Sentimentalitäten stecken geblieben. 
Die glänzendste Ausnahme ist natürlich Georg 
Brandes, der Mann der weitesten Gesichts¬ 
punkte. Auch der feinsinnige Italiener Bern¬ 
ardino Zendrini (f 1879) sei hervorgehoben. 

Heinrich Heine ist am I3. Dezember 
1797 in Düsseldorf geboren. Sein Geburts¬ 
tag steht indessen nicht mit Sicherheit fest. 
Vielfach wird noch 1799 als Geburtsjahr 
angegeben. Das Jahr 1800, welches früher 
angenommen wurde, beruht auf einem Witz 
Heines, der einmal in Bezug auf seinen Ge¬ 
burtstag gesagt hat, er wäre einer der ersten 
Männer seines Jahrhunderts. Seine Jugend 
fällt in die Napoleonischen Eroberungskriege; 
und man wird von einem Manne keinen eng¬ 
herzigen Patriotismus verlangen, der als Kind 
alle natinonalen Grenzen verrückt sah und 
durchaus keinen Grund hatte, den Feind als 
einen in jeden Betracht heruntergekommenen 
Menschentypus zu betrachten. Und Über 
Heines Napoleonkultus sollte man im Zeitalter 
des Bismarckkultus etwas verständiger denken, 
zumal wenn man sich erinnert, dass er darin 
mit den besten Deutschen (Wieland, Goethe, 
Hegel, Varnhagen von Ense) übereinstimmte. 
Denn ein Genie hat immer eine Witterung 
für das Genie, wie der Bauer für das Wetter; 
das Genie bewundert eher das ihm feind¬ 
selige andere Genie, als der*Philister das ihih'’^ 
freundliche und nützliche. H. von Kleist 
hasste Napoleon, eben weil er in ihm den 
grössten, den unüberwindlichen Mann seines 
Zeitalters erkannte. 

Heine wurde von seinen Eltern zum Kauf¬ 
manne bestimmt. Die Geschichte, wie er nach 
Hamburg zu seinem Onkel, dem reichen 
Bankier Salomon Heine kam (einem in Folge 
von Heines boshaften Witzen vielfach falsch 
beurteilten Manne), ein Geschäft gründete und 
in wunderbar kurzer Zeit bankerott machte, 
das Alles ist bekannt. 1819 bezog er als 
Student der Jurisprudenz die Universität Bonn, 
wo August Wilhelm Schlegel einen bestim¬ 
menden Einfluss auf ihn ausübte. Im nächsten 
Jahre finden wir ihn in Göttingen, wo er sich 
dem Litteraturhistoriker Sartorius anschloss, 
der in Bezug auf Heine sich als Prophet be¬ 
wies ; denn er verkündigte ihm, was wörtlich 
in Erfüllung ging: eine grosse Zukunft, „in¬ 
dessen man wird Sie nicht lieben“. Im Januar 

er hat Heine zu sehr nachPhilistriahinübergezogen, 
er hat ihn wacker verteidigt, wo er gar keiner Ver¬ 
teidigung bedurfte, er hat ihn im innersten Kerne gar 
nicht verstanden. Aber wenigstens war er ehrlich. 
Und schliesslich: wer hat denn in Deutschland bis¬ 
her Heine verstanden? Man müsste denn erst die 
Kunst verstehen, einen Satiriker als Satiriker zu 
lesen. Nicht einmal Gustav Karpeles hat ihn ver¬ 
standen. 


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Berg, Heinrich Heine. 


887 


1821 erhielt der junge Student das consilium 
abeundi wegen einer Herausforderung zum 
Duell, das indessen veitelt wurde. In Berlin, 
wohin er nun ging, kam er bald mit den 
litterarischen Kreisen in Berührung, die sich 
in den Salons geistreicher Jüdinnen vereinten, 
und wo zuerst ein eigentlicher Goethe-Kultus 
aufkam. 

Heines dichterische Versuche gehen auf 
eine sehr frühe Zeit zurück. Er gehört zu 
den glücklichen Dichtern, denen schon mit 
ganz jungen Jahren unsterbliche Lieder ge¬ 
langen, z. B. „Die Grenadiere“ „Belsazar“, 
hier eine um so wunderbarere Erscheinung, 
als es sich um Gedichte von erstaunlicher 
Präzision des Ausdrucks handelt. Im Allge¬ 
meinen hat man freilich die oft nichtigen, 
sentimentalen Gedichte aus Heines Jugend¬ 
zeit, namentlich die uns heut ungeniessbaren 
„Traumbilder“, lange Zeit überschätzt. In¬ 
folge dessen ist seine geistige Physiogno¬ 
mie in ganz falsche Beleuchtung geraten. 
Die an Phantasie- und Gedankenreichtum weit 
grossartigeren, in der bis dahin unerreichten 
Festhaltung einer l3Tischen Stimmung den 
älteren Gedichten nicht nachstehenden Lieder 
und Gesänge der späteren Zeit, namentlich 
des „Romanzero“ sind über dem Ruhm des 
„Buchs der Lieder“, das unter diesem Titel 
als Sammlung 1827 zum ersten Male in Ham¬ 
burg erschienjiiißfZui^rem Rechte gekommen; 
genau wie seine bis zum heutigen Tage un¬ 
erreichten politischen Aufsätze und seine Kunst¬ 
feuilletons nie an Popularität mit den „Reise¬ 
bildern“ (1826/7) wetteifern konnten. 

Das jurisistische Examen, das der Dichter 
im Jahre 1825 machte, fiel nicht sehr glänzend 
aus. Er dachte im Ernst an eine wissen¬ 
schaftliche Laufbahn, und mit Rücksicht auf 
diese hat er sich noch in demselben Jahre 
taufen lassen; denn er musste sich „das Entree- 
billet zur europäischen Kultiu-“ verschaffen. 
Heine hat die Taufe nichts genutzt, wie sie 
noch fast keinen Juden etwas genutzt hat, 
weil die Judenfrage eben keine Religions-, 
sondern eine Rassenfrage ist; und sie wird 
um so weniger nützen, je mehr sich der Anti¬ 
semitismus ausbreitet. Und seit erst das schöne 
Wort von „Juden und Judengenossen“ aufge¬ 
kommen ist, nützt es nicht einmal etwas, als Christ 
geboren zu sein, wenn man kein Judenfresser 
ist. Wohl aber hat die Taufe Heine sehr 
unglücklich gemacht. Sein Drama „Almansor“ 
(1820/21), sein Novellenfragment „Der Rabbi 
von Bacharach“, seine Romanzen „Donna 
Klara“, „Almansor“, viele Lieder, Brief- und 
Prosastellen sind Zeugnisse dieses Schmerzes, 
des grossen Widerspruches der Natur unseres 
Dichters, welcher als Jude geboren, in einem 
christlichen Staate erzogen, im Grunde seines 


Herzens aber ein Heide war und geistig längst 
diese Widersprüche überwunden hatte; in 
einem Grade überwunden, wie nach ihm viel¬ 
leicht nur Friedrich Nietzsche, mit blutendem 
Herzen und unter-Aufopferung des persön¬ 
lichen Glücks. Heine stand immer wo anders, 
als wohin das Steuer seiner Sehnsucht ging. 
Aber geweint hat er über nichts so bitterlich, 
als Uber die Leiden seiner Stammesgenossen, 
deren Leidens-Epopöe „Der Rabbi von Bacha¬ 
rach“ werden sollte: 

^rich aus in lauten Klagen, 

Du düstres Martyrlied“. 

1826 machte der Dichter eine Reise nach 
England, 1827 ging er nach München, wo er 
eine zeitlang Cottas „Annalen“ redigierte, im 
folgendenjahre bereiste er Italien. Die deutschen 
Nordseebäder hatte er schon vordem besucht 
und als einer der ersten hat er die Poesie 
des Meeres, mehr noch die Meeresstimmung 
für die L3Tik gewonnen. Die Plastik des 
Meerbildes ist von andern Dichtern, beson¬ 
ders den Griechen, vollendeter dargestellt, 
die wilddämonische Meer- Romantik haben 
die Engländer hinreissender geschildert; 
aber die Sehnsucht, die das Meer weckt, 
die Unendlichkeits-Stimmung, die es her¬ 
vorruft, das Meer als Resonanzboden ver¬ 
dämmernder Stimmungen, das kosmische Ge¬ 
fühl, das es erzeugt, das hat niemals einen 
Ausdruck gefunden, wie bei Heine, es se* 
denn bei Schubert, dem kongenialen Komi 
po nisten. 

Wieder befand sich der Sänger an der 
Nordsee, als die Juli-Revolution ausbrach, 
jene so kläglich verlaufene Erhebung, die 
aber alle feurigen Köpfe verwirrte; denn man 
erwartete eine Wiederholung von 1789. Im 
Frühling des folgenden Jahres ging Heine 
nach Paris, wo er, von kurzen Badereisen 
und zwei flüchtigen Besuchen seines Vater¬ 
landes abgesehen, bis zu seinem Tode ver¬ 
blieb. Die politischen Enttäuschungen, die er 
hier erlebte, hat er offen genug selbst zuge¬ 
standen, wie denn niemand deutlicher empfand 
als er, dass alle französischen Revolutionen 
der Freiheit keine Gasse gebahnt, sondern 
nur eine neue Grossmacht aufgebracht haben, 
die hässlichste und unerträglichste: den Geld- 
sack. Eine ganze Reihe der scheinbar funkel¬ 
nagelneuesten Schlagwörter der Sozialdemo¬ 
kratie stammen aus Heines Prosaschriften. 

An seinem Ruhme hatte die Krankenge¬ 
schichte der letzten Jahre einen wesentlichen 
Anteil-; wenigstens hat sie manche seiner 
Gegner mit dem Menschen versöhnt. Auch 
sie war eine Heldengeschichte. Denn nur ein 
wahrhaft grosser Mensch, der Heine war, 
was immer Philologen und Moralisten, Juden 
und Antisemiten ihm vorzuwerfen haben, ver- 


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888 


Berg, Heinrich Heine. 


mag sich Ober ein so furchtbares Geschick 
zu erheben. Schon dass es ihn nicht unter¬ 
gekriegt hat, weder sein Herz noch seinen 
Geist, ist ein Zeichen von Grösse. Nie viel¬ 
leicht ist auf einem Krankenlager mit so 
mutigem Geiste gedacht und gedichtet wor¬ 
den als auf der Matratzengruft der rue d’Ams¬ 
terdam. Dieser kranke Dichter Obersah und 
beherrschte sein Zeitalter wie kein anderer. 
Wenn, was er schrieb, nicht gar so spöttisch 
und unfromm gewesen wäre, könnte man fast 
von christlicher Überwindung irdischen Lei¬ 
dens durch den Geist reden. — Heine starb am 
17. Februar 1856 und liegt auf dem Mont¬ 
martre begraben. 

Bei jeder Gelegenheit zeigt es sich, dass 
Heine eine der aktuellsten Erscheinungen 
unserer Zeit ist. Man wird mit ihm nicht 
fertig, weil man ganz falsche Massstäbe fOr 
ihn genommen hat. Man hat ihn als Lyr¬ 
iker mit Goethe verglichen, in welchem Ver¬ 
gleiche schon eine Schiefheit liegt. Goethe ist 
eine andere dichterische Natur. Von Goethe 
die Kriterien holen, muss unweigerlich dazu 
führen, in Heine einen elenden Versemacher 
zu sehen. Er hat schon ein ganz anderes 
Element als Goethe, zu dem er sich verhält, 
wie ein Wassergeist zu einem Erdgeiste, wie 
der Traum zur Wirklichkeit, wie die Sehn¬ 
sucht zur Erfbllung. Da muss man nicht ver¬ 
gleichen wollen. ' Der Inhalt' der Goethischen 
Lyrik ist die Liebe und der Besitz, zuweilen 
die Klage um den Verlust eines Besitzes 
(„Ich besass es doch einmal, was so 
köstlich ist“); der Inhalt der Heinischen 
Lyrik ist die Sehnsucht nach der Liebe und 
nach dem Glücke. Hat Goethe vor Heine 
Kraft, Anschaulichkeit, kurz Plastik voraus, 
so hat Heine vor Goethe die Macht der Stim¬ 
mung, den Zauber der Träumerei, die Un¬ 
endlichkeit der Perspektiven. Goethe ist ein 
Berg in klarem Sonnenlichte, Heine der hei¬ 
matlose Geist über den Wassern. Er wirkt 
anschaulich, wenn man so sagen darf, durch 
das Ohr, durch ein geheimes Mitrauschen, 
welches die Stimmung erzeugt. 

Und noch ein andres: Heine steht am 
Ende einer Kunstepoche, deren Mittel- und 
Höhepunkt eben Goethe bildet. Die schöpfer¬ 
ische That eines also gestellten Genies heisst: 
Auflösung. Daher .das Negative in Heine, 
das allen denen unerträglich und widerlich 
ist, welche von Goethe herkommen; aber das 
man nur verstehen kann, wenn man es his¬ 
torisch begreift. Wir haben in allen Littera- 


|) Vgl. über des Dichters Grab die eben er¬ 
schiene Broschüre, deren Reinertrag zur Pflege und 
Au^chmückune des Grabes bestimmt ist: „Das 
Heine-Grab aut dem Montmartre. Leipzig. Verlag 
von H. Barsdorf. 


turen und Künsten ähnliche Erscheinungen : 
im Altertum für die attische Litteratur 
Aristophanes, für die ganze Kulturepoche 
Lukian, in England Byron, in Frank¬ 
reich für die alte Litteratur Rabelais, 
für die klassische Voltaire, für die moderne 
Müsset, in Italien Ariost, in Spanien Cer¬ 
vantes, in der Philosophie Nietzsche, in der 
Musik Jacques Offenbach. Man nennt diese 
durch ihre historische Stellung zur Auflösung 
verdammten Genies gewöhnlich; die Satir¬ 
iker.*) Heine und Goethe vergleichen hiesse 
den „Rasenden Roland“ mit dem Rolands¬ 
liede vergleichen. Heine ist freilich weder 
reiner Stimmungsdichter, noch reiner Satir¬ 
iker, was übrigens keiner ist, denn gerade 
die Satiriker sind vom tiefsten und verletz¬ 
lichsten Gemüte. Er schreibt seine Satiren 
mit blutendem Herzen und singt seine Lie¬ 
der mit spöttischem Munde. Das ist das andere 
Heine-Problem. Er ist eben kein harmonischer 
Dichter, sondern ein Dichter der Disharmonie. 
Das sieht indessen nur so aus wie ein Wider¬ 
spruch. 

Das zweite grosse Missverständnis kommt 
von Heines politischer Stellung. Wäre er 
gewesen, was immer, und wenn auch der 
blutigste Revolutionär, man hätte ihn „his¬ 
torisch" begriffen, d. h. in ein Schubfach 
gethan. Aber seine geistige Ehrlichkeit litt 
ihn in keiner Partei, wie er kein Dogma er¬ 
trug. Er nahm von jeder Bewegung den Geist 
vorweg, er genoss den Duft jeder Sache, er 
begeisterte sich überall, wo starke Naturen 
auftraten, wo um die Freiheit gefochten wurde, 
aber auch, wo er die Poesie vergangener 
Zeiten witterte. Seine religiösen Schwankun¬ 
gen z. B. waren ein Kampf des freien Geistes 
mit der Poesie des alten und neuen Testa¬ 
ments, seine politischen Widersprüche der 
Gegensatz seiner freiheitlichen Tendenz mit 
seiner aristokratischen Natur. Er dachte sich 
gern als Pionier im Befreiungskämpfe der 
Völker; aber wenn die Massen nachrückten, 
dann war es mit seiner schönen Begeister- 
ung vorbei. Denn seine persönliche Freiheit 
liebte er noch viel mehr.*) 

Im Allgemeinen hat man dem Politiker 
Heine noch viel zu wenig Beachtung ge¬ 
schenkt, wiewohl ernste Historiker in ihm 
eine Hauptquelle für seine Zeit sahen. Lyr- 

Satiriker, welche nicht die herrschende litter- 
arische Form sprengen, leiden sogar unter dieser 
revolutionären Ohnmacht. Ich glaube, Swifts ganze 
Bitterkeit hat seine Ursache in dieser formalen Ge¬ 
bundenheit. 

•) Über Heines Verhältnis zu unserer Zeit vgl. 
des Verfassers Abhandlung: „Heinrich Heine und 
unsere Zeit" in „Zwischen zwei Jahrhunderten“. 
Frankfurt a. M. 1895. Litterarische Anstalt Rütten 
& Loening. 


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Zieler, Der deutsche Roman im Jahre 1897. 


889 


iker, die nebenbei politische Feuilletons 
schreiben, haben in Deutschland, dem ge¬ 
lobten Lande der Fachleute, keinen Anspruch, 
ernst genommen zu werden. Er hat zur Be¬ 
urteilung seiner Zeit den besten, weil den 
freiesten Standpunkt, und bei ihm findet man, 
wenn auch nicht immer das gerechteste, so 
doch meist das befreiende Wort über die 
Zeitereignisse. Heine war ein politischer 
Schriftsteller, wie ihn Deutschland seitdem 
nicht wieder gehabt hat. Dass er die Macht 
nicht besass, wie einst Voltaire, das Gewissen 
Europas zu werden, lag nicht an seiner Be¬ 
gabung, sondern einzig an dem Umstande, 
dass er als Jude und in Deutschland geboren 
war. Denn nach Voltaire, hat ausser Byron 
nur Heine einen europäischen Einfluss ge¬ 
habt. Es waren die drei Journalisten im 
grossen Stile, denen, abgesehen von dem, 
was sie als Künstler sonst noch waren, jede 
litterariWhe Form ein journalistisches Mittel 
wurde; die drei grossen Volksredner ohne 
Rednertribüne. Byron mag edler, Voltaire 
vielseitiger sein als Heine. Aber sein Geist 
war am hellsten und drang am weitesten. 
Seine grössten Schöpfungen wurden die bei¬ 
den Satiren: „Atta Troll. Ein Sommernachts¬ 
traum“ (i84i/42)und„Deutschland, Ein Winter¬ 
märchen“ (1844); und seine grossartigen 
Karrikaturen, nanjpntlich im Romanzero, wirken 
noch heute aktuell. Der Widerhaken dieser 
Pfeile schwärt noch immer im Fleische, und 
das erklärt besser als alles Andere die feind¬ 
selige Stimmung gegen den Dichter. Diese 
Satire ist vielleicht nur ein ein einziges Mal 
in der Weltlitteratur übertroffen, von Swift. 
Und der Satiriker kannte seine Macht. Denn 
es giebt etwas, das mächtiger ist als selbst 
Tyrannen-Gewalt: 

Auch giebt es Höllen, aus deren Haft 
Unmöglich jede Befreiung; 

Hier hilft kein Beten, ohnmächtig ist hier 
Des Welterlösers Verzeihung. 

Kennst du die Hölle des Dante nicht, 

Die schrecklichen Terzetten? 

Wen da Dichter hineingesperrt, 

Den kann kein Gott mehr retten — 

Kein Gott, kein Heiland erlöst ihn je 
Aus diesen singenden Flammen! 

Nimm dich in Acht, dass wir dich nicht 
Zu solcher Hölle verdammen! 


Der deutsche Roman im Jahre 1897. 

VoD Gustav Zieler. 

(Schluss.) 

Unter den männlichen Angehörigen der 
jüngeren Generation ist es bisher noch im¬ 
mer eine Ausnahme, wenn sich einer dem 


Romane als seinem Hauptschaffensgebiet zu¬ 
wendet. Die L3Tik, das Dorado der jungen 
grössenwahnsinnigen Individualisten, und das 
Drama, der sicherste und schnellste Weg zum 
Ruhme, locken zu mächtig und der Roman 
erfordert, wenn wirklich etwas geleistet wer¬ 
den soll, zu lange und sorgfältige Studien. 
Wendet man sich darum überhaupt der er¬ 
zählenden Litteratur zu, so ist’s die kleine 
Novelle, das Stimmungsbild, die Skizze, zu¬ 
mal auch die Zeitschriften für diese ein guter 
Absatzboden sind. Nachher werden eine An¬ 
zahl solcher, — ob innerlich zusammenge¬ 
hörig oder nicht, darauf kommt es nicht an 
— zu einem Bande zusammengefasst und 
meistens ganz sinnlos der Name der ersten 
Erzählung als Titel daraufgesetzt. Grosse 
Romane männlicher Autoren sind unter den 
Vertretern der Jungen sehr selten. 

Zu den Wenigen, die auf diesem Felde 
wirklich Grosses geleistet haben, gehört Wil¬ 
helm von Polenz, dessen grossem Romane 
„Der Büttnerbauer“ schon in der vorigen 
Übersicht verdientes Lob zu Teil ward. Sein 
neuer Agrarroman „Der Grabenhäger“, *) 
dessen Handlung in den Kreisen der pom- 
merschen Grossgrundbesitzer verläuft, liegt 
jedoch zeitlich ausserhalb der Grenze, die 
diesem Bericht gezogen werden musste. Am 
nächsten an Bedeutung kompit dem grossen 
Polenzschen Romane ein Werk des bisher 
wesentlich als flotter Erzähler hervorgetrete¬ 
nen G.v.Ompteda: „Sylvester von Geyer“.*) 
Wenigstens darin, dass es ebenfalls einen 
Typus der modernen Gesellschaft herausgreift 
und ihn schildert, ohne Parteirücksicht, mit 
strenger Wahrheitsliebe und genauester Sach¬ 
kenntnis, gerecht das Für und Wider ab- 
wägeod. Es ist der Typus des armen Offi¬ 
ziers, wie ihn bisher in dieser Echtheit und 
Anschaulichkeit unsere Litteratur noch nicht 
kannte. Ompteda hat mit diesem Lebenslaufe 
des Sprösslings eines altadligen alten Offiziers¬ 
geschlechtes, dessen Kraft durch generationen¬ 
langen Verbrauch in einer Richtung aufge¬ 
zehrt ist, eine Tragödie aus der Wirklichkeit 
aufgezeichnet, die sich hundertmal im Ver¬ 
borgenen abspielt. Es ist ein Buch von hohem 
sittlichem Ernst, geeignet, das Bild eines 
Standes, dessen Reinheit moderne Partei¬ 
kämpfe so gern beschmutzen möchten, wieder 
einmal in der wahren Gestalt der Gegenwart 
vor Augen zu stellen. Um so enttäuschter 
wird jeder nach der Lektüre dieses Buches 
den neuesten Roman desselben Autors, Maria 
da Gaza*) aus der Hand] legen: ein Bild aus 
der Berliner Sport- und Finanz-Aristokratie, 
ganz nach bewährtem sentimentalem Schema 

*) Berlin, F. Fontane & Co. 

*) Berlin, F. Fontane & Co. •) Ebenda. 


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890 


Zieler, Der deutsche Roman im Jahre 1897. 


gezeichnet, dessen bestes Schicksal es ist, 
wenn es schnell wieder vergessen wird. 

Das ganze Leben eines Menschen von der 
Wiege bis zur Bahre zu verfolgen, ist auch 
das Ziel Bierbaums in seinem neuen Ro¬ 
man, der den gesucht originellen Titel trägt: 
„Stilpe, ein Romän aus der Froschperspek¬ 
tive.“ *) Auf deutschen Universitäten und in 
litterarischen Kreisen, die dem Studenten¬ 
leben noch nahe stehen, begegnet man 
oft dem Typus des sog. verbummelten Genies. 
Von übermässigem Alkoholgenuss aufge¬ 
schwemmt, mit verglasten Augen, eine ekel¬ 
hafte Bierwolke um sich verbreitend und in 
jenem Kneipzeitungsjargon redend, den sich 
der junge Student mit Eifer in den ersten 
Semestern aneignet und den humorvoll und 
witzig zu finden nur möglich ist, wenn der 
Biergenuss das Mass der Dinge verrückt hat, 
hie und da aber auch wohl eines wirklich 
guten Gedankens fähig, so pflegen diese Hel¬ 
den früh und spät beim Biere zu sitzen, zu 
schwadronieren, Zoten zu reissen und dem 
unerfahrenen Volke der Füchse zu imponieren. 
Meist sind es von Hause aus Flachköpfe, 
bisweilen ist auch wohl eine glänzende Be¬ 
gabung darunter, die dann langsam dem ver¬ 
dummenden Einfluss des Bieres verfällt. Eine 
solche Natur, versetzt noch mit der ange¬ 
nehmen Zugabe einer starken Sinnlichkeit 
und ordinären Instinkten, ist der I^eld des 
Bierbaumschen Romans, Willibald Stilpe. 
Dem Verfasser scheint so etwas wie satir¬ 
ischer Gesellschaftsroman vorgeschwebt zu 
haben. Aber sein satirisches Talent reicht 
nicht weiter als für eine studentische Kneip- 
zeitung, und so ist denn sein Buch eines der 
unerträglichsten, die ich gelesen habe. Man 
denke sich 400 Seiten Kneipzeitungl Immer 
und immer wieder nur dieser eine Ton witzig 
sein sollender Hyperbel und prinzipieller 
Ironie, wie ihn der renommierende Student 
mit Vorliebe anwendet, dazwischen einge¬ 
streut Schilderungen voll lüsterner Gemein¬ 
heit, die mit breitem Behagen wiedergegeben 
sind, und tiefe Reverenzen vor der geistigen 
Bedeutung des Helden. Nach sittlichem Ernst, 
nach wahrem satirischem Pathos sucht der 
Leser vergebens, wenn er wirklich die Ge¬ 
duld hat, bis zur letzten Seite vorzudringen. 
Und gerade diese Eigenschaften hätte der 
Stoff erfordert. Mit ihrer Hilfe wäre ein be¬ 
deutendes Werk zustande gekommen, denn 
der Stilpe-Typus ist leider in der gegenwär¬ 
tigsten Gegenwart häufig genug. 

Von den Jüngeren, die auf erzählendem 
Gebiet bekannt geworden sind, sei auch mit 
einem Worte des verstorbenen Baron von 

') Berlin, Schuster u. Löffler. 


Roberts gedacht, dem ein dramatischer Ge¬ 
legenheitserfolg unverdienten Ruhm einge¬ 
tragenhat. Seine „Nachgelassenen Novellen"**) 
und sein Roman „Schwiegertöchter"" *) be¬ 
weisen das aufs Neue. Die ersteren sind 
harmlos-liebenswürdige Unterhaltungslektüre; 
jener ist in der Technik und in den Voraus¬ 
setzungen bisweilen von geradezu verblüffen¬ 
der Naivetät. 

So nahe diese beiden Bücher dem All¬ 
tagsniveau stehen, so fern hält sich diesem 
der Roman „Satans Kinder"'^) von Stanis¬ 
laus Przybyszewski, das Werk eines 
Mannes mit reichster Phantasie, aber ohne 
jedes ordnende Verstandesprinzip. Dieser Pole 
ist das Extrem des durch Ausschweifungen 
aller Art zerrütteten sog. modernen Dekadents. 
Ein Mann, der seine krankhafte Nervenem- 
pfindlichkeit noch künstlich auf die Spitze 
getrieben hat und dessen Menschen von 
vibrionenhafter Unrast sind. Er schildert das 
Treiben der modernen Terroristen, jener ge¬ 
hirnkranken Philosophen der That, denen 
keine Phantasie wild genug ist, um sie nicht 
in Wirklichkeit umzusetzen, und er mag der 
geeignete Mann dazu sein, der den Schlüssel 
ihres Wesens besitzt. .Aber es ist eine Qual, 
dieses Buch zu lesen, man hat das Gefühl, 
ziellos hin- und hergeschleift zu werden, an 
der Hand eines Wahnsinnigen das Bild des 
Lebens zu betrachten. , . 

Auch einer, der abseits vom Wege wan¬ 
delt ist Heinrich Mann, der in seiner 
Novellen-Sammlung Wunderbare"* *) 

das Reich der Allegorie und das mystische 
Gebiet des Occultismus und der Metempsy- 
chose betritt; sicherlich eine eigenartige In¬ 
dividualität auf deren Weiterentwicklung man 
gespannt sein darf. Er ist ein Repräsentant 
der mystischen Bestrebungen, mit denen in 
gewissen modernen Gesellschaftskreisen gegen¬ 
wärtig die Reaktion gegen die Nüchternheit 
des Materialismus einsetzt. 

Ein dritter Sonderling ist Peter Alten¬ 
berg.®) Aber hinter seiner Seltsamkeit steckt 
ftir mein Gefühl ein tüchtiges Stück Koketterie. 
Er geistreichelt und empfindelt, und da er eine 
blühende Phantasie, Geist und ein leicht erreg¬ 
bares Sensorium hat, so lauscht man ihm gern, 
wenn man ihn auch nicht ernst nimmt. Sein 
neuestes Werk heisst „Ashantee"") es zeigt 
seine ganze Eigenart. Ich komme bei diesen 
Sprach- und Empfindungskunsstticken nicht 
über das Gefühl des Gekünstelten hinaus. 
Aber ich will dieses Urteil nicht massgebend 
sein lassen, vielleicht ist diese Sprache und diese 

*) Berlin, F. f'ontane & Co. *) Ebenda. 

*) München, Albert Langen. 

j München, Albert Langen. 

“) Berlin, S. Fischer. 


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Zieler, Der deutsche Roman im Jahre 1897. 


891 


Gedanken- und Empfindungsfolge gerade der 
naturgemässe Ausdruck von Altenbergs Indivi¬ 
dualität. In vieler Beziehung muss man bei ihm 
an Jean Paul denken. Aber gerade bei diesem 
Vergleich verstärkt sich der Verdacht des 
Manierismus. Die Romantik ist als geschicht¬ 
liche Erscheinung, als Rückschlag gegen den 
Klassizismus und als Folgeerscheinung einer 
Zeit, deren politische und geschichtliche In¬ 
haltlosigkeit die Flucht vor der Wirklichkeit 
in Phantasie und Gefllhlsschwärmerei not¬ 
wendig machten, durchaus begreiflich und 
natürlich. Heute bietet die Wirklichkeit ge¬ 
wichtige Anregungen genug, und die Dicht¬ 
kunst hat eben erst begonnen sich dem Le¬ 
ben wieder zuzuwenden. Da macht die neue 
Romantik nur den Eindruck einer neuen Mode. 

Durchaus ehrlich aber wirkt die Schwär 
merei eines anderen Dichters, dem man nach 
seiner bisherigen Entwicklung Alles eher Zu¬ 
trauen durfte, — Max Kretzers in seinem 
seltsamen Roman „Das Gesicht Christi'*.^) 
Im Grossen und Ganzen auch hier das Ge¬ 
wissenhafte, Trockne, Protokollarisch-Pedant¬ 
ische in Stil und Schilderung wie in seinen 
sonstigen Romanen, der grämliche Ernst und 
das eintönige Grau des Proletariermilieus. 
Um so eindringlicher aber wirkt in dieser 
Umgebung dann die Lichtgestalt Christi, die 
an den Höhepunkten der Handlung erscheint. 
Im Mittelpunkt steht ein Arbeiter, der plötz¬ 
lich aus einem roten Atheisten zum positiven 
Christen wird, nicht nur Wunder glaubt, 
sondern Wunder sieht, gleich seinen un¬ 
schuldigen Kindern. Und sein mächtiger, 
kindlicher Glaube wirkt sozusagen epidem¬ 
isch. Er erweckt das religiöse Bedürfnis in 
den proletarischen Massen, denen plötzlich 
mitten im Gewühl der Grossstadt, für alle 
die Tausende sichtbar, die Gestalt des Hei¬ 
lands erscheint, ebenso wie er den reichen 
Protzen und dem Herrn Konsistorialrat in die 
Tiefen ihres Herzens dringt und auch hier 
Wunder wirkt. Die Sprache Kretzers hat in 
all den Augenblicken, wo er die leibhaftige 
Erscheinung Christi auftreten lässt, in ihrer 
ungeschminkten Einfachheit eine eminent sug¬ 
gestive- Kraft, gerade weil er so gar nicht 
versucht, diese Erscheinung psychologisch zu 
erklären, sondern ihre reale Thatsächlichkeit 
als selbstverständlich hinstellt. Der Gedanke, 
dass in jedem Menschen die gleiche Sehn¬ 
sucht nach dem Ewigen und Reinen ver¬ 
borgen liegt, mag sie auch unter noch so 
schwerem Wust begraben sein, ist selten in 
so eindringlicher Form ausgeftlhrt worden. 

Keinen Aufschwung in ihrem bisherigen 
Schaffen bedeuten die neuen Romane zweier 


*) Dresden, E. Pierson. 


Angehörigen der älteren Generation, Wilden¬ 
bruchs und Jensens. Wildenbruchs „Zau¬ 
berer Cyprianus*^ *) versucht den Sieg des 
Christentums über das antike Heidentum zu 
schildern, wie Kretzer seinen Triumph über 
den modernen Materialismus und die moderne 
Gleichgiltigkeit. Cyprianus, der grosse Weise 
von Antiochien, der alle Länder durchforscht, 
alles Wissen seiner Zeit in sich aufgenom¬ 
men hat, ohne Befriedigung zu erlangen, 
findet diese endlich im Christentum. Der Ge¬ 
danke ist nicht gerade neu, aber er könnte 
wohl zu einem gewaltigen Kulturgemälde ver¬ 
arbeitet werden; ja, dieses Bild harrt sogar 
noch immer seines Meisters. Aber Wilden¬ 
bruch dringt nicht bis in die Tiefen seines 
Stoffes. Was Cyprianus bekehrt, ist das 
Kindeslachen einer jungen Christin: wie der 
Dichter uns glauben machen will, ihre sichere 
Glaubensfestigkeit und Sicherheit, in Wahr¬ 
heit aber nichts als der bestrickende Zauber 
ihrer Persönlichkeit, nichts als die Liebe, 
und wenn Cyprianus sich selbst darüber 
täuschen kann, dass es auch diese Liebe ist, 
für die er stirbt, so sieht doch der Leser 
scharfer. In der Sprache des Romans fehlt 
jener leuchtende sinnliche Reiz, jenes reiche 
Blühen der früheren epischen Werke Wilden¬ 
bruchs, das Pathos der Heinrich-Dichtungen 
tritt als schwacher Ersatz an seine Stelle. 

Jensens zweibändiger Roman „Luv und 
Lee*‘^) zeigt den holsteinischen Dichter zwar 
wieder wie früher auf dem Boden seiner 
Heimat, aber die Jugendkrait ist nicht wie¬ 
der mit ihm heimgekehrt. Breit und im Stil 
von Manier nicht frei fliesst die Exposition 
dahin. Auch das Thema hat viel von Manier 
an sich. Übertrieben und peinlich muten die 
erotischen Parteien an, die Lösung des ziem¬ 
lich verwickelten und wenig wahrscheinlichen 
Konfliktes befriedigt nicht. Im Ganzen ist ein 
Nachlassen der Kräfte nicht zu verkennen. 

Spielhagen dagegen erhebt sich in sei¬ 
nem neuen Romane „Faustulus*^*'') wieder 
beträchtlich über das Niveau seiner letzten 
Leistungen, denen im vorigen Jahresbericht an 
dieser Stelle verdiente Zurückweisung zu Teil 
geworden war. Zum mindesten ist diesmal der 
Vorwurf seines Romans würdiger und tiefer. 
Spielhagen will nicht weniger als der mo¬ 
dernen Lehre von der Selbstherrlichkeit des 
Individuums, der Lehre, dass Schuld und 
Strafe, Reue und Sühne überwundene Be¬ 
griffe sind, und der Mensch niemand anders 
als sich selbst für seine Thaten verantwort¬ 
lich ist, einmal praktisch auf den Grund 
gehen und damit ihre Unhaltbarkeit beweisen. 

*) Beilin, Freund u. Teckel. 

Weimar, Emil Felber. 

*) Leipzig, F. Staackmann. 


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892 


Zieler, Der deutsche Roman im Jahre 1897. 


Sein Held ist ein solcher moderner Mensch, 
der jenseits der Moral steht, — ein Schüler 
Nietzsches Jahrzehnte vor Nietzsche, denn 
der Roman spielt in den 50er Jahren. 
Goethes „Faust“ mit seinen Kämpfen zwischen 
göttlichen und teuflischen Mächten und seiner 
Apotheose des Helden erscheint ihm als der 
T3T5US der von ihm verachteten Lehre, und 
ihm setzt er nicht nur sein eigenes Leben, 
sondern auch eine eigene Dichtung, den 
„Faustulus“ entgegen, deren Held im Guten 
und im Bösen ein wirklicher ganzer Kerl 
sein soll und Faust- und Mephisto-Eigenschaf¬ 
ten zu gleichen Teilen in der eignen Brust 
trägt. Aber wie der Dichter dieses „Faustulus“ 
trotz alles Sinnens keine organische Zuende- 
ftthrung seines Werkes finden kann, die be¬ 
friedigender wäre als die Goethesche, so kann 
er auch im Leben nicht seine Lehre durch¬ 
führen : der Mensch bleibt Mensch, Schuld 
fordert Sühne und wem eigene That die 
innere Ruhe genommen, der sucht mit allen 
Kräften den Frieden der Seele wieder zu 
erlangen. Bei Dr. Arno, Spielhagens Helden, 
liegt dieser Friede genau so jenseits dieser 
Welt wie bei Goethes „Faust“ und erst der 
Tod vermag die Harmonie dieser reichen 
und doch stets armen Seele herzustellen. Es 
ist also ein tiefer und zugleich ein in der 
Luft liegender Gedanke, den Spielhagen in 
seinem „Faustulüs“ ausführt. Und von dieser 
Seite her ist das Buch entschieden als ein 
Sichwiederaufraffen des Verfassers zu be- 
grüssen. Aber in der Durchführung und in 
der Charakteristik lässt sich oft genug der 
Vorwurf der Unwahrheit erheben, in der 
Komposition sind bedenkliche Punkte und im 
Schluss ist der Roman von überflüssiger Ge¬ 
schwätzigkeit nicht freizusprechen. 

Keinen vollbefriedigenden Eindruck hinter¬ 
lässt auch der neue Roman eines Andren 
Alten, Adolph Wilbrandts „Hildegard 
Mahlmann* Äusserlich klingt die Hand¬ 
lung ein wenig an das Schicksal der Johanna 
Ambrosius an, aber Wilbrandt legt den Haupt¬ 
nachdruck auf das, was bei dieser für uns 
hinter den Kulissen liegt: wir erleben, wie 
Hilde Mahlmann, die Mecklenburger Bäuerin, 
zur Dichterin wird. Hätte doch das Buch an 
dieser Stelle abgeschlossen! Hier entfaltet 
Wilbrandt eine hinreissende Kraft und Schön¬ 
heit und zeigt sich auf der vollen Höhe ' 
seines Könnens. Leider aber drängt es auch 
ihn zu einem Abschluss. Wir wären völlig 
zufrieden, wenn die Seelenkämpfe Hildes mit 
ihrer Berufung zur Dichtkunst endeten; denn 
hier liegt die wirkliche harmonische Auflös¬ 
ung der Disharmonien. Den Frieden der 

') Stuttgart, J. G. Cottas Nachf. 


Seele schenkt ihr bereits das erste Gedicht. 
Was noch kommt, ist unpoetisches Beiwerk, 
ähnlich wie der Schlussakt im „Meister von 
Palmyra“. 

Nicht minder stört nach guter und konse¬ 
quenter Durchführung die äusserliche und 
unwahrscheinliche Schlussanwendung bei des 
Österreichers Baron von Torresani Roman 
„Steyrische Schlösser** *), dem im Übrigen 
die Vorzüge glänzender Beobachtung, kernigen 
Humors und scharfer, lebenswahrer Model¬ 
lierung wieder in hohem Masse eigen sind. 
Der psychologische Teil, das allmähliche Er¬ 
wachen und Wachsen der Liebe eines reifen 
Mannes zu einem eben erblühenden Mädchen, 
das zu ihm fast wie zu einem Vater auf¬ 
schaut, dessen Liebe aber sich innerlich eben¬ 
falls in die Liebe des Weibes verändert, 
dieser Teil ist vielleicht nicht ganz so gut 
gelungen wie die glänzende Schilderung des 
Milieus. Endlich ist auch der Vortrag ent¬ 
schieden zu breit. Aber neben diesen Mängeln 
stehen grosse Vorzüge. Einer so allseitigen 
Charakteristik so frisch aus dem Leben und 
mit so prächtigem Humor durchgeführt, wie 
sie Torresani in der Figur des verbummelten 
Spezialitäten-Genies Hamilton gelungen ist, 
w’üsste ich auf dem gleichen Gebiete kaum 
Etwas zur Seite zu stellen. 

Wollten wir die Grenze des „deutschen“ 
Romanes noch weiter ziehen und auch in die 
schweizerische Litteratur noch einen Blick 
werfen, so müssten wir längere Zeit bei der 
bedeutendsten Dichterin dieses Gebietes, Ri¬ 
carda Huch, verweilen und uns auch ein¬ 
gehend mit dem vielversprechenden Talent 
Adolf Vögtlins („Das neue Gewissen** •) 
und „Das Vaterwort*) *) beschäftigen, der 
durch sittlichen Emst, künstlerische Gewissen¬ 
haftigkeit, psychologischen Scharfblick und 
Konsequenz angenehm auflßlllt und seine Er¬ 
zählungen in einen fesselnden Rahmen zu 
spannen weiss. Aber der Raum ist schon 
über Gebühr in Anspruch genommen. So 
seien denn zum Schluss nur noch zwei Er¬ 
zeugnisse von Jüngeren erwähnt, die Bedeut¬ 
ung beanspruchen, weil wir zweifellos ihren 
Verfassern noch häufiger begegnen werden. 
Ich meine zunächst Kegelers „Pygmalion**^) 
eine Novellensammlung, die beweist, dass ihr 
Verfasser zu denen gehört, die wenig schrei¬ 
ben, mit jeder neuen Veröffentlichung aber 
einen erfreulichen Fortschritt zeigen. Hegeier 
hat seine Begabung wesentlich vertieft. Die 
Gedankenwelt in „Pygmalion“, „Tod und 
Dichter“ und „Ein altes Mädchen“ ist von 

*) Berlin, F. Fontane & Co. 

•) Leipzig, H. Haessel. 

•) Altenburg, Stephan Geibel. 

Berlin. F. Fontane & Co. 


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Kunstgläser. 


893 


hohem Ernste, die künstlerische Behandlung 
des Stoffes knapp und sicher und zeugt von 
künstlerischem Takt. Man merkt, dass eine 
Persönlichkeit hinter dem Buche steht. In 
dem letzten Stück steckt kecker Humor. Auch 
Ernst Clausen (Claus Zehren) zeigt in sei¬ 
ner Sammlung „Der Ehe Rw^', M deren 
Titel diesmal zugleich ein der gesamten Samm¬ 
lung Gemeinsames andeutet, einen frischen 
und sympathischen Humor. Doch ist auch 
ihm keineswegs der Ernst fremd. Was mir 
an ihm am meisten gefällt, ist die Gesund¬ 
heit seiner Lebensanschauung, die keineswegs 
mit Hausbackenheit identisch ist. Für den 
Ernst des Daseins, für die Tragik zahlreicher 
moderner Ehen (dies der Gegenstand seines 
Buches) keineswegs blind, aber auch kein 
hoffnungsloser Pessimist, so blickt er ins 
Leben. Eine kurze gedrungene Darstellungs¬ 
weise, bei der alles Unwesentliche wegbleibt, 
bildet seinen schriftstellerischen Charakter, 
eine Eigenschaft, die heute ebenso selten wie 
besonders sympathisch ist. 

Ernst von Wolzogens „Kraft-Mayer"^) 
und Karl von Perfalls „Sein Recht", 
jenes ein derbhumoristisches Kraftstück, dieses 
ein Buch von glühender Leidenschaft, brin¬ 
gen keine neuen Seiten zur Charakteristik 
ihrer als schriftstellerische Persönlichkeiten 
bereits feststehenden Verfasser bei. 

Nicht bekannt geworden sind mir die 
Neuen Bücher von M. zur Megede, Mül- 
lenbach und Jacob Wassermann. 

Im Ganzen ist im Stande der deutschen 
erzählenden Litteratur gegenüber dem Vor¬ 
jahre keine Veränderung eingetreten. Des 
grossen umfassenden Geistes harren wir auch 
auf diesem Gebiete bisher vergebens, in¬ 
zwischen bereiten ihm die kleineren den 
Boden. 


Kunstgläser. 

Noch keine drei Jahre sind es her, dass in jeder 
„besseren“ Wohnung mindestens ein Zimmer, der 
Salon oder das Boudoir, im Rokokostyl eingerichtet 
sein musste. Verschnörkelte Möbel, verschnörkelte 
Dekoration und verschnörkelte Menschen. Auf den 
Tischen und in den Schränkchen standen Meissner 
Figürchen, natürlich echt Meissen, Saxe; wenn fnan 
sie umdrehte und hinten waren nicht die blauen 
gekreutzten Schwerter, das Zeichen für ^.königlich 
Meissen“, dann waren sie gar nichts wert, man 
konnte sie unmöglich in den Salon stellen. Aber 
Meissen dekoriert zu schön! in jedem Haus fand 
man die gleichen Muster: die Jahreszeiten, den 
Vogelfänger und Gott weiss, wie die Puppen sonst 
noch heissen; ein grässlicher Plunder. 

Die Rokokodekoration geht ihrem seligen Ende 
entgegen und der Meissener Kleinkram hoffentlich 
auch. — Neue Kunst bricht sich auch für die Ausstat¬ 


‘) Berlin, F. Fontane & Co. 

*) Stuttgart, F. Engelhorn. ®) Köln, A. Ahn. 


tung der Räume Bahn und die Keramik, wie die Gl^- 
bläserei muss neue Ausdrucksmittel finden. Da 
waren es die Glashütten von Nancy, die zueret 
neue Wege einschlugen; in Frankreich haben die 
Erzeugnisse schon einen hübschen Absatz, in Deutsch¬ 
land müssen sie ihn erst errobem. Zuerst brachte 
Gall6 seine Produkte auf den deutschen Markt, 
doch konnten sie sich noch nicht recht embtogem, 
abgesehen von der Neuheit, der Feindin alles Neuen, 
sind auch die wahrhaft unerschwinglichen Preise 
ein bedenkliches Hindernis: die kleinste Klemigkeit 
kostet M. 50.—, bessere Stücke M. 120.— und mehr. 
In Schönheit nicht hinter den erstgenannten zurück¬ 
stehend, jedoch ausserordentlich viel billiger sind 
die Kunstgläser von Daum freres Ge Oe. \n Nancy ) 
Ihre Form ist, verglichen mit den uns gewohn¬ 
ten Erzeugnissen, schwer, häufig möchte man 
sagen zufällig. Man findet flache Schalen, grope 
und kleine Gefässe oft in Form einer hoWen 
Kürbis, meist ohne Henkel, gerade und bauchige 



1) Generalvertreltr Tür Deutschland Louis Dreyfus, FrnnK- 
furt a. M. 


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894 


Betrachtungen und kleine Mitteilungen. 




Zylinder, Flaschen mit weitem Bauch und engem 
langem Hals. Selten ein abgrenzender Rand oder 
sonst ein Abschluss. Auch in der Farbe wird mehr 
das unbestimmte, zufällige bevorzugt: die meisten 
Gegenstände sind undurchsichtig oder nur durch- 
besonders beliebt sind braungelb oder 
rotlichbraun, diese Objekte könnte man T&r Achat 
halten, doch findet man auch grün, rauchgrau, 
^binrot, Stellen die türkisblau oder von violettem 
ocnimmer sind. Niemals sieht man gleichmässig 
gefärbte Flaschen: stets fleckig oder streifig. 
iNach dieser Beschreibung könnte man den Eindruck 
gewinnen, als wenn man es mit ganz rohen Erzeug- 
ni^en zu, thun habe. Nun nehme man ein solches 
btück zur Hand, man darf schon etwas kräftig 
anlasseil, denn zferbrechliche Eckchen und FOsse, 
wie die bisherigen Ziergläser hat es nicht: man 
u- herrlichen Kunst, die 

ach hier ^enbart. Die ganze Oberfläche ist mit 
riianzen, Käfern, Bienenwaben bedeckt, nicht stili- 
S. » Natur selbst hat Modell gestanden. 

Die Bewegung der Stengel, das Flattern der Libelle, 
alles ist mit unbeirrtem Aug erfasst und dem Ma¬ 
terial angepassL Alle zufälligen Flecke sind aus- 
genutzt, bald zu einer Blume, bald zu einem Käfer- 
tiOgel. In dieser scheinbaren Zufälligkeit besteht 
auch, glaube ich, der unvergleichliche Reiz dieser 
Kunstwerke. Und Kupts/- 
werbe im höchsten Sinne 
des Wortes sind es: keine 
Fabrikware, kein Modell 
wird zweimal gemacht. Be¬ 
sonders schönen Stücken 
ist ein Vers oder eine 
Bezeichnung aufgraviert, 
die als Symbol wirken 
soll. „Beati qui lugent“ 
heisst ein Gefäss an dem 
Thränen ^herabriesseln in 
einen Kranz blutiger Dor¬ 
nen, „Elsa’s Traum“ ist 
eine Schale auf deren 
dunkelblauem Grund ein 
Schwan dahingleitet. 

Die Herstellungsweise 
unterscheidet sich nicht 
wesentlich von bekannten 
Methoden; Die aus einer 
oder mehreren verschie¬ 
denfarbigen Lagen besteh- 
^den Qäser werden mit 
Flusssäure geätzt (billiger 


Betrachtungen und kleine Mitteilungen. 

Ein Seitenstück zu ihrem berühmten franzfl- 
sischen „Sachs-VUlatte« gie^ die Langengcheidt’ 
sehe Verlagshantnung (Prof. ’G. Langenicheidt) tn 
Berlin m dem Encyklopudischen Wörterbuch der 
e^ltschen und deutschen Sprache von Prof. Dr 
Ed. Muret und Prof. Daniel Sanders heraus,' 
dessen ereter Teil Englisch - Deutsch seit kurzem 
fertig yorliegt, während von dem Deutsch-Englischen 
if- Lieferungen erschienen sind. 

Wie bei dem Ruf der Verlagshandlung auf lexiko- 
graphischem Gebiete und bei der Bedeutung der 
Herausgeber nicht anders zu erwarten, ist der 
Muret-Sanders eme Muster- und Meisterleistung, 
die den ersten Rang unter allen ähnlichen Werken 
einnimmt _und in Vollstän¬ 
digkeit, Übersichtlichkeit, 
Genauigkeit und Klarheit 
von keinem erreicht wird. 
Wie der englisch-deutsche 
Teil den ganzen Wort¬ 
schatz der neuenglischen 
Litteratur, sowie den in 
die neuenglische Periode 
hineinragenden Teil des 
Mittelenglischen umfasst, 
so giebt der deutsch-eng¬ 
lische Teil den Wortschatz 
der deutschen Sprache, 
soweit er nicht veraltet 
ist, von Luther und seinen 
Zeitgenossen bis auf die 
jüngste Gegenwart und 
schliesst auch Mundart¬ 
liches, soweit es in gros¬ 
sen deutschsprechenden 
Gebieten veroreitet ist 
oder bei anerkannten 
Schriftstellern mit mund¬ 
artlicher Färbung vor- 


Stücke) oder mit dem Rad graviert. Die Haupt¬ 
sache bleibt eben die individualisierende Behandlung 
des Künstlers. — 

Durch ihre grossen, massigen Formen wirken 
diese Objekte ungemein dekorativ und werden sich 
zweifellos im modernen Haus bald einfOhren. 

Dr. B. 


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Betrachtungen und kleine Mitikilungen. 


895 


kommt, nicht aus. Aus dem Gebiete der Wissen¬ 
schaften und der Technik sind die wichtigsten Aus¬ 
drücke dem Wörterbuch in einer Weise eingereiht, 
die dem Laien das Versändnis vermittelt und den 
kundigen Forscher und Techniker auf die richtige 
Spur ninweist. In der Übersichtlichkeit ist Muret- 
Sanders unvergleichlich. Auch bei langen Artikeln 
findet man infolge der vortrefflichen typographischen 
Einrichtung rasch, was man sucht, ohne erst ganze 
Spalten durchlesen zu müssen. - • 

Nachdem im Anfang dieses Jahres Professor 
Daniel Sanders, der das Manuskript bis zum Buch¬ 
staben F noch druckfertig geliefert, plötzlich ge- 
gestorben, hat der hervorragende Anglidst Prof. Dr. 
Immanuel Schmidt mit Unterstützung einer Anzahl 
Sprachgelehrter beider Nationen die Fortsetzung 
des deutsch-englischen Teils übernommen. 

Jährlich erscheinen 4 bis 6 Lieferungen je 96 bis 
II3 Seiten stark, zum Preise von ä M. 1.50, sodass 
die Vollendung des grossangelegten Werkes in 
etwa 3 Jahren zu erwarten ist. o. a. w. 


Zur Kenntnis der Gährungserschelnungen. 
Wir haben vor einiger Zeit (vgl. Umschau No. 8} 
mitgeteilt, dass E. Büchner ein Verfahren ange¬ 
geben hat, nach welchem ihm durch Auspressen 
der Hefe die Trennung der Gährwirkung von der 
lebenden Hefezelle gdui^en sein soll. Büchner 
verwendete zu seinen Gährungsversuchen einen 
Presssaft, der nicht keimfrei ^steril) war, sondern 
in I ccm ca. 50—100 Keime enthielt. Neuerdings 
hat A. Stavenhagen mittels einer geeigneten 
Filtrirvorrichtung einer porösen Porzellankerze einen 
Hefepresssaft erhalten, der vollständige Sterilität 
zeigte. Mit demselben waren Jedoch unter keinen 
Umständen irgend welche Gährungserscheinungen 
hbrvorzurufen. Ganz im Gegensatz dazu steht eine 
neue Publikation E. Büchners in Verbindung mit 
R. Rapp. Büchner hat danach ebenfalls eine poröse 
Porzellankerze zur Filtration seines Presssaftes be¬ 
nutzt, indessen eine Flüssigkeit erhalten, die Zucker¬ 
lösung in Gährung versetzte. Büchner macht be¬ 
sonders darauf aufmerksam, dass nur der frische 
Presssaft wirksam ist; vielleicht liegt darin der 
Misserfolg Stavenhagens. Büchner fitriert unter 
Druck, was aber schwerlich von erheblichem Ein¬ 
fluss auf die Zusammensetzung des Saftes sein 
dürfte. — Die Hefe verschiedener Brauereien er¬ 
wies sich als sehr verschiedenartig. Der Saft aus 
einer Hefe, die von auswärts bezogen, also schon 
einige Tage alt war, war ohne Gährwirkung. 
Buemersagt deshalb in einer Nachschrift mit Recht, 
dass die Stavenhagenschen Versuche solange wert¬ 
los bleiben, als er nicht den Nachweis führt, dass 
sein Presssaft vor der Filtration starke Gährwirkung 
besass. Der weitere Inhalt der Buchnerschen Publi¬ 
kation bezieht sich auf Darstellung und verschiedene 
Versuche mit seinem Presssaft aus verschiedenen 
Hefen imter verschiedenen Bedingungen. Unter 
anderm zeigt sich, dass die GährwiAung des Press¬ 
safts verglichen mit lebender Hefe recht klein ist. 

B«r. d. d. chenu Geeellach. XXX, 34» u. a668. —S. u.B.— 


Die Darstelltmg von Elsencarbld durch 
direkte Vereinigung des Metalles mit Kohlen¬ 
stoff hat H. Moissan durchgeführt, dem wir die 
Kenntnis der meisten MetaUcarbide (Verbindungen 
der Metalle mit Kohlenstoff) verdanken. Man 
schmilzt Eisen in Gegenwart von reiner Kohle im 
elektrischen Ofen. Das geschmolzene Metall wird 
mit steigender Temperatur so zähflüssig, dass es 
sich schliesslich gar nicht mehr giessen lässt. Er¬ 
niedrigt man nun die Temperatur, so kehrt die 


frühere Weichflüssigkeit wieder. Kühlt man die 
bei 3000 > mit Kohlenstoff gesättigte Schmelze plötz¬ 
lich durch kaltes Wasser ab, so erhält man ein 
Produkt, welches zum grössten Teil aus dem wohl¬ 
charakterisierten, krystallinischen Eisencarbid be¬ 
steht. Dasselbe veroient deshalb besonderes Inte¬ 
resse, weil es auch im Stahl in beträchtlicher Menge 
vorkommt. Es bildet sich stets, wenn Bisen bei sehr 
hohen Temperaturen mit Kohlenstoff zusammen¬ 
kommt; es zersetzt sich aber wieder progressiv 
beim langsamen AbkOhlen. 

Compt. rend. 1897, 124, I 716. — S. — 

• • 

• 

Die Seidenerzeugung der Erde beziffert sich 
nach einem Vortrag von Dr. Erlenbach im Verein 
deutscher Chemiker gegenwärtig auf über 28 Mill. 
Kilogramm. Daran ist Europa mit einem Fünftel 
beteiligt. China liefert 12X, Japan 6, Italien 4 Mill. 
Kilogramm, Frankreich 900000, Österreich-Ungarn 
250,000, die europäische Türkei 200,000, Spanien 
80,000, Griechenland 35,000, die Balkanländer und 
die Schweiz Je 30,000, das europäische Russland 
1000, Deutschland 500 und England 200 Kilogramm. 
Gegen die Krankheiten der Seidenraupe geht man 
nach Pasteurs Vorschlag Jetzt derart vor, dass man 
Jeden Schmetterling seine Eier in einem besonderen 
rappkästchen abladen lässt, ihn dann an dieses 
Kästchen anheftet und mikroskopisch imtersuchL 
Findet man Pilze an ihm, so wird er mitsamt der 
Brut vernichtet. 


Papierdrachen finden im Dienste der Mete¬ 
orologe immer grössere Verwendui^ Den höchsten 
Aufstieg erzielten bis Jetzt einige- EÜaehen, die am 
15. Oktober vom Blue Hill Observatorium in Nord¬ 
amerika aufgelassep wurden und eine Höhe von 
10,900 Fuss über dem Observatorium oder 11,500 
Fuss über dem Meeresspiegel erreichten. 

Science v. aa. X. 97. 


•Um Pflanzen fürAusstellungszwecke 
die grüne Farbe zu erhalten, empfiehlt A. 
F. Woods ein neues Verfahren, dessen Prinzip ist, 
das Chlorophyll der Zellen mit Kupfer zu verbinden. 
Die Verbindung derselben, Kupfer Phvllo Cyanat 
ist in den gewöhnlichen Praeservierungsflüssigkeiten 
ausser starkem Alkohol unlöslich und lichtecht; die 
Farbe kaum von dem natürlichen ChlorophyllgrOn 
zu unterscheiden. Das Verfahren erfordert, dass 
Objekte unter Luftabschluss in die Lösung gebracht 
werden. Nature V. 4. Nov, 1897. 

Nach einer Mitteilung des durch seine abenteuer¬ 
lichen Fahrten in Innerasien bekannt gewordenen 
schwedischen Forschers Sven Hedin haben die 
Chinesen eine seltsame Vorstellung vom Tele¬ 
graphieren. Sie meinen, dass sich ein mit der Nach¬ 
richt beschriebenes Papierröllchen auf dem Drahte 
fortbewege und sich Jedesmal auf dem porzellanenen 
Isolator der Telegraphenstangen ausruhe. 

• Versuche über den Unterschied der 
Temperatur in der Ebene und auf Hügeln 
haben ergeben, dass das Minimum in der Ebene 
im allgemeinen niedriger ist, während das Maximum 
höher ist als das auf der Anhöhe; mit anderen 
Worten die Ebene ist kälter während der Nacht, 
imd wärmer den Tag über. 




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896 


Sprechsaal. 


Sprechsaal. 

Suderode a. N., den 20. Nov. 1897. 

Geehrter Herr Dr.! 

Gestatten Sie mir zu den Notizen Ober die Hoch¬ 
druckwasserleitung von Pergamon einige Bemerk¬ 
ungen. Es heisst da, »die Römer, denen das Ge¬ 
setz der kommunizierenden Röhren unbekannt“ 
u. s. w. Ich^^abe das zwar auch vor 30 Jahren in 
der Schule noch gelernt, aber ich war der Meinung, 
dass das ein längst überwundener Standpunkt sei. 
Ich halte es einfach für ein Unding, dass ein so 
einfaches Gesetz den Römern entgangen sein sollte. 
Die Anlage der grossartigen Bade-Einrichtungen, 
„des Zirkus unter Wasser“ und dergleichen war 
ohne dieses unmöglich. In Pompeji steht, ich weiss 
nicht in welchem Hause, vor dem Frauengemach 
ein Knabe, an dem hinten ein Blei- oder Bronze¬ 
rohr in die Höhe geht mit einem noch vollständig vor¬ 
handenem Durchlaufhahn. Das Wasser steigt Wer 
in die Höhe, um sich je nach Wunsch aus einer 
Mündung an dem Fusse des Knaben oder aus einer 
Muschel, die er in der eineh Hand trägt, zu ent¬ 
leeren. Dann findet man an einer Strassenecke 
nebeneinander in einem sauber ausgemauerten 
Bassin eine grosse Anzahl ca. 5—8 cm im Lichten 
weite Bronzeröhren mit Auslaufhähnen, die das 
Wasser nach allen Seiten verteilen. In den Strassen 
liegen dieRohre unmittelbar unter dem Trottoir und 
sind an den Auslaufbffoungen der Brunnen zweifellos 
Hähne befestigt gewesen. DieRohre sind von l«! 
Bronze, bestehen aus zwei Teilen und sind bei ( ) 
a an einander gelötet, ln den Kaise^alästen |a[ 
in Rom sah ich in der Mauer ein dickes Bleirohr, 
welches aus einer Bleiplatte in der Art unserer 
Dachabfallrohre hergesteilt war und zwar dadurch, 
dass die Ränder der Naht zweimal sorgfältig über- 
einandergefalzt. waren. Als einfach Ablaufrohr 
hätte ein Thonrohr gewiss genügt. Der Grund, 
warum die Römer keine Hochdruckleitungen in 
grossem Massstab mitLeitungsröhren angelegt naben, 
war einfach der, dass sie keine haltbaren Rohre 
für diesen Zweck fabrizieren konnten, weder aus 
Ejsen noch aus Blei. Bronze ist sicher in ausge¬ 
dehntem Masse zu kleinen Leitungen benutzt, aber 
dann als kostbares Material im Laufe der Jahr- 
liunderte verwendet und gestohlen. Sieht man doch 
am Kolosseum alle Eisen- und Bronzeklammem 
ausgebrochen. Streichen wir aus unserer Technik 
gegossene und gezogene Eisenrohre, so wird uns 
auch für grössere Wasserleitungen von 20 bis 
30 cm Durchmesser, nur das römische System 
der Aquaedukte übrig bleiben. Ich bin überzeugt, 
dass eine genauere Nachforschung noch eine ganze 
Anzahl beweisender Befunde dafür geben wird, 
dass Römer und Griechen das Gesetz der kom¬ 
munizierenden Röhren gekannt und ai^ewendet 
haben. Vielleicht weiss einer der Leser Genaueres 
Ober diesen Punkt. Jedenfalls wäre eine Abhand¬ 
lung Ober die 'neu ausgegrabenen Bade-und Wascli- 
Anstalten in Pompeji, die Art der Heizung und Er¬ 
wärmung des Wassers nicht allein interessant, 
sondern möglicherweise auch von praktischem Wert 
für unsere heutige Technik. Hochachtungsvoll 
Dr. Pelizaeus, Sanitätsrat. 

Wir stellen die interessante Frage zur Diskus¬ 
sion tmd sehen Meinungsäusserungen gern entgegen. 

Die Redaktion. 

Herrn Ingenieur A. W. in Pressburg. Auf Ihre 

f eil. Anfrage zur Erwiderung, dass Bayr. Kärntn. 

irol. nock (Hügel) wahrscheinlich Keltisch ist. 
Irisch cnocc = kleiner Berg. Wieweit freilich Mittel¬ 
deutsch Nock, Nocke (Klösschen, Gerinsel), Nocke 
(Tölpel), IL gnocco (Kloss, Tölpel) damit zusammen¬ 
hängt, ist scWer zu scheiden. Auch Niederdeutsch 


Nock (Rahenspitze) ist lautgeschichtlich kaum ver¬ 
einbar. 

Herrn B. L. A. in M. Das Bazinsche Rollen¬ 
schiff hat den Erwartungen nicht entsprochen. 

Herrn E. IV. in N. Das Pflanzenleben von Prof. 
Kerner von Marilaum ist in jeder Beziehung zu 
empfehlen. Die Isometrope-Augengläser haben wir 
wiederholt angeze«t gelesen; über den Wert der¬ 
selben haben wir Urteile noch nicht gehört. Viel¬ 
leicht kennt einer unserer Herren Abonnenten die 
Gläser aus Erfahrung und teilt uns seine Ansicht 
mit? 

Herrn 0 . W. in B. Zu den besten Erinnerungs¬ 
werken Über den grossen deutschen Krieg gehören 
immer noch Georg Heinrich Rindfleisch, 
Feldbriefe 1870I71, die jetzt in 5. Auflage vorliegen 
(Göttingen, Vandenhoeck & Ruprecht, Preis M. 3.—, 
geb. M. 4.—). Die Briefe, die der Verfasser aus 
dem Felde an seine Frau schrieb, zeichnen sich 
durch einen Adel der Gesinnung aus, der dieselben 
zu einem Schatz der deutschen Litteratur wertet. 

Herrn J. N. in L. Sie wünschen ein Prachtwerk 
zu verschenken, das künsterisch wertvoll ist, dafür 
aber auch etwas kosten darf. Wir empfehlen Ihnen 
die bei A. Titze in Leipzig soeben erschienene 
Folioausgabe von Goethes Gedichten. Mit Bildern 
und Zeichnungen von Frank Kirchbach. Preis M. 45. 
— Durch geschmackvolle Ausstattung bei mässigem 
Preis zeichnet sich Fischer & Frankes (Berlin) 
Bibliothek für Bücherliebhaber aus, in der unter 
anderen bis jetzt erschienen sind „Andersens, 
Glückspeter“ (geb. M. 4), Anton Ohorn, Rübe¬ 
zahl (geb. M. 5), E. T. A. H 0 fm a n n, Doge und 
Doearessa (geb. M. 6). 

Herrn Dr. 5 . M. in K. Ad i) empfehlen wir 
Ihnen .Schoop, Die Sekündär-Elemente“, Verlag 
von Wilh. Knapp in Halle a. S.; ad 2) Ihr Brief 
ist leider von der Firma, welche die zweite An¬ 
frage betr. Akkumulatoren beantworten sollte, vw- 
schleudert worden. Können Sie dieselbe noch ein¬ 
mal wiederholen ? 

Herrn J. A. K. in E. Für das Überziehen von 
Aluminium mit Edelmetallen auf galvanischem Weg 
sind verschiedene Patente genommen. — Wir ver¬ 
weisen Sie besonders auf das von Oppermann 
(D. R. P. No. 82423) Legate (Engl. P. No. 5789). 
Auch das Verfahren von Margot (Zeitschnft für 
Elektrochemie 1895I96 606 und 1896/97 274) kann 
indirekt dazu dienen, indem man das Aluminium 
erst mit einer dünnen Schicht Kupfer überzieht 
und dann vergoldet. — Die Details, deren Darleg¬ 
ung hier zu weit führen würde, finden Sie in den 
betr. Patentschriften, ferner in dem „Jahrbuch für 
Elektrochemie II. u. III. Jahrg. und in der Zeitschr. 
f. Elektrochemie. Beide bei W. Knapp in Halle a. S. 
erschienen. b. 

Herrn K. S. in M. Ihrem Herrn Paßtor dürften 
die „Lebenserinnerungen von Thomas Carlyle“ 
(Deutsche Ausg. von P. Jaeger, Göttingen, Vanden¬ 
hoeck & Ruprecht. Preis M. 4.—, geb. M. 4.80) Freude 
machen, ferner die im gleichen veilag soeben er¬ 
schiene Auswahl aus Charles Kingsleys Schriften 
(Deutsch von M. Baumann, Preis M. 3.60, geb. 
M. 4.60). Ein guter sozialer Roman ist „Oben und 
Unten“ von M. Andrae-Romanek, ebenfalls 
als Lektüre für einen ernsten Mann geeignet. Preis 
M. 3.60, geb. M. 4.50. __ 

Die uftcbaten Nummern der Umacbao werden n. a. enthalten: 

Bruioier, Die Zukunft des Deutschtums (Schluss). — France, 
Neuere Forschungen in Neuguinea. — Russner, Farbenwahr- 
nebmung durch das Auge. UOsebeck, Die etaatsgrtladeadcn 
Ideen des XIX. Jahrhunderts. — Peimau, Entartungs- und Ver* 
brechcrzeichen. 


G. Horstnann’s Druckerei. Frankrurt a. U. 


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DIE UMSCHAU 

ÜBERSICHT ÜBER DIE FORTSCHRITTE UND BEWEGUNGEN AUF 
DEM GESAMTGEBIET DER WISSENSCHAFT, TECHNIK, 
LITTERATUR UND KUNST 

Preis vierteljährlich 

herAusgegeben von 

DR. J. H. BECHHOLD. 


Wöchentlich eine Nummer. 

Zu beziehen durch 
alle Buchhandlungen und 
Postanstalten. 

Foetzeitungspreisliste No. 7321». 

Verlag von: 

H. Bechhold Verlag, Frankfurt a. M. 


Neue KrOme 19'ai. 


.M a.sa 

' Jahres-Abonnement 
Preis M. 10.— 

Im Ausland nach Cours. 
Verantwortlicher Redakteur: 

Otto Adolf Wolters, Frankfurt a. M. 


51. I. Jahrg. 1897. 18. Dezember. 


Neue zoologische Forschungen in Deutsch- 
Neu • Guinea. 

Das Interesse an den Kolonialbestrebungen 
Deutschlands wendet sich schon seit längerer 
Zeit fast ausschliesslich den afrikanischen 
Gebieten zu. Die polynesischen Besitzungen, 
namentlich aber der deutsche Teil von Neu- 
Guinea, welches noch bis jetzt zu den am 
wenigst gekaniiten Teilen der Erde zählt, sind 
schon seit längerem von dem öffentlichen 
Interesse ganz vernachlässigt. Erst aller- 
neuestens gewinnt dieses ferne Tropenland 
regere Teilnahme durch .die Nachrichten über 
reichliche Goldfunde, welche zwar noch auf 
britischem Gebiet, doch sehr nahe an der 
deutschen Grenze gemacht wurden und schon 
jetzt Hunderte von Goldsuchern nach Neu- 
Guinea locken. 

Nach den spärlichen, zu uns gedrungenen 
Nachrichten sollen die neuen Goldfelder sich 
längs des . 3 ffl»<Äara-Flusses befinden und so 
reichhaltig sein, dass ein Mann in einer Stunde 
circa eine Unze Goldes waschen kann, (i Unze 
Gold = ca. 66 Mk.). Auf die Kunde von 
Goldfunden unternahm der Gouverneur von 
Britisch - Neu - Guinea , Sir William Mac 
Gregor eine sechswöchentliche Expedition 
in das Gebiet des Matnbare. Er fand zwar 
die Nachrichten eines neuen Kaliforniens be¬ 
stätigt, doch entrollt der Reisebericht der 
Engländer zugleich ein nur zu beredtes Bild 
der Schwierigkeiten, mit welchen die Aus¬ 
nützung der Goldlager zu kämpfen hat. Ent¬ 
behrungen, Fieber, Angriffe der cannibalen 
Eingeborenen vermindern die Anziehungskraft 
der ersten lockenden Nachrichten sehr. Und 
Hunger, die Schwierigkeit des freundschaft¬ 
lichen Verkehrs mit den Eingeborenen, sowie 
Fieber, dieses traurige Trio kehrt immer 
wieder als gewaltiger Hemmschuh aller Be¬ 
strebungen, welche diese grösste Insel des 
Erdballs dem Gemeinwissen zugänglich machen 

Umschau 1897. 


wollen. Papuasien, das echte, tropische Mär¬ 
chenland, überwuchert von einer Vegetation, 
wie sie an Üppigkeit kaum ihres Gleichen 
hat, blieb bis heute noch das dunkelste Stück 
Erde, gegen welches man das Innere Afrikas 
fast als Kulturland bezeichnen könnte. 

Nur die Küsten sind in einem schmalen 
Streifen von kaum einigen Kilometern bekannt; 
hie und da erheben sich- einige Faktoreien, 
umgeben von einem engen Kreis des Kultur¬ 
landes, ebenso weit als die Flinten reichen 
und dahinter steht dann allüberall die grüne 
Wand des Urwaldes, bis an die schneebe¬ 
deckten Gipfel der ungeheuren Gebirge, gegen 
welche die Bergesriesen der Schweiz klein 
und ärmlich erscheinen. 

Hier handelt es sich vor allem noch um 
die geographische und naturgeschichtliche 
Inventaraufnahme. In dieser Beziehung 
weisen die letzvergangenen Jahre, sowie die 
jüngsten Tage so reiche Ergebnisse auf, dass 
es sich wohl verlohnt, einen Blick auf die¬ 
selben zu werfen. 

Vor allem muss konstatiert werden, dass 
bei dieser Inventaraufnahme die zoologische 
Exploration Deutsch-Neu-Guineas den Löwen¬ 
anteil hatte; dieses intensive^ Interesse der 
Zoologen lässt sich leicht verstehen, wenn 
wir berücksichtigen, dass Neu-Guinea an der 
Grenze der sOdasiatischen und australischen 
Faunengebiete gelegen, eine äusserst reich¬ 
haltige und für das Verständnis der Verbrei¬ 
tung" vieler Tiere auch hochwichtige Tierwelt 
beherbergt. 

Unsere bisherige Kenntnis der Tierwelt 
Neu-Guineas baut sich zum grössten Teil auf 
die Forschungen der Italiener (O. Beccari 
L. M. D’Albertis, L. Loria etc.)auf, deren 
Sammlungen in dem Museo Civico zu auf¬ 

gestapelt sind; an sie schliessen neuerer Zeit 
sich dann hauptsächlich noch die Bestrebungen 
des Russen Miklucho-Maclay und des 
Deutschen Hugo ZöIlers an, welcher Ende 

51 


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898 


Neue zoologische Forschungen in Deutsch-Neu-Guinea. 


der achtziger Jahre das gebirgige Innere Papu- 
asiens durchstreifte. Darm trat eine Zeitlang 
eine Stockung ein, doch erwachte die zoo¬ 
logische Forschung schon wieder im Jahre 
1892 zu sehr intensiver Thätigkeit. Wir 
glauben auf die nachstehenden Thatsachen 
umsomehr eingehen zu können, als dieselben 
grösstenteils dem deutschen Publikum bisher 
unbekannt sind. 

Der aus Ungarn gebürtige Präparator des 
Bukarester Museums, Samuel Fenichel ent¬ 
faltete in Kaiser'Wilhelnisland, anfangs der 
90er Jahre eine sehr regsame Thätigkeit, 
deren Ergebnisse die Sammlungen des Buda- 
pester Nationalmuseums bedeutend bereicher¬ 
ten und von dort aus dem Geroeinwissen 
zugänglich gemacht wurden. Besonders die 
von Fenichel zusammengebrachte Vogel- 
und Conchyliensammlung, ist wegen der zahl¬ 
reichen Nova (z. B. Arses Fenicheli, Poecilo- 
dryas Hermani, Donacicola Sharpii) von 
hohem Wert. Leider machte das Fieber, der 
Thätigkeit Fenichels nur zu bald (1894) ein 
Ende. Anfangs verbreitete sich die Version, 
Fenichel sei der Blutgier der cannibalen Ein¬ 
geborenen zum Opfer gefallen, doch bewahr¬ 
heitet sich dieses Gerücht nicht, sondern es 
stellte sich heraus, dass Fenichel an dem jetzt 
als Chininvergiftung betrachteten SchwarZ' 
wassserfieber verschmachtete. 

Tragisch endete auch die nächste Expe¬ 
dition in das Land der Paradiesvögel; das 
Schicksal ihres Führers, Otto Ehlers, er¬ 
regte in weiteren Kreisen Aufsehen und 
wurde vielfach auch in der Tagespresse be¬ 
sprochen, während sich seinem Vorgänger nur 
lokalere Interessen zuwandten. Sehr interes¬ 
sante, genaue Mitteilungen über die Expedition 
Ehlers, welche wir erst in den jüngsten Tagen 
erfuhren, sind unseres Wissens nach in seinem 
Vaterlande gar nicht bekannt und mögen da¬ 
her in diesen Blättern etwas eingehender 
besprochen werden. 

Dr. Ehlers, der durch seine Forschungen 
in Afrika' (Besteigung des Kilimand’scharo 
bis 6000 m) und als globe-trotter im besseren 
Sinne des Wortes, durch seine anziehenden 
Reiseschilderungen in weiteren Kreisen be¬ 
kannt war, versuchte durch eine in grossem 
Styl angelegte Expedition das fast gänzlich 
unbekannte Innere Neu - Guineas aufzu- 
schliessen. Als spezielles Ziel schwebte ihm 
eine Durchquerung der Insel vor. Im Sommer 
des Jahres 1895 brach er mit dem euro¬ 
päischen Reisegenossen Piering und 43 
Eingeborenen von einer Bucht des Hiiongolfes 
im südöstlichen Teile des deutschen Gebietes 
auf — und in den letzten Märztagen des 

') Siehe Umschau 1897, No. 31. 


vorigen Jahres brachte das Gouvernement¬ 
schiff von Britisch-Neu-Guinea einige über¬ 
lebende nach Friedrich-Wilhelmshafen, welche 
Kunde gaben von dem traurigen Schicksale 
Ehlers und ein grauenhaftes Bild des erlitte¬ 
nen Hungers und Elends entrollten. 

In dem Folgenden geben wir den Bericht 
wieder, den wir einem gegenwärtig in Neu- 
Guinea weilenden ungarischen Naturforscher 
(Birö) verdanken, der einige Überlebende 
der Expedition interviewte, indem diese 
drastische Schilderung ein lebendiges Bild 
der übermenschlichen Leiden und Schwierig¬ 
keiten bietet, mit denen der Forscher unter 
diesem mörderischen Himmelsstriche zu 
kämpfen hat. 

Unser Gewährsmann sagt Folgendes: »Wir 
fragten mehrere der Überlebenden aus. Sie 
können nur wenig und ohne Zusammenhang 
erzählen. Sie wussten es selbst nicht, dass 
sie sich auf einen so langen und gefährlichen 
Weg begeben. Sie ahnten dies erst an dem 
7.-8. Tage, worauf einige heimlich entflohen, 
um allein zurückzukehren. Unweit der Küste 
hören die Niederlassungen der Eingeborenen 
auf; das Innere der Insel, bis zur englischen 
Küste war vollkommen unbewohnt. Überall 
erstreckt sich undurchdringlicher Urwald, 
welcher jedes Lebens, sogar der Vögel ent¬ 
behrt, überall ^eile Berge, ein wahres Wirr- 
sal von Graten und Gipfel. Der Weg führte 
fortwährend bergauf-bergab von steilen Kuppen 
in tiefe, feuchte Thäler, zuweilen auf Berges¬ 
höhen durch dichten Nebel, welcher das Ent¬ 
setzen der Schwarzen vor diesem Leidens¬ 
wege nur noch erhöhte, da die kOstenbewoh- 
nenden Melanesier den Nebel nicht kennen. 
Und so ging es Wochen hindurch. An dem 
fünfzigsten Tage war der Proviant zu Ende, 
länger als ein Monat dienten nur Gras- und 
Baurablätter zur Nahrung. Mit dem letzten 
Rest des Proviantes flüchteten drei Träger, 
doch gingen sie auch zu Grunde. Nach zwei 
Monaten dieser qualvollen Wanderung hingen 
die Kleider nur mehr in Fetzen an ihrem mit 
Wunden bedeckten Körper; auch die Europäer 
hatten nur noch einige Lumpen um ihre not¬ 
dürftigen Blössen zu bedecken. Gepeinigt 
von Ungeziefer, zu Skeletten abgemagert, 
schleppten sich die Unglücklichen durch den 
sich immer gleichbleibenden Wald; die Ge¬ 
wehre und die Munition wurden weggeworfen, 
denn es war ohnedies nichts zum Schiessen 
da. Die Zahl der Wanderer schmolz immer 
mehr zusammen; viele konnten sich nur noch 
auf Händen und Füssen fortschleppen, bis sie 
einer nach dem anderen liegen blieben. 

An dem siebzigsten Tage lebten Ehlers 

‘) Nach seinen veröffentlichten Briefen in Ter- 
meszettud. Közlöny 1896—97. 


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Neue zoologische Forschungen in Deutsch-Neu-Guinea. 


899 


und Piering noch; an diesem Tage stürzte der 
letztere von einem Felsen und brach ein Bein. 
Doch fanden sie am gleichen Tage einen grossen 
schiffbaren Fluss. Mit dem letzten Aufwand 
an Kräften wurde ein Floss gezimmert. Auf dem¬ 
selben befanden sich die zwei Weissen, die 
Schwächsten, ferner die gebliebenen wenigen 
Instrumente und die Notizen Khlers. Die noch 
Kräftigeren gingen längs des Flusses, in der 
Hoffnung, dass Ehlers, falls er eine mensch¬ 
liche Niederlassung erreicht, ihnen alsbald 
Milfe und Nahrungsmittel schicken wird. 

Wie bekannt, wurden Ehlers und Piering 
von den Begleitern, den Buka-Lcuten Kanga 
und Opi ha ermordet und in den Fluss ge¬ 
worfen. Die 21 Eingeborenen erreichten längs 
des Keathtlusses Britisch - Neu • Guinea. Die 
genannten Buka-Leute sind dieselben, welche 
später den Landeshauptmann von Hagen 
ermordet, dann aber selbst von Eingeborenen 
getütet wurden. 

Trotz des schrecklichen Ende Ehlers ver¬ 
suchte der Gouverneur von Brit.-Neu-Guinea, 
Mac Gregor unlängst das Projekt des un¬ 
glücklichen Deutschen zu verwirklichen und 
nach den neuesten Berichten (O. Finsch im 
Globus 1897) gelang es ihm auch als erster 
Weisser nahe dem Kaiser-Wilhelmslande von 
einer Küste zur anderen zu gelangen und 
Neu-Guinea in beträchtlicher Breite (etwa 
180 km Luftlinie) zu durchkreuzen. 


Mac Gregor kam cs in erster Linie auf 
einen topographischen Streifzug im Interesse der 
Eingangs dieses Artikels erwähnten Goldfelder 
an; rein wissenschaftlichen Zwecken dienten 
und dienen hingegen zwei Forscher, deren 
Unternehmen das weitaus wichtigste der letzt¬ 
vergangenen zwei Jahre ist. 

In chronologischer Beziehung gebührt von 
diesen der erste Platz dem ungarischen Natur¬ 
forscher Louis Birö, der seit dem i. Jan. 
1896 in Kaiser-Wilhelmsland weilt und schon 
während der verflossenen, relativ kurzen Zeit 
unsere zoologische Kenntnis des Landes nicht 
unbeträchtlich erw'eiterte. 

ln vorigem w'urde bereits erwähnt, dass die 
Sammlungen Fenichels ausschliesslich dem 
ungarischen Nationalmuseum zu gute kamen. 
Der Wunsch, dieselben zu vervollständigen, 
trieb Prof. Birö nach Neu-Guinea, wo er mit 
materieller und intellektueller Unterstützung 
des Museums ausschliesslich zoologischen 
Studien in ähnlicher Weise lebt, wde vor 
einigen Jahren ein deutscher Gelehrter, Fr. 
Semon, im australischen Busch und an den 
Küsten des Korallenmeeres. Und so wie 
Semon’s Forschungen der Ausgangspunkt einer 
bedeutenden Vermehrung des zoologischen 
Wissensschatzes wurde, (siehe hierüber den 
Aufsatz: „Das Land der lebenden Fossilien" 
in Umschau 1897, No. 7) quillt gegenwärtig 
j aus Birüs Thätigkeit ein reicher Born der 



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900 


Neüe**zoologische Forschungen in Deutsch-Neu-Güinea. 



Eingeborene von Neu*Guinea. 


Nach einer Photographie. 


genaueren Kenntnis der vielgestaltigen und 
seltsamen Tierwelt Papuasiens. 

Es sammelte sich bereits bisher eine be* 
sondere kleine Litteratur über die von Birö 
gesammelte papuanische Fauna und das un¬ 
garische Nationalmuseum und dessen naturge¬ 
schichtliche Zeitschrift » Term^szetrajziFüzetek" 
(Naturhistorische Hefte) wird nachgerade zu 
einem ebensolchen Brennpunkt des Wissens 
über Neu-Guinea wie vor einem Jahrzehnte 
das Genueser Museum und dessen Annalen. 

Birö durchforschte bisher einen grossen 
Teil des deutschen Küstengebietes, jenen 
engen Streifen Landes, welcher auch in geo¬ 
graphischer Beziehung genauer bekannt ist. 
Die wissenschaftliche Bearbeitung des von 
ihm gesendeten Materials hat bereits begonnen 
und liegt zum Teile auch schon im Drucke 
vor. Derselben lässt sich schon jetzt die Lehre 
entnehmen, dass die detaillierte zoologische 
Durchsuchung eines kleineren Gebietes immer 
reichere Ergebnisse bietet, als flüchtiges Sam¬ 
meln auf grossen Territorien. Die bisher aus 
Neu-Guinea bekannten, waren zumeist grosse 
Tiere, welche durch absonderliche Formen 
oder Farbenpracht die Aufmerksamkeit auf 
sich lenken; dem Kleingetier und dem schein¬ 
bar allergewöhnlichsten widmete Birö grosse 
Aufmerksamkeit und wurde durch die Ent¬ 
deckung einer überraschenden Menge von 
bisher unbekannten Lebewesen belohnt. Als 
trcflliche Illustration des Gesagten kann der 
vorläufige Bericht über die von Birö gesam¬ 
melten Milben (Acaridcn) dienen, welche von 


Prof. Canestrini, einer europäischen Au¬ 
torität auf diesem Gebiet bearbeitet wurden. 
(Termöszetr. FOz. 1897). Von .den 49 be¬ 
schriebenen Arten sind nicht weniger denn 
43 sehr interessante neue Gattungen und 
Arten, durch welche nun unsere Kenntnis 
papuanischen Fauna gefördert wird. 

Das Birö'sche Material wird von den her¬ 
vorragendsten Fachleuten Ungarns bearbeitet 
und nur solche Gruppen, bezüglich derer 
sich das geeigneteste Vergleichungsmaterial 
im Budapester Nationalmuseum nicht vor¬ 
findet, auch von anerkannten Autoritäten des 
Auslandes. 

Gegenwärtig liegt ein Beitrag zur Ornis ^ 
des Kaiser-Wilhelmslandes vor (Term. Föz. 
1897), in welchem unter den 64 aufgezählten 
Arten auch eine höchst interessante neue Taube 
(Ptihpus biröi Mad.) von berückend schönem 
Gefieder beschrieben wird. Über die Resul¬ 
tate der Bearbeitung zahlreicher anderer 
Gruppen, wie die der Blattkäfer, der Reptilien 
und Amphibien, der Pseudoskorpione, der 
Protozoen u. A., könnte ebenfalls bereits ein¬ 
gehender berichtet werden, wenn nicht ein 
allzugrosses Vertiefen in solche Dötails, den 
Rahmen dieser allgemeinen Übersicht über¬ 
schreiten würde. Es genügt hier zu konsta¬ 
tieren, dass die zoologische Erforschung Neu- 
Guineas in Birö und dem ungarischen National- 
Museum eifrige Förderer gefunden haben und 
dass von beiden noch viel für die Zoologie 
Papuasiens zu erhoffen ist. 

') Vogelwelt. 



Bechhold, Fortschritte der Chemie im Jahre 1897. 


901 


Ausser Birö sind noch einige Naturforscher 
in Neu-Guinea deutschen Anteils thätig, welche 
mit viel grösserem Apparat und bedeutenderen 
Hilfsmitteln an ihr Werk gehen, welches wohl 
in erster Linie die geographische Erschliess¬ 
ung von Kaiser-Wilhelmsland bezweckt. 

An der Spitze dieser Unternehmen stand 
Dr. Lauterbach, welcher schon im Jahre 
1895 Gogolfluss bis an das gebirgige 
Innere des Landes verfolgte. Er wendete 
sich vom Gogolfluss südlich gegen das Bis- 
marckgebirge^ dessen höchste Gipfel Schnee 
tragen. Von dort aus hat er die östlich ge¬ 
legene Alpenwelt der Krätke- und Finisterre- 
kette erforscht und ist bei Finschhafen wieder 
an das Meer gelangt. 

Diesem Unternehmen standen reiche, teils 
staatliche, teils Privatmittel zur Verfügung 
(100,000 Mk.), was bei den teueren Verhält¬ 
nissen in Neu-Guinea nicht zu unterschätzen 
ist. Gewitzigt durch das traurige Ende Ehlers 
liess Lauterbach längs der Marschroute 
Nahrungsmitteldepöts zurück, um im Notfall 
von dort frische Ressourcen zur Verfügung 
zu haben. Denn so paradox es auch klingen 
mag, das paradiesisch schöne Neu-Guinea 
bietet in dieser Beziehung fast dieselben Ver¬ 
hältnisse, wie die Wüsteneien der grossen 
Kontinente oder die vereisten Gegenden der 
Polarländer. Dem, entspricht auch die so 
überraschende Unbewohntheit des Innern. Von 
den Überlebenden der Ehler'schen Expe¬ 
dition erfuhr man, dass nachdem sie das letzte 
Dorf an dem Fluss verlassen hatten, sie erst 
nach lötägigem Marsch auf ein unbewohntes 
Dorf stiessen und von da 40 Tage lang weder 
Spuren von bewohnten Orten, noch Einge¬ 
borene fanden. Lauterbach’s Vorsicht erschien 
daher mehr als gerechtfertigt. 

Von wissenschaftlichen Ergebnissen des 
Lauterbach’schen Unternehmens liegt bisher 
nur wenig vor. Falls, wie zu hoffen steht, 
sich spätere reichere, zoologische Resultate 
von allgemeinem Interesse ergeben, wird in 
diesen Blättern hierüber noch berichtet werden. 

r. f. 


Fortschritte der Chemie im Jahre 1897. 

VoD Dr. Bkcmhold. 

Durch unsere „kleinen Mitteilungen“ haben 
wir die Leser der Umschau bereits mit den 
hervorragendsten Entdeckungen bekannt ge¬ 
macht. Diese sind meist die Endresultate 
einer Fülle von Untersuchungen, die sich 
durch viele Jahre hinziehen; eine grosse Zahl 
emsiger Forscher bereiten sie vor, einem 
Glücklichen ist es dann beschieden, das Facit 


daraus zu ziehen. — Man wird daher be¬ 
greifen, wenn ich in einem Jahresbericht von 
einem gewissen Zug spreche, der sich in 
manchen Zweigen der Chemie bemerkbar 
macht und wenn ich versuchen will, den Zug, 
das Drängen nach einer bestimmten Richtung 
zu charakterisieren'; die grosse Entdeckung, 
als Krönung der Arbeit wird vielleicht erst 
in vielen Jahren folgen. — 

Die Chemie hat sich in so viele ver¬ 
schiedene Richtungen geteilt und diese For¬ 
schungsgebiete verfolgen so verschiedene Ziele, 
dass auch wir es für angemessen halten, die 
übliche Gliederung einzuhalten. 

I. Allgemeine und physikalische 
Chemie. 

Das Hauptstreben der sogen, allgemeinen 
Chemie ist es, die Bedingungen festzustellen, 
unter denen Substanzen (zunächst natürlich 
unorganisierte) existieren und sich bilden. — 
Nachdem im letzten Jahrzehnt die Theorie 
der Lösungen *) zu ganz unerwarteten Resul¬ 
taten geführt und die Jonentheorie *) nach hartem 
Kampf ziemlich allgemeine Anerkennung fand, 
wendet man sich nunmehr dem $tudium der 
Bedingungen zu, unter denen feste Körper und 
Flüssigkeiten ®) neben einander existieren 
und sucht dafür den mathematischen Ausdruck,^) 
denn das ist ja das letzte Ziel der physi¬ 
kalischen Chemie. — Es ist hier noch alles 
dunkel, man weiss absolut noch nicht, wa¬ 
rum der eine Körper leicht, der andere 
schwer löslich in Wasser ist; warum der 
gleiche Körper, der von Alkohol leicht auf¬ 
genommen wird, in Wasser z. B. unlöslich ist. 

Eng damit hängt die Krystallvoasser- und 
Doppelsalzfrage *) zusammen. Sehr viele Salze 


‘) Lösungen von Körpern in Flüssigkeiten ver¬ 
halten sich analog, wie Gase. — *) Basen (z. B. 
Atzkali), Salze und Säuren werden bei ihrer Lösung 
in Wasser in ihre Jonen gespalten, d. h. in ihre 
elektropositiven und elektronegaüven Bestandteile 
z. B. (Chlomatrium in Chlor-ion und Natrium-ion). 
— *) Bancroft, Joum. of Physical Chem. i. 137, 
344, 403. Ditte, Comptes rend. 133. 1281, 134. 29, 
Ann. de Chimie et Phys lo. «6, östwald Zeitschr. 
f. physikal. Chemie aa. 289, meyerhoffer, Ber. d. d. 
chem Ges. 30. 1804, 1810. — *) Baihrick, Joum. of 
Phys. Chem. i. 157, Schreinemakers, Zeitschr. 
für physikalische Chemie aa. 93, 515, 33. 417, 648. 
•) Salzer, Pharm. Ztg. 41. 846, 4a. 182. — J. H. 
van*t Hoff, Vorlesungen über Bildung und Spaltung 
von Doppelsalzen; deutsch von Th. Paul (Verlag 
von W. Engelmann, Leipzig 1897) ein höchst wert¬ 
volles Buch für Jeden, der sich Ober das Gesamt¬ 
ebiet orientieren will. H. Le Chatelier, Zeitschrift 
physik. Chem. ai. 557, Stortenbeker, Zeitschr. f. 
hysik. Chemie aa. 60, Ambronn und Le Blanc, 
Zeitschr. f. physik. Chemie aa. 121. — van’l Hoff 
und Untersuchungen über die Bildungs¬ 

verhältnisse der ozeanischen Salzablagerungen, ins¬ 
besondere des Stassfurter Salzlagers (Math, naturw. 
Mitteilungen 1897. 47,77), Kohlrausch, (Math, natur- 


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V 


902 


Bechhold, FoKTscHuiTrE Di'k Chemie im Jahre 1897. 


enthalten nämlich Wasser, (z. B. Kupfervitriol); 
ohne dies Wasser können sie nicht krystalli- 
sieren (daher der Name Krystallwasser). 
Andere Salze wieder können sich mit ver* 
schiedenen Mengen Wasser verbinden und 
zeigen je nach der Menge Wasser, die der 
Krystall enthält, verschiedene Formen. Na¬ 
triumsulfat (Glaubersalz) z. B. enthält gewöhn¬ 
lich 10 Teile Wasser, verliert es diese, so 
zerfällt es in ein formloses Pulver. Lässt 
man hingegen das Natriumsulfat aus einer 
Lösung auskrystallisieren, die wärmer als 
33 ® ist, so erhält man eine neue Art Krystalle, 
die wasserfrei sind. — Noch komplizierter 
werden die Verhältnisse, wenn gleichzeitig 
mehrere Salze in Lösung sind, die einander 
gegenseitig beeinflussen. Von welch theore¬ 
tischer Wichtigkeit dies u. a. ist, haben wir in 
Umschau No. 36, S. 649 gezeigt, als wir auf 
die Bildung der Stass/urter Salzlager hin¬ 
wiesen. Dass aber solche Untersuchungen schon 
jetzt ein praktisches Interesse haben, beweist 
ein Patent von W. Meyerhoffer, ^) der auf 
Grund seiner diesbezüglichen theoretischen 
Arbeiten ein Verfahren zur Reinigung von 
natürlichem Carnallit, jenem für die Landwirt- 
schafl so wichtigen Kalisalz, giebt. — Sobald 
man einmal zu allgemeinen Regeln oder gar 
der Erkenntnis der Gründe auf den oben 
genannten Gebieten kommt, wird dies von 
ungeheurem Einfluss auf die Praxis sein. 
Man bedenke, dass z. B. eines der Haupt¬ 
mittel zur Trennung oder Reinigung fester 
von festen Körpern oder Füssigkeiten die 
Krystallisation ist (z. B. beim Zucker). Vor¬ 
derhand muss man in jedem neuen Fall 
herum versuchen, man tappt im Dunkeln, 
zweifellos wird aber einmal die Zeit kommen, 
wo man theoretisch genau Voraussagen kann, 
welches der einfachste und beste Weg zur 
Gewinnung eines Körpers aus seiner Lösung 
oder zu seiner Reinigung ist. 

Die neuen Vorstellungen Ober die Lösung 
haben endlich zu einer genügenden Erklärung 
des Galvanischen Stroms, also des durch che¬ 
mische Vorgänge erzeugten elektrischen Stroms, 
sowie der Zerlegung durch den elektrischen 
Strom (Elektrolyse) *) geführt. Man ist daher 
jetzt schon so weit, dass man in vielen Fällen 
äuf dem Papier eine Kombination von Metallen 
und Lösungen aufstellen und vorausberechnen 

wissensch. Mitteilungen 1897. 60. — Bödiker, Zeit¬ 
schrift f. phys. Chemie 39. 505, van t’Hoff u. Dawson, 
Zeitschr. f. phys. Chemie 33, 598. *) D. R. P. 92812. 
*1 Ein mit gewissen Vorkenntnissen ausgestat- 
teter Leser findet einen schönen zusanimcniassen- 
den Vortrag darüber von Nernst, die elektrolytsisclie 
Zersetzung wässriger Lösungen, in den Berichten 
d. d. ehern. Gesellsch. 1897,8. 1547. Eine allgemein 
verständliche Darlegung dieser Vorgänge ist äusserst 
schwierig. 


kann (stimmen thut es allerdings nicht immer), 
wie gross die Stromstärke eines solchen Ele¬ 
ments sein wird; andererseits durch welchen 
elektrischen Strom man eine Salzlösung wird 
zerlegen können. 

Auf Grund solcher Betrachtungen bemüht 
man sich neue Akkumulatoren zu konstruieren. 
— Die bisher in Gebrauch befindlichen Blei- 
nkkumulatoren wären einer viel grösseren Ver¬ 
breitung fähig, besonders für elektrische 
Strassen- und Fernbahnen, wenn sie ein ge¬ 
ringeres Gewicht hätten, haltbarer wären und 
möglichst noch mehr Elektrizität aufspeichern 
könnten. ^) Auf Hebung dieser Übelstände 
sind die Bestrebungen der Elektrochemiker 
gerichtet, ohne dass wir von einem praktischen 
Erfolg zu berichten wüssten. — Ein weiteres 
grosses Problem, dessen Lösung, wir wollen 
das gleich vorausschicken, der Zukunft Vor¬ 
behalten bleibt, ist die Gewinnung von Elek¬ 
trizität direkt aus Kohle. Es grämt den 
Techniker schon lange, dass er seine Kohle 
erst verbrennen, also in Wärme umwandeln, 
damit Wasser verdampfen soll, dass dieser 
Dampf in Maschinen in Bewegung umgesetzt 
werden muss und man endlich durch Drehung 
der dynamoelektrischen Maschinen Elektrizität 
erhält. Bei allen diesen Umwandlungen kommt 
nur ein minimaler Bruchteil der ursprünglich 
verbrannten Kohle in Form von Elektrizität 
zur Ausnutzung, während man bei geeigneter 
Oxydation (Verbrennung) von Kohle, direkt 
in Form eines galvanischen Elements einen 
elekti ischen Strom erhalten müsste. Das Ideal 
wäre natürlich eine Oxydation bei gewöhn¬ 
licher Temperatur, der nächstmögliche Schritt 
wird aber wohl ein solches Element bei Glüh¬ 
hitze sein. 

II. Anorganische Chemie. 

Sie umfasst die chemischen Verbindungen 
mit Ausnahme der des Kohlenstoffs. 

Dadurch, dass es der Industrie gelungen 
ist, einfache Verfahren zur Gewinnung grös¬ 
serer Mengen Ozon auszuarbeiten, hat sich 
das Interesse dafür wieder gesteigert und 
beschäftigen sich eine Anzahl Untersuchungen 
mit diesem Körper, auch hat sich die Tech- 

®) V. Knarre, Einfluss von Manganverbindungen 
auf Bleiakkumulatoren. Zeitschr. f. Elektrochemie 
3. 362. — Platner, Verwendung von Cyanverbind¬ 
ungen f. galvan. Elemente u. elektrische Sammler 
Elektrochem. Zeitschr. 3. 265, J. Julien, Elektrischer 
Sammler mit 2 Flüssigkeiten (D. R. P. 91050). — 

Eine hübsche Zusammenstellung aller dahinzielen¬ 
den Versuche findet man in Ed. Fodor’s Elektrizität 
direkt aus Kohle. (Verlag von A. Hartleben, Wien). 
Preis M. 3. — . Liebenoiv u. Strasser, Zeitschrift f. 
Elektrochemie 3. 353, ferner auch in der Zeitschr. 
f. Elektrochemie 4. 129 W''. Horchers, .(der am 

eifrigsten in dieser Richtung thätig ist). Uber ei.i 
Kohlengaselement Zeitschr. für Elektrochemie 4. 42. 


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Bechhold, Fortschritte der Chemie im Jahre 1897. 


903 


nik desselben bemächtigt. — Wir halten den 
Gegenstand für interessant genug, um ihm 
demnächst einen ausführlicheren Artikel zu 
widmen und wollen deshalb hier nicht näher 
darauf eingehen. 

Man erinnert sich noch welches Aufsehen 
s. Zeit die Entdeckung der beiden gasförmigen 
Elemente Argon und Helium gemacht hat 
und muss überrascht sein, mit welcher Inte¬ 
resselosigkeit man denselben schon jetzt be¬ 
gegnet. Der Grund für dieses Urteil ist 
allerdings nur die geringe Zahl der Unter¬ 
suchungen, die über diese beiden Gase im 
Berichtsjahr ausgeführt worden sind. Dies 
wird aber andererseits erklärlich, wenn man 
berücksichtigt, mit welchen Schwierigkeiten 
die Gewinnung dieser Gase verknüpft ist, 
noch mehr aber, dass diese Elemente nur 
negative Eigenschaften zeigen d. d. keine 
Verbindungen eingehen. 

Im Gegensatz zu ihnen steht das Fluor, 
ein Gas, dessen Darstellung erst in neuester 
Zeit geglückt ist,* weil es, besonders in nicht 
ganz reinem Zustand alles angreift. — Den 
grossen Forschern Moissan (Franzose) und 
De war (Engländer) gelang die Verflüssigung 
des Fluor “) in Platingefössen bei ca. — 185® 
vermittels flüssigen Sauerstoffs. Es ist hell¬ 
gelb und greift bei dieser niederen Tempera- 
ratur Glas nicht mehr an, selbst bei — 210® 
wurde es noch nicht fest. Bel Zusammentreffen 
mit feuchtem Sauerstoff entstand eine höchst 
explosible Verbindung. 

Es sei hier eine Arbeit angeführt, die 
weniger wegen ihres Inhalts, als wegen des 
Verfassers auf allgemeines Interesse Anspruch 
machen darf: Scheurer-Kestner*) macht 
darauf aufmerksam, dass ein kürzlich von 
Durkee beschriebenes Verfahren zur Oxydation 
von Natriumsulfid zu Natriumsulfat (Glauber¬ 
salz) auf elektrolytischem Weg bereits im 
Jahre 1881 von ihm bearbeitet worden sei. 

Diese Verwendung des elektrischen Stroms 
zu Oyxdationszwecken darf uns nicht auffallen. 
Es ist ja bekannt, dass man durch Elektrolyse 
von Wasser an der einen Elektrode Sauer¬ 
stoff erhält und dass dieser beim Entstehen 
sehr kräftig oxydierend wirkt. So ist es auch 
gelungen, eben durch Elektrolyse von einigen 
Körpern, so hohe Oxydationsstufen zu erlan¬ 
gen, wie auf keinem andern Wege. Man 
kennt zwar durch Berthelot schon lange als 
höchste Oxydationsstufe des Schwefels die 
t^berschwefelsäure (HbSsOs), doch hat die¬ 
selbe erst seitdem sich Elbs^) mit ihr be- 
') Vgl. Umschau No. 37. S. 666. — *) Comptes 
rend. 134. 1202, 135. 505. •) Bull. Soc. chim. de 
Paris 17/18. 99. *) Ein zusammenfassender Aufsatz 
von Elbs, Die Uberschwefelsäure und ihre Salze, 
Ztschr. f. angew. Chemie 1897. ^95 u- von M a r s h a 11 , 
Journal of the Soc. f. Chem. Ind. 16.396. 


schäftigt (seit 1893) ein gewisses praktisches 
Interesse gewonnen. Er stellt sie durch Elek¬ 
trolyse wasserhaltiger Schwefelsäure her. Die 
Säure selbst ist sehr unbeständig, ihre Salze 
hingegen sind haltbar und hat das über¬ 
schwefelsaure Ammonium bereits Eingang in 
die Technik als Oxydationsmittel ^) gefunden. 

In analoger Weise haben Constam und 
V. Hansen im Jahre 1896 eine noch höhere 
Oxydationsstufe des Kohlenstoffs •) als die 
Kohlensäure, nämlich eine Ueberkohlensäure^) 
(HiCsOe) erhalten. Die freie Säure ist nicht 
fassbar, sondern nur die Salze, z. B. das 
Ammonium- und KahumpercarbonatF) Diese 
Salze scheinen als Oxydations- und Bleich¬ 
mittel eine Zukunft zu haben; sie werden 
bereits von der Aluminium-Industrie A. G. in 
Neuhausen hergestellt.*) — Eine neu gefundene 
Uberchromsäure *) (CrOiOH) scheint we¬ 
nig Aussicht auf wissenschaftliches oder prak¬ 
tisches Interesse zu haben. 

Ein Körper, der in den letzten Jahren 
die Aufmerksamkeit der Chemiker in hohem 
Grade auf sich gelenkt hat, ist das Calctum- 
carbtd, eine schmutzig grau-braun, manchmal 
etwas rötliche Masse, die in Wagser geworfen 
Acetylen, das Leuchtgas der Zukunft (wie es 
besonders von den Calciumcarbidfabrikanten 
genannt wird) entwickelt. Das Calciumcarbid 
wird durch Zusammenschmelzen von Kalk 
mit Koks im elektrischen Ofen gewonnen. 
Über Verbesserungen in der Fabrikation dringt 
nicht viel in die Öffentlichkeit, denn die we¬ 
nigen grossen Fabriken, die es erzeugen, 
haben ein Interesse daran, ihre Versuche 
und Erfahrungen für sich zu behalten und 
Versuche im Kleinen haben keinen Wert. Von 
um so grösserem Interesse ist ein Bericht 
der Herren Morehead und de Chalmont,’) die 
einen eingehenden Bericht über Fabrikations¬ 
methode und Ergebnisse der Wilson-Alumi¬ 
nium Co., die auch Calciumcarbid erzeugt, 
liefern. — Es ist sehr natürlich, dass man Ver¬ 
suche anstellt, ob dieses billige, neue Pro¬ 
dukt sich auch anderweitig verwerten lasse. 
Warren hat denn auch gefunden, dass es ein 
sehr gutes Reduktionsmittel^) sei, d. h. dass 
es Metalloxyde, wie Bleioxyd, Eisenoxyd, 
Kupferoxyd etc. zu Metallen (also Blei, Eisen, 
Kupfer etc.) reduziere. Man bekommt natür¬ 
lich keine reinen Metalle, sondern eine Le- 


') Es hat die Fähigkeit die Hydroxylgruime (OH) 
direkt in den Benzolkem einzuführen. *) Das An¬ 
hydrid, ein Carbonyiperoxyd hat bereits Traube in 
den Ber. d. d. chem. Ges. 16. 123 beschrieben. 
*) Zeitschr. f. Elektrochemie 3. 137, 445 — Bach, 
Journ. d. russ. phys. chem. Ges. 39. 373. *) Durch 
Elektrolyse einer konzentrierten Lösung von Am¬ 
monium- resp. Kaliumcarbonat. *) D. R. P. 91612. 
*) Wiede, Ber. d. d. chem. Ges. 30, 2178. Che¬ 
mical News 75. 3, 29. *) Chemical News 75. 2. 


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Bechhold, Fortschritte der Chemie im Jahre 1897. 


904 


gierung von Calcium mit den betr. Metallen. 
In der Technik scheint dies für die Herstell¬ 
ung von Flusseisen schon länger bekannt zu 
sein. Vielleicht wird die Sache einmal ftir 
die Metallverhüttung von Bedeutung. 

In dem Grade als der Absatz des Calcium- 
carbid zunimmt, ist es für den Abnehmer 
auch ratsam, den Handelswert seiner Ware 
festzustellen. Calciumcarbid enthält stets Ver¬ 
unreinigungen^) (besonders Eisen und Silicium) 
und von der Menge derselben hängt es ab, 
wie viel Acetylen daraus gewonnen werden 
kann (ein gutes Produkt kann bis zu 20 pCt. 
mehr Gas geben, als ein schlechtes); aber 
auch die Güte des Acetylen kann durch ge¬ 
wisse Verunreinigungen (verschiedene Phos- 
phide und Aluminiumsulfid) beeinträchtigt wer¬ 
den. Es war Sache der Chemiker, die Arten 
der Verunreinigung festzustellen, um bei der 
Fabrikation Verbesserungen vorzunehmen und 
analytische Methoden *) zur Untersuchung des 
Handelswerts auszuarbeiten. 

Wie in der Astronomie die Kometen, so 
tauchen in der Chemie alljährlich die neuen 
Elemente auf. Die meisten erweisen sich bald 
als gute alte. Bekannte. Der Entdecker de¬ 
mentiert natürlich nicht, dass es mit seinem 
Element wieder mal nichts gewesen sei; aber 
auf alle Anzapfungen in den wissenschaft¬ 
lichen Zeitschriften schweigt er sich aus. 
Auch das vergangene Jahr durfte manche 
Entdeckerfreuden und Entdeckerleiden mit 
ansehen. — Mit dem vom französischen 
Chemiker Barriöre entdeckten Lucium des 
vergangenen Jahres scheint es nichts zu 
sein; ®) wer weiss, wie es Chruschtschoffs 
Russium und Glaukodymium*) ergehen wird? 
Alle diese angeblich neuen Elemente fand 
man in den sog. „seltnen Erden“, die aber 
keineswegs mehr selten sind, seit die In¬ 
dustrie Bedarf für sie hat zur Herstellung 
der Glühkörper in dem Gasglühlicht. Beson¬ 
ders aus Carolina werden grosse Mengen 
Monazitsande, das Rohprodukt für die selt¬ 
nen Erden, importiert. Sie bestehen im we¬ 
sentlichen aus den Oxyden der Elemente Cer, 
Didym, Lanthan, Thor, Erbin, deren Trennung 
zu den kompliziertesten und schwierigsten Ar¬ 
beiten der Chemie gehört. Die Industrie stellt 
sehr hohe Anforderungen an die Reinheit 


') Bullier, Verunreinigungen des Calciumcarbid. 
Elektrochem.Ztschr. 3. 255. LeChatelier, Bulletin 
de la societe chim. de Paris 17. 793. *) Lunge 
und Cedercreutz, Zur Analyse des technischen 
Calciumcarbids und Acetylens u. zur Reinigung des 
letzteren. Zeitschr. f. angew. Chemie 1897 S. 651. 
®) Crookes, Chemical News 74. 259. vgl. damit 
Demarcay, Schützenb erger u. Boudouard, 
Comptes rend. 122. 728, 697, 124. 481, Shapleigh 
Chemical News 76, 41. *) Journal d. russ. phys.- 

chem. Ges. 29. 206. 


der Produkte, da schon die geringsten Ver¬ 
unreinigungen die Intensität des Lichts ver¬ 
ringern und die Farbe verschlechtern (z. B. 
wird das Licht durch Erbium grün). — Bei der 
Unzahl von Trennungen, die hierbei vorge¬ 
nommen werden, kommt es häufig vor, dass 
eine Fraktion eigentümliche Eigenschaften zeigt, 
die dann einem neuen Element zugeschrieben 
werden. Von vielen Chemikern wird es auch als 
zweifellos betrachtet, dass mehrere der bis¬ 
her als einheitlich betrachteten Körper jener 
Gruppe aus mehreren Elementen bestehen, 
dass wir aber noch keine Mittel haben, sie 
zu trennen. — Seltener schon kommt es vor, 
dass man in der Eisengruppe ein neues Ele¬ 
ment findet; es wäre sicher sehr interessant, 
wenn sich Bouchers Entdeckung („Ein viel- 
leicht neues Element oder neue Elemente im 
Gusseisen und Hochofenkesselstaub*^) ') bewahr¬ 
heiten sollte. 

Bei der ganz enormen Verwendung des 
Eisens ist es eineseits natürlich, dass sich eine 
Menge von Untersuchungen auf diesen Körper 
beziehen, andererseits sollte man meinen, dass 
es da gar nichts unbekanntes mehr gäbe. 
Weit gefehlt! Jede neue Entdeckung oder 
Erfindung auf dem einen ermöglicht neue 
Entdeckungen auf anderen Gebieten. Welche 
Umwälzungen hat nicht die Massenerzeugung 
des elektrischen Stroms gezeitigt: er ermög. 
licht die Herstellung des Aluminium, so dass 
dieses jetzt zu den billigsten Metallen gehört. 
Infolge dessen war man im Stande, dasselbe im 
Stahl und Eisenguss (Mitisguss) als Raffi¬ 
nationsmittel zur Verwendung zu bringen und 
damit weit bessere Güsse als bisher zu er¬ 
zielen. — Wieder hat ein Experiment, das 
ganz anderen Zielen zustrebte, Aussichten 
auch für die Eisenindustrie Bedeutung zu ge¬ 
winnen. Moissan erstrebte die Herstellung 
künstlicher Diamanten, indem er in seinem 
elektrischen Ofen Kohle in flüssigem Eisen 
löste und unter Druck erstarren Hess. Die 
Erzeugung ganz kleiner Diamanten gelang 
ihm bekanntlich. Im Lauf dieser Untersuch¬ 
ungen wurde seine Aufmerksamkeit auf die 
Verbindungen des Kohlenstoffs mit den ver¬ 
schiedenen Metallen gelenkt und er stellte 
eine Reihe ganz neuer Verbindungen die 
Kohlenstoffmetalle oder Carbide *) her. — Nun 
unterscheiden sich die verschiedenen Eisen¬ 
arten, Roh-, Guss-, Schmiedeeisen, Stahl durch 
den Kohlenstoffgehalt; neuere Untersuchungen 
haben aber gezeigt, dass auch die Form, in 
welcher das Eisen den Kohlenstoff enthält, 
von Bedeutung ist. RosseP) und Löon 
Franck*) haben aus mehreren Stahlsorten 

*) Chemical News 76. 99. •) Darstellung des 
I Eisencarbids, Comptes rend.124. 416. •) Comptes 
I rend. 123. 113. *) jStahl u. Eisen 1896. S. 585. 




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Bruinier, Die Zukunft des Deutschtums. 


905 


Diamantpulver in erheblicher Menge und bis 
zu 0,5 mm Durchmesser des einzelnen Krys- 
talls isoliert. Campbell hat aus einem Stahl 
nach geeigneter Behandlung 9,66 pCt. Eisen- 
Cf7rÄ/rf*)(Fes C) erhalten, desgleichen Mylius, 
Foerster und Schoene.*) Die letzteren 
Versuche wurden in der physikalisch-tech¬ 
nischen Reichsanstalt ausgeführt, mit der aus¬ 
drücklichen Absicht, „Vorstellungen Ober die 
Prozesse zu gewinnen, welche bei der Härt¬ 
ung des Stahls vor sich gehen.“ Daraus kann 
man schon ermessen, welche Wichtigkeit diesen 
Untersuchungen beigelegt wird. Hat man 
einmal solche Vorstellungen, so liegt es in 
der Hand des Fabrikanten, den Stahlbereit¬ 
ungsprozess in der günstigsten Weise zu 
lenken. Übrigens haben ja auch andere Stoffe, 
wie Silicium (aus der Kieselsäure), Schwefel, 
Phosphor etc. eine hohe Bedeutung für die 
Eigenschaften des Eisens und finden Unter¬ 
suchungen statt, in welcher Form sie darin 
Vorkommen.*) 

Noch einmal tritt uns der Name 
Scheurer-Kestner entgegen. In seiner 
Fabrik in Thann (Eisass) ereignete sich 
dadurch ein Unfall, dass ein Arbeiter 
beim Einführen eines Thermometers in die 
Thermometerröhre eines eisernen Autoclaven 
den Boden der Röhre durchstiess und der 
250 * heisse ätzende Inhalt sich über den die 
Schmelze Überwachenden ergoss. Bei Unter¬ 
suchung des Apparats ergab sich, dass die 
eiserne Röhre vermutlich durch die Schmelze 
(Ätznatron und eine Sulfoverbindung) ganz 
zerfressen war, so dass der leichte Stoss des 
Thermometers genügte, die papierdünne Röhre 
zu durchstossen. Scheurer-Kestner untersuchte 
infolge dieses Unfalls die Einwirkung von 
Aetznatron auf Eisen und Gusseisen bei 2^0^ 
und fand seine Annahme bestätigt. ■*) 

(Schluss folgt.) 


Die Zukunft des Deutschtums. 

^ Von Dr. J. W. Bruinier. 

(Schluss). 

Welch ein Loos! Das deutsche Volk war 
in seinem dunklen Drange gar nicht auf dem 
toten Punkte angelangt und hatte trotzdem 
nach dem Warum gefragt, wie kein anderes. 
Seiner FührerA^irÄ^ hatte es, das der Welt 
Gutenberg, Luther, Leibnitz Kant, Bach, 
Händel, Mozart, Beethoven, Lessing, Herder, 

') American Chemical Journal 18. 836. *) Ber. 
d. d. ehern. Ges. ag. 2991. •) C ar n o t und G o u t a 1 , 
Comptesrend. 135 . 148» 213, Dona thund Haissig, 
Stahl und Eisen 17. 670. *) Bulletin d. 1 . soc. cm- 
mique 15. 1250. 


Goethe, Schiller, Humboldt, Weber, Helm- 
holtz, Bopp, Dietz, Grimm, und wer nennt 
die Namen alle, geschenkt hatte, im vollsten 
Masse genügt, ihm war nur nicht der Führer- 
lohn geworden. Der Völkerteufel hatte es 
sicher nicht gefällt; es war nur wegen der 
Thorheit seiner Leiter in den verdienten 
Sturz des römischen Reiches mit hineinge¬ 
rissen worden, bedeckte aber noch in der 
Todeserstarrung, ein getreuer Fähndrich, mit 
seinem Riesenleibe das ihm verliehene Banner 
der Gesittung. Ohne Schuld verloren? Wo 
bleibt die ausgleichende Gerechtigkeit der 
Geschichte? wo war der Gott des deutschen 
Volkes? 

„Siehe ich bin bei dir, dass ich dir helfe!" 
Dieses Volk durfte nicht vergehen, wenn die 
Welt nicht vergehen sollte. Die Zeit der 
Edelvölker schlechthin ist jetzt, wo der zer¬ 
setzende Einfluss der Gressstädte überall hin¬ 
dringt, dahin: es wäre nichts unwissenschaft¬ 
licher, als für unsere Tage den westeuropä¬ 
ischen Völkern die Rolle des fin-de-siecle 
Roms und etwa den Slaven die der alten 
Deutschen zuschreiben zu wollen. Die arische 
Völkerschmiede hat kein reinglOhend unge¬ 
brauchtes Eisen mehr im Feuer, und bei den 
Ariern bleibt trotz aller Mongolenschwindelei 
das Banner der Gesittung immerdar bis an 
der Welt Ende. Die Deutschen der Völker¬ 
wanderungszeit waren das letzte Edelvolk: 
dieses auserlesene Gesittungsvolk musste sich 
aus sich selbst heraus erneuen können oder 
die ganze Welt verging in orientalischer Bar¬ 
barei oder romanischem Moder. So war es 
eine Notwendigkeit, dass das deutsche Volk 
sich wieder neugebar, dass es erstehen musste 
aus dem tiefsten Todesschlafe zu neuem 
Leben, dessen Morgenröte allerdings lange 
nicht mehr so zukunftsrosig glüht, wie seinem 
Ahnen. Denn dieser sah sich nirgends ge¬ 
hemmt auf seinem natürlichen Wege nach 
Norden und Osten, uns scheint die Welt mit 
Brettern zugenagelt. 

Das neue deutsche Volk erstand trotzdem 
zu rechter Stunde. Es hat zunächst andert¬ 
halbhundert Jahre hindurch ein Pflanzenleben 
geführt; es dachte als Individuumsdeutscher 
nur an sein täglich Brot und an das Warum? 
und liess die Welt laufen, wie sie laufen 
wollte. Das war seine Rettung. Um wieder 
etwas gelten zu können in der Welt, musste 
es die im 17. und 18. Jahrhundert erlittenen 
ungeheuren Einbussen an materieller Kraft 
wieder gewinnen; es musste die verdornten 
Acker roden, die verbrannten Häuser auf¬ 
bauen, den Urwald aushauen, die früher so 
vollen und jetzt ganz geleerten Schreine wie¬ 
der füllen. Es musste arbeiten. Und das hat 
es gethan. Hätte es in neugriechischer Weise 


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9 o6 


Bruinier, Die Zukunft des Deutschtums. 


seine Tage in politischen Träumen verbracht 
und darüber den Acker verwildern lassen, 
dann wäre nie was aus ihm geworden. Dieser 
Individuumsdeutsche, der nur sein Haus 
kannte, stand, trat er hinaus, einer ganz 
fremden Welt gegenüber, in die er nicht hinein 
passte, daher sein Mangel an selbstbewusstem 
Volksgefühl, der nicht niedrigen Beweggrün¬ 
den, Habsucht oder blasser Furcht, entsprang, 
sondern dem instinktiven Gefühle, dass man 
in seiner Vereinzelung nichts sei dem frem¬ 
den geschlossenen Volkskörper gegenüber. 
In unserem Jahrhundert wurde der Gesichts¬ 
kreis weiter: die Individuen fanden sich zu 
Gruppen zusammen: Vereinen, Parteien, Klas¬ 
sen, Kleinstaaten. Hier lernte der bisherige 
Einzelmensch die Liebe zu einer gemein¬ 
samen Sache — mochte das auch eine so 
nichtige sein, wie ein Verein oder ein Kleinstaat 
und das persönliche Selbstbewusstsein, weil in 
den Gruppen einer für alle, alles für einen ein¬ 
stand. Noch wir sind im Gruppenzeitalter — 
aber es geht mit ihnen zu Ende. Das von 
Grund auf neugebildete Volk ist reif zur 
Nation. Der Volksdeutsche des 20. Jahrhun¬ 
derts wird die Edelkraft des Individuums¬ 
deutschen des 18., des Gruppendeutschen des 
19. Jahrhunderts nicht mehr der Person oder 
der Gruppe, sondern dem gemeinsamen Volke 
weihen. Durch ihn ist Deutschland nicht ver- 
preusst, sondern verneudeutscht worden. Durch 
die sozialdemokratische, Volksvergiftung' zumal 
wird die grosse Masse zu selbstbewusstem Frei¬ 
heitsdrangerzogen. Heute schon steht der deut¬ 
sche Arbeiter, was er früher nie wagte, breit¬ 
beinig da, trotzig frech. Die sozialdemokratische’ 
Tagesstimmung aber wird vergehen, wie alle 
Stimmungen; das Selbstbewusstsein wird blei¬ 
ben. Nach hundert Jahren wird der deutsche 
Mann aus dem Volke auf dem breiten Steine 
stehen bleiben, wenn ein fremder ihn hin- 
unterstossen will, er wird sich den, der sein 
Volk höhnt, als den Beleidiger seiner eigenen 
Person kaufen! Hüte dich, Fremder, sind 
Nesseln dran! 

Des Neudeutschen staatliche Aufgaben 
besorgte der Brandenburger. Die neu¬ 
deutsche Staatslosung musste sein: Weg mit 
den Aschenresten der Mumie des heiligen 
römischen Reiches! Vereinigung der Staats¬ 
kraft mit dem wirtschaftlichen Leben! Dar¬ 
um konnte nur ein der See benach¬ 
barter nordostdeutscher Staat die Führ¬ 
ung erhalten. Preussens Bestimmung war die, 
das neue deutsche Volk aus seinen tausend Ge 
föngnissen zu erlösen. Wer das verkennt, 
sieht in dem Lose der vielen Musspreussen, 
die im Laufe der Zeit ihren hemdsärmeligen 
Verhältnissen entrissen wurden, eine empör¬ 
ende Vergewaltigung des „Selbstbestimmungs¬ 


rechtes der Völker"; wer aber Preussens Be¬ 
stimmung erkennt, dem geht das Herz auf, 
wenn er sieht, wie dieser kerngesunde Staat 
hineinwächst in die Mumie des alten Reiches, 
dass die Motten fliegen. Mit jedem Zuwachs 
wird der anfangs so eckigharte Staat eine 
Schöpfung des wunderbarsten aller Könige, 
Friedrich Wilhelms I., dieses Kerls von Eisen, 
der das kühnste Wagnis vollbrachte, nämlich 
sich in der süsslichmodrigen Schlafzimmer¬ 
luft der Zeit Augusts des Starken und Lud¬ 
wigs XV. eine empörende sittliche Gesundheit 
zu erhalten — mit jedemZuwachs wird dieser 
Zwitter von Unteroffizier und kantischer Weis¬ 
heit weniger preussisch und mehr neudeutsch. 

WievielZweifler an unserer Zukunft giebts? 
Man führe sie doch einmal in unsere statist¬ 
ischen Ämter, wo sie schwarz auf weiss 
sehen können, dass loir vor allem gedeihen 
und die meisten anderen zurOckgehen. Man 
lasse sie einmal in den Herzen der Fremden 
lesen, was dort über uns steht: deutscher Alp 
überall. Der Römer zitterte vor uns, weil er 
uns wach glaubte, die Engländer, Franzosen, 
Slaven zittern vor uns, weil sie uns wach wissen. 
Woher der unendliche Hass gegen alles Deut¬ 
schein der weitenWelt, wo wir eigentlich überall 
Dank ernten sollten? wir, die wir 1871 noch 
gezeigt, dass wir keine Zwingslandrolle spie¬ 
len wollen? Warum hasst man uns, während 
der Franzose überall verhätschelt wird, der 
allen Völkern in ungerechten Kämpfen auf 
die Hühneraugen trat, dessen Verdienste um 
die wirkliche Befreiung der Menschheit mit 
den Unsrigen nicht verglichen werden kön¬ 
nen? Nur, weil man uns fürchtet, ohne dass 
man sagen könnte warum, weil man die 
Franzosen nicht mehr fürchtet. 

Im Angelsachsen und im Slaven regt 
sich das instinktive Angstgefühl, der Deutsche 
wolle das jetzt einfordern, was ihm vor 1500 
Jahren entgangen war, den Norden und Osten, 
das Weltmeer und die sarmatische Ebene. 
Daher zunächst der englische Todeshass 
gegen uns, der uns am liebsten heute noch 
vernichtet sehen möchte. Kein Volk empfin¬ 
det einen so ehrlichen Deutschenhass wie 
unser angelsächsischer Vetter. Blut ist ja 
dicker als Wasser, aber Brot ist noch dicker 
als Blut. Wenn das jetzige England einen 
Pitt zum Staatsmann hätte, dann hätten uns 
längst die englischen Schiffsketten erdrosselt. 
Ein Pitt kann aberinjenemgermanischgesunden 
Volke alle Tage erstehen. Darum müssen wir 
die immerfort drohende englische Erdrosselung 
durch Ausbau unserer Seewehr verhüten. Wir 
sind die zweite Handelsmacht geworden; wir 
sind das zweite Gewerbevolk geworden. Das 
heisst, wir leben von der See, nicht mehr vom 
Lande, wie das in unseren Sternen schon 


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Bruinier, Die Zukunft des Deutschtums. 


907 


vor 2000 Jahren geschrieben war. Darum hin¬ 
auf auf die tiefaufdonnernde See! Das heilige 
römische Reich war eine Landmacht; Preussen 
war eine Landmacht: das neue deutsche Reich 
wird eine Seemacht erster Grösse sein, 
oder es wird nicht sein. Und wer ängstlich 
an dem dicken John Bull hinaufschaut, den 
erinnere ich daran, dass unser Fleisch und 
31 ut schon einmal einem noch grösseren 
Gegner zu zeigen verstanden, was deutsches 
Selbstvertrauen vermag: Der Holländer nahm 
dem Spanier die Herrschaft zur See ab, einem 
um das zwanzigfache überlegenen Gegner. 

Hier unsere Zukunft zu sichern liegt an 
uns allein. Das deutsche Volk, das eine Mil¬ 
liarde jährlich für Tabak und Bier ausgeben 
kann, wird auch die fünfzig Millionen zur 
Sicherung seines Lebens übrig haben. In 
einem Punkte werden wir allerdings das uns 
Entgangene niemals wieder vom Angelsachsen- 
tume zurückfordern können.' In der Zeit 
unseres Pflanzenschlafes wurde die Welt ver¬ 
teilt, die wir hätten haben sollen; für unser 
Volk blieb eine SandwOste, ein Windloch 
in Südwestafrika übrig. Haben wir gleich 
die englischen Pflanzländer in Nordamerika 
westlich der Alleghanies und in Australien 
mit unserm Bauerntume besser gedüngt 
als Grossbritannien mit' seinen irischen 
Schnaps|umpen, schottischen Geizkragen und 
englischen Zuchthäuslern — so sind doch 
diese Länder für uns auf alle Ewigkeit ver¬ 
loren. Denn dort tritt dem deutschen Ein¬ 
wanderer übermächtig eine höhere äussere 
Gesittung entgegen, als er sie meist hier 
gekannt hatte, in der er, oder doch seine 
Kinder untertauchen. Das Deutschtum hat in 
diesen Ländern keine Zukunft. Es giebt viele, 
die anders denken. Ich wäre der erste, der 
ihnen zustimmen würde, kann es aber mit 
meinem wissenschaftlichen Gewissen nicht 
vereinbaren. Die überseeische Welt ist ver¬ 
teilt und für das ausdehnungsfähigste Volk 
blieb nichts übrig. 

Und damit komme ich auf den scheinbar 
windigsten Punkt meiner Zukunftsträume. 

Ein russischer Staatsmann hat einem deutsch¬ 
russischen Amtsgenossen von mir gegenüber 
die überraschend klingende, aber nüchtern 
betrachtet sehr einleuchtende Äusserung ge- 
than: die grösste politische Frage unserer 
Tage sei nicht etwa die orientalische, oder 
die soziale, sondern die deutsche Frage. Eine 
deutsche Frage? Weiss denn der Mann nichts 
von 1866? Ja, eine deutsche Frage, an die 
wir nicht, wohl aber die Slaven und sie mit täg¬ 
lich wachsendem Alpgefühl denken. Der erste 
Absatz der Frage ist folgender: Das deutsche 
Volk sitzt in einem Dampfkessel ohne Ventil. 
Trotz aller Auswanderung und sehr unbe¬ 


deutender Einwanderung *) haben wir einen 
geradezu unheimlichen Bevölkerungszuwachs, 
vierzehn Millionen in fünfundzwanzig Jahren. 
Wohin mit den Menschen? Die Welt ist ver¬ 
teilt. Einmal wird, und das ist der zweite 
Absatz der deutschen Frage, dieser Dampf¬ 
kessel ohne Ventil platzen. Ein hochgesittetes 
Volk, das weiss, woran es krankt, und weiss, 
was ihm helfen kann, wird dann wissen, was 
es thun muss: es wird nicht verhungern 
wollen, sondern mit dem Schwert in der 
Hand auf Landnahme ausziehen. Und nun 
der dritte Absatz der deutschen Frage: Der 
Dampfkessel ohne Ventil wird in die Richtung 
platzen, wo er am undichtesten ist. Das ist er 
aber nach dem slavischen Osten hin. 

Dort liegen vorläufig noch die Dinge so 
günstig wie nur denkbar. Der russische Staat 
mit seinem barbarischen Sichgeben kann auch 
uns Furcht einflössen. Das russische Volk 
aber brauchen wir in keiner Weise zu fürch¬ 
ten. Das uns gütige Geschick wollte, dass 
das einzige slavische Volk, das vorläufig über 
seine Geschicke selbst zu verfügen stark ge¬ 
nug ist, das russische, vom Gotte der Völker 
aufgegeben wurde, ehe es überhaupt war. 
Alle Reiseberichte, alle Volkswirtschaftler 
stimmen darin Überein, dass das russische 
Volk unserer Tage nicht entfernt mehr so 
kräftig ist, wie das Alexanders I. oder Niko¬ 
laus I. Langsam seit der Bauernbefreiung, 
schneller seit dem Beginne unseres Jahr¬ 
zehnts ist dieses Volk, das den fruchtbarsten 
Kornboden sein eigen nennt, am Verhungern. 
Heuer haben z. B. zum so und sovielsten 
Male die altrussischen Gouvernements eine 
Fehlernte, die finnischen, deutschrussischen, 
polnischen, ruthenischen eine gute Ernte. 
Liegt das nur an der Grausamkeit des Schick¬ 
sals, an Wind und Wetter? Nein, es liegt 
am Menschen, der in Schnaps, Wucher und 
Unfleiss verkommt.*) Es‘ ist an dem, dass der 
Tschernosemboden zur Wüste wird. Der alt¬ 
russische Bauernstand ist heutzutage ein 
grosser Bettlerstand. Scharenweise drängt er in 
die, in letzter Zeit unheimlich anschwellenden 
Städte, wo er das elendeste Proletariat bil¬ 
det und sehr selten zum Kleinbürgertum em¬ 
porsteigt. Dieses russische Volk hat keine 
Zukunft. Woher denn der verzweifelte Welt¬ 
schmerz bei den Genies eines Volkes, dem 
nach landläufiger Ansicht solche gewaltige 
Zukunft winkt? Dies Volk ist greisenhaft ge¬ 
worden, ehe es überhaupt jung gewesen war. 


‘) Die russisch-polnischen Sachsengänger sind 
am r. Dezember, wo gezählt wird, längst wieder 
abgeschoben. 

*) Man lese darüber den sehr belehrenden Auf¬ 
satz von von der Brügeen in den Preussischen 
Jahrbüchern von 1891 nach. 


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9 o8 


Brumer, Die Zukunft des Deutschtums. 


Was wird aber aus denentstandenenWüsteneien 
auf dem Lande, wer bildet den Mittelstand in 
den Städten, die Kraft des Staates? Um den 
durch erlittene Drangsale in sich gefestigten 
polnischen Kern herum drängt sich eine 
deutsche Bauerneinwanderung langsam nach 
Altrussland hinein und baut sich ein warmes 
Nest. Das ist eine Thatsache, mit der bereits 
die Geographen zu rechnen beginnen, von 
der wir allerdings nichts wissen. Dass in den 
Städten der Mittelstand schon jetzt zum grössten 
Teiledeutsch, nichtetwajüdisch,sondern deutsch 
ist, wissen wir schon eher. Man sagte mir: 
„Denken Sie sich in Petersburg und Moskau 
die verkommenen oberen Zehntausend und 
den Mob weg, so haben Sie eine deutsche 
Stadt.“ Die Aufhebung der Universität Dorpat 
ist für uns ein Glück gewesen. Denn die 
lernbegierige baltische Jugend lieferte, dort 
vorgebildet, dem russischen Staate die besten 
Beamten und Offiziere, die nach treuer deut¬ 
scher Sitte dem russischen Herrn natürlich 
in russischem Sinne dienten. Jetzt dankt na¬ 
türlich diese Jugend dafür, sich die Weisheit 
bei Leuten zu holen, die vor ihrer Vorlesung 
betrunken von der Strasse gelesen werden 
müssen; sie wendet sich den erwerbenden 
Berufen zu und bleibt dann deutsch. Der 
russische Staat hat durch die Schaffung von 
Jurjew den Ast angesägt, auf dem er sitzt. 
Ich brauche nicht zu sagen, dass dem an 
seiner Thüre bettelnden Russen gegenüber 
der dortige Deutsche seinem Volkstume treu 
bleibt. Hier vollzieht sich ein unabänder¬ 
liches weltgeschichtliches Gesetz. Wenn nicht 
noch in letzter Stunde in Russland ein innerer 
Peter, ein Friedrich Wilhelm I. ersteht, der 
sich und sein Volk auf fünfzig Jahre von 
allen Grossmachtsgelüsten abschliesst und sich 
ganz auf die Gesundung des Volkes verlegt, 
dann — ja dann füllt uns Russland sicher zur 
Beute. Ein innerer Peter ist aber nicht zu 
befürchten, weil Russland niemals auf die 
Betonung seiner Grossmachtstellung verzichten 
wird. Wir können die Sache dort laufen 
lassen, wie sie laufen will; je länger es noch 
dauert, um so besser, denn um so innerlich 
schwächer wird Russland, um so stärker sein 
deutscher Magenkrebs sein. Platzt dann bei 
uns der Dampfkessel ohne Ventil, dann geht 
der Koloss auf thönernen Füssen sicher in 
Trümmer. Denn wir sind die Stärkeren, was 
jeder weiss, nur wir selbst nicht. Ich träume 
oft davon — und ich fand, als ich längst so 
geträumt hatte, dass Männer wie Viktor Hehn, 
der die Sache kannte, und Paul de Lagarde 
denselben Traum hegten — ich träume oft 
davon, dass in ferner Zukunft noch einmal 
der schwarz-weiss-rote Grenzpfahl am Ural 
steht und dass in der sarmatischen Ebene, 


die jetzt eine Horde 'Bettler durchschwärmt, 
ungezählte Millionen deutscher Bauern ihren 
Kindern ein Dasein schaffen. Ein faustischer 
Traum — doch er ist nicht zu kühn. Er 
kann einmal Wirklichkeit sein, wenn — wenn 
wir verhindern, was wir verhindern müssen: 
die Vertschechung Österreich-Ungarns! 

Die Westslaven, zumal die Tschechen, 
sind ganz andere Menschen, als die Russen. 
Sie haben von uns ihr Bestes gelernt und 
geben an innerer Kraft dem Durchschnitts¬ 
deutschen wenig nach. In mancher weltlicher 
Tugend mögen sie uns sogar übertreffen; sie 
sind sparsamer, bedürfnisloser, ausdauernder 
und vielfach nüchterner, vor allem aber viel 
volksstolzer als wir. Sie streben nach der 
Herrschaft in Österreich, die, wie heute die 
Dinge liegen, ihn^n vorläufig nicht entgehen 
kann. Nur die schwachbevölkerten Gebirgs- 
thäler von Oberösterreich, Salzburg, Tirol und 
Voralberg sind vor ihnen sicher; in den an¬ 
deren Kronländern und dem dem Untergang 
sicher verfallenen ungarischen Fm-de-siecle^ 
Staat können sie in zwanzig Jahren das Heft in 
Händen, d.h. die Hofburg auf ihrer Seite haben. 
Und was das bedeuten will? Eben eine innerlich 
kräftige slavische Grossmacht, stark genug, dem 
Deutschtume den Todesstoss zu versetzen, 
das sie jetzt so zitternd fürchten! Die uns 
jetzt günstig gesinnte Hofburg ist in erster 
Linie habsburgisch gesinnt und den Dank vom 
Hause Österreich hat das deutsche Volk satt¬ 
sam erfahren. Die Rache für Sadowa ist dort 
nicht vergessen ! Der Tscheche, Herr seiner 
selbst, drei Tagemärsche von der Leipziger 
Schlachtenebene ab; wenn er im Bunde mit 
Frankreich und Russland uns besiegen sollte, 
dann können wir mit der Rhein- und Elbe- 
Saalegrenze vorlieb nehmen. In unsernWenden, 
Polen, K^ssuben, Masuren und der zahlreichen 
tschechischen und polnischen Arbeiterbevöl¬ 
kerung in Stadt und Land liegt übergenug 
Stoff zu einer Wiederverwendung Osteibiens 
und Sachsens. Noch ist der Westslave die 
Fliege auf der deutschen Hand; sie würde 
zerquetscht werden, wenn wir eine Faust 
machen. 

Darum: ein deutsches Österreich-Ungarn I 
Die dortigen Deutschen kämpfen nicht für sich 
allein, sie führen die Sache des gesamten deut¬ 
schen Volkes! Wir haben daher die einfache 
Pflicht der Selbsterhaltung, die Brüder dort 
vorläufig wenigstens moralisch zu unterstützen. 
Und wenn dann einmal die Stunde schlägt, wo 
das Werk Friedrichs des Grossen und Bismarcks 
beendet werden soll, wo Habsburg, zuerst aus 
der deutschen Ebene, dann aus dem deutschen 
Staate verwiesen, auch aus dem deutschen 
Volke verwiesen werden muss — möge dann 


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Müsebeck, Die staatsgrümdenden Ideen Deutschlands. 


909 


dieser grosse Moment hier kein kleines Ge¬ 
schlecht finden! 

Naar Oostland willen wij rijden 
Naar Oostland willen wij mäe, 

Al over de groene beiden 
Vrisch over de beiden 
Daar weet ik een betere st6e. 


/ Die staatsgründenden Ideen Deutschlands 
■* im 19. Jahrhundert. 

Von Dr. E, MOscbeck. 

Jede politische und rechtliche Gemein¬ 
schaft eines Volkes, die wir mit dem Namen 
eines Staates belegen, bedarf einer Idee, die 
ihr zu Grunde liegt, eines Prinzipes, auf dem 
sich der so reich gegliederte Bau erhebt. 
Keine historische Erscheinungsform nun ist 
allgemein und für alle Zeiten gültig. Der 
natürliche Verlauf der Dinge ist es, dass sie 
im Laufe der Geschichte nach der Eigenart 
der Völker, dem Zustande ihrer Entwickelung 
und dem politischen Rechtsbewusstsein der 
Zeiten wechseln. 

Fünf grosse unabhängige Mächte hatten 
sich am Schluss des vorigen Jahrhunderts 
gebildet, die alle auf etwas von einander ver¬ 
schiedenen Prinzipien beruhten: Frankreich 
auf dem katholisch-monarchischen, England 
auf dem germanisch-maritimen und parlamen¬ 
tarischen, Russland, auf dem slavisch-griech- 
ischen, Österreich auf dem katholisch-mon¬ 
archisch-deutschen, Preussen auf dem deutsch- 
protestantisch-militärisch-administrativen Prin- 
zipe. Mögen sie auch im einzelnen auseim 
andergehen, eins ist ihnen allen, mit Ausnahme 
Englands, und ebenso fast allen übrigen 
Staaten Europas gemeinsam; die absolute Ge¬ 
walt des Fürsten, mochte sie sich nun in 
einem masslosen und unbeschränktem Des¬ 
potismus wie bei Ludwig XIV. zeigen, 
der in dem Satze gipfelte, dass das Land nur 
für den Fürsten und die Befriedigung seiner 
Begierden da sei, oder mochte sie sich in 
der selbstlosen Hingabe eines Fürsten an 
sein Volk wie bei Friedrich II. äussem, der 
da nichts weiter sein wollte als der erste Diener 
des Staates. Einen Volkswillen gab es nicht, 
jede freie Selbstbestimmung des Volkes fehlte. 
Darin glichen sich alle Staaten Europas am 
Ausgang des vorigen Jahrhunderts mit Aus¬ 
nahme Englands und einiger kleinerer Staaten. 
Welch eine gewaltige Umwandlung seit jener 
Zeit! Versuchen wir uns einmal klar zu 
machen, welche staatsgründenden Prinzipien 
denn eigentlich im Laufe unseres Jahrhunderts 
wenigstens fn Deutschland sich Bahn ge¬ 
brochen haben, mit anderen Worten, worauf 
unser modernes Staatsleben in Deutschland 
sich aufbaut I 


Für das romanisch - germanische Staaten¬ 
system des 18. Jahrhunderts brach eine neue 
Zeit an mit der französischen Revolution, 
dem Kampf zwischen der Monarchie und der 
Volkssouveränetät. Drei grosse Prinzipien sind 
es, die in jener sturmbewegten Zeit geboren 
worden sind: das Repräsentationsprinzip, das 
Prinzip der Menschenrechte, das Nationalitäts- 
prinzip. Das Repräsentationsprinzip behandelt 
die Stellung des Volkes zum Regenten. In 
der absoluten Monarchie des 18. Jahrhunderts 
galt allein der Wille des Monarchen; es ist 
klar und wird durch die Geschichte hinreich¬ 
end bezeugt, dass zur Begründung eines 
Staates der absolute, starke Wille eines 
Herrschers notwendig ist, aber ebenso sicher 
ist es, dass dieser Absolutismus in den meisten 
Fällen zur übermässigen Ausdehnung der 
Herrschermacht, zur geistigen und wirtschaft¬ 
lichen Knechtung, und damit zum Nieder¬ 
gange des Volkes führt. In diesem Zustand 
befand sich Europa am Ausgang des vorigen 
Jahrhunderts. Eine Reaktion dagegen musste 
eintreten, und Frankreich war das erste Land, 
das den Gedanken einer Volkssouveränetät 
gross zog, nachdem es in Amerika gesehen 
hatte, was der Mensch als Unterthan bedeute, 
wenn er seine freie Selbstbestimmung habe, 
wenn er teilnehme an der Regierung des 
Landes. Nur eine natürliche Folge war es, 
dass diese Ideen zuerst ins Extreme gezogen 
wurden und schliesslich damit endigten, das 
Volk müsse sich selber regieren. Früher war 
es der König von Gottes Gnaden, um den 
sich alles gruppierte, jetzt gewann die Idee 
die Oberhand, dass die Gewalt von unten 
aufsteigen, dass jeder Unterthan in der Re¬ 
gierung repräsentiert sein müsse. Die Grund¬ 
lagen zum demokratischen Terrorismus waren 
gegeben. Den europäischen Mächten lag es 
ob, diese Gedanken zu sondieren, und ihnen, 
soweit sie berechtigt Waren, Eingang zu ver¬ 
schaffen. 

Wie stellte sich Deutschland zu diesem Er’ 
gebnisse der französischen Revolution? — In 
dem südlichen Europa versuchte man das 
absolute Königtum völlig wiederherzustellen; 
anders in den übrigen Staaten. Man vertrat 
die Ansicht, dass man das konstitutionelle 
Wesen, das unter Napoleon nur zum Schein 
bestanden habe, nun wirklich aufrichten müsse. 
So wurden auch in Deutschland die konsti¬ 
tutionellen Prinzipien eingeftlhrt, mit Aus¬ 
nahme Österreichs und Preussens. Immer 
mehr überwogen in der langen Friedenszeit 
nach 1815 diese liberalen Ideen, nur die Kreise 
des hohen Adels verharrten in ihrer Reaktion, 
alle anderen gebildeten Kreise dagegen waren 
ihnen zugethan. Doch beabsichtigte man kei¬ 
neswegs, die Monarchie abzuschaffen; dazu 


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Müsebeck, Die staatsgründenden Ideen Deutschlands. 


910 


waren die monarchischen Ideen in der Zeit 
von 1812 — 1815 viel zu sehr erstarkt. Was 
man anstrebte, war eine Vertretung des Volkes 
bei der Regierung; es wollte nicht bloss wie 
in Preussen seit der Reorganisation sich selbst 
verwalten, sondern auch an der regierenden 
Gewalt selbst teilnehmen. 

Eine gewaltige Erregung der Gedanken 
verursachte die französische Revolution des 
Jahres 1830; schon vor 1848 kam es in 
Preussen dazu, dass die Regierung auf die 
konstitutionellen Gedanken des Liberalismus 
einging. Allein es war zu spät; die Revo¬ 
lutionen von 1848 warfen Österreich und 
Preussen von ihrer alten Regierungsbasis hinab; 
immer mehr gewann in den Kreisen des Volkes 
die Meinung die Oberhand, dass alle Autori¬ 
tät nichts gelte, dass die öffentliche Gewalt 
blos auf die Volkssouveränetät gegründet sein 
müsse. Erst an der Unmöglichkeit der Durch¬ 
führung und an dem militärischen Prinzipe 
fanden diese Gedanken und Umsturzideen 
einen unObersteigbaren Widerstand zur völ¬ 
ligen Verwirklichung. Aber auch die Regier¬ 
ung musste dem Volkswillen nachgeben. Zu¬ 
erst wurde in Preussen, dann auch in Öster¬ 
reich der Konstitutionalismus begründet, in¬ 
dem eine Verfassung die Rechte und Pflichten 
des Regenten und des Volkes ordnete. Da¬ 
mit gelangte das Volk zu einer Mitwirkung 
auf dem Gebiete der staatlichen Thätigkeit, 
und hierauf beruht unsere heutige Staats¬ 
regierung. 

Das Prinzip der Menschenrechte, das seinen 
kühnsten Ausdruck in den Worten Freiheit, 
Gleichheit, Brüderlichkeit gefunden hat, be¬ 
handelt die Stellung der Unterthanen zu ein¬ 
ander. Der alte Staat ehrte und achtete nicht 
den Menschen als solchen, sondern nur so¬ 
weit er zu einer Korporation, zu einer Ge¬ 
sellschaftsklasse gehörte; auch im bürgerlichen 
Leben galt der Wille des Einzelnen nichts, 
das Gesetz der Gemeinschaft alles. Und traf 
ihn nun gar das Schicksal, dass er unfrei ge¬ 
boren war, so sah er sich vollkommen auf 
den guten Willen seines Herrn und dessen 
Gerichtsbarkeit angewiesen. Ein solcher Zwang 
widersprach dem Menschenrechte; allein die 
Revolution hatte nun nichts Eiligeres zu thun 
als jeden Zwang einfach aufzuheben und da¬ 
mit der freien Willkür Thür und Thor zu 
öffnen. Nicht Freiheit nach dem Prinzip der 
sittlichen und wirtschaftlichen Freiheit, son¬ 
dern Freiheit überhaupt, d. h. durch kein 
Gesetz gebundene Willkür wurde gepredigt. 
In dem Wahne, das Wahre zu schaffen, 
gingen sie über die Wahrheit hinaus und be¬ 
gründeten einen unwahrhaften Zustand, der 
ärger war als die frühere Gebundenheit. Von 
deutschen Theoretikern wurden diese Gedan¬ 


ken mit Begierde aufgesogen. Ein Kant sah 
durch die Thaten der Franzosen verwirklicht, 
was er in einsamem Nachdenken gefunden 
hatte: In jedem Menschen ist die Würde des 
ganzen Geschlechts zu ehren, und kein Mensch 
darf als blosses Mittel benutzt werden. Allein 
diese Begeisterung blieb auf die Theorie be¬ 
schränkt. Kein historisch gewordenes Faktum 
kann plötzlich in sein Gegenteil verkehrt wer¬ 
den,ohne selbst zur Ungerechtigkeit zu werden; 
man muss den Verhältnissen Rechnung tragen 
und einen Zustand, der sich als unhaltbar und 
ungerecht herausgestellt hat, sich in einen 
andern, den Umständen angepassten entwickeln 
lassen. Diesem historischen Grundsätze trugen 
die preussischen und deutschen Staatsmänner 
Rechnung, der von den Franzosen ausser 
Acht gelassen war. Darin liegt die grosse 
Bedeutung der preussischen Reorganisation 
seit 1807, dass sie die persönliche Freiheit 
in dem rechten Masse hergestellt hat. Das 
freie Staatsbürgertum eines jeden Einzelnen 
ist seitdem zu einer der wichtigsten Grund¬ 
lagen unserer modernen Staaten geworden. 
Sittlich-religiöse, politische, wirtschaftliche 
Freiheit, aber in den Schranken des Staates, 
darin liegt das Problem, an dem die preuss¬ 
ischen und deutschen Staatsmänner seitdem 
gearbeitet haben. Über der Freiheit des Ein¬ 
zelnen soll und muss die Freiheit des Staates 
stehen, damit er seine Aufgaben .an jedem 
erfüllen kann. 

Das führt uns auf ein drittes Moment, 
das durch die französische Revolution in das 
Staatsleben eingeführt ist, auf das Natwnali- 
tätsprinzip. Dieses behandelt die Stellung 
eines Staates zu den übrigen Staaten und die 
Begründung der nationalen Staaten. Eine 
ganze Nationalkraft war durch die Revolution 
in Thätigkeit gesetzt und drohte das alte 
Staatensystem zu vernichten. Wollte Europa 
das aufgehobene Gleichgewicht wiederher¬ 
stellen, so mussten die einzelnen Völker ihre 
eigene Kraft der fremden entgegensetzen. 
Der absolute Staat war einzig und allein auf 
den Willen des Herrschers begründet; er 
w'ar es, der die Staaten geschaffen hatte, er 
war es, der sie auch erhielt. Fehlte einem 
Fürsten die Thatkraft, dann ging der Staat 
unweigerlich dem Untergange entgegen. In 
Frankreich sahen die übrigen Völker Europas 
ein Beispiel, wie eine Nation aus sich selbst 
heraus zu dem wurde, was sie war. Sie be¬ 
sannen sich auf sich selbst und ihre eigene 
Stärke; doch das Selbstbewusstsein der Völker 
wurde geweckt. In ganz Europa regte sich 
der nationale Gedanke und wurde noch ver¬ 
stärkt durch das unsinnige Beginnen Napo¬ 
leons, jede fremde Nationalität zu erdrücken; 
und erst in dem Kampfe gegen jenes Welt- 


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Betkachtungen und kleine Mitteilungen. 


9 II 


reich wurden die übrigen Völker Europas, 
wurde Deutschland sich seiner Kraft recht 
bewusst. Die besten der Nation haben seit¬ 
dem danach gestrebt, das Nationaütätsprinzip 
zu verwirklichen; und wiederum musste es 
Frankreich sein, welches schliesslich das Mit¬ 
tel dazu wurde, die Idee in die That umzu¬ 
setzen. 

Diesem Prinzipe wohnt zugleich eine hohe 
sittliche Energie inne; es befähigt die Völker 
. zum Kampfe gegen destruktive Elemente von 
innen wie von aussen, legt aber auch einem 
Volke Schranken auf, über die es nicht hin¬ 
ausgehen darf. Die absolute Monarchie findet 
keine Grenze, wo sie mit Befriedigung zu¬ 
rückblickt auf das Gewonnene und dieses 
nach allen Richtungen hin zu fördern bemüht 
ist; ins Endlose geht ihr Streben. Anders 
ein Staat, der auf dem Nationalitätsprinzipe 
beruht; ihm ist dadurch ein Ziel gesteckt. 
So gewährt diese Idee den Völkern gegen¬ 
seitige Sicherheit; und nicht zum mindesten 
beruht unser Friede auf der Achtung vor 
diesem Prinzip, das die europäische Kultur¬ 
welt beseelt. 

So ergeben sich drei grosse Prinzipien, 
welche das moderne Deutschland in seinem 
Staatsleben der französischen Revolution ent¬ 
lehnt hat. Unsere Macht ist gegründet auf 
dem Boden des nationalen Staates, in dem 
jeder Staatsbürger völlige Freiheit geniesst, 
soweit es mit den Interessen der Gemein¬ 
schaft vereinbar ist, und in dem auch das 
Volk selbstthätig infolge des Konstitutionalis- 
mus und der Selbstverwaltung an der Regier¬ 
ung teilnimmt. Mit der Begründung des neuen 
deutschen Reiches scheint diese Entwicklung 
abgeschlossen zu sein; allein sie scheint es 
nur. Sofort erheben sich neue Kämpfe und 
die weitere oder geringere Ausdehnung des 
Repräsentationsprinzipes, uro die weitere Durch¬ 
führung oder Einschränkung des freien Staats- 
bürgertums, um die Verstärkung oder Ver¬ 
nichtung der nationalen Staaten. Schon bevor 
Deutschland zur Einheit gelangte, hatte eine 
neue Bewegung eingesetzt, die ihr Ideal in 
der völligen Durchführung des Repräsenta- 
tionssystemes, d. h. die Beseitigung der mon¬ 
archischen Gewalt und Einführung der Re¬ 
gierung des Volkes selber, in einer schranken¬ 
losen Freiheit des einzelnen Subjektes ohne 
Rücksicht auf die Individualität einzelner, 
und in der völligen Verwerfung des Natio- 
nalitätsprinzipes, d. h. in einem freien Welt¬ 
bürgertum ihr Ideal findet. 

Seine Durchführung ist unmöglich, weil 
es unhistorisch ist, dem Gange der Geschichte 
nicht entspricht, denn es Oberträfe noch weit 
die Forderungen der französischen Revolution; 
und wie haben diese eingeschränkt werden 


müssen, ehe sie im Leben der Völker 
Eingang und Geltung gewinnen konn¬ 
ten ! Nicht sowohl eine Erweiterung als viel¬ 
mehr eine Einschränkung wird in Zukunft 
stattfinden müssen, wofern sie nicht schon 
vollzogen ist. Nur um zwei grosse Einheiten 
handelt es sich bis jetzt: um den Staat und 
um die einzelnen Individuen. Das Verhältnis 
dieser beiden zu einander zu regeln und die 
Rechten und Pflichten dieser beiden Faktoren 
festzusetzen, hat das 19. Jahrhundert durch 
die Geltendmachung jener drei Prinzipien ver¬ 
sucht. Aber zwischen diese beiden Faktoren 
schiebt sich ein dritter ein, der lange ausser 
Acht gelassen worden ist: die soziale Ord¬ 
nung der einzelnen Gesellschaftsklassen. Da¬ 
mit ergiebt sich ein viertes Prinzip, auf dem 
unsere modernen Staaten sich gründen müssen. 
Der Sozialismus, d. h. die Stellung der ein¬ 
zelnen Gesellschaftsklassen zu einander, zu 
dem Staat und zu jedem einzelnen. Die Stell¬ 
ung und Ordnung dieser Klassen ist histor¬ 
isch geworden; sie haben sich ihr Recht er¬ 
worben. Es würde daher ein vergebliches 
Bemühen sein, sie aus der Welt zu schaffen, 
es sei denn, dass man die Individualität und 
damit den Schaffenstrieb des Menschen ver¬ 
nichten und ihn zur Maschine erniedrigen 
will. Der Einzelne hat Rechte, aber Rechte, 
die durch den Staat und durch die Gesellschafts¬ 
ordnung eingeschränkt werden. Und dieses 
Recht ausnutzen darf ein jeder, aber er muss 
bedenken, dass dieses Recht zur Pflicht wird, 
wo es sich um das Wohl und Wehe dieser 
seiner nächsten Mitmenschen handelt. Als 
oberste menschliche Gemeinschaft gilt der 
Staat, in der Jetztzeit unser Staat auf natio¬ 
naler Grundlage; von ihm aus muss eine 
Ordnung der sozialen Dinge erwartet, von 
ihm müssen sie gelöst werden, damit er sie 
zu seinem Aufbau verwenden kann. Aber 
auch hier bedeuten Rechte — Pflichten. 


Betrachtungen und kleine Mitteilungen. 

Verfahren, auf optischem Wege Farbenkontraste 
zwischen einem Objekt und dessen Untergrund 
herzurufen. 

(Archiv fflr mikroskop. Anatomie Bonn, XXXXX, S. 437). 

J. Rheinberg in London benützt dazu Glas¬ 
scheiben, deren zentraler und peripherer Teil ver¬ 
schiedenartig gefärbt ist, oder die in gewissen Teilen 
gefärbt sind, (z. B. durch eine gefärbte Kollodium¬ 
oder GeJatineschicht). Diese Scheiben, der Erfinder 
nennt sie Farbenblenden, werden zwischen Reflex- 
Siegel und Objekt des Mikroskops oder zwischen 
(Jbjektiv und Objekt angebracht. Im allgemeinen 
sind solche Blenden am geeignetsten, deren zentraler 
Teil eine bestimmte z. B. rote Farbe, deren Um¬ 
kreis hingegen eine gut kontrastierende Farbe hat, 
z. B. grün oder blau, oder auch Blenden, in denen 


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912 


Betrachtungen und kleine Mitteilungen. 


nur der zentrale oder der periphere Teil gefärbt 
ist Ebenso können Blenden mit verschiedener 
Farbeneinrichtung verwendet werden. Nimmt man 
z. B. eine Blende mit rotem Zentrum und geteilter 
Peripherie, eine Hälfte rot, die andere gelb und 
betrachtet dadurch ein Bündel Muskelfasern, so er¬ 
scheint die eine Seite der getrennten Fasern blau, 
die andere gelb. Die allgemeine Form und Struktur 
des Objektes kommt auf diese Weise scharf zum 
Vorschein. 

Die Methode ist besonders wertvoll zur Beo¬ 
bachtung mancher ungefärbter botanischer und 
physiologischer Präparate. Die Wirkung der Farben¬ 
blenden auf diese besteht in vielen Fällen nicht nur 
darin, dass die Struktur deutlicher erscheint, son¬ 
dern sie bewirkt auch grössere Tiefenwahmehmung 
und lässt das Objekt beinahe stereoskopisch 
erscheinen. 

Dies scheint teilweise daher zu komme, dass 
die Farbe des Hintergrunds sich mit der des Ob¬ 
jekts in mehr oder weniger bedeutendem Verhältnis 
mischt, je nach seiner Form, Dicke u. s. w. und 
dies bewirkt einen allmähligen Übergang zwischen 
zwei kontrastierenden Farben, welche, ähnlich wie 
bei Schattenefiekten das Auge leicht und unbewusst 
als Relief auffasst Wir haben thatsächlich eine 
verstärkte Form der wohlbekannten stereosko¬ 
pischen Wirkung, wenn wir auf komplementär sich 
gegenüberstehende Farben blicken. 

Weiter ist die Methode wertvoll zur Beobach¬ 
tung lebender Mikroorganismen und zur Untersuch¬ 
ung solcher Objekte, bei welchen es sich um Auf¬ 
lösung von Streifen und Punkten handelt, z. B. bei 
Diatomeen und allen Gegenständen, die das Licht 
in regelmässiger Weise stark brechen oder beugen. 

In kommerzieller Hinsicht lässt sich die Methode 
zur Prüfung von Seide-, Woll- oder BaumwoUfasem 
und leichter Gewebe vorteilhaft anwenden. 

Theodor Mehlkr. 

• • 

• 

Während die brandenburgische Landwirtschafts¬ 
kammer auf eigene Kosten ein Laboratorium unter¬ 
hält zur Kontrolle, ob auch ja kein Margarin 
ohne den gesetzlichen Zusatz von Sesam¬ 
öl in den Handel kommt, weist Herr Raumer 
(Ztschr. f. angew. Chemie v. i. Dec. 1897) nach, 
dass Sesamöl überhaupt nicht als Erkennungsmerk¬ 
mal für Margarin dienen kann. Mit Hilfe der 
Brehmerschen Reaktion (Rotf^bung auf Schütteln mit 
Salzsäure und Furfurol vgl. Umschau Nr. 30 S. 541) 
weist man bekanntlich das Sesamöl und damit auch 
das Margarin nach. Nun werden durch die Vor¬ 
schrift (Zusatz von Sesamöl zu Mai^arin) im allge¬ 
meinen nur die Zwischenhändler getroffen, welchen 
ausschliesslich nach gesetzlichen Vorschriften her- 
gestelltes Margarin als Fälschungsmittel zur Ver- 
lügung steht, während andererseits den Margarine¬ 
fabrikanten, welche bereits in vielen Fällen auch 
Kuhbutter und Butterschmalz fabrizieren, gewisser- 
massen ein Monopol der Fälschung übertragen wird, 
da dieselben wohl kaum das zur Mischung be¬ 
stimmte Margarin mit Sesamöl versetzen werden. 
Gleichzeitig wird die Mischung von Butter und 
Butterschmalz mehr im Ausland vorgenommen wer¬ 
den, das uns bereits jetzt in grossem Massstabe mit 
solchen Produkten überschwemmt. Des weiteren 
hat aber Raumer gefunden, dass Butter aus der 
Milch von Ziegen, die mit Sesam gefüttert wurden, 
ebenfalls eine Reaktion auf Sesamöl, also auf Mar¬ 
garine, giebt. Die gleiche Rotfärbung w’ie Sesam 
giebt auch Curcuma, das viel zum Färben von 
Butter verwandt wird, mit der Brehmerschen Re¬ 
aktion, desgleichen eine Anzahl vielfach zum Butter¬ 


färben gebrauchter Teerfarben (schon ohne Zusatz 
von Furfurol). Daraus ergiebt sich, dass die zur 
Zeit gesetzliche Prüfung der Margarine zu unab¬ 
sehbaren Täuschungen führt und wertlos isL b. 

• • 

• 

Synthese des Heterozanthins und Parazan 
thins. Beide Verbindungen kommen im mensch¬ 
lichen Harne vor und stehen in naher Beziehung 
zu eiiter Substanz, die sich in kleiner Menge in 
allen Geweben unseres Körpers, hauptsächlich in 
den Kernen der Zellen findet, zu dem Xanthin. 
Indessen ist es bisher nicht gelungen, das letztere 
in die beiden ersteren überzumhren. Dagegen lassen 
sich Heteroxanthin und Paraxanthin nach E. Fischer 
aus dem Theobromin, dessen Synthese bekannt ist, 
auf einfache Art gewinnen und somit ist diesem 
genialen Forscher der künstliche Aufbau von zwei 
weiteren Produkten des Organismus gelungen. 

Berichte d. d. chem. Gesellschaft XXX, 3400. — S. -~ 


SprechsaaL 

Zu der bekannten Erscheinung des See¬ 
schiessens teilt uns Herr Rektor Härter äus Meers¬ 
burg interessante am Bodensee angestellte Beob¬ 
achtungen mit, die ihn zu der Ansicht gebracht, 
dass die charakteristischen dumpfen Detonationen 
auf das Platzen von Gasblasen zurückzuführen sind, 
welche aus Verwesungsprodukten von am Boden 
des Sees lagernden Fischleichen ausgehen. „Im 
Bodensee leben bekanntlich mehrere Arten grösse¬ 
rer Fische, wie der Hecht, die Forelle und nament¬ 
lich der Wels, welcher ein Gewicht von nahezu 
a Zentner erreichen kann. Der grösste Teil dieser 
Seeriesen geht im See zugrunde. Da nun diese 
Fischleichen bei ihrer Verwesung nicht an die Ober¬ 
fläche des Sees geworfen werden, sondern in der 
Tiefe in Verwesung übergehen, wird sich tagtäg¬ 
lich der oben beschriebaie Vorgang wiederholen. 
Die Fischleichen fällen sich in der Verwesung natur- 
gemäss mit Gas und zwar solange, bis sie schliess¬ 
lich platzen. Die ausströmenden Gase steigen in 
Kugelform in senkrechter Richtung an die Ober¬ 
fläche des Wassers, woselbst sie ebenfalls platzen 
und hierdurch den stossweisen, an Stärke immer 
abnehmenden Schall, das „Seeschiessen“, hervew- 
bringen. Übereinstimmend mit diesem Vorgang ist 
das beim Seeschiessen beobachtete Aufwirbeln des 
Wassers; ferner die Wahrnehmung, dass zuerst ein 
stärkerer Schall, an welchen sich immer schwächer 
werdende Schallerscheinungen anschliessen, zu ver¬ 
nehmen ist. Auch dieWahrnehmung, dass die eigen¬ 
tümlichen Schallerscheinungen nur bei ruhigem See 
gehört werden, lässt sich mit dem beschriebenen 
Vorgang in Einklang bringen, denn nur bei ruhigem 
See können die aufsteigenden Gaskugeln senkrechte 
Richtung beibehalten und so, ohne von den Wellen 
zerdrückt zu werden, als Kugeln an der Oberfläche 
des Wassers platzen und die Schallcrscheinungen 
des Seeschiessens bewirken.“ (Die Mitteilung wei¬ 
terer Beobachtungen ist uns erwünscht. Die Red.) 


Die n&cbsteD Nammera der Umsehao werden u. enthRlten: 

Braun, Hans Thoma und seine Kunst (Illustr.) — Geh, Rat 
Pelman, EnUrtuogs- und Verbrecherreichen. — Bechhold, Fort¬ 
schritte der Chemie im Jahre 1897 (Schluss). — Lory, Geschichte 
des Sozialismus. — Russner, Farbenwahmebmung durch das Auge. 


G. Horstmano's Druckerei Frankfurt a. M. 


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DIE UMSCHAU 

ÜBERSICHT ÜBER DIE FORTSCHRITTE UND BEWEGUNGEN AUF 
DEM GESAMTGEBIET DER WISSENSCHAFT, TECHNIK, 


Wöchentlich eine Nuinmer. 

Zu beziehen durch 
alle Buchhandlungen und 
PostanstalCen. 

Poetzeitungspreialiete No, 7361 

Verlag imo: 

H. Bedihold Verlag, Frankfurt a. H. 


LITTERATUR UND KUNST 

herauagegeben von 

DR- J. H. BECHHOLD. 


Neue Krflme 19,'ai. 


Preis vierteljährlich 
M a.50. 

Jahres* Abonoement 
Preis M. IO.— • 
Im Ausland nach Gsurs. 
Verantwortlicher Redakteur; 

Otto Adolf Wolters, Frankfurt a. H. 


52. I. Jahrg. 1897. 25. Dezember. 


Entarttmgs* und Verbrecherzeichen. 

Von Geh. Med.-Rat Prof. Dr. C. Pelm an. 

Seitdem der französische Irrenarzt Morel 
seine Abhandlung über die Entartung des 
Menschengeschlechtes geschrieben hat, ist diese 
Frage nicht wieder von der Tagesordnung 
abgesetzt, sondern von den verschiedensten 
Seiten in einer mehr oder minder entsprechen¬ 
den Weise l^ehandelt worden. Schon Morel 
hatte daraqf; aufmerksam gemacht, wie sich 
die Entartung, d. h. die krankhafte Abweich¬ 
ung von einem ursprünglichen Typus, in 
gewissen körperlichen Missbildungen äussere, 
und eines dieser sogenannten Entartungs¬ 
zeichen — eine bestimmte Verbildung des 
Ohres nämlich, wird noch bis heute nach 
seinem Namen benannt. 

Im ganzen aber spielte sich die Frage 
mehr in den ruhigen Bahnen einer wissen¬ 
schaftlichen Untersuchung ab, bis sie durch 
Lombroso und sein berühmt gewordenes 
Buch; „Der verbrecherische Mensch“ mit 
einem Schlage in die weitesten Kreise hinein¬ 
getragen wurde, und nun auf der ganzen Linie 
ein Kampf für und wider entbrannte. 

Lombroso ging von der Erwägung aus, 
dass in allen modernen Gesetzbüchern wohl 
das Verbrechen abgehandelt, von dem Ver¬ 
brecher dagegen keine Rede sei. Wollen 
wir aber das Verbrechen bekämpfen, dann 
müssen wir zuerst den Verbrecher kennen 
lernen, und das können wir nur, wenn wir 
ihn nach wissenschaftlichen Grundsätzen und 
wissenschaftlichen Methoden untersuchen. Das 
hat Lombroso gethan, und die Ergebnisse 
seiner Forschungen hat er in einer solchen 
Unsumme von Beobachtungen niedergelegt, 
dass das Sichten und Sondern noch bis heute 
andauert, und ein endgültiges Urteil vor der 
Hand nicht abzugeben ist. 

Lombroso steht so sehr im Vordergründe 
der ganzen Bewegung, und sie knüpft so un- 

Umachau 1897. 


mittelbar an seinen Namen an, dass wir not¬ 
gedrungen auf seine Ansichten etwas näher 
eingehen müssen. Der geniale Forscher 
legte seinen Untersuchungen die wissenschaft¬ 
liche Thatsache zu Grunde, dass Organ und 
Funktion in einem bestimmten und unver¬ 
änderlichen Zusammenhänge stehen. Wird 
das Eine von einer Veränderung betroffen, 
so muss diese Veränderung des Organes 
auch in einer Abänderung der Funktion ihren 
Ausdruck finden, und ebenso sind wir be¬ 
rechtigt, aus einer Abweichung der Funktion 
den Schluss auf eine entsprechende Verän^ 
derung des Organs zu ziehen. 

Lombroso schloss nun weiter, dass Men¬ 
schen, die sich in moralischer Hinsicht so 
sehr von den Normalen unterscheiden, wie 
dies die Verbrecher thatsächlich thun, auch 
physische Unterschiede von ihnen zeigen 
müssen. Die unstreitig bestehende psychische, 
Anomalie müsse auch ihre physische Ausdrucks¬ 
weise in einer Reihe von besonderen äusseren 
und inneren Abweichungen von der Norm 
finden, und da der ganze Prozess im Grunde 
auf einer Entartung beruhe, so stelle die Ge¬ 
samtheit dieser sogenannten Entartungszeichen 
einen wirklichen Typus dar, den des ver¬ 
brecherischen Menschen (l’uomo delinquente). 

Wir werden auf die Bedeutung dieses viel 
bestrittenen Typus und auf seine Berechtigung 
noch näher einzugehen haben. Da er sich 
jedoch im wesentlichen auf den Entartungs¬ 
zeichen aufbaut und mit ihnen steht und fällt, 
müssen wir uns zuerst etwas eingehender 
mit diesen befassen. Wie bereits erwähnt, 
hatte schon Morel auf diese Degenerations¬ 
zeichen aufmerksam gemacht, ihre Bedeutung 
aber weder bezüglich ihrer Entstehung, noch 
ihrer Gruppierung zu bestimmten Typen er¬ 
schöpfend aufgefasst. Diesen Mangel hat 
Lombroso wenigstens nach einer Richtung 
hin ergänzt, indem er uns für das Verbrecher¬ 
tum zahlenmässige Nachweise und statistische 

5a 


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914 


Pelman, Entartungs- und Verbrecherzeichen. 


Gruppierungen von Entartungszeichen lieferte, 
die allen entgegenstehenden Meinungen und 
Behauptungen zum Trotz, dennoch einen 
wesentlichen Fortschritt unseres Wissens dar¬ 
stellen. Sicherlich findet sich kein einziges 
derartiges Zeichen, das nur dem Verbrecher 
eigen, und bei dem unbescholtenen Menschen 
nicht zu finden sei, und der Wert des ein¬ 
zelnen Zeichens an sich wird überhaupt kaum 
in Krage kommen. Wohl aber gewinnen sie 
mit der zunehmenden Zahl an Bedeutung, 
sie werden von Wichtigkeit durch ihre An¬ 
häufung, und dass sich alle diese Anomalien 
bei Verbrechern viel häufiger finden, wie bei 
den andern ordentlichen Menschen, müssen 
selbst die Gegner zugestehen. Man kann da¬ 
her wohl in der Erklärung auseinandergehen, 
in den Thatsachen aber nicht; mit dem Namen 
Lorabroso’s wird daher stets der Ruhm ver¬ 
bunden sein, dass wir in ihm den Schöpfer 
von der Wissenschaft vom verbrecherischen 
Menschen zu betrachten haben. 

Ob dieser verbrecherische Mensch in allen 
Fällen ein grosses blasses Gesicht mit vollem 
Haupthaar und spärlichem Barte zur Schau 
trägt, ob seine Ohren gross, missgebildet und 
abstehend, seine Kinnbacken massig, die 
Hände breit und die Finger kurz und plump 
sind, ob seine Haut die unzerstörbaren Spuren 
der Tätowierung trägt, die Stirne zurück¬ 
liegend ist, die Stirnhöhlen stark entwickelt 
sind, das Gesicht asymmetrisch, die Zähne 
unregelmässig und der Mund plump ist, alles 
dies und noch vieles andere mag in dem 
einzelnen Falle mehr oder weniger deutlich 
hervortreten, ira Grossen und Ganzen aber 
werden uns die Gewohnheitsverbrecher, denn 
um diese allein handelt es sich, oft genug 
durch ihre Ähnlichkeit überraschen. 

Die Veteranen der verschiedensten Nationen 
gleichen sich, es besteht eine internationale 
Ähnlichkeit, ein Verbrechertypus, der gar nicht 
bestritten werden kann, insofern man darunter 
nicht mehr bezeichnen will, als die Überein¬ 
stimmung gewisser körperlicher Eigentümlich¬ 
keiten. 

Dem Genie des Künstlers war dieses Ver¬ 
ständnis schon lange aufgegangen. Heine 
sagt von einem Menschen, dem er auf der 
Strasse begegnet: „Der Kerl sah aus, als ob 
er die Viehseuche erfunden habe", und die 
Maler Hogarth, G^ricault, Leibi u. a. m. 
führen ihre Bösewichter nach vorstehendem 
Muster aus. 

Und in gleicher Weise, wie das äussere 
köi*perliche Verhalten der Verbrecher be¬ 
stimmte Abweichungen von der Norm auf¬ 
weist, stossen wir auch in dem Ablaufe der 
eigentlichen Lebensvorgänge auf abnorme Er¬ 


scheinungen, die wir ebenfalls als Entartungs¬ 
zeichen aufzufassen haben. 

Auch hier verdanken wir das Meiste 
Lombroso, und gerade hier zeigt er sich als 
ein unerreichter Meister in der Kunst feinster 
Beobachtung und des tiefsten Eindringens in 
die Natur des Verbrechers, die ihn auf eine 
Stufe mit Dostojewski erhebt und ihn sogar 
an Shakespeare anklingen lässt. Das An¬ 
ziehende der Untersuchung auf diesem Ge¬ 
biete wird erhöht durch die besondere 
Schwierigkeit der psychologischen Forschung, 
indem der Verbrecher Seelenzustände durch¬ 
lebt, die sich der normale Mensch nicht vor¬ 
stellen kann, da sie weit ab von seinem 
Empfinden und Denken gelegen sind. 

In diesem, dem gewöhnlichen Verstände 
Unverständlichem, liegt auch der Grund, dass 
man diese fremdartigen Zustände wohl als 
die Äusserungen einer Geistesstörung ansieht, 
und die Gefahr einer Verwechselung von Ver- 
brechen und Irrsinn, und diese Gefahr liegt 
um so näher, als es sich in beiden Fällen 
vorzugsweise um Entartete handelt und sich 
die Entartungszeichen bei beiden finden. 

Dem Verbrecher fehlen die Gefühle der 
Pflicht und der wahren Religiosität, die er 
durch Aberglauben ersetzt. Die Empfindungen 
für Wahrheit, Gerechtigkeit und Recht wird 
man bei ihm vergeblich suchen, imd yon Ge¬ 
wissen und Reue findet sich keine Spur. Er 
ist schlecht begabt, willensschwach, halt- und 
charakterlos, und er bedarf, den Kindern gleich, 
einer beständigen Leitung und einer stets 
wechselnden äusseren Anregung, der er in 
Weibern, Wein und Spiel zu genügen sucht. 

Die Putzsucht des Verbrechers und vor 
allem seine Eitelkeit sind wohlbekannt, und 
sie bilden ein den Erfolg selten verfehlendes 
Mittel zu seiner Ergreifung. 

Mit der Erklärung dieser typischen Eigen¬ 
heiten als atavistischer Rückschläge hatte 
Lombroso kein besonderes Glück. Bei aller 
Hochachtung vor der Evolutionstheorie ist 
der moderne Verbrecher denn doch ein ganz 
anderes Geschöpf, als der prähistorische 
Ahne, und der Ähnlichkeit stehen ebenso 
viele Verschiedenheiten gegenüber. Der Haupt¬ 
einwand nun, der gegen diese Bestrebungen 
erhoben wurde, gipfelte in der Erwägung, dass 
das Verbrechen kein psychologischer, sondern 
ein sozialer Begriff sei. Der Wert einer 
Handlung sei nichts weniger als eine ana¬ 
tomisch-physiologische Grösse, und ihr auf 
diesem Wege beikommen zu wollen, sei un¬ 
gereimt, man müsse dies vielmehr der Gesell¬ 
schaftsordnung und der Sittenlehre überlassen. 

Was man indess dabei Obersehen hatte, 
war, dass Lombroso und seine Schule das 
Verbrechen nicht nur als biologische, sondern 


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Pelman, Entartungs- und Verbrecherzeichen. 


91S 


auch als soziale Erscheinung aufgefasst, und 
den Verbrecher nicht allein als Individuum, 
sondern auch als soziale Persönlichkeit unter¬ 
sucht haben. 

Auf diesem Wege waren sie dazu gekom¬ 
men, zwei Ursachenreihen Air das Zustande¬ 
kommen eines Verbrechens aufzustellen, deren 
erste in der Eigennatur des Verbrechers, die 
zweite in den umgebenden Bedingungen zu 
suchen ist. An sich ist das Verbrechen das 
Ergebnis unzähliger biologischer Faktoren 
in Verbindung mit ebenso unzählbaren phy¬ 
siologischen und sozialen Umständen. Diese 
drei Ursachen wirken stets zusammen, aber 
nicht immer in gleicher Stärke, und zudem 
bei den verschiedenen Verbrechern verschie¬ 
den. Je mehr die eine Ursache vorwiegt, 
können die andern in den Hintergrund treten, 
zu rechnen aber haben wir stets mit allen 
dreien. 

Vielleicht hat Lombroso den Fehler be¬ 
gangen, die individuellen Ursachen allzusehr 
vor den sozialen zu betonen, dass dies aber 
von gegnerischer Seite in umgekehrter Reihen¬ 
folge ebenfalls geschieht, soll hier nur ange¬ 
deutet werden. Schon Gqethe weist darauf 
hin, wie die Franzosen nicht begreifen könn¬ 
ten, dass etwas im Menschen sei, wenn es 
nicht von aussen in ihn hineingekommen 
wäre, und so spielt bei ihnen das milieu social 
bis auf den heutigen Tag die Hauptrolle, 
dem gegenüber die psychische Eigenart des 
Verbrechers in den Hintergrund tritt. Das 
milieu social aber wirkt auf alle in gleichem 
Masse ein, während nur wenige ein Ver¬ 
brechen begehen, und wir sind daher genötigt, 
bei diesen Wenigen ein gewisses Plus anzu¬ 
nehmen, ohne welches sie nicht zu Ver¬ 
brechern geworden wären und das wir doch 
nur in der Eigenart suchen können. 

Insofern also, als die angeborene psych¬ 
ische Abnormität das Individuum minder¬ 
wertig und unfähig macht zur Entwicklung 
altruistischer Gefühle und zum Widerstande 
gegen seine Triebe, kann sie zum verbrecher¬ 
ischen Hange führen, der nur eines äusseren 
Anlasses bedarf, um sich in einer verbrecher¬ 
ischen That zu äussern. 

Aus diesen Verhältnissen ergeben sich für 
unsimmerweitere Ausblicke, an deren Schwelle 
wir zunächst noch stehen. 

Die Kriminalanthropologie wird sich näm¬ 
lich zu einem gewissen Teile mit der Lehre 
von der Entartung und der Minderwertigkeit 
decken, der Übergänge von dem Abnormen, 
das in dem Verbrecher gelegen ist, zu dem 
Pathologischen des Geisteskranken werden 
immer mehr, der scheidenden Schranken im¬ 
mer weniger, und der Unterschied zwischen 
dem Verbrechen, und was wir zur Zeit moral¬ 


isches Irresein nennen, droht sich zu ver¬ 
wischen. 

Auch das wird von vielen als ein Unglück 
empfunden und Lombroso auf die Rechnung 
geschrieben, und so mancher Jurist der alten 
Schule erblickt in der neuen Lehre den Unter¬ 
gang aller geordneten Rechtspflege. 

Dem gegenüber hoffen ihre Anhänger, 
dass sie auch hier einen wesentlichen Fortschritt 
anbahnen werde. 

Allerdings wird es ohne eine gründliche 
Veränderung unseres bisherigen und veralteten 
Strafsystemes nicht abgehen, und mancher 
Zopf wird sein Ende finden. 

Abstrakte legale Systeme werden ferner¬ 
hin nicht mehr verwendbar, noch die Para¬ 
graphen des Strafgesetzbuches in das Gewand 
algebraischerFormeln gehüllt sein. Der Mensch 
ist nun einmal keine geometrische Figur, man 
wird sich allgemach daran gewöhnen müssen, 
den Verbrecher und nicht mehr wie bisher das 
Verbrechen zu bestrafen. Mein lieber Freund, 
das geht nicht, wird künftighin die Gesell¬ 
schaft zu jedem sagen, der sich gegen sie 
und die von ihr aufgestellten Gesetze ver¬ 
geht und in diesem Sinne wird auch die 
Strafe lediglich als eine Reaktion der Gesell¬ 
schaft gegen ihre antisozialen Elemente auf¬ 
zufassen sein. 

{ Ob man auf diesem Wege jemals soweit* 
kommen wird, dass das Strafgesetzbuch der 
Zukunft nur aus einem einzigen Paragraphen 
besteht, wonach jeder gemeingefährliche Mensch 
im Interesse der Allgemeinheit so lange als 
nötig unschädlich zu machen sei, muss ich 
dahingestellt sein lassen. 

Dem Geiste nach wird es diesen Charakter 
tragen und damit wird auch ein Teil der Be¬ 
denken hinfällig werden, die man den Be¬ 
strebungen der neuen Schule jetzt noch ent¬ 
gegenhält, dass sie nämlich durch die vor¬ 
zugsweise Betonung der Gründe, durch die 
ein Mensch zum Verbrecher geworden sei, 
seine Bestrafung unmöglich mache. 

Unstreitbar hat jedes Verbrechen seine 
Ursache, aber das kann kein Grund für die 
Gesellschaft sein, den Verbrecher straflos zu 
lassen. 

• In diesem Sinne wird auch die Geistes¬ 
störung nur eine Erklärung des Verbrechens, 
aber keine Befreiung von seinen rechtlichen 
Folgen sein. Verbrecher oder Irrsinniger, ge¬ 
sellschaftlich wird er unmöglich, und bei aller 
Anerkennung der Bedingungen wird man doch 
stets dieselbe Forderung stellen, — Entfern¬ 
ung aus der Gesellschaft. 

An die Stelle rhetorischer Kämpfe zwischen 
Anklage und Verteidigung wird die wissen¬ 
schaftliche Erörterung über die individuellen 
und sozialen Verhältnisse des Verbrechers 

52 * 


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9 i 6 


Braun, Hans Thoma und seine Kunst. 



treten, um ihn in die eine oder andere anthro¬ 
pologische Kategorie einzureihen, womit auch 
die Form der Strafe gegeben ist. Wer sich 
für diese Frage und ihre Übertragung auf 
das soziale und strafrechtliche Gebiet weiter 
interessiert, dem sei das Buch „Fern, Socio- 
logia criminale“ auf das angelegentlichste em¬ 
pfohlen, das von Kurelia in einer vortreff¬ 
lichen Übersetzung herausgegeben ist. *) Er 
wird hier von der berufensten Seite Anreg¬ 
ung in Hülle und Fülle und die beste Be¬ 
lehrung finden. 

So hat uns die Frage nach den Entartungs¬ 
zeichen unwillkürlich in immer weitere Bahnen 
geführt. Wir haben gesehen, wie sich aus 
der anfänglichen Kriminalanthropologie, als 
deren Schöpfer Lombroso angesehen werden 
muss, die Kriminalbiologie und endlich die 
Kriminalsoziologie entwickelt haben, wie sich 
die wissenschaftliche Forschung der körper¬ 
lichen und geistigen Eigenart des Verbrechers 
bemächtigt hat und zur Feststellung der in 
diesen gelegenen Bedingungen des Verbrechens 
vorgeschritten ist. 

Noch sind diese Wissenschaften neueren 
Datums und ihre Ergebnisse nicht überall so 
festgestellt, wie es die Anhänger der neuen 
Schule uns gerne glauben machten. Dies gilt 
insbesondere für 
die Lehre von den 
Entartungszeich¬ 
en selber, die trotz 
dem Vielen, was 
bisher darüber ge¬ 
schrieben und an 
Beobachtungenje- 
der Art veröffent¬ 
licht wurde, noch 
nicht als spruch¬ 
reif bezeichnet 
werden können. 

Aber auch ohne 
dies sind die Ver¬ 
dienste Lombro- 
sos und seinei- 
Schüler gross ge¬ 
nug, und das Eine 
wenigstens ist 
durch ihre Forsch- 
ungen sicherge¬ 
stellt, dass die Zu¬ 
kunft derjenigen 

*) Enrico Fcrri, 

Das Verbrechen als 
soziale Erscheinung. 

Grundzüge der Kri- 

niinalsoziologie. 

11 erausgegeben von 
Dr. H. Kurella. 

Leipzig, Wigand 
1696. 


Schule angehören wird, die mit dem Studium 
des Menschen auch das der menschlichen Ge¬ 
sellschaft verbindet. 


Hans Thoma tmd seine Kunst. 

Von Dr. Edmukd Wilh. Braun. 

Es dürfte schwer halten, ein zweites Kultur¬ 
volk zu finden, das, wie wir Deutschen, im 
Stande wäre, dreissig volle Jahre hindurch 
einen seiner reichstbegabten, echtesten 
Söhne reife, geniale und vom tiefsten natio¬ 
nalen Wesen erfüllte Werke schaffen zu lassen, 
ohne davon Notiz zu nehmen. Der Fälle 
kennt die Geschichte unserer künstlerischen 
Entwicklung mehrere, und sie wiederholen 
sich stets aufs Neue. Man braucht nur an 
Böcklin und Klinger zu denken: Und nun 
gar erst Hans Thoma! Wer ist Hans Thoma? 
Wie viele Deutsche kennen ihn? 

Ja, Thumann, Anton von Werner und 
wie alle diese Handwerker heissen mögen, 
kennen sie. Ihr süsser gezierter Manierismus 
mundet den Philistern so recht, er spricht 
verwandt an ihre Seele wie Ebers, Baum¬ 
bach und Julius Wolff, die litterarischen 
„Pendants“ jener Pinsellitteraten. 

Jahrzehnte hin¬ 
durch schuf Hans 
Thoma, der grosse 
abgeklärte Poet 
mit dem Kinder¬ 
herzen aus der 
überquellenden 
Fülle seiner in 
allen Fasern ger¬ 
manischen Kunst 
reife köstliche 
Meisterwerke und 
nur ein paar warm¬ 
herzig fühlende 
Kunstfreunde 
liebten und kann¬ 
ten ihn. Die meis¬ 
ten seiner Bilder 
wurden nach Eng¬ 
land verkauft. 

Erst 1890, auf 
der Münchener 


') Die unserem 
Aufsatz beigegebe¬ 
nen Abbildungen 
sind verklein¬ 
erte Wiedergaben 
der im Verlage von 
Breitkopf & Här¬ 
tel in Leipzig er¬ 
schienenen Kunst¬ 
blätter. Preis des 
Selbstbildnis des Künstlers. Blattes M. a.—. 










Braun, Hans Thoma und seine Kunst. 


917 



Märchenerzählerin. 


Ausstellung, vermochte es eine Kollektion seiner 
Werke, Aufsehen zu erzwingen, aber wenig 
Geftohl und wenig Freundschaft. Immerhin 
war der Bann gebrochen und immerhin gab 
es einige Besucher, die das Schöne die¬ 
ser Kunst erfassten. Es entstand eine Thoma- 
gemeinde, sogar der Journalismus brach hier 
und da eine Lanze zu Gunsten des Meisters. 
Unterdessen war die Kunstentwicklung selbst 
ehernen Schrittes vorgeschritten und hatte 
vielen die Augen geöfihet. Es war ein schwerer 
Kampf für die Kunst unter uns Deutschen 1 
Die Fülle der geistigen und sozialen Kämpfe 
hatte alle unsere Kraft absorbiert. Und in 
dieser plumpen Schwere musste auch die 
Kunst versteinern und philiströs werden. 
Aber der Sieg, so schwer er Thoma ward, 
er rückte näher und steht ihm nahe bevor, 
soweit man bei einem so wenig als Kunstvolk 
gearteten, wie es das unsere ist, erwarten 
kann. 

Für die Thomagemeinde war ein Zimmer- 
chen imMünchenerGlaspalast 1896von grossem 
Wert. Es waren da eine Reihe von Hand¬ 
zeichnungen, Aquarellen und Tafelbildern 
ausgestellt und „mit dieser Kollektion hat 
der Künstler beabsichtigt, ein Bild seines 
Entwicklungsganges zu geben“. 

ln der That, ein herrliches Bild gaben 


diese schlichten Studien und Bilder von dem 
Werdegang eines der Grössten in der Kunst¬ 
geschichte, eines der Seltenen, die eminent 
persönlich, national und in kraftvoller Ziel¬ 
bewusstheit bereits in den ersten Versuchen 
der Kinderhand die gewaltige Schrift eines 
individuellen Meisters ahnen lassen. Die das 
halten, was . sie im blühenden Frühlingstasten 
ahnend versprechen, die unbeirrt von allen 
Einflüssen ihren eigenen Weg zu gehen 
wissen, das sind ja stets die Grossen in der 
Kunst gewesen. 

Hans Thomas äusserer Werdegang sei 
kurz berichtet, so wie ihn uns sein Freund 
Henry Thode schildert: 

Hans Thoma ist ein Alemanne. Das 
Rauschen der ernsten grünen Schwarzwald¬ 
tannenklang in seinejWiegenlieder. ln Bernau, 
im badischen Schwarzwald oben, wurde er 
am 2. Oktober 1839 geboren. „Schon als 
Knabe zeichnete er viel, hatte vor allem aber 
eine leidenschaftliche Liebhaberei, allerlei aus 
Papier auszuschneiden, eine Geschicklichkeit, 
die er bis auf den heutigen Tag beibehalten 
hat. Die Märchen, welche die Grossmutter er¬ 
zählte, hat Hans Thoma in treuem Gedächt¬ 
nisse zu bewahren gewusst und viele fröh¬ 
liche Kinder haben sie in fein au^eschnitte- 







9 i8 


Braun, Hans Thoma und seine Kunst. 



nen Bildchen an Winterabenden in Frankfurt 
geheimnisvoll als Transparent in einer Thür- 
Öffnung zu sehen bekommen: Schneewittchen, 
Schneeweiss und Rosenrot, das tapfre Schnei¬ 
derlein, den Jud im Dorn und die wunder¬ 
lichen Geschichten vom Königssohn und vom 
Zwerg Nase. “ 

Nicht leicht war die Jugend Hans Thomas, 
aber voll der tiefsten und herrlichsten Natur- 
eindrOcke. Einige Zeit war er Lehrling in 
einer den Hauptindustriezweig seiner Heimat 
vertretenden Werkstätte, er war Uhrenschild- 
macher. Aber man wurde auf seine Begab¬ 
ung aufmerksam und er kam 1859 auf die 
Karlsruher Kunstschule zu Schirmer, der in 
Düsseldorf auch Böcklins Lehrer gewesen 
war. Schirmers klassisch-romantische Land¬ 
schaften beeinflussten den jungen Thoma 
wenig, doch hatte er ihm persönlich viel zu 
danken. Die älteste Studie, die ich von Thoma 
kenne, eine aus dem Jahre 1858 stammende 
Baumstudie, ist das Werk eines Autodidakten. 
Als ich sie zum ersten Male sah, schrieb ich: 
„Sie sind von rührender, packender Ehrlich¬ 
keit, einfach und wie nach der Natur wieder¬ 
gegeben.“ Auch in einem schweren derben 
Porträt von 1859 leuchtet uns ein starker 
treuer Wahrheitssinn entgegen. „Immer im 
Sommer malte er im Schwarzwald Studien 
und Bilder, mit 
v^ahrer Leiden¬ 
schaftlichkeit u. 
inniger Sorgfalt 
bemüht, die Na¬ 
tur auf das Ge¬ 
treueste wieder¬ 
zugeben.“ 

Es ist ein er¬ 
greifendes Ge¬ 
fühl, dass diese 
strenge Selbst¬ 
zucht, dies Rin¬ 
gen um eine 
künstlerische 
Stellungnahme 
der Natur gegen¬ 
über, diese emi¬ 
nente Selbstän¬ 
digkeit erweckt. 

1868 ging 
Thoma nach 
Düsseldorf und 
1869 nach Paris, 
er ging densel¬ 
ben Weg wie 
ein Jahrzehnt zu¬ 
vor Böcklin, und 
auch ihn zogen 
die alten,Meister 
des Louvre un¬ 


entrinnbar an, aber seitdem war Courbets grosse 
starke Kunst erwachsen. Sie und die Corots, 
Rousseaus und Doubignys erzeugten grosse 
Eindrücke in Hans Thoma, damals lernte 
er „auf immer stärkere Vereinfachung in der 
Darstellung und Hervorhebung des plastisch 
und räumlich Bedeutsamen“ auszugehen. 

1866 hatte Hans Thoma in Karlsruhe aus¬ 
gestellt, und ich habe mit grosser Freude in 
einem alten jetzt kaum mehr gelesenen Karls¬ 
ruher Kunstbericht im ersten Jahrgang der 
Lützow’schen Kunstzeitschrift gelesen, wie der 
anonyme Korrespondent von den Landschaften 
des Johannes Thoma sagt, dass sie in der 
Stimmung viel Poetisches haben, besonders 
die regnerischen Gewitterlüfte zeichnen sich 
durch Wahrheit des Tons aus; ein Genre¬ 
bild; „Ein Mädchen, Geflügel fütternd“, ver¬ 
diene sowohl „durch seine stilvolle charakter¬ 
istische Zeichnung, als durch tüchtige Farbe 
und Durchführung Aufmerksamkeit.“ 

Allerdings war Thoma schon damals, der 
er heute ist, denn dem Kritikus sind die 
Motive der Landschaften „von geringerem 
Interesse“. Man liebte damals noch zu sehr 
heroische Landschaften aus dem Süden, sturm- 
durchbrauste germanische Eichenwälder, zisch¬ 
ende Marinen mit turmhoch spritzendem 
Schaum, Präriebrände^und ähnliche gemalte 

Jamben • Tragö¬ 
dien. Im Herbst 
1869 stellte er 
wieder in der 
heimatlichenRe- 
sidenz aus, aber 
bei fast allen 
,Kunstfreunden' 
erregten seine 
Bilder Grimm 
und Wut. Da 
zogernachMün- 
chen, wo die 
Luft freier weh¬ 
te, aber auch für 
diese Stadt war 
die Zeit noch 
nicht gekom¬ 
men. Sie musste 
von jenseits des 
Rheines herein¬ 
kommen. Still 
und ernstschaff¬ 
end, befreundet 
initBöcklin,lebte 
Thoma in Mün¬ 
chen ; ein paar 
Bilder hatte ihm 
ein Engländer 
abgekauft. 1874 
Harpye. zog erzürn ersten 




Dir.i^^ed by GOg 









Braun, Hans Thoma und seine Kunst. 


919 



Quellnymphe. 

Mal nach Italien, aber wie 1880 nach seinem 1 
zweiten Aufenthalt kam er zurück als der 
Alte. Ihn hatte die Antike und die Renaissance } 
so wenig „erdrückt", wie Ludwig Richter. ' 
Gleich Dürer* hat er mit dem naiven deutschen 
Naturgefühl die Pracht des Südens erfasst | 
und gemalt. | 

Das Weitere nur kurz. 1876 verliess er 
Müjichen, durchzog die Waldheimat und blieb 
kurze Zeit in dem zaubervollen Städtchen 
des Trompeters, in Säckingen. Dann siedelte 
er nach Frankfurt a. M. über, wo er in der 
Wolfgangstrasse sein Heim aufschlug, in dem 
er heute noch schafft, frisch, scharfäugig und 
tief wie je, aus dem ewigen Jungbrunnen 
seiner gesunden, kraftvollen und deutschen 
Kunst schöpfend. 

II. 

Die Franzosen sind ein altes Kunstvolk 
voll instinktiven Gefühls für das Künstler¬ 
ische. Trotz des bric ä brac hat sie ihre de- j 
korative Begabung nie verlassen. Sie haben I 
relativ früh Millets geniale Kunst erkannt, | 
sie verehren und lieben ihn. Was der nor- | 
männische Bauernsohn Millet den Franzosen, 
das ist der Schwarzwälder Bauernsohn Hans 
Thoma uns Deutschen, aber das allgemeine 
durchgreifende stolze Gefühl dafür fehlt noch 
den Meisten des Volkes, nicht zuletzt den 
sogenannten Gebildeten, oder wahrer ausge- j 
drückt, dem deutschen Bildungsphilister. I 


Die ethisch-ethnologische Grösse der Millet- 
schen Kunst ist auch Thoma zu eigen. Seit 
Dürer und Rembrandt war kein Maler ger¬ 
manischer und deutscher in seiner Totalität, 
denn beispielsweise Schwind, Rethel und 
L. Richter sind nur einzelne Seiten derselben. 
Thoma trat der Natur gegenüber, frei und 
liebeerfüllt, als ein Deutscher, als ein Bauern¬ 
sohn, fest und mit tausend unsichtbaren Fäden 
mit dem heimatlichen Boden verwurzelt. Doch 
ist er nicht allein ein Schwarzwälder, viel 
tiefer ist seine Kunst, sie ist vom unver¬ 
fälschtesten germanischen Typus. Natur und 
eigenes Volkstum sind die beiden Pole seiner 
Kunst, aus ihnen heraus entstehenseine Bilder, 
seine Typen, ähnlich wie Wagners Gestalten¬ 
fülle und glühende Kunst sich in der Mythologie, 
im Nationalepos aussprach. So national ist 
Thoma, dass ihn nur der schärfste Ausdruck 
seiner Nation fesselt, der Bauer, welcher mit 
seiner Scholle zusammenlebt, auf ihr arbeitet. 
Die höheren international und kosmopolitisch 
nivellierten Klassen interessieren ihn nicht. 
Sie enthalten ihm zu wenig Volksseele. So 
stark wie das Volkstum aus Thomas Kunst 
spricht, so gross ist er, wenn er, um mit 
Dürers schlichten Worten zu reden, die in 
der Natur steckende Kunst aus dieser „her- 
ausreisset“ und so den „versammelten heim¬ 
lichen Schatz des Herzens offenbart.“ 

Volkstum und Naturgefühl also sind die 
beiden Pole der Thomaschen Kunst und ihre 
Wahrheit, ihre zwingende Macht will er sei¬ 
nem Volke einflössen. Er hat auch etwas 
Reformatorisches an sich: Ich denke hier 
zunächst an seine Steindrucke, die in billigen 
Reproduktionen ins Volk kommen, an seine 
Zeichnungen zu deutschen Volksliedern, wie 
zu „Es ist ein Schnitter, der heisst Tod", 
zu „Es fiel ein Reif in der Frühlingsnacht", 
ich denke an seine Bilderrahmen, die ohne 
alle Vorgänger sind und den Rahmen mit 
einer Fülle von Gestalten und Einfällen über¬ 
giessen, welche entweder rein dekorative Natur¬ 
bilder sind oder den vollen Akkord des 
Bildes anschwellen lassen, sanft auflösen und 
mit kunstvollen Arabesken umspinnen. Denn 
Thoma ist auch ein genialer dekorativer 
Künstler voll der tiefsinnigsten entzückendsten 
Einfälle, die er mit dem naiven Reichtum 
des Kindes um sich streut. Ihm ist kein Ge¬ 
biet der Welt und des Menschentums fremd, 
das Pinsel und Stift zu erfassen vermögen. 
Aber er geht über das Erreichbare, sinnlich 
Wahrnehmbare immer hinaus, er dringt in 
die Tiefen hinab, die Goldadern der Volks- 
Phantasie schürft er auf, er hält Zwiegespräch 
mit den Naturgeistern und dem Blütenzauber des 
deutschen Volkslied, dem keuschen zauber¬ 
umflossenen deutschen Märchen. Gleich Böcklin 


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920 


Braun, Hans Thoma und seine Kunst. 


belebt er seine Natur mit Fabelwesen, denen 
Dürers ähnlich, wie er sie der „antikischen 
Art“ der venezianischen Holzschnitte und 
Stiche nachbildete. Böcklin lebt trotz der ger¬ 
manischen Pracht seiner Natur zu sehr in 
der Antike und im Florenz des Quattrocento, 
aber Thomas Personifikationen sind echt 
deutsch in ihrer unlöslichen, weil durchaus 
persönlichen Verschmelzung einer mächtigen , 
kosmischen Phantasie-Welt mit einer so treuen 
ehrlichen Naturwiedergabe. j 

Hans Thoma hat sich in seinem Seiösl- \ 
Porträt gemalt wie ein alter deutscher Meister, i 
mitten in der lachenden Natur, mit der 
Palette in der Hand. 

Es ist auch ein gewisses „musikalisches“ 
Element in Thomas Kunst. Ich meine damit 
ungefähr das, was der Rembrandtdeutsche , 
„die musikalisch-melancholische Natur des ! 
Deutschen“ nennt, und deren tiefinnerstes j 
Wesen Wagners Kunst in uns aufflammen ' 
lässt. Darum hat Thoma von Wagner grosse | 
Eindrücke erhalten, darum verdanken wir ihm | 
wundervolle und ergreifende Nachschöpfiinr^n i 


Säen und Ernten, der Reigentanz nach der Arbeit 
unter den Weiden des Baches. Es giebt ein Blatt 
von ihm, ein wahres Prachtwerk: Ein altes 
gutes von Sorgen gefaltetes Bauerngesicht 
schaut uns an. Im Hintergrund ein jüngerer 
Pflüger, das Dorf, der Wald. Einfach und 
gross. Aber die kunstreiche herrliche Sym¬ 
bolik der Randleisten! Die beiden Längs¬ 
seiten ftillen reife Ährenbüschel aus, oben 
glänzt die gesegnete segnende Sonne, unten 
enthalten vier Quadrate die schönsten Symbole 
der Jahreszeiten, vier Kinder, wie sie der 
Meister in unerschöpflicher Fülle so gerne 
malt, mit Krokus, Rose, Traube und schnee- 
i bedecktem Tannenzweig! 

Ein anderes Blatt: Eingehüllt vom Zauber 
der Nachtnähe, dem Flüstern der vertrauten 
heimatlichen Bäume das Stammeln der eigenen 
übervollen Seele vermählend, steht der Geiger 
mit der Fiedel an der Wange. Sie singt, 
was sein Herz erfüllt, was ihm die Natur er¬ 
zählt. Hinten schreitet ein Bauer langsam 
mit der Sense. 

Gross und scharfumrissen stehen seine 
Menschen i'n der Landschaft, die weit zurOck- 


aus dem Ring, 
dem Parsival 
und anderen 
Werken. Und 
darum endlich 
war keiner mehr 
dazu berufen, die 
Kostüme zum Ni- 
bebmgenring zu 
entwerfen, w’ie 
sie in diesem 
Jahre zum ersten 
MaleinBayreuth 
getragen , wur¬ 
den. Sie sind 
wahre Offenbar¬ 
ungen gleich ge¬ 
nialen Kunst- 
fühlens, national 
und typisch, wie 
Wagnersmytho- 
logisches, künst¬ 
lerisches Grund¬ 
element. 

In kosmischer 
Harmonie ver¬ 
bindet Thoma 
das Leben des 
Menschen, des 
Naturmenschen, 
des Bauers mit 
der Natur selbst. 
Der Bauer bei 
der Arbeit des 



geht und den 
Blick in das 
Land eröffnet, 
über Berg und 
Thal in lach¬ 
ende Wiesen- 
gründe, in 
ernste Tannen- 
gruppen. Er hat 
etwas von J den 
^Hintergründen 
der Eycks,^ 
Memlings und 
Dürers, nur or¬ 
ganischer und 
moderner. Und 
dazu seine lach¬ 
ende, gesunde, 
intensive Farbe, 
aber sie ist wahr 
und treu und 
vielseitig wie 
die Natur selbst. 
Wie bei Böcklin 
versteht man 
seine Farbe oft 
nicht; man ver¬ 
gisst, dass die 
Farbe zu den 
subJektivenAus- 
drucksmitteln 
eines Künstlers 
gehört. 

Eines sei noch 


Bodens, beim 


Der^Hüter des Thals.^ 


hervorgehoben, 



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Bechhold, Fortschritte der Chemie im Jahre 1897. 


921 



seineLiebezudem 
Kinde, eine fast 
allen grossen 
Künstlern ge¬ 
meinsame Liebe. 

Seine Kinder wur¬ 
den ihm oft unter 
der Hand zu En¬ 
geln, zu mutwil¬ 
ligen, derben und 
erdenfrohen En¬ 
geln. Sie musi¬ 
zieren auf der 
Engelwolke, pur¬ 
zeln im Grase 
übereinander, 
mühen sich mit 
altem Rüstzeug, 
mit schweren Hel¬ 
men, die einen 
von ihnen fast zu- 
decken,ab. Gerne 
lässt er den Klei¬ 
nen von derGross- 
mutter die alten 
Märchen erzäh¬ 
len, im nächtlichen 
Garten zur Som¬ 
merszeit, und leise 

schnurrend schleicht ein Kater im Mond' 
lichte vorbei. 

Hans Thoma müsste kein Deutscher sein, h 
hätte nicht auch die Grösse der Evangelien | 
auf ihn gewirkt. Ein grosses Bild voll Farben- j 
Schönheit schuf er in der „Flucht nach Ägyp¬ 
ten'', ein liebliches deutsches Idyll in der 
„Ruhe auf der Flucht", Die herbe gewaltige 
Schönheit des Christus am ölberg, eines 
auch technisch bedeutenden Werkes, eines 
Clairobscur, ist von packender Macht. Der 
tote Christus in kühner Verkürzung, von 
Engeln gehalten, vor dem Sternenhimmel als 
Hintergrund ist von tragischer Grösse. 

Und die lieben Heiligen der Legende 
lässt er wieder aufleben. Treu und sicher 
steht der gewappnete Wächter des Thals auf 
der beherrschenden Kuppe. Unten flimmert 
nur noch ein Lichtlein herauf, alles schläft 
ruhig unter des Heiligen Schutz. Ein an¬ 
derer — ist es der heilige Martin oder der 
St. Georg? — zieht durch die liebliche Flur, 
dem ansteigenden Walde entgegen, vielleicht 
um den Kampf mit dem reissenden Lindwurm 
zu bestehen. 

Man wertet die Bedeutung, die Grösse 
eines Künstlers neben den technischen Ele¬ 
menten vor allen Dingen nach dem Gehalt 
an persönlichen, selbstherrlich künstlerischen 
und nationalen Elementen. 

Und eine solche Wertung stellt Hans 


Thoma zu den 
Grössten der 
Grossen. Es ist 
nicht zuletzt ein 
Verdienst Hans 
Thomas mit, dass 
wir heute wieder 
nach nationaler 
Kunst uns sehnen, 
in der Litteratur 
nicht minder als 
in der Malerei und 
im Kunstgewerbe. 
Er hat den Weg 
mit zeigen helfen, 
mit dem Instinkt 
des genialenGros- 
sen, wie sie ein 
Volk zur Höhe 
führen. Er hat 
mitgeholfen die 
Augen zu öffnen, 
um den „versam¬ 
melten heimlichen 
Schatz" unseres 
Volkes zu erken¬ 
nen. 


Fortschritte der Chemie im Jahre 1897. 

Von Dr. Bechhold. 

(Schluss.) 

Organische Chemie. 

Obgleich diese nur diö Chemie der Koh¬ 
lenstoffverbindungen umfasst, ist die Zahl 
ihrer Vertreter doch unendlich viel grösser 
als die sämtlicher übrigen Elemente zu¬ 
sammengenommen. Der Grund dafür liegt in 
den besonderen Eigenschaften des Kohlen¬ 
stoffs. Neben diesem enthalten die Kohlen¬ 
stoffverbindungen meist nur noch Wasser¬ 
stoff, Sauerstoff, zuweilen auch Stickstoff. — 
Es ist sehr wohl möglich, dass zwei Ver¬ 
bindungen die gleiche Zahl von Kohlenstoff-, 
Wasserstoff- und Sauerstoffatomen enthalten, 
also scheinbar genau gleich zusammengesetzt 
sind und doch verschiedene Eigenschaften 
besitzen. Körper, bei denen dies der Fall ist, 
nennt man isomer’, der Grund für ihre Ver¬ 
schiedenheit muss also in dem innern Bau 
liegen. Wenn man einem Baumeister eine 
Anzahl Steine giebt, so wird er mit der 
gleichen Zahl die verschiedensten Bauten aus¬ 
führen können, je nach der Art er sie kom¬ 
biniert: Er kann ein sehr hohes Haus bauen, 
in Jedem Stockwerk nur ein Zimmer oder er 
kann ein einstöckiges Gebäude ausführen, wo 
ein Zimmer sich an das andere reiht, er kann 


Bildnis eines Bauern. 















922 


Bechhold, Fortschritte der Chemie im Jahre 1897. 


es auch kreisförmig bauen, so dass man aus 
dem letzten Zimmer wieder in das erste 
kommt. Genau so ist es mit den Kohlenstoff- 
Verbildungen, und die meisten Arbeiten der 
organischen Chemiker beschäftigen sich mit 
diesen Isomerieverhältnissen : die einen nur 
theoretisch, indem sie wie ein Mathematiker 
im Geist alle möglichen Kombinationen sich 
zurechtIcgen, diese dann experimentell aus¬ 
zuführen suchen und aus dem Erfolg resp. 
Misserfolg ihres Versuchs Schlüsse ziehen, und 
so eine Art Mechanik der organischen Verbind¬ 
ungen ausarbeiten. — Früher begnügte man 
sich, den gröberen Zusammenhang (in der 
Ebene betrachtet) festzustellen [Orts- und 
Btnäungsisomerie), seitdem man aber damit 
nicht mehr auskommt, versucht man auch die 
räumliche Lagerung der Atome in einer Ver¬ 
bindung kennen zu lernen (Stereoisomerie). 
Diejenigen Chemiker, welche praktische Ziele 
im Auge haben, können sich diese theoretischen 
Arbeiten wohl zu Nutze machen. 

Die Isomerieverhältnisse spielen eine grosse 
Rolle in der Chemie des Petroleum, das im 
wesentlichen nur aus KohlenwassersIoffen (d. 
h. aus Verbindungen von Kohlenstoff mit 
Wasserstoff) besteht. Es ist kein einheitlicher 
Körper, sondern ein Gemenge verschiedener 
Flüssigkeiten, deren genauere Erforschung 
noch viele Chemiker beschäftigt.*) Die Bestand¬ 
teile des russischen Petroleum sind durchaus 
verschieden von denen des amerikanischen. 
Nur eine ganz genaue Kenntnis giebt die 
Möglichkeit, einzelne Bestandteile des Petro¬ 
leumsvielleicht auch anderweitig zu verwerten. 

Die Versuche zur Gewinnung seifenähn¬ 
licher Produkte aus Petroleum ziehen sich 
schon seit Jahren hin und haben auch im 
Jahre 1897 eine Bereicherung *) erfahren. — 
In neuerer Zeit schenkt man den hochsieden¬ 
den Nebenprodukten *) der Petroleumindustrie 
eine besondere Aufmerksamkeit; sie haben 
als Schmiermittel die Tier- und Pflanzenfette 
fast vollkommen verdrängt. 

Es ist begreiflich, dass ein Körper von 
so ausserordentlicher Bedeutung wie das Pe¬ 
troleum und seine Nebenprodukte auch tech- 

*) Asch an, Die Natur der Naphlene des russ¬ 
ischen Petroleum, Chemiker-Zeitg. ai. 242, 287. — 
Markownikoff, einige neue Bestandteile der kau- 
basischen Naphta. Ber. d. d. ehern. Ges. 30. 974. 
— Young u. Thomas, einige Kohlemvasserstoffe 
aus amerikanischem Petroleum. Proceedings of the 
Chemical Soc. 1896—97 Nr. 176. — Mabery u. 
Hudson, Buiane und Oktane im amerikanischen 
Petroleum. American Chemical Journal 19. 243. — 
Mabery, Die Bestandteile des Petroleums von 
Pennsylvanien, Ohio u. Canada zw. iso" u. 220". 
American Chemical Journ. 19. 419. *) Petroleum- 

Produkts-Syndicate. D. R. P. 90576. •) Rotten, In 

Wasser emulgierte Mineralölmischung als Schmier¬ 
öl u, Rostsdiutzmittel, D. R. P. 90597. 


nisch auf das eingehendste geprüft werden 
muss; hierbei kommt für den Händler der 
Handelswert, für den Staat neben diesem (er 
ist der grösste Konsument) auch die Rück¬ 
sicht auf die Sicherheit seiner Bürger gegen 
Feuersgefahr u. dgl. in Betracht. Neben Pri¬ 
vatchemikern ist die kgl. techn. Versuchs¬ 
anstalt *) in Berlin ständig mit der Verbesser¬ 
ung alter und Ausarbeitung neuer PrOfungs- 
methoden beschäftigt.*) — Auch die vielum¬ 
strittene Frage nach der Entstehung des Erdöl 
hat wieder eine Anzahl von Bearbeitungen 
gefunden, unter denen die beiden Hauptrufer 
im Streit, Ochsenius und Engl er, nicht 
fehlen. Ersterer beschreibt ein Erdölvorkom¬ 
men in Rumänien®), dessen geologische Ver¬ 
hältnisse ftlr seine Hypothese sprechen, dass 
nämlich Mutterlaugensalze von Seewasser da¬ 
zu gehören, um Seetierkadaver, unter luft¬ 
dichter Bedeckung, in Erdöl überzuführen. Die 
Mutterlaugen der das Steinsalz bergenden 
Buchten fanden hier und da Gelegenheit, 
nach dem zurückgewichenen Meere abzu- 
fliessen, töteten die an deren Küste angesie¬ 
delte reiche Fauna und Flora, begruben sie 
unter dem mitgeführten Schlamm und über¬ 
lieferten sie so der Erdölbildung.*) Epgler., 
der zuerst den experimentellen Nachweis für 
den tierischen Ursprung des Erdöls lieferte 
und dessen Theorie sich ziemlich,,mit dpf 
von Ochsenius deckt, weist in einem Aufsatz 
(„Zur Frage der Entstehung des Erdöls und 
über die Selbstpolymerisation der Kohlen¬ 
wasserstoffe“) ®) verschiedene Einwände gegen 
seine Theorie zurück. 

Charitschkoff bestreitet die tierische 

*) Der Vorsteher der Abteil, f. ölprOfung Dr. D. 
Holde hat im Jahre 1897 ein Werk über die Prüfung 
der Mineralöle veröffentlicht (Verlag von J. Springer, 
Berlin); ferner erschien ein sehr wertvolles Werk 
von Dr. S. A i s i n m a n, die einheitlichen Prüfungs¬ 
methoden in d. Mineralölindustrie (Verlag v. Ferd. 
Enke, Stuttgart 1897I. *) Holde, Untersuchung 

des Erstarrungsvermögens von Schmierölen. Chem. 
Rev. f. Fett- u. Harz-Ind. 3. 229, Best. d. Paraffins 
in d. hochsiedenden Destillationsprodukten des Roh- 

P etroleum, ebenda 4. 4, 21. Singer, aus der 
raxis d. Mineralölchemikers, ebenda 4. 92, 108. — 
Aisinman, Best. v. Paraffin in Rohöldestillaten. 
— Holde, Neuere Erfahrungen in d. ÖlprOfung. 
Mitteilgn.d. Techn. Vers.-A. 14. 229. — Zaloziecki, 
Dissociation erdölsaurer Salze u. freier Säuren in 
Mineralölen. Chem. Rev. f. Fett- u. Harz-Ind. 4. 25, 
36. — Über Schaffung einheitlicher Untersuchungs- 
methoden in der Mineralölindustrie schrieben: 
Schweitzer, Chem. Rev. f. Fett- u. Harz-Ind. 4. 
33. — Wischin ebenda 4. 75, 89. — Kissling. 
•) Berg- und Hüttenmänn. Zeite. 56. 27, vgl. au^ 
Chemiker-Ztg. ai.57. *) Vgl. Holde, Zur Theorie 
der Erdölbildung, Zeitschr. f. angew. Chemie 1897. 
623. Ber. d. d. chem. Ges. 30. 2358, vgl. auch 
den Aufsatz von Engleru. Lehmann: Bildung von 
Olefinen, Naphtenen u. Benzolkohlenwasserstoffen 
durch Destilation der Fette unter Überdruck. Ber. 
d. d. chem. Ges. 30.2365 u. Umschau Nr, 45 S. 810. 


■s 


Digitized by L^ooQle 


Bechhold, Fortschritte der Chemie im Jahre 1897. 


923 


Abkunft des Erdöls.*) Die tierischen Fette seien 
chemisch sehr widerstandsfähige Verbindun¬ 
gen und hatte man gegebenenfalls auch Tier¬ 
fettlager von entsprechender Mächtigkeit fin¬ 
den müssen. Nach der von ihm unterstützten 
Mendelejeffschen Hypothese ist das Petroleum 
auf der Erde wie auf anderen Weltkörpem 
(man hat in einigen Meteoriten Kohlenwasser¬ 
stoffe gefunden) unorganischen Ursprungs, 
entstanden durch andauernde Einwirkung von 
Salzlösungen auf Carbide *), was Verf. durch 
Experiment zu erhärten sucht. 

Ein Kohlenwasserstoff, der ebenfalls im 
Mittelpunkt des Interesse für das Beleuchtungs¬ 
wesen steht, ist das Acetylen. Wir haben 
schon im Bericht über anorganische Chemie 
seine Darstellung aus Calciumcarbid und 
Wasser berührt. Die Zahl der Patente und 
Gebrauchsmuster, die auf Apparate zur Ent¬ 
wickelung von Acetylengas und auf Brenner 
genommen wurden, gehen in die Hunderte. 
Wir konnten nicht erfahren, welches Prinzip 
sich am besten bewährt, da die Fachleute 
natürlich ihre eigenen Konstruktionen em¬ 
pfehlen. — Nachdem Ende des vergangenen 
Jahres in Paris und Berlin schwere Unglücks- 
fäUe bei Versuchen zur praktischen Verwert¬ 
ung von Acetylen sich ereignet hatten, erliess 
die Polizei sehr strenge Vorschriften für die 
Haqdhäbung von Acetylen, die, wenn sie be¬ 
stehen bleiben, dem Gebrauch von Acetylen 
sicherlich sehr hinderlich sein werden. — 
Sowohl in Paris wie Berlin wurden eine An¬ 
zahl erfahrener Fachmänner mit dem Studium 
des Acetylen betraut, die auch bereits Gut¬ 
achten*) darüber abgaben. Eine Hauptgefahr 
scheint in den Verunreinigungen mit Phosphor¬ 
wasserstoff und Schwefelwasserstoff zu liegen, 
die auch gesundheitsschädlich wirken. Das 
Acetylen muss also gereinigt werden, wobei 
es den ihm häufig anhaftenden unangenehmen 
Geruch verliert; ferner sollen keine Kupfer¬ 
teile mit dem Gas in Berührung kommen, 
weil sich leicht eine explosible Kupferver¬ 
bindung unter noch unbekannten Umständen 
bildet. Über die Gefährlichkeit des verflüssig¬ 
ten Acetylen sind die Akten noch nicht ge¬ 
schlossen. El kan, der bekannte Fabrikant 


•) Joum. d. russ. phys.-chem. Ges. 99. 151. Wir brin¬ 
gen in der nächsten Nummer einen noch etwas aus- 
JührlicherenAuszugausdieserArbeit. *) Verbindungen 
v. Metallen mit Kohlenstoff, die sich nur bei sehr hohen 
Wärmegraden bilden konnten, also zu einer Zeit, 
wo die Erde mindestens noch glühend war; bei 
Einwirkung von Wasser auf Calciumcarbid entsteht 
bekanntlich derKohlenwasserstoffAcetylen. ’)Michel 
E^vy, Jungfleisch u. Vieille, Anwendung 
des Acetylen. Journ. d. Pharm, et de Chimie 5. 122, 
Bericht über d. Verhandlungen der Konferenz zur 
Untersuchung der mit der Handhabung v. Acetylen 
verbundenen Gefahren._Chem. Industrie ao. 53. 


von komprimiertem Wasserstoff und Sauer¬ 
stoff hält es für gefährlich, während Pictet,, 
der doch auch sehr reiche Erfahrungen auf 
dem Gebiet der komprimierten und verflüssig¬ 
ten Gase hat, Elkans Ansicht nicht teilt. Auf 
die neue Aufspeicherungsmethode von Claude 
und Hess durch Lösung des Acetylen in 
Aceton und ähnlichen Flüssigkeiten ') haben 
wir schon in Umschau Nr. 30 S. 539 hin¬ 
gewiesen. Die Ergebnisse der Versuche von 
Berthelot und Vieille *) sprechen sehr für 
diese Methode. Die so billige Gewinnung von 
Acetylen hat auch Versuche zur anderweitigen 
wissenschaftlichen und praktischen Vei^vend- 
ung des Gases veranlasst, ohne aber zu er¬ 
heblichen Resultaten zu führen. 

Eine weitere Klasse von Kohlenwasser¬ 
stoffen, die im Berichtsjahr eine Fülle von 
Untersuchungen gezeitigt haben, sind die Ter¬ 
pene und nahe mit ihnen verwandt die sauer¬ 
stoffhaltigen Kampfer. Über den ßau des 
Kampfer haben wir erst kürzlich (Umschau 
Nr. 46 S. 826) einen ausführlichen Artikel 
gebracht, wir wollen uns deshalb hier mehr 
auf praktische Fortschritte in der Terpen- 
und Karapferreihe beschränken. Ihren Namen 
verdanken die erstem dem Terpentinöl; ausser 
diesem bestehen aber die meisten ätherischenöle 
(Citronenöl, Kommelöl etc.) aus Gemischen 
verschiedener Terpene, die alle auf 10 Atome 
Kohlenstoff 16 Atome Wasserstoff enthalte« 
(CioHie), die also für die grobe chemische 
Analyse vollkommen gleiche Zusammensetz¬ 
ung ergeben. Für diese Körperklasse war die 
Eingangs erwähnte Untersuchung des feineren 
Baues, der Isomerieverhältnisse, mit fast un¬ 
überwindlichen Schwierigkeiten verknüpft, da 
es nicht gelingen wollte, die Gemische ver¬ 
schiedener Substanzen, aus denen die diversen 
öle bestehen, zu trennen. Dem genialen 
Forscher Wallach gelang es, das Dunkel, 
das über dieser Körperklasse lag, zu lichten 
und der chemischen Wissenschaft, wie auch 
der Industrie ein Gebiet zu eröffnen, dessen 
Bebauung fast unübersehbar erscheint. 

Während eine Reihe von Forschern*) die 
Terpene aus rein theoretischen Gründen stu¬ 
dieren, suchen andere die Zusammensetzung 
der ätherischen öle und ihrer Bestandteile zu 
erforschen, um sie dann auf künstlichem Wege 
herzustellen oder gehen gar darauf aus, voll- 
Icommen neue, in der Natur nicht vorkom¬ 
mende Stoffe zu schaffen. Es ist besonders 
die Riechstoffindustrie, die daraus viel Nutzen 
ziehen konnte. *) 

Tiemann gelang es, das Pulegon aus 

’) Comptes rend. 134. 626. *) Comptes rend. 

134. 988, •) Baeyer, teilweise Tiemann u. Wallach. 
*) Vgl. unseren Aufsatz über „Künstliche Riechstoffe“ 
in Umschau No. 45. 


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';24 


Bechhold, Fortschritte der Chemie im Jahre 1897. 


Poleiöl künstlich aus Cttronellal, dem Haupt¬ 
bestandteil des Citronenöl herzustellen. 

Neben den ölen, deren Zusammensetzung 
schon genauer bekannt ist, existieren eine 
grosse Zahl, die der Forschung noch grosse 
Schwierigkeiten bieten. Von solchen, die im 
vergangenen Jahre studiert wurden, nenne ich 
das Rosen-, Spick-, Basilicum-, Sellerie-, Spa¬ 
nisches Lavendel-, Nelken-, Angosturarinden-, 
Cedernholz-, Geranium- und Sassafrasöl. 
Ausser einer Zahl von Forschern hat sich 
die grosse Firma Schimmel &Co. in Leip¬ 
zig besondere Verdienste um das Studium und 
die Ausarbeitung von Prüfungsmethoden auf 
Reinheit der ätherischen öle erworben. 

Die Alkaloide sind eine Gruppe von 
physiologisch wirksamen Körpern, die teils 
als heftige Gifte (z. B. Strychnin), teils als 
Heilmittel (Morphin) bekannt sind. Ihr höchst 
komplizierter Bau giebt dem Chemiker viel 
Nüsse zu knacken. Nur für wenige *) gelang 
bisher die Aufklärung ihrer Konstitution, der 
dann zuweilen die künstliche Darstellung 
folgen konnte. 

Die Arbeiten von Vongerichten ^), 
Freund und Knorr ^) lassen eine baldige 
Klarlegung des Baues von Morphin erhoffen 
und haben die Arbeiten von Willstädter ®) 
neue Perspektive auf die Konstitution des 
Atropin ®) und Cocain eröffnet. — Die ver¬ 
schiedenen wirksamen Bestandteile der China¬ 
rinde, besonders Chinin, Cinchonin ’) Cincho- 
nidin u. a. bilden das Studium einer Anzahl 
von Forschern; es ist der Fabrik von 
Zimmer & Co. auch gelungen, ein Chinin¬ 
präparat darzustellen, das des intensiv bitteren 
Geschmacks entbehrt ®); die genannte Firma 
bringt es unter dem Namen Euchinin auf den 
Markt. Ausser diesen wurden auch eine An¬ 
zahl anderer Kunstprodukte der Chemie in 
den Arzneischatz aufgenommen. Dies interes¬ 
sante Thema würde hier jedoch zu weit 
führen; wir werden demnächst aus beruf¬ 
enster Feder einen besonderen Artikel darüber 
bringen. 

Immer noch ist die Farbstoffindustrie 
äusserst produktiv in der Herstellung von 
Farben, die sich durch eine neue Nüance, 
besondere Echtheit gegen die Einflüsse des 
Lichts und der Luft oder durch leichte Be¬ 
handlungsweise für den Färber den vorhan- 


*) Berichte d. d. ehern. Gesellsch. 30. 22. — 
*) Ich nenne u. a. ConÜn und Nicotin. — ®) Lie- 
big’s Analen 294, 206. — *) Vgl. Umschau No. 49, 
S. 880. — *) Bericht d. d. ehern. Ges. 30. 2679 (in 
der nächsten No. der Umschau bringen wir da¬ 
rüber ausführlicheres.) — *) Der giftige Bestandteil 
der Tollkirsche, welcher Pupillerweiterung des 
Auges verursacht. — ’) Koenigs, Ber. d. d. ehern. 
Ges. 30. 1326 u. 1332 — Skraup, Monatsschr. für 
Chemie i8. 411. —^) D. R. P. 90848 u. 91370. 


denen gegenüber auszeichnen. Hier möchten 
wir nur die blauen, grünen und gelben Janusfar¬ 
ben der Farbwerke Höchst hervorheben, die zum 
Färben von Halbwolle bestimmt sind. — Trotz¬ 
dem die Fabriken Farben von allen NOancen 
und für alle Anforderungen produzieren, ist 
es Ihnen noch nicht gelungen, die natürlichen 
Farben ganz und gar vom Markte zu ver¬ 
drängen und die künstliche Herstellung eines 
natürlichen Farbstoffs hat oft noch, auch 
technisch eine gewisse Bedeutung. Lieber¬ 
mann, der glückliche Entdecker des Alizarins, 
ist zur Zeit mit Untersuchungen über die Zu¬ 
sammensetzung des schönen roten Cochenille¬ 
farbstoffs *) beschäftigt, dessen wesentlicher 
Bestandteil das Carminrot ist. Der Streit 
über die Konstitution desselben wird wohl 
bald durch Aufstellung einer einwandfreien 
Formel beendigt werden. 

Das Ereignis dieses Jahres ist die Her¬ 
stellung von Indigo seitens der Badischen 
Anilin- und Sodafabrik und damit ist es eine 
höchst fragwürdige Sache. Seit dem Sommer 
offeriert die genannte Fabrik ihr neues Pro¬ 
dukt Indigo-Rein, von dem sie in einer Bro¬ 
schüre erraten lässt, dass es auf synthetischem 
Wege gewonnen sei. Das Verfahren .wird 
natürlich absolut geheim gehalten. Nun tau¬ 
chen Stimmen auf, die unter Anführung ge¬ 
wisser Gründe behaupten, dieses Indigo-Rein 
sei gar nicht künstlich hergestellt, sondern 
ein gereinigter natürlicher Indigo; die Fabrik 
lässt sich selbstredend auf keine Diskussion 
ein. Für die Wissenschaft wäre die Kunde, 
wenn sie sich bewahrheitet, eine Enttäuschung, 
dem Konsumenten hingegen kann es ganz 
gleich sein, wie seine Farbe entsteht. Jeden¬ 
falls ist er jetzt in der Lage, ein stets gleich¬ 
wertiges Produkt zu kaufen, mit dem er die 
stets gleiche Nüance erzielen kann, während 
er früher gezwungen war, seine Abschlüsse 
auf Grund einer umständlichen Analyse zu 
machen und das eine mal ein gutes Produkt, 
das andere mal ein schlechtes kaufen musste. 

Merkwürdigerweise sind diejenigen Sub¬ 
stanzen, die für uns die grösste Rolle spielen, 
nämlich die Nahrungsmittel, insbesondere so¬ 
weit sie die Eiweisskörper und verwandte 
Stoffe betreffen, noch ein Buch mit sieben 
Siegeln. Hie und da taucht ein Gedanke, 
eine Untersuchung auf, die fruchtbringend 
zu werden verspricht, aber auch nur ver¬ 
spricht', denn soweit sich vorderhand beur¬ 
teilen lässt, wird, wenn einmal der richtige 
Wege überhaupt eingeschlagen ist, eine 
Unsumme von Arbeit zur weiteren Aufklärung 
notwendig sein. — Wir haben schon in der 

*) Liebermann u. Voswinkel, Ber. d. d. ehern. 
Ges. 30. 688, 1731. — Miller u. Rohde Ber. d. d. 
ehern. Ges. 30. 1759. 


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Lory, Geschichte des Sozialismus. 


925 


^Umschau“ No. 43, S. 776 das notwendigste 
Ober die einfacheren Eiweisskörper, soweit sie 
die Forschungen dieses Jahres betreffen, ge¬ 
sagt. Inzwischen ist noch eine Arbeit von 
Hugo Schiff erschienen, die neue Fragen 
aufwirft. 

Nach den Arbeiten von Krawkow •) darf 
es wohl als zweifellos angesehen werden, 
dass ein Teil der Eiweisskörper eine Kohle¬ 
hydratgruppe (Zucker) enthalten. 

Die Technik macht sich jede neue For 
schung zu Nutze und brachte im vergangenen 
Jahr eine Anzahl Nährpräparate auf den Markt, 
denen eine gewisse Bedeutung nicht abzu¬ 
sprechen ist. Von den Farbwerken Höchst 
wird die Leichtverdaulichkeit der Nutrose 
einem Natriumsalz des Kasein ^), aus dem 
Käsestoff der Milch und des Protogen (eine 
Verbindung von Formaldehyd mit Eiweiss) 
gepriesen. 

Von anderer Seite wird eifrig an der Auf¬ 
klärung des Baues der Nuclefrte gearbeitet. 
Diese sind der Hauptbestandteil der Zell¬ 
kerne, z. B. der Eiterzellen, Hefezellen etc. 
Einige davon lassen sich in Eiweis, Phosphor¬ 
säure imd eine „Nuclelnbase** spalten, und 
gerade diese Basen sind es, deren Erforsch¬ 
ung Emil Fischer, der Berliner Professor 
mit ungemeinem Erfolg in Angriff genommen 
hat. £» gelang ihm, den Bau des Xanthin, 
Hypoxanthin, Adenin- und Guanin klar zu 
legen. Dies sind Spaltungsprodukte des 
Nudeln, die sich in Ausscheidungsprodukten 
und Drüsen des tierischen Organismus (die 
beiden erstgenannten z. B. im Harn vorfinden); 
ihre nahe Verwandtschaft mit der Harnsäure ®) 
kann uns daher nicht wundern. Ihnen allen 
kommt ein gemeinsamer Kern zu, den Fischer 
Purin nennt. — Die Verfahren zur Her¬ 
stellung dieser Körper sind sämtlich patentiert 
und von der Chemischen Fabrik C. F. Böh- 
ringer in Waldhof bei Mannheim erworben, 
doch ist uns eine praktische Verwertung noch 
nicht bekannt. 

Auch die interessanten Beziehungen zwi¬ 
schen Blut- und Blattfarbstoff (Chlorophyll), 
haben wir schon früher ausführlich besprochen*). 


Geschichte des Sozialismus. 

/ 

Von Karl Lory. 

An Historikern des Sozialismus fehlt es 
gewiss nicht, da sind — um zunächst die 

') Über Polyaspartsäuren. Ber. d. d. ehern Ges. 
30. 2449. — *) PflügePs Archiv 65. aSi. — 

•) D. R. P. 8^142. *) Ber. d. d. ehern. Ges. 30, ^9. 
— *) Auf die Verwandtschaft mit dem Ca^ln 
haben wir bereits in „Umschau“ No. i6, S. 289 auf¬ 
merksam gemacht ®) Vgl. „Umschau" No.5, S. 83. 


Namen etwas älteren Datums zu nennen — 
Beybaud,Grün, Stein, Mario, Thönissen,Sudre, 
Quack, Janet. Dann kommen Laveleye mit 
seinen Untersuchungen über den „Sozialismus 
der Gegenwart“, Weisengrün, Warschauer 
und Weill mit ihren Studien über St.-Simon 
und den St.-Sipionismus, Stamhammer mit 
seiner „Bibliographie des Sozialismus und 
Kommunismus,“ dann die Nationalökonomen 
wie Adler, Sombart u. s. w. — Alle diese 
Namen und Büchertitel aber beweisen doch 
nur soviel, dass es lange Zeit nicht glücken 
wollte, den Sozialismus, diese wichtigste Er¬ 
scheinung des modernen politischen Lebens 
seitdemnunroehr leider offenkundigen Rückgang 
der nationalen Bestrebungen, wissenschaftlich 
zu fassen und zu bewältigen. Endlich, in der 
allerjüngsten Zeit, scheint dies gelungen zu 
sein, und der, dem es glückte, ist eben 
Werner Sombart, der bekannte Professor 
der Nationalökonomie an der Universität Jena, 
auf den wir sogleich wieder zu sprechen 
kommen werden. 

Das Jahr 1897 bedeutet in der Geschichts¬ 
schreibung des Sozialismus bis zu einem ge¬ 
wissen Grad eine Epoche: es sind nunmehr 
zwanzig Jahre verflossen, seit Franz Meh¬ 
ring sein Buch über „die deutsche Sozial¬ 
demokratie, ihre Geschichte und ihre Lehre*^ 
abschloss (Juli 1877), worin er die Behaupt¬ 
ung aufstellte, nur „von der Zinne der Partei 
aus** könne diese Geschichte geschrieben wer¬ 
den. Dass wir es in diesen zwanzig Jahren 
zu einer wissenschaftlichen, objektiven Er¬ 
forschung des Sozialismus von berufener Seite 
gebracht haben, scheint uns ein sehr beach¬ 
tenswerter Fortschritt zu sein, um so beach¬ 
tenswerter, als diejenigen, denen dieser Fort¬ 
schritt zu verdanken ist, von der Sprödigkeit 
des Stoffes ganz abgesehen, auch Vorurteilen 
mancher Art begegneten; denn einmal ist es 
ja eine altbekannte, leidige Wahrheit, dass 
diejenigen nie aussterben, „die Politik 
und Wissenschaft nicht zu trennen ver¬ 
mögen“; man erinnere sich nur der Auslass¬ 
ungen des Freiherrn von Stumm über die 
bösen „Kathedersozialisten“; und auch unter 
denen, welche Politik und Wissenschaft nicht 
fort und fort mit einander verwechseln, wird 
es doch nur einen kleinen Kreis solcher 
geben, die ohne jede Animosität, jedes philo¬ 
sophische oder sonstige Vorurteil an eine 
„Geschichte des Sozialismus* heranzutreten 
bereit sind.*) 


') Wer solche philosophische Vorurteile und Be¬ 
denken kennen lernen wiU. der lese z. B. Fr. 
Nietzsches Gedanken „von Gesellschaft und Staat" 
(Zukunf^ 18. Bd., 106ff); dort heisst es z. B.: „In 
Wahrheit nehmen die Leiden und Entbehrungen 
mit dem Wachstum der Kultur des Individuums 


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926 


Lory, Geschichte des Sozialismus. 


Bei den Untersuchungen über die Ge¬ 
schichte des Sozialismus zeigte sich bald, 
dass es unmöglich sei, befriedigende Resul¬ 
tate zu erzielen, so lange es nicht gelungen 
wäre, die grundlegende Theorie aus demWirr- 
sal der verschiedenen Doktrinen, Richtungen 
und Strömungen herauszuschälen und in ihrer 
Reinheitdarzustellen. Welcheaberals diegrund- 
legende zu gelten habe, darüber gingen die 
Meinungen langeauseinander; undschon glaubte 
man, bei St.-Simon, im St.-Simonismus, die¬ 
selbe gefunden zu haben, als Werner Sontbart 
kam und darlegte, nicht St.-Simon, sondern 
Marx in Verbindung mit Engels hätten die 
grundlegende Lehre formuliert, im Marxismus 
und nicht im St.-Simonismus sei dieselbe zu 
suchen. 

Bei den folgenden Darlegungen wird aber 
trotz alledem auch dem St.-Simonismus, der 
eben bei Sombart vielleicht doch ein wenig 
zu kurz kommt, gebührender Raum zuge¬ 
wiesen werden; eine Scheidung in zwei Unter¬ 
abteilungen ergiebt sich dabei ganz von selbst: 
denn der Sozialismus seit Marx ist ein we¬ 
sentlich anderer als der Sozialismus vor Marx', 
eine ganz genaue chronologische Trennung 
nach Jahr und Tag lässt sich dabei freilich 
nicht vornehmen. 

I. Der Sozialismus vor Marx. 

Die französische Revolution ist die Folge 
der unhaltbar gewordenen Lage des dritten, 
des Bürgerstandes: als 8i pCt. des Netto¬ 
einkommens von Steuern und Abgaben ver¬ 
schlungen wurden, während doch *!& des Ge- 
sammtgrundbesitzes in den Händen der Krone 
und der steuerfreien Klassen (Adel und Klerus) 
sich befanden, hörte jedes gesunde Bürger¬ 
tum von selbst auf und die Bourgeois zogen 
an der Sturmglocke. Während aber die fran¬ 
zösischen Revolutionäre mit Strömen von 
Blut dem Bürgerstande Freiheit und Unab¬ 
hängigkeit erkämpften, gingen jenseits des 
Kanals im Wirtschaftsleben Englands Umge¬ 
staltungen vor sich, die es dem soeben in 
der Gesellschaft erst mächtig gewordenen 
dritten Stande ermöglichten, dank ihrer höhe¬ 
ren Kapitalskraft sich zu Herrschern über 
eine neu sich bildende Gesellschaftsklasse 

zu; die niederen Schichten sind die stumpfesten; 
ihre Lage verbessern, heisst sie leidensfähiger 
machen." Aber auch Nietzsche erkennt dem Sozia¬ 
lismus bereitwillig eine hohe Bedeutung zu. „Das 
beste", sa|t er, „was der Sozialismus mit sich 
bringt ist die Erre^ng, die er den weitesten Kreisen 
mitteilt: er unterhält die Menschen und bringt in 
die niedersten Schichten eine Art von praktisch¬ 
philosophischem Gespräch. Insofern ist er eine 
Kraftquelle des Geistes.* Dieses Urteil über den 
^aalismus im allgemeinen deckt sich mit jenem 
Lujo Brentanos Ober die Chartistenbewegung und 
ihre Bedeutung Ihr England im speziellen. 


emporzuschwingen: das Aufkommen der mo‘ 
dernen Maschinenindustrie war der Anstoss 
zur Bildung eines „vierten Standes^, dessen 
Glieder sich schnell in eine unhaltbare Lage 
herabgedrückt sahen. Abhängig und in ihrer 
Existenz unsicher, voll des tiefsten Hasses 
gegen die vom Glück mehr Begünstigten, 
herausgerissen aus allen Banden, die sonst 
um die Menschen sich schlingen, waren die 
„Proletarier“ alsbald vor die Notwendigkeit 
gestellt, auf eine Verbesserung ihrer wirt¬ 
schaftlichen Lage hinzuärbeiten; und der 
Gedanke, von dessen Verwirklichung sie sich 
diese Verbesserung ihrer Lage erwarteten, 
die Idee vom geyneinsamen Leben und gemein¬ 
samen Besitz, war ihnen, wie Sombart in 
seiner Broschüre über den Sozialismus im 
neunzehnten Jahrhundert ausgeführt hat, schon 
durch ihre neuen Lebensformen nahegelegt. 

Über die Mittel und Wege zur Erreich¬ 
ung dieses Zieles aber gingen die Ansichten 
auseinander. 

Zunächst lag ja nun freilich nichts näher 
als das in der französischen Revolution ge¬ 
gebene Beispiel nachzuahmen und an die 
Gewalt zu appellieren: das geschah teilweise 
in England, vor allem aber in Frankreich; 
doch war in beiden Ländern das Resultat 
ein negatives, so verschieden auch die Aus¬ 
führung gewesen. Denn in Frankreith, wö 
sich die unzufriedenen Elemente des dritten 
und vierten Standes brüderlich zusammen¬ 
fanden, halfen die Proletarier den Bourgeois- 
ihre Kämpfe ausfechten; so 1831, nachdem 
das Jahr zuvor die Arbeitslosigkeit in Paris 
aufs höchste gestiegen war, und 1848, dem 
Jahr der Weltkrise und der allgemeinen Miss¬ 
ernte — in beiden Fällen aber konnten die 
Proletarier einsehen, dass sie als Bundesge¬ 
nossen des dritten Standes nicht zum Ziele 
kommen würden. In England gab es eine 
solche Bundesgenossenschaft von Anfang an 
nicht; dort war ja infolge der viel stärker 
entwickelten Industrie das Klassenbewusstsein 
der Lohnarbeiter in höherem Grade entwickelt. 
Die Schlag auf Schlag erfolgenden neuen Er¬ 
findungen vermehrten die Arbeitslosigkeit, 
durch das neue Armengesetz von 1834 wurden 
die Armenhäuser schlimmer wie Zuchthäuser, 
die Lage der Arbeiter war überhaupt ent¬ 
würdigend im höchsten Grade — da bildete 
sich 1837 die „Londoner Arbeitergesellschaft“; 
nach ihrem Programm, der „neuen Charte“, 
wurden die Glieder derselben „Chartisten" 
genannt. In kurzer Zeit hatte sich die 
Partei über ganzEnglandverbreitet. O’Konnor 
wurde ihr Führer und als solcher proklamierte 
er die „physische Gewalt“, nachdem aber 
1839 der geplante Generalstreik ins Wasser 
gefallen war, schienen die Vertreter der 




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Lory, Geschichte des Sozialismus. 


927 


legalen Taktik ans Ruder zu kommen, doch 
1842 finden wir O’Konnor. wieder an der 
Spitze, und er hielt sich bis 1848, bis näm¬ 
lich in diesem Jahre die berüchtigte „Riesen- 
petition“ ebenfalls ins Wasser fiel und die 
Chartisten der Lächerlichkeit preisgab. 

Mit der Gewalt war es also nichts; nun 
verfiel man unter dem Einfluss der aus Deutsch¬ 
land importierten philantropischen Philosophie 
eines Feuerbach u. a. ins entgegengesetzte Ex¬ 
trem: im Einklang mit jener Modephilosophie 
glaubte man nun plötzlich an den „von Natur 
guten“ Menschen, dem man nur zeigen dürfe, 
wie es eigentlich in der Welt sein sollte, um ihn 
dahinzubringen, diesen idealen Zustand zu 
wünschen und nach Kräften zu verwirklichen. 
Owen, Fourier, St.-Simon sind die Be¬ 
gründer dieser Schule, sehr richtig die „uto- 
pistische” genannt, denn sie beruhte auf einer 
krassen Verkennung des Charakters des 
Durchschnittsmenschen, der sich nie freiwillig 
herbeilassen wird, ohne anderweitigen Ersatz 
und Vorteil von seinem Überfluss mitzuteilen. 
Wer übrigens ein Interesse daran haben sollte, 
politische Erscheinungen der Gegenwart auf 
ihren geschichtlichen Wert zu prüfen, dem 
sei hier mitgeteilt, dass auch schon damals 
Versuche mit einem „christlichen Sozialismus“ 
u. s. w. gemacht wurden, aber zu keinem Resul¬ 
tat^ fühjrten. Und doch w^en, es CTosse, 
Männer, die — hauptsächlich von St.-Simon 
angeregt — in diesem vermittelnden Sinne 
Reformen auf sozialem Gebiet anzubahnen 
suchten; sind ja doch sogar Carlyle, 
DTsraeli, und Louis Napoleon, wie 
G. Adler in seinen Essays über dieselben 
ausgeftlhrt hat, im allgemeinen auf dem Boden 
des utopistischen Sozialismus gestanden. Louis 
Napoleon war von den dreien entschieden der 
unglücklichste: soviel er auch für die Arbeiter 
that, und obwohl die Lage derselben unter 
dem zweiten Kaiserreich sich fortwährend ver¬ 
besserte, ging es doch seit 1866 mit ihm ab¬ 
wärts und das Ziel des von ihm inaugurierten 
„Intperialsozialismusf*, nämlich die Interessen 
aller Stände gleichmässig zu vertreten, zeigte 
sich im allgemeinen als unerreichbar. „Im¬ 
perialsozialist*, um mit Professor Adler zu 
sprechen, war auch Carlyle, der — auch an 
St. Simon anknOpfend — von der Begründung 
eines „Industrieadels“ die Lösung der sozialen 
Frage erhoffte, „Imperialsozialist“ war auch 
der zum Lord Beaconsfield emporgestiegene 
D'Israeli, der aber immerhin schon ein Hin- 
übemeigen zu dem Marxischen Gedanken ge¬ 
setzmassiger Entwicklung bedeutet — hierin 
liegt auch das Geheimnis seiner Erfolge, 
welche in dem Wahlgesetz von 1867, das 
den Kreis der Wahlberechtigten bedeutend 
erweiterte, ihren Gipfelpunkt erreichten. 


Die Utopisten selbst aber hatten sich 
keiner solchen Erfolge zu rühmen; der Aus¬ 
gang ihrer Bestrebungen hat die philantro¬ 
pischen Philosophen schmählich blamiert. Be¬ 
zeichnend daftir ist die Anekdote, die Sombart 
erzählt: Fourier wartete täglich von 12—i Uhr 
auf den Millionär, welcher ihm das Geld zur 
Errichtung des ersten Phalanst^re bringen 
sollte, derselbe ist aber nicht gekommen! Und 
den wahren Wert dieser Richtung können 
wir vielleicht am besten an ihren Epigonen 
studieren, als welche man die modernen 
Anarchisten nicht eben unrichtig erkannt hat; 
Ravachol und Caserio beweisen uns, dass den 
durch die Erfolglosigkeit ihrer Betrebungen 
zur Verzweiflung gebrachten Idealisten nichts 
anderes übrig bleibt, als die „Propaganda der 
That“. 

11 . Marx und der Sozialismus seit Marx. 

Wie wir bereits in einem früheren Auf¬ 
satz dargethan haben, gab auf die Frage 
nach der Ursache des menschlichen Kultur¬ 
fortschrittes Buckle die Antwort des Idealisten: 
nach seiner Anschauung basiert derselbe auf 
dem Fortschritt des menschlichen Wissens. 
Marx dagegen sah in der ganzen geschicht¬ 
lichen Entwicklung nichts weiter als eine 
Reihe von Klassenkämpfen, und wurde mit 
dieser Lehre der Begründer des • modernen 
Sozialismus. 

Zwei an sich sehr verschiedene Momente 
haben mitgewirkt, dieses System zu begrün¬ 
den; denn sehr richtig hat Engels 1891 aus¬ 
gesprochen: „Wir deutschen Sozialisten sind 
stolz darauf, abzustammen nicht nur von St.- 
Simon, Owen und Fourier, sondern auch von 
Kant, Fichte, Hegel; die deutsche Arbeiter¬ 
bewegung ist die Erbin der deutschen klas¬ 
sischen Philosophie." Aber der Einfluss Hegels 
thatsdoch nicht allein; denn dazu kam noch die 
direkt dem praktischen Leben abgelemte Er¬ 
kenntnis, dass die treibenden Kräfte in der Ent¬ 
wicklung der menschlichen Gesellschaft die 
materiellen Interessen seien, ln dem wild¬ 
bewegten Wirtschaftsleben des damaligen 
Frankreich und England kam Marx, der schiff¬ 
brüchige (d. h. von der Reaktion hinwegge¬ 
fegte) Bonner Privatdozent, zu der Über¬ 
zeugung, dass alle sozialen Systeme Utopien 
seien, wenn sie nicht aus dem reellen Wirt¬ 
schaftsleben hervorgewachsen wären; dass das 
Proletariat den Kampf mit der kapitalskräftigen 
Bourgeoisie — dieser Kampf bedeutete nach 
seiner Theorie die Geschichte der Gegenwart — 
nur dann erfolgreich bestehen könnne, wenn 
die Arbeiter auf dem Wege der Organisation 
durch Beseitigung des Privateigentums und der 
Privatproduktion, d. h. durch Verstaatlichung 
der Produktionsmittel eine „sogfalistische Ge- 


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928 


Betrachtungen und kleine Mitteilungen. 


sellschaftsordnun^' begründen würden, em Ziel, 
das sich durch richtig geleitete Massenpolitik 
in gesetzmässiger Weise, auch ohne Revo¬ 
lutionen und Putschversuche, erreichen Hesse. 
„Proletarier aller Länder, vereinigt Euch*’ 
— das wurde die Devise des von Marx- 
Engels aufgestellten neuen Programms. 

Allein die „rote Internationale" hatte kein 
Glück: der „Bund der Kommunisten", dessen 
von Marx und Engels 1847 verfasstes „Pro¬ 
gramm“ die Lehre der beiden bereits im 
Keime enthielt, löste sich schon 1851 auf, 
und auch die 1864 gegründete „internatio¬ 
nale Arbeiterassoziation" ging an dem Wider¬ 
stand der anarchistischen Elemente (unter 
Bakunin) zu Grunde; noch im Herbste 
vorigen Jahres haben die Vorgänge in Lille 
gezeigt, auf wie schwachen Füssen manchmal 
die internationale Einigkeit der Sozialisten 
steht — eine Einigkeit wird erst dann mög¬ 
lich sein, wenn die Wirtschaftsverhältnisse 
der verschiedenen europäischen Staaten all¬ 
mählich auf die gleiche Stufe emporrücken. 

Was die deutsche Sozialdemokratie spe¬ 
ziell betrifft, so ist sie, wenn wir von früheren 
Anläufen ganz absehen, hauptsächlich das 
Werk Ferdinand Lasalles, eines Mannes 
von schrankenlosestem Ehrgeiz, der seine 
Dienste zuvor auch anderen Parteien ange- 
boten hatte; von diesen seines dämonischen 
Wesens halber gefürchtet und zurückgewiesen, 
wurde er der Liebling, der Abgott seiner An¬ 
hänger — und dochl als er 1864 zu Genf 
im Duell fiel, was hinterliess er? Kaum einige 
Tausend organisierter Gesinnungsgenossen, 
nicht mehr. Erst musste Deutschland aus 
einem Agrarstaat ein Industriestaat werden 
(wie dies im Laufe der siebziger Jahre that- 
sächlich geschah), bevor der Sozialismus hier 
festen Fuss fassen konnte — er ist seitdem, 
wie die letzten Wahlen bewiesen, zur stärk¬ 
sten Partei in Deutschland geworden, trotz 
der Missverständnisse mit den süddeutschen 
Genossen unter Vollmar, mit den zum Anarchis¬ 
mus hinneigenden „Unabhängigen", und trotz 
der Konkurrenz der abermals ins Kraut 
schiessenden „ Christlich-Sozialen ". 

Wir haben uns bei dieser Übersicht über 
die Entwicklung des Sozialismus beschränkt 
auf die letzten 100 Jahre, d. h. auf die Zeit, 
da er politisch eine Rolle und zwar eine 
hervorragende Rolle spielte; sozialistische und 
kommunistische Philosophcme natürlich sind 
bereits im Altertum aufgestellt worden, und 
die Sozialisten selbst sehen nicht nur in Kant 
und Hegel, sondern auch in Plato einen Vor¬ 
läufer und ruhmbedeckten „Ahnen“. (Vergl. 

‘) Vergl. den 1834 erschienen, von G. Büchner 
verfassten „hessischen Landesboten“, die „erste 
sozialistische Flugschrift Deutschlands." 


die „Geschichte des Sozialismus in Einzel¬ 
darstellungen" von Bernstein, Kautsky, La- 
fargue, Mehring, Plechanow; bereits erschie¬ 
nen: 1 . Teil, von Plato bis zu den Wieder¬ 
täufern; II. Teil, von More bis zur franzö¬ 
sischen Revolution.) Ein Eingehen auf diese 
— politisch meist unbedeutenden — Systeme 
vergangener Jahrhunderte glaubten wir uns 
und unseren Lesern ebenso schenken zu 
dürfen, wie eine Besprechung des vorer¬ 
wähnten, durchaus vom Parteistandpunkt aus 
verfassten und nicht immer zuverlässigen 
Werkes. 


Betrachtungen und kleine Mitteilungen. 

Die Schuttfelder von Behnasseh, dem alten 
Oxyrhynchos, die durch die Handschrift der „Sprüche 
Jesu“ (vergl. Umschau S. 612) bekannt geworden 
sind, erweisen sich als wichtiger und reichhaltiger 
Fundort. DieAusgrabungsarbeiten, welche derEgypt 
Exploration Fund unter Leitung der Herren A. S. 
Hunt und Grenfell dort von Dezember 1896 bis 
April 1897 vornehmen liess, haben die grossen Er¬ 
wartungen der Forscher glänzend bestätigt. Die 
wichtigsten Funde, überwiegend griechische Papyri, 
reichen von der römischen Eroberung bis ins 10. 
Jahrhundert. Nach Ausscheidung von etwa 100,000 
Bruchstücken, mit denen nicht viel anzufangen war, 
blieben immer noch gegen 300 Stücke litterarischen 
Charakters und mehr als 2000 nichtlitterarische 
Dokumente, wie Briefe, Verordnungen, Testamente, 
Kontrakte, Verordnungen, Steuerlisten, Quittungen, 
GerichtsprotokoUe, Rechnungen, Zauberformeln, 
Horoskope. Von den Rollenfragmenten haben etwa 
100 arabische, 40—50 koptische, gegen 30 latein¬ 
ische Texte. Am stärksten ist Homer vertreten; 
daneben finden sich vereinzelt Sophokles, Thuky- 
dides, Plato, Xenophon (Hellenika) und Demosthenes. 
Ein umfangreiches Thukydidesfragment ist von Hunt 
kopiert und dem soeben erschienenen Jahresbericht 
des „E. E. F.“ beigefügt worden. Der Text weist 
egenOber den späteren Handschriften keine er- 
eblichen Unterschiede auf. Auch dem ersten Buch 
der Virgilschen Aeneis konnte ein Fragment zuge¬ 
wiesen werden. Von den neueren Litteraturresten 
verdienen insbesondere hervorgehoben zu werden 
grosse Stücke aus einem wahrscheinlich von Sappho 
selbstherrOhrendenGedicht in sapphischenStrophen; 
umfangreiche Partien aus einem chronologischen 
Werk, das die Zeit von 356 bis ßi6 v. Chr. um¬ 
fasst; ein Abschnitt aus einem metrisch-iythmischen 
Traktat, vielleicht von Aristoxenos herrührend. 
Jedenfalls werden die reichen Schätze möglichst 
bald dem grösseren Publikum erschlossen,werden, 
denn Hunt und Grenfell hoffen, jährlich einen Band 
von mindestens 300 Seiten herstellen zu können, 
von denen der erste schon nächsten Sommer er¬ 
scheinen soll. Neben den Papyri wurden noch zahl¬ 
reiche beschriebene Ostraka ans Licht gefördert 
Die meisten dieser beschriebenen Thonscherben 
sind wohl erhalten und stammen fast alle von der¬ 
selben Person her. Daneben fanden sich zahlreiche 
Münzen, gegen 500 Stück, aus der Kaiserzeit, da¬ 
von 100 mit byzantinischer Prägung. Besonders 
reich war die Ausbeute an allgemeinen Gebrauchs¬ 
gegenständen wie Terrakotten, Spiegel, Holztafeln, 
Messer, Nadeln und anderen Toilettengegenständen, 
aus Bronze und Elfenbein; Lampen, Schreibuten» 


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Zeitschriftenschau. 


929 


«ilien, Trinkgeschirr, Glasgeräten, Perlen und Amu¬ 
letten aus Glasguss u. a. Neben diesen ung^ein 
reichen Schätzen schrumpfen die Funde aus der 
altägyptischen Periode etwas zusammen. 

Bambus als Baustoff. Es ist bekannt, dass der 
Bambus in den Tropen den allerverschiedensten 
Zwecken der Hausindustrie dienstbar gemacht wird. 
In Japan benutzt man ihn ausserdem als Füll- und 
Schwimmmaterial statt der Cellulose in den Schotten 
der Kriegschiffe. Einer der französischen Konsuln 
in Niederländisch-Indien hebt aber die Bedeutung 
des Bambus auch für die europäische Technik her¬ 
vor. Er eignet sich in erster Linie vorzüglich zum 
Aufbau von MaurergerOsten, und man hat in Japan 
mit seiner Hilfe sogar einen Leuchtturm aufgebaut. 
Er bietet zu diesem Zweck vollkommen fertige 
Stangen von grosser Länge und grosser Leichtigkeit 
dar, die bei ihrer Dünne eine viel grössere Wider- 
standsßlhigkeit als jedes andere Holz besitzen. Auf 
Java transportieren die Lastträger die schwersten 
Stücke durch Bambusrohre. Zwei solcher Stäbe von 
cur 4 cm Durchmesser vermögen die Last eines Kla¬ 
viers, das mit Stricken an ihnen aufgehängt ist, auszu¬ 
halten, ohne sich im geringsten durchzubtegen. Man 
kann sich danach die kdossale Widerstandsfähig¬ 
keit eines stärkeren Bambusstabes von 20-25 cm 
Durchmesser vorstellen, selbst auf eine Länge von 
30 m. Als Beispiel wurde angeführt ein Hebebock 
von IO cm starken Bambusremren, der zwei zu¬ 
sammengebundene eiserne Träger von zusammen 
1100 kg trug. Der Bambus fault weder in der Erde 
noch im Wasser, je trockener und älter er wird, 
■desto fester wird er. Es wäre also auch für Bauten 
in Europa die versuchsweise Einführung von Bam¬ 
bus zu empfehlen, dem ausserdem noch der Vor¬ 
teil eines sehr billigen Preises zur Seite steht. 

Uhlands Technische Rundschau v, 9. Des. 1897. 

. Die Lepra,gewinnt in den russischen Ostsee¬ 
provinzen an Verbreitung. In Orten, in denen man 
im Jahre 1870 nur 2-3 Leprakranke zählte, findet 
man heute 10, 15 oder 20. In anderen Gegenden 
ist sogar ein Anwachsen der Erkrankungen von 20 
auf 143 festzustellen. Leprosenhäuser existieren 1 
in Riga, 3 in Livland, 4 in Kurland. Dass die preuss- 
ische Regierung die Anlage eines Leprakranken¬ 
hauses im Kreise Me'mel, in dem ein Herd der 
Seuche in bedrohlicher Entwicklung vorhanden ist, 
beschlossen hat, ist bekannt. 

Sprechsaal. 

Herrn A. B. in E. Wir empfehlen Ihnen Schil¬ 
ling, Handbuch der Steinkohlengasbeleuchtung. 
3 Bde. Mk.54. (Verlag v. Oldenbourg in München.) 
Coglievina, Hardb. d. d. Gasinstallation. Preis 
geb. M. 5.30. (Verlag v. Hartleben in Wien.) The- 
nius, Fabrikation des Leuchtgases. M. 8.80. (Ver¬ 
lag V. Hartleben, Wien.) 

Neue Erscheinungen des Büchermarktes: 

(Die mit tJ bezeichneten Werke erscheinen demnächst.) 
Brandt, M. v.. Drei Jahre ostasiat. Politik (Stuttgart, 

Strecker-Moser) M. 3.50 

Kraus, F. X., Dante. (Berlin, Grote) M. a6.— 

Hirschberg, E., Die soziale Lage der arbeitenden 

Klassen in Berlin. (Berlin, Liebmann) M. 5.50 
Liebetanz, Calciumcarbid u. Acetylen. (Lpzg., keiner) M. 8.— 
Reuter, F., Briefe a. s. Vater. (Braunschweig, 

Weslermann) M. 4.- 

Schweitzer, G., Emin Pascha. (Berlin, Walther) M. la.— 

Slaby, A., Die Funkentelegraphie. (Berlin, Simion) M. a.— 

Strafgesetz, D. Bulgarische. (Berlin, Guttentag) M. a.50 

Weber, M.* Zoolog. Ergebnisse e. Reise in Niederl. 

Ostindien. 4 Bd. H. i. (Leiden, Brill) M. 16.— 
■f) Die Seeinteressen des Deutschen Reiches. (Berlin 

MiUler.) M. i.- 


Zeitschriftensebau. 

Revuen. 

Deutsche Rundschau I897 Dezember. 

Walther Siegfried, Um der Heima^th willen- 
(Novelle). Max Lenz, Die Stellung der historischen 
Wissenschaften in der Ge gen war t, Eduard Stras- 
burger. Die hohe T atr a (Schluss). Reiseberichte mit in¬ 
teressanten Naturschilderungen, Fritz Jonas, Zum achtzig¬ 
sten Geburtstage Theodor Mommsens, Vor fünfzig 
Jahren 1847 und 1897. An Karl Frenzel, Von 
Julius Rodenberg. Herman Grimm, Der Maler 
Eugene Burnand. Hermann Uoffer, Wann ist Hein¬ 
rich Heine geboren? Verfas-ser fUbrt aus, dass die meisten 
Zeugnisse für das Jahr 1797 sprechen. Interessieren dürfte die 
Mitteilung, dass sich die musikalischen Compositionen Heine' 
scher Gedichte auf mehr als 3 ooo belaufen; erst lange nach ihm 
kommt Goethe mit etwa 170a w. 

• 

• • 

Nord und Sfld ISg? Dezember. 

Sal va tore Far 1 n a, Pater Agostins letzte Kämpfe 
(Novelle) Schluss, Ernst von Wolzogen, Das Lustspiel- 
Ansichten und Aussichten. Der Dichter des .Lumpen¬ 
gesindels“ halt das reine Lustspiel für gegenwärtig noch nicht 
möglich, weil der moderne Dichter von Qualität zu stolz ist, 
seine sittliche Oberzeugung dem Behagen seines Pubtikum.s zu 
opfern und sieht den zur Zeit einzig richtigen, künstlerisch 
wertvollen Ersatz dafür in der .Tragikomödie“, auf die unsere ersten 
modernen Dramatiker bei ihren Versuchen in der heiteren Gattung 
hinausgekommen. Otto von ;Leixner, Die Aufgaben 
eines Kultur werk es am Ende des 19. Jahrhunderts. 
Behandelt die Aufgaben eines Conversationslexikons in einer 
Besprechung des Meyer. Hans Schmidkunz, Eine Quelle 
Richard Wagners. Verfasser findet eine Quelle für die 
kunsttheoretischen Aaschauungen Wagners in anonymen Auf¬ 
sätzen aus der Gegenwart* von 1848; als Verfasser derselben 
wurde neuerdings W. H. von Riehl bekannt. Carola Blacker, 
Ophelia. Eine Analyse der Shakespeare’schen Gestalt. Paul 
Schaler, Bad Santum. w, 

• 

Westermanns Monatshefte 1897 Dezember. 

Friedrich Spielhagen, Herrin (Novelle) Forts. S. S. 
Epstein, Louis Pasteur. Biographie des berühmten Ge¬ 
lehrten mit gnten Porträts. Franz Bendt, Der Drehstrom 
Behandelt die technische und wirtschaftliche Bedeutung des 
Drehstroms. Eduard von Hartreano, Die Anfänge der 
Religion. Fahrt aus, dass die heute herrschende animistisrhe 
Strömung ia der Ethnologie, nach der die Verehrung der Ahnen- 
Seelen die froheste Religionsstufe darstellt, und alle anderen 
Religionsformen erst von ihr abzuleiten sind, weit Ober das Ziel 
hioausschiesst v. H. hält daran fest, dass die Anfänge der Re- 
ligicnsentwicklung sich nur auf die Einheit des Naturobjekts 
mit der ihm geliehenen Seele und auf die von ihm ausgeheodeo 
natarlichen Wirkungen gestützt haben können. Gustav 
Heinecke, Ostafrikanische Städtebilder. III. Hübsch 
illustrierte Schilderung von Bagamoyo. Eduard voh der 
Hellen, Der kleine Fritz (Novelle). Vogel, Die Bak¬ 
terien in Landwirtschaft und Gewerbe. Ludwig 
Salomon, Maddalena Riggi, Goetbe’s schöne Mai¬ 
länderin. Mit zwei Porträts der Maddalena Riggi von Goethe 
und Angelika Kauflfmann und zwei Porträts Goethes von Tisch¬ 
bein u. A. Kauflmann, und der Goethe-Büste von Trippei w. 

« • 

Deutsche Revue 1897 Dezember. 

Briefe des Grafen Usedom an eine Freundin. 
Usedom (geb. i8c|^ gest. 1884) war 1B46 bis 1854 preussischer Ge¬ 
sandter in Ron, 1659 Bundestagsgesandter in Frankfurt a. M., 
später Gesandter in Turin und Florenz, schliesslich General¬ 
direktor der K. Museen in Berlin. In einem der interessanten 
Briefe aus Florenz, vom al Nov. 1866, bekennt sich Usedom als 
.schuldig, den italienischen Vertrag veranlasst zu haben, ohne 
den unsere Campagne von 1866 wahrscheinlich eine rein de¬ 
fensive statt einer glorreich offensiven geworden wäre. Aber 
damit sind wir nicht zu Ende. Bei der Böswilligkeit Frankreichs 
muss die preussisch-italienische Politik fortgesetzt werden, oder 
es geht dennoch schief“. — A. de Nora, Das Rätsel (No- 
vellette). Dr. Ilenrici, Kaiser Wilhelm 1 . u. Bismarck; 
Herzog Friedrich zu Schleswig-Holstein und Sam- 
wer (Schluss). Eine Kritik von Dr. K. Samwera Werke 
.Schleswig-Holsteins Befreiung*. Louise v. Kobell, Karl von 
Perfall. Erzählungen aus dem Münchener Kunstleben. Wir er¬ 
fahren u. a., dass König Ludwigs 11 . erste .Separatvorstelluog* 
die Auffahrung von Dumas, Eine H irat unter Ludwig XV. war. 


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930 


Zeitschriftenschau. 


Die SeparatvorstelluQ^eD, die alle in Betiehung zu des Königs 
Idealen standen, datieren vom 6. Hai 1673 bis 19. Hai 1885 und 
weisen die Zahl 91a auf. — M. v. Brandt, Wozu brauchen wir 
eine Flotte ? Der unseren Lesern durch seine Aufsatze in der 
Umschau als Kenner ostasiatischer Verhältnisse bekannte frahere 
Gesandte in Peking richtet hierin ein offenes Wort an den deut¬ 
schen Reichstag. — Dr. J. Sadger, Entnervung durch das mo¬ 
derne Leben. Nach der Ansicht des Verfassers feines Wiener 
Nervenarztes) ist .der Fortschritt der Menschheit schon an und 
für sich eine Nervenschkdlichkeit''. Zwei andere grosse sind 
„das Überwuchern des Litteratcntums und die Masslosigkeit des 
politischen Lebens*. Er beklagt es, dass man heute «leider nur. 
allzu oft von der Dichtkunst lebt“, während «Schiller zunächst 
und vor allem Universilätsprofessor, Grillparzer Archivdirektor 
und Goethe Minister waren*, «die der Muse als einem liebwerten 
Gast, die geheiligtesten Stunden ihres Daseins verdankten*. (!) 
— Fritz Lemmermayer, Carl v. Holtei und Friedrich Hebbel. 
Ein ungedrucktcr Briefwechsel Bringt prächtige Ergänzungen 
zu den bereits in Buchform erschienenen zwei Bänden des Heb- 
bel'schen Briefwechsels. Die Freundschaft zwischen Hebbel und 
Holtei datiert aus dem Jahre 1850, in dem letzterer in Wien einige 
Vorlesungen abcrj^Shakcspearcs Dramen gehalten hatte, die auf 
Hebbel grossen Eindruck machten. — Heinrich v. Poschinger, 
Etwas Ober den formellen Geschäftsgang des Bundesrats und 
sein Heim. — O. Bdtschli, Die lebendige Substanz. Prof. Dr. 
W. F. Wislicenus, Die Astronomie in Schillers «Wallenstein". 
Paola Lorabroso, Freiwillige und unbewusste Handlungen. Be¬ 
richte aus-allen Wissenachatten. Litterarische Berichte. w. 

• « 

Die Zukunft No. IL.v, IL Dezember. 

Majeatätsbeleidigung. Die Häufung der Majestätabeleidig- 
ungS’Prozesse hat Herrn Leo Berg veranlasst, «Aber die Zuläs¬ 
sigkeit und Grenzen der Majestätsbelcidigung als eines Straf- 
begriffes im modernen Staatsleben“ Umfrage zu halten. Einige 
von den Antworten, die später zu einer BroschOre zuaammen- 
gestellt werden, darunter die Antwort von Fr. Spielhagen, sind 
hier abgedruckl. - Kontre-Admiral z. D. M. PlQddemann, Das 
Flottengesetz. Rechtfertigt die Forderungen der Keichsregierung 
vomStandpunktedesFacbmannes.- Franz Feld brunner, Illusionen. 
Noveilette. ~ Beatrice Webb, Aus dem Tagebuch einer 
Arbeiterin. Helene Simon, Beatrice Webb. Beatrice W’ebb ist 
durch ihr Werk «The Cooperative Movement of Great Britain 
das Brentano abersetzte und mit einer Einleitung versah, auch 
in Deutschland bekannt. Die Mitteilungen Ober ihr Leben 
und Entwicklung sind recht interessant. In dem Artikel .Aus 
dem Tagebuche e, A.“ beschreibt B. W. ihre Eindrücke in den 
Sweaterhohlen des Londoner Ostend, in die sie sich zur Prüfung 
der Zustande in der Konfektion in zerlumpter Kleidung als 
Näherin begeben. - Pluto, Zahlungsbedingungen. Macht für die 
Geldknappheit im Verkehr die langen Ziele.und Unpünktlich¬ 
keit unserer Zahlungsart vcrautwnrtlich. w. 


Die Zelt No. 167 v. 11 . Dezember. 

Unter Null. Stellt dem Ministerium Gautsch ein sehr un¬ 
günstiges Prognosiikon. — Dr, H. Ganz. Die ungarische Ob. 
struktion. - Pollcx, Zur Vorgeschichte des Prozesses Dreyfus 
— Karl Jenlsch, Darf ein Christ und guter Patriot Sozialdemokrat 
sem? Der dnreh seine Aufsätze in der eingegangenen «Wahr¬ 
heit* bekannte Ideologe, empfiehlt den Nationalsozialcn der sozial¬ 
demokratischen Partei beizutreten, die auch nicht dümmer und 
schlechter sei, wie die anderen. Wenn er selbst Parteimanu sein 
könnte - was ihm unmöglich — würde er kein Bedenken haben 
es auch zu thun. Die Zukunft des deutschen Volkes sieht 
Jenlsch (vergj. den Aufsatz von Bruinier in No. 5051 der Um- 
schau), der deshalb auch der Marinevorlage abhold ist. im Osten 
Das deutsche Volk habe nur die Wahl, ob es durch Zertrüm-' 
merung des Zarentums die den europäischen Osttn beherrschende 
Weltmacht werden, oder als ein Anhängsel Russlands verküm- 
mern wolle. - Dr. J. Gninzel. Exportbcstrebungen und Kon- 
sulawescn. B. Zuckerkandl, George Rodenbach. R. der durch 
ein Büchlein Gedichte «La jeunesse blanche in Paris bekannt 
geworden, ist ein Vlamänder und gilt als «un intiroiste". Das 
heisst, ein Beobachter, ein Anempfinder von kaum merklich 
leisen Äusserungen des innerlich Wahrnehmbaren, ~ H. Bahr 
In der Schule. Bricht eine Lanze für die künstlerische Aus¬ 
schmückung der Schulen, die von Hamburger Lehrern voree- 
achlagen wurde. . 


F ACHZEITSCHRIFTEN. 

Historische Zeitschrift. 80, Band, i. Heft. 

K Brandenburg. „Der Regensburger Vertrag zwischen den 
Habsburgern und Moritz von Sachsen Auf Grund eines 

umfassenden Quellenmatcrials wird nachgewiesen wie M>ritz 


durch die Staatskunst Granvellas, ohne es zu wissen und za 
wollen, «ein W'erkzeug habsburgischer Politik“ wurde. - 
C Mirbt, «Ignatius von Loyola* (im Anschluss an: Gothein, 
Ignatius von Loyola und die Gegenreformation). Loyola konnte 
Min Vaterland Spanien, wo sich eine ganz eigenartige religiöse 
Welt entwickelt, wo selbst die Mystik, von allem Quietismus 
entfernt, den Drang zum intensiven Handeln nicht erstickt hatte, 
nie verleugnen, und das siegreiche Vordringen des jesuitischen 
Geistes in der kathol. Kirche (16. Jahrh.) kann geradezu als ihre 
Hispanisierung bezeichnet werden. L. war ein verschlossener 
die spanische Kunst der Selbstbeherrschung nie verleugnender 
Charakter, weniger Schwärmer als grübelnder Dialektiker, der 
die seelische Askese in ein System zu bringen verstand das 
vieUeicht sein Ziel - völlige Befreiung des Willens von der 
Sonde ~ nicht erreichte, fjedenfalls aber durch seinen ans 
Wunderbare grenzenden Erfolg die ihm innewohnende gewaltige 
Kraft glänzend bewies. Im Prinzip war er gegen die Beteiligung 
an der Politik, faktisch hat er sie geübt. - K. Zeumer, Wilhelm 
Wattenbach f. Eine liebevolle Würdigung des am aa. September 
verstorbenen namentlich um die Geistesgeschichte des Mittelalters 
hochverdienten Forschers . eines der letzten von Rankes 
Schülern, der sichdurchscine ,Geschichtsquellcn“allein schon ein 
unvergängliches Verdienst erworben hat - R. Davidsohn,. 
Haben sich mittelalterliche Schatzregister der Päpste erhalten ?• 

L. 

• • 

Zoologischer Anzeiger XX (1897) No. 546. 

Preliminary note on the Chromatin reduction in 
the Sperrea’togenesis ojfpentatoma by Th. M. Mont- 
gomery Jr. Die Chromosomen dieser Wanze zerfallen bei der 
Zellteilung der Spermatocyten nicht wie sonst durch Längs- 
Spaltung, sondern durch quere Einschnürung. — Die Sigu* 
nucbidcn-G|attungFhymosomav. E. Selenka. Der 
Name ist zu ändern. - Z ur E pi ihelfr a ge bei Ceitoden 
V. F. B lohmann. In der Wand der Blase der Bandwurm- 
Finnen haben die Epithel-Zellen Form und Anordnung von 
Bindegewebe, indem sie durch Auseinanderziehen der Zell- 
brücken auch verästelt aussehend werden. - Zur Biologie 
und Morphologie der L o me c h u s a-Gr u p pe von 
E. Wasmann. Diese kleinen Kurzflügler-Käfer leben ganz im 
Baue von Ameisen, von denen sie und Ihre Lar\'en sorgfältig 
gepflegt, sogar gefüttert werden. Die Alten sondern dafür aus 
ihren Hinterleibsringen einen süssen Saft aus, den die Ameisen 
gierig lecken. Die Larven dagegen sind die schlimmsten Feind« 
der Ameisenbrut.'die sie massenhaft verzehren. Von den beiden 
Gattungen leben die Arten bei Je einer Art von Ameisen, in 
Folge dessen sie sehr umgewandelt sind und ihre Unterlippe 
z. B. zu einem Löflfel umgestaltet ist, mit dem sie die von den 
Ameisen dargereichte Nahrung aufnehmen. Die Arten der an¬ 
deren Gattung (Atemeies) ieben bei Je 9 Ameisen-Arten, bei der 
einen die Erwachsenen, bei der andern die Larven, so dass sie 
also 9 mal im Leben selbstständig ihsen Aufenthaltsort wechseln 
müssen. Daher sind sie noch nicht so sehr dem Parasiten-Leben 
angepasst. - Ein Vorsch lag, d ie Bezeichnung «Con- 
chiolin“ durch «Conchin* zu ersetzen v. H. Simerth. 

R. 

• • 

• 

Nature No. 1467 v. g. Dezember 1697. 

Astronomical coiistants and the Paria conferenre by Fr. Porro. 
Kritik einiger Beschlüsse der Pariser Konferenz. An English 
Beaver Park by 1 J. Coroish. Der Biber ist in Europa im Aus- 
sterben begriffeu, nur noch an einigen Platzen in Norwegen 
kommt er vor. Sir E. Loder hat sich aus Canada Biber kommen 
lassen und sie in einem Park in Sussex angesiedelt; es werden 
in dem Aufsatz die Lebensweise, insbesondere die Ingenieur, 
bauten beschrieben, die die Biber während der ersteu 8 Jahre 
ausgeführt haben. — Scientific investigatioiis of the local gouver* 
nement Board. Untersuchungen aus derhygienischenPraxis. - The 
arctieWork of Mr. R. E. Pc.ary. Auszug aus einem Vortrag in der 

R. Geographical society. Coral Boring at Funafuti. Die neuesten 
Nachrichten über David's Bohrungen (vgl. Umschau No. 44, 

S. 793). Man hat jetzt eine Tiefe von 643 Fuss (195 m) erreicht 

und bohrt immer noch im Korallenkalk. Ausserdem sind etwas 
ausführlichere Mitteilungen über den Ort der Bohrungen und 
Ober das durchbohrte Gestein gegeben. - The vitality of re- 
frigerated sceds by T. Brown and F. Escombe, Samen ver¬ 
schiedener höherer Pflanzcu (Getreide, Gurke, Leguminosen etc.) 
wurden 110 Stunden lang einer Temperatur — 1830 bis — 1^0 C. 
(flüssige Luft) ausgcselzt, ohne dass ihre Entwicklungsfähigkeit 
dadurch vermiudert worden wäre. - The law of evodensatiou 
of steam. u 


G. Horstmaun's Druckerei. Frankfuri a. M. 


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